Schopenhauer & Nietzsche: Ethik der Jugendlichen Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass es eine Ethik der Jugendlichen im engeren Sinne nicht gibt; im Gegenteil wage ich zu behaupten, nirgendwo sei das Spektrum der verschiedenen Welt- und Menschenbilder so weit gefächert wie bei jungen Menschen. Das lässt sich vor allem durch die mangelnde Evaluation erklären: Ein Jugendlicher hat in seinen vielleicht 14 oder 18 Lebensjahren noch nicht genügend Erfahrung, um einen wesentlichen Teil der ethischen Vorstellungen, mit denen er konfrontiert wird, gesichert auszuschließen. Die Tatsache, dass Jugendliche meist offen für Neues sind, spricht für sich und führt damit zu einem einzigartigen Pluralismus in ihrer Gedankenwelt. Darüber hinaus lässt diese Offenheit auch neuartigen, radikalen und absurden Theorien eine Chance, was durchaus Gefahren birgt, aber auch Raum zum Weiterdenken schafft – ohne jugendliche Antriebskraft wären sicher viele Philosophen selbst nie zu ihrem Verdienst gelangt. Warum also gerade Schopenhauer, warum Nietzsche? Zur Beantwortung dieser Frage ist es nötig, zunächst alle Vorurteile hinter sich zu lassen, besonders was Nietzsche betrifft. Den meisten Jugendlichen werden diese beiden großen Namen kaum ein Begriff sein, und wenn sie ihnen doch bekannt vorkommen, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich bei der vermeintlichen Kenntnis um ein bloßes Klischee handelt. Nun gehen wir einmal davon aus, ein Jugendlicher wird mit den Ideen Schopenhauers (etwa im Unterricht) konfrontiert. Er wird sich möglicherweise von dessen Definition der Erkenntnis oder auch der Moral fasziniert fühlen, möglicherweise sein altes Denken zugunsten Schopenhauers aufgeben (was eher unwahrscheinlich ist), oder aber er fühlt sich in diesen Ideen bestätigt, stellt eine starke Übereinstimmung zum eigenen Wertesystem fest. Dies ist der wahrscheinlichste Fall unter den genannten, da die bei der Beschäftigung mit Philosophen doch eine gewisse Vorkenntnis voraussetzt und mit dieser meistens auch ein mehr oder weniger gefestigtes Weltbild einhergeht. Damit heißt unsere Frage nun: Wieso stimmt die Ethik der Jugendlichen oft mit der Schopenhauers und Nietzsches überein, obwohl sie sich mit diesen Philosophen nie beschäftigt haben? Beginnen wir bei Schopenhauer: In seiner Vorstellung ist jegliche Erfahrung der Umwelt vom Willen gesteuert, der kein festes Ziel hat, vom Mensch nicht gezielt beeinflusst werden kann und sich etwa als Wille zum Überleben, Hunger-, Durst- und Sexualtrieb sowie Streben zur Macht äußert. Vergleicht man diese Ansicht nun mit der eines Jugendlichen, welcher seine ersten Erfahrungen mit dem Sexualtrieb macht, ständig neue Herausforderungen sucht, sich täglich gegen seine Eltern durchsetzen muss und ungeduldig auf die Erfüllung seiner ständig wechselnden Wünsche hat, so kann man leicht nachvollziehen, warum Schopenhauers Theorie der Willensbestimmung sich wunderbar mit der Denkenscharakteristik eines typischen Teenagers deckt. Gestillt werden kann dieser Wille kurzzeitig durch Kunstbetrachtung, also durch die Beschäftigung mit ästhetischen Dingen, dies scheitert bei Jugendlichen jedoch in der Praxis leider meist an mangelnder Geduld, fehlendem Interesse oder einfach der unzureichenden Erfahrung im Umgang mit Kunst. Trotzdem kann auch ein Jugendlicher durchaus eine temporäre Zufriedenheit erreichen - ohne seine willentlichen Bedürfnisse zu stillen - wenn er sich mit Ästhetik auseinandersetzt. Die langfristige Befreiung vom Zwang des Willens kann laut Schopenhauer nur durch Askese erreicht werden – bei Jugendlichen so gut wie undenkbar, denn dafür fehlt es ihnen dann doch an der nötigen Selbstdisziplin, während ein triftiger Grund für die Willenlosigkeit auch nicht gegeben ist: An Findigkeit und Zielstrebigkeit, um ihre Bedürfnisse zu stillen, mangelt es ihnen kaum. Ein anderer zentraler Aspekt Schopenhauers Philosophie ist die Rolle des Mitleids: Es ist eines der wenigen Phänomene des menschlichen Geistes, welches in der Lage ist, den Egoismus des eigenen Willens und Interesses zu unterdrücken. Ist dies bei Jugendlichen besser ausgebildet als bei älteren Menschen? Möglicherweise schon, denn Jugendliche sind meist erheblich optimistischer, was die allgemeine Weltsituation angeht – ihr jugendlicher Tatendrang gibt ihnen Hoffnung auf die Möglichkeit eigenen Wirkens, während Erwachsene, die schon viele Enttäuschungen erlebten und sowohl zu träge als auch zu zynisch sind, um noch irgendetwas bewirken zu wollen, in gewisser Weise verhärtet zu sein scheinen und es wohl oft auch sind. Andererseits gibt es viele Jugendliche, die sich in typisch unflätiger Manier dem Vandalismus, der Rücksichtslosigkeit und Sittenlosigkeit hingeben, um sich den vorherrschenden Modeströmungen der Zeit anzupassen. Mitleid passt in diese Ethik schwerlich hinein, denn wer sich um Schwächere kümmert, wird oft schlicht als „uncool“ abgestempelt. Dennoch handelt es sich hier eher um Extreme, und allgemein kann man schließen, dass das Mitleid bei jungen Menschen mehr oder weniger gleich stark ausgeprägt ist wie bei Menschen höheren Alters. Es sei jedoch noch bemerkt, dass man das Handeln der Jugendlichen in der Regel durchaus als unvernünftig bezeichnen kann, denn in diesem Alter sind nicht nur Alkohol und Zigaretten Dinge, die es (ohne Rücksicht auf eventuelle Gesundheitsschäden) zu ergründen gilt. Vielmehr kann man die gesamte Palette jugendlicher Aktivitäten vom Skateboard zur Schulhofrauferei als unvernünftiges, jedoch zur Persönlichkeitsentwicklung äußerst wichtiges Handeln bezeichnen. In diesem Alter ist Vernunft mehr oder weniger fehl am Platze; es wird experimentiert, was das Zeug hält und man sammelt fleißig Erfahrungen. Hier stimmt der typische Jugendliche wieder ganz mit Schopenhauer überein, der in seinen Ansichten stets auf die Gefühlsbetontheit menschlichen Handelns hinwies. Nun kommen wir zu Nietzsche, der umstritten ist wie kaum ein anderer Philosoph und nach heutiger Sicht wohl mindestens 100 Jahre zu früh lebte. Dies zeigt bereits, wie „kompatibel“ sein Gedankengut mit dem der heutigen Jugend noch ist, da deren Denkweise stark zur Gegenwart gerichtet ist. Nietzsche ist in vieler Hinsicht ein unverstandener Mensch, und seine Philosophie hier ausführlich zu erläutern, würde den Rahmen des Essays sprengen. Aber einige wichtige Aspekte lohnt es sich zu betrachten, da sie unsere These der engen Verwandtschaft des Denkens Nietzsches und eines Jugendlichen, soweit er zum Denken bereit ist, eindrucksvoll unter Beweis stellen können. Nietzsche wird heute allgemein als Vertreter der Gegenaufklärung betrachtet; als solcher wandte er sich gegen die von Kant vertretene Allmacht der Vernunft als einziges brauchbares „Denkwerkzeug“ des Menschen. Auch entsagte er anders als die Aufklärer nicht dem Mystischen und Unerklärlichen in der Natur. Bereits hier lassen sich Parallelen zur jugendlichen Ethik ziehen: Wie bereits erwähnt, spielt Vernunft in dieser nur eine untergeordnete Rolle, die Existenz des Überirdischen und Geheimnisvollen wird keineswegs geleugnet (man denke nur an die Horoskope in den Jugendzeitschriften und Spiele wie Glasrücken oder Kartenlesen, die bei Jugendlichen äußerst populär sind) – dies liegt sicher zum Teil einfach an dem von der allgemeinen Denkfreiheit ausgelösten Pluralismus der Ideen, mit denen junge Menschen unvoreingenommen ständig konfrontiert werden. Aber nun ist Vorsicht angebracht: Obwohl Jugendliche das Überirdische oft nicht abstreiten und auch Nietzsche es nicht tat, nehmen beide deutlich Abstand von dogmatischen, vorgeschriebenen Vorstellungen. Nietzsche kritisierte das Christentum scharf, da es den Menschen einenge und in seinem angeborenen Freiheitsdrang behindere. Eben dieser Drang ist bei jungen Menschen sehr stark ausgeprägt und bestimmt maßgeblich ihr Handeln (womit wir wieder bei Schopenhauers Willen wären) – eine christliche Werteordnung ist einfach zu streng für viele junge Menschen und sie nehmen daher Abstand von ihr. Gerade die erzkonservative Einstellung vieler Politiker stößt bei Jugendlichen fast nur auf Abneigung und Unverständnis. Gleiches gilt im Umgang mit Vorurteilen, die hauptsächlich in älteren Bevölkerungsschichten zu finden sind – in unserer globalisierten Welt mit ihrem stets schneller werdenden Tempo können Jugendliche besser mithalten und müssen sich nicht an veraltete Vorstellungen klammern (man denke daran, dass noch unsere Großeltern in einem von Weltkriegen und dementsprechend stark ausgeprägtem Völkerhass bestimmten Europa zur Schule gingen, während Schüler heute zum Schüleraustausch nach Frankreich fahren und in England studieren; analog zu diesem Abbau von nationalen Vorurteilen findet Gleiches in anderen Lebensbereichen statt). So sind sie optimal für die kritische, vorurteilsfreie Hinterfragung der Moral, wie Nietzsche sie fordert, ausgerüstet und nutzen nicht selten diesen Vorteil. Da Nietzsche sein Ideal eines Menschen als freie Persönlichkeit ohne Moralfesseln definiert, kann man von einer Analogie zum jugendlichen Drang des Ausbruchs aus den Fesseln der gesellschaftlichen Werte und Traditionen sprechen. Ebenso wie allzu strenge Einengung der Persönlichkeit empfinden Jugendliche oft auch Scheinheiligkeit als unerwünscht und nehmen von ihr Abstand. Dies gilt nicht nur für die Kirche, die ja beispielsweise mit ihrer Verurteilung der Homosexualität bei gleichzeitigem hohem Homosexuellenanteil unter den katholischen Priestern in Deutschland und anderen Ländern ständig für neue Skandale sorgt. Auch die so genannte „kleinbürgerliche Doppelmoral“ und das Spießbürgertum sind vielen zuwider. So ist es denn nicht verwunderlich, wenn man in Nietzsches Gedankengut etliche dieser „jugendlichen“ Grundsätze wieder entdeckt, die sich auf dem Historama der Philosophie schließlich nach Schopenhauer und Nietzsche auch bei Jean-Paul Sartre wieder finden. Sartre erfreute sich gerade bei der jüngeren Generation seiner Zeit recht großer Popularität; Kernaussage seiner Philosophie ist die Definition der Schaffung eines eigenen Wertekosmos, ohne Rücksicht auf geltende moralische oder religiöse Normen, als Hauptaufgabe des Seins. Auch dies passt gut zur Gedankenwelt der Jugendlichen, denn es spricht jedem Einzelnen eine praktisch unbegrenzte Freiheit zu, wobei allerdings die Verantwortung für das Handeln beim Handeln liegt. Das Handeln wird also bei Sartre nicht relativiert, sondern bestenfalls im eigenen Rahmen als frei erklärt – eine übergeordnete Moral existiert dennoch. Jedenfalls ist dieses Schaffen eines Wertekosmos genau das, was jeder junge Mensch, der sich in irgendeiner Weise Gedanken um Gut und Böse macht, unweigerlich tut. Unsere Gesellschaft ermöglicht heute mehr denn je das Entwickeln eigener Gedanken, was sicherlich auch seine Nachteile hat, für Jugendliche jedoch in erster Linie Freiheit der Ideen bedeutet. Diese Freiheit, wie auch die Freiheit von Pflichten und Vorschriften, ist der Traum vieler Jugendlicher, der in der Philosophie Arthur Schopenhauers, Friedrich Nietzsches und Jean-Paul Sartres seinen ethischen Ausdruck findet. © Martin Richter 2003 ARTHUR SCHOPENHAUER Die Erscheinungswelt existiert durch unsere Vorstellung, welcher der Wille (ein zielloser, blinder Drang) zugrunde liegt. Dieser Wille steuert unser ganzes Handeln, er äußert sich Schopenhauer & Nietzsche: Ethik der Jugendlichen etwa als Wille zur Fortpflanzung (und ist somit nicht nur bei Menschen zu finden). Es werden immer neue Bedürfnisse erzeugt, die letztendlich nicht erfüllt werden können, was das Leben schmerzvoll und ohne dauerhaftes Glück sein lässt. Ausweg: Verneinung des Willens durch Kunstbetrachtung (Ästhetik) Askese, Zurücklassen aller Bedürfnisse Basis moralischen Handelns ist das Mitleid, welches allein den Egoismus überwinden kann Der Mensch handelt gefühlsbetont, während die Vernunft nur oberflächlich wirkt Stark ausgeprägter Wille, der oft nur kurz andauert; meistens launisch Ausweg nach dem Muster Schopenhauers nicht gegeben, da zur Ästhetik die Erfahrung und zur Askese die Disziplin fehlt JUGENDLICHE Stark ausgeprägtes Mitleidsempfinden Abgrenzung von Traditionen (Religion, alten Moralvorstellungen, Vorurteilen) und deren kritische Hinterfragung, auch Abneigung vor Scheinheiligkeit (besonders der Kirche) Mehr oder weniger lustbetonte Lebensweise ohne Rücksicht auf Moral Gefühlsbetontes Handeln Freiheitsdrang FRIEDRICH NIETZSCHE Ideen im Geist der Aufklärung: will in Wert- und Wahrheitsvorstellungen eingegangene Vorurteile kritisieren Vernunft jedoch anders als bei Kant nicht als vorurteilsfreies Mittel, sondern alle Erkenntnis und Moral wird von Interessen/Willen bestimmt (Einfluss Schopenhauers) Hinterfragung von Moral nach geschichtlichen Bedingungen, will nicht von einer gesicherten Basis aus schrittweise Erkenntnis erlangen, sondern durch Moral- und Vernunftkritik Ursachen für den Nihilismus seiner Zeit finden Handlung immer auch von nichtmoralischen Faktoren (Trieben, Willen) beeinflusst: „Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust“ Kritik am Christentum, das alle Triebe außer dem eigenen abstellen will, wird von Nietzsche als fesselnd und einengend gesehen Moral zerstört sich selbst, da sie Wahrhaftigkeit fordert und somit eigene Irrtümer aufdeckt Ein Mensch ohne Moralfesseln ist ein Übermensch, der sich endlich mit seinen wirklichen Bedürfnissen auseinandersetzen kann (oft als Heldenkult missverstanden) Herrenmoral ist Ausdruck der Freude über eigenes Schaffen, Sklavenmoral (Christentum) erklärt diese aus Neid und Missgunst zur Sünde Auch in christlicher Selbstlosigkeit ist ein Wille zur Macht (Bekehrung und somit Einengung anderer Menschen und Vertrösten auf das Jenseits anstatt irdischer Freuden) Moralfreier Mensch ist nicht schlecht, sondern angesichts der Taten moralischer Menschen ein befreiter Mensch