Novalis als eine Persönlichkeit Hiromi TSUTSUMI In diesem Aufsatz soll von Novalis als moralischem Wesen die Rede sein, nämlich von seinem Gewissen und dessen Herkunft, seinem Ethos und dessen Wirkung, obwohl seine ganze Persönlichkeit nicht nur aus dem besagten Gewissen(dem Über-Ich), sondern auch aus dem sogenannten Trieb (dem Ich) besteht, der doch jetzt leider nicht so eingehend abzuhandeln ist wie jenes. Zu Anfang Dezember 1794, als sich Novalis auf den ersten Blick in ein kaum dreizehnjähriges Mädchen, Sophie von Kühn verliebt und es seinem Bruder Erasmus mitgeteilt hatte, schrieb ihm Eras-mus als Antwort einen langen Brief, den dieser mit folgenden Worten beschloß: „Meine besten Wünsche, daß Du an der Hand Deiner Sophie die drei Ungeheuer in dem Labyrinthe des menschlichen Lebens: Hypochondrie, Mißmut und Langeweile umbringen magst, begleiten Dich.“1) Daraus ist zu vermuten, deß die Kinder der Familie Hardenberg, vor allem Novalis, mehr oder weniger von solchen drei Ungeheuern heimgesucht worden, kurz, sie also alle in einem gewissen Sinne Hypochonder gewesen seien. Zum Beispiel litt auch ihre Mutter eine Zeitlang an derselben Krankheit, und das achte kind Bernhard soll aus einer Art Melancholie Selbstmord begangen haben. Am 29. Mai 1831 schrieb J.P.Eckermann ein Gespräch mit Goethe nieder: „Goethe erzählte mir von einem Knaben, der sich über einen begangenen kleinen Fehler nicht habe beruhigen können. ‚Es war mir nicht lieb, dieses zu bemerken,’ sagte er, ‚denn es zeugt von einem zu zarten Gewisssen, welches das eigene moralische Selbst so hoch schätzet, daß es ihm nichts verzeihen will. Ein solches Gewissen macht hypochondrische Menschen, wenn es nicht durch eine große Tätigkeit balanciert wird.’“2) Dies scheint gerade auf die enge Beziehung zwischen Gewissen und — 83 — Hypochondrie hinzudeuten. Angenommen, die Umkehrung in diesem Fall sei auch wahr, daß jeder Hypochonder im großen und ganzen ein zu zartes Gewissen in Besitz habe, so wird es schon auch von Novalis gelten, solang er sich seit seiner Kindheit mit den besagten drei Ungeheuern geplagt hat. Zum Vorschein kommt nun eine Frage, was das Gewissen eigentlich bedeutet, oder wie man es definieren soll. Nach Immanuel Kant ist das Gewissen mit dem sogenannten Sittengesetz im Menschen zu vergleichen, nach G.W.F.Hegel entspricht es dem menschlichen Selbstbewußtsein, und um mit Sigmund Frend zu reden, kann man es als das Über-Ich bezeichnen. Daraus läßt sich leicht folgern, daß das Gewissen nichts anderes bedeutet als Moralität oder Sittlichkeit unseres Inneren, wonach wir im praktischen Leben über Gut und Böse auf eigene Weise urteilen und handeln können. Nach der Ansicht Freuds wird das Gewissen des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Gewissens anf gebaut. Dieses z.B. bestätigen einige alte Sprichwörter: „Art läßt nicht von Art.“ ; „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme.“ ; „Wie der Vogel, so das Ei.“ Hier erinnere ich mich auch an Friedrich Nietzsche, der sich darüber zustimmend äußerte: „Die Eltern machen unwillkürlich aus dem Kinde etwas ihnen Ähnliches-sie nennen das ‚Erziehung’, keine Mutter zweifelt im Grunde ihres Herzens daran, am Kinde sich ein Eigentum geboren zu haben, kein Vater bestreitet sich das Recht, es seinen Begriffen und Wertschätzungen unterwerfen zu dürfen.“3) Und anderswo wußte er noch deutlicher zu sagen: „Es ist gar nicht möglich, daß ein Mensch nicht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe habe: was auch Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem der Rasse. Gesetzt, man kennt einiges von den Eltern, so ist ein Schluß auf das Kind erlaubt.“4) Für jetzt haben wir leider nur wenige Quellen, um auf die Frage zu antworten, mit welchem Gewissen oder mit welcher Moralität sich Novalis’ Eltern überhaupt trugen. Aus verschiedenen Biographien betrachtet, können wir doch mindestens nicht daran zweifeln, — 84 — daß die Eltern unseres Dichters in Sinn und Meinung treue Bekenner zu der Herrnhuter Brüdergemeine vom Grafen Zinzendorf waren und bis zvm Tode es blieben. Dieser Pietismus fordert es von seinem Anhänger, dessen Glauben und Leben, Konfession und Lebensweise in Übereinstimmnng zu bringen. Novalis’ Vater war es, der eben den Anspruch pietistischer Askese vertrat und der auch seinen Kindern, insbesondere dem ersten Sohn ein zu zartes Gewissen zuteil werden ließ, wodurch sie alle später unter der Hypochondrie, Mißmut und Langewile mehr oder weniger leiden sollten. Jedenfalls mußte Novalis seinen Eltern besonders dem Vater seine frühe Moralität und seinen starken Willen zugleich verdanken, aber gerade dadurch wußte er wohl, daß allzufrühe Moral dem Menschengeschlecht äußerst nachteilig sei, daß wie Religion, unendlich viel Schaden angerichtet habe. Nun ist das schon bekannt, daß das Blau in erster Linie Novalis' Lieblingsfarbe war, und die blame Blume selbst bis heute als das wichtigste Symbol gegolten hat, das gerade für das Verständnis dieses mystischen Romantikers unentbehrlich ist. Wenn so, braucht man hier aufs neue zu erklären, was eigentlich blaue Farbe bedeutet. Zum Glück kann man in dieser Hinsicht G.W.F.Hegel zu Rate ziehen: „Das Blau hingegen, als die dem passiven Dunklen sich zuneigende einfache Einheit des Hellen und Dunklen, ist das Symbol der Sanftmut, der Weiblichkeit, der Liebe und der Treue, weshalb denn auch die Maler Himmelskönigin fast immer in blauem Gewände gemalt haben.“5) Diese Definition scheint auch auf Novalis’ Charakter ganz und gar zuzutreffen. Die blaue Blume also soll auf seine innige Sehnsucht nach der ewigen Himmelskönigin oder der ewigen Weiblichkeit hindeuten. Nebenbei bemerkt, vollkommenste soll Blume Goethe geliebt die haben, Rose als wodurch die seine Lieblingsfarbe nicht schwer zu erraten ist: das Rosenrot oder dasjenige Purpurrot, das nach Hegel von jeher für die leidenschaftliche Farbe oder für die königliche Farbe gegolten hat. Das ist auch dem edlen Goethe würdig. Lieblingsblume betrifft, scheint Novalis selber Vergißmeinnicht geliebt zu haben; denn er besang — 85 — Was die das es in den vermischten Gedichten, und noch dazu ließ er jenenSylvester im 'Heinrich von Ofterdingen' ein eben aufgeblütesVergißmeinnicht an einen Zypressenzweig binden und es Heinrich geben. In einem Brief an Fräulein Just gibt sich Novalis für einen Deterministen aus: „Was ich kann, das will ich, und was ich will, das kann ich, Wer kann wider sein Schicksal, Ich gehöre zu den Deterministen.“6) Es ist zwar fragwürdig, ob diese Selbstbestimmung gar objektiv richtig sei, aber gesetzt, Schicksal sei nur Auswirkung des Charakters eines Menschen, so läßt sich nicht leugnen, daß Novalis schließlich zu einem Deterministen werden sollte, zumal da ein Hauptbestandteil seiner Persönlichkeit, nämlich sein zartes Gewissen, schon in der Jugendzeit ganz und gar vollendet worden war. Nach dem treffenden Ausdruck des jungen Schillers bestimmen die ersten Jugendjahre vielleicht die Gesichtszüge Menschen durch sein ganzes Leben, so wie sie überhaupt die Grundlage seines moralischen Charakters sind. Auch Novalis war ganz dieser Meinung; denn er ließ den Held seines Romans tief einsehen, daß Schicksal und Gemüt Namen eines Begriffs sind. Wahrscheinlich müssen die ersten Jugendjahre sein Gemüt und Schicksal bestimmt haben. Er war sich selber dieses sehr gut bewußt, deshalb konnte er sagen, er gehöre zu den Deterministen. Jedenfalls kann man hier Novalis eine Persönlichkeit nennen, ohne deren Kenntnis man ihn durchaus nicht erkennen kann. Wie bedeutend die Persönlichkeit für Dichten und Schriftstellern sein kann, erklärte Goethe einmal zu Eckermann: „Allerdigs ist in der Kunst und Poesie die Persönlichkeit alles; allein doch hat es unter den Kritikern und Kunstrichtern der neuesten Zeit schwache Personagen gegeben, die dieses nicht zugestehen und die eine große Persönlichkeit bei einem Werke der Poesie oder Kunst nur als eine Art von geringer Zugabe wollten betrachtet wissen. Aber freilich, um eine große Persönlichkeit zu empfinden und zu ehren, muß man auch wiederum selber etwas sein.“7) Im folgenden handelt es sich um das Ethos und dessen Wirkung, wovon ich am Anfang dieser Abhandlung etwas erwähnt habe. -86- Erkenne dich selbst! Das ist das bekannteste Wort, das einst jener griechische Philosoph Sokrates als Orakel vom Apollon im Tempel zu Delphi erteilt bekommen haben soll. Von alters her spricht man immer davon, wenn die Rede auf Anthropologie fällt. In der Tat hat diese Gnome tief in die Geister der .bisherigen, großen Menschen eingegriffen, die gerade nach der sogenannten Selbsterkenntnis ebenso gestrebt haben wie Sokrates. Auch Novalis war es, der als Maxime diesen Spruch im Gedächtnis festhalten wollte. Unter seinen vermischten Gedichten befindet sich z.B. ein folgendes: Eins nur ist, was der Mensch zu allen Zeiten gesucht hat; Überall, bald auf den Höhn, bald in dem Tiefsten der Welt-Unter verschiedenen Namen — umsonst — es versteckte sich immer, Immer empfand er es noch—dennoch erfaßt er es nie. Längst schon fand sich ein Mann, der den Kindern in freundlichen Mythen Weg und Schlüssel verriet zu des verborgenen Schloß. Wenige deuteten die leichchte Chiffre der Lösung, Aber die wenigen auch waren nun Meister des Ziels. Lange Zeiten verflossen—der Irrtum schärfte den Sinn uns— Daß uns der Mythus selbst nicht mehr die Wahrheit verbarg. Glücklich, wer weise geworden und nicht die Welt mehr durchgrübelt, Wer von sich selber den Stein ewiger Weisheit begehrt. Nur der vernünftige Mensch ist der echte Adept—er verwandelt Alles in Leben und Gold—braucht Elixiere nicht mehr. In ihm dampfet der heilige Kolben—der König ist in ihm— Delphos auch,und er faßt endlich das: Kenne dich selbst.8) Dieses Gedicht wurde im Mai 1798 gemacht, als der sechsund-zwanzigjährige Novalis auf derBergakademie zu Freiberg die Bergwerkskunde studierte. Wann überhaupt er dieses Wort ‚Kenne dich selbst,’ kennenlernte, kann man jetzt leider nicht feststellen, aber daß er es schon kannte, als er noch in den Kinderschuhen steckte, ist leicht zu vermuten. Denn das beweist ein vom 5. Oktober 1791 datierter, langer Brief von dem neunzehnjährigen Novalis an Professor K.L. Reinhold in Jena, worin sich folgendes befindet: — 87 — "Ich werde in 3 wochen nach Leipzig abgehn, und nach einer gänzlich veränderten Lebensordnung zu leben dort anfangen. Jurisprudenz, Mathematik und Philosphie sollen die 3 Wissenschaften seyn, denen ich diesen Winter mich mit Leib und Seele ergeben will und im stengsten Sinne ergeben. Ich muß mehr Festigkeit, mehr Bestimmtheit, mehr Plan, mehr Zweck mir zu erringen suchen und dis kann ich am leichtesten durch ein strenges Studium dieser 3 Wissenschaften erlangen. Seelenfasten in Absicht der schönen Wissenschaften und gewissenhafte Enthaltsamkeit von allem zweckwidrigen hab ich mir zum strengsten Gesez gemacht. ‚Lerne dich selbst kennen’ soll mein Memento mori seyn, und ‚Lebe verborgen’ der Wahlspruch meines practischen Lebens.“9) Abgesehen von dem Memento mori, scheint das Gebot ‚Lerne dich selbst kennen’ schließlich zu der unendlichen Selbdstbetrachtung, Selbstbeherrschung und Selbsterziehung zu gelangen. Zu diesem Behuf muß man zunächst sein gegenwartiges kleines Selbst genug erkennen und dann durch Reflexion und Selbstkritik danach streben, sich zu einem höheren, vollkommeneren Menschen zu erheben. In dienern Sinne muß Mensch werden gewiß so eine Kunst sein, wie Novalis selber behauptet. Es kommt mir vor, als habe ein sittlicher, ideeller Wunsch bestimmend auf das kurze aber sehr inhaltsreiche Leben des Dichters eingewirkt Als Beweise für die Richtigkeit meiner Ansicht möchte ich im weiteren Novalis selbst anführen. „Ich muß noch erzogen werden, vielleicht muß ich mich bis an mein Ende erziehen. Im Zivilstande werde ich verweichlicht. Mein Charakter leidet zu wenig hefftige Stöße und nur diese können ihn bilden und fest machen. Schon diese hefftige Leidenschaft hat auf mainen Charakter und meine Einsicht einen, wie ich mir schmeichle, vortheilhaften Einfluß gehabt. So ein Charakter, wie der Meinige, bildet sich nur im Strom der Welt. Einem engen Kreise kann ich nicht meine Bildung danken. Vaterland und Welt muß auf mich wirken: Ruhm und Tadel muß ich ertragen lernen.“ „Mein Geist und seine Bildung ist ohnedem mein heiligster Zweck; äußere Veränderungen und körperliche Unfälle werden also diesem — 88 — nie entgegenstehn, wenn sie nicht mittelbar seine Entwicklung und die Freyheit seiner Bewegungen hemmen.“11) „Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transcendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ichs zugleich zu seyn. Um so weniger befremdlich ist der Mangel an vollständigem Sinn und Verstand für Andre. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man nie andere wahrhaft verstehn lernen.“12) „Wir sind gar nicht Ich, wir können und sollen aber Ich werden. Wir sind Keime zum Ich-werden. Wir sollen alles in ein Du, in ein zweites Ich verwandeln; nur dadurch erheben wir uns selbst zum großen Ich, das eins und alles zugleich ist.“13) „Anweisung, überall zu lernen und überal sich zu bilden.14) Allein aus diesen Worten kann man sich leicht einen Begriff davon machen, was dem jungen Novalis am Ethos lag. Ein bewußter Gedanke von Selbsterziehung oder Selbstausbildung war es, der den stets schwankenden Geist zu dessen möglichster Vollendung drängen konnte. Außer praktischen Arbeiten, die Novalis als kursächsischer Salinenbeamte verrichten mußte, trieb er noch viele Studien, und zwar Religion, Geschichte, Philosophie, Mathematik, Chemie, Pharmakologie, Mineralogie und so fort. Vor allen anderen studierte er Philosophie am liebsten und am längsten, insbesondere Fichtes Ich-philo Sophie, woraus er seine eigene, schöne, treffende Ich-Auffassung ziehen konnte wie folgt: "Das Ich soll konstruiert werden. Der Philosoph bereitet, schafft künstliche Elemente und geht so an die Konstruktion. Die Naturgeschichte des Ichs ist dieses nicht, Ich ist kein Naturprodukt, keine Natur, kein historisches Wesen, sondern ein anarchistisches, eine Kunst, ein Kunstwerk.“15) Ich ist ein Kunstwerk, das ist, wie ich schon behauptet habe, eine sehr wichtige Idee, die der strebsame junge Novalis bis an sein Ende immer im Herzen bewahrte. Wie alle anderen Arbeiten hielt er sogar seine Sohriftstellerei bloß für ein Bildungsmittel, was sein Brief an Rahel Just vom 5. Dezember 1798 bekräftigt: "Die Schrift-stellerei ist eine Nebensache—Sie beurteilen mich wohl billig nach der Hauptsache—dem praktischen Leben. Wenn ich gut, nützlich, — 89 — tätig—liebevoll und treu bin—so lassen Sie mir einen unnützen. unguten und harlen Satz passieren. Schriften unberühmter Menschen sind unschädlich, denn sie werden wenig geiesen und bald vergessen. Ich behandle meine Schriftstellerei als ein Bildungsmittel —ich lerne etwas mit Sorgfalt durchdenken und bearbeiten—das ist alles, was ich verlange. Kommt der Beifall eines klugen Freundes noch obendrein, so ist meine Erwartung übertroffen. Nach meiner Meinung muß man zur vollendeten Bildung manche Stufe übersteigen. Hofmeister, Professor, Handwerker sollte man eine Zeitlang werden wie Schriftsteller.“16) Novalis selbst ist in der Tat eine Zeitlang Naturforscher und Amtshauptmann wie Dichter und Schriftsteller geworden. Er hat sich alles zunutze gemacht zu seinem großen Zweck der Zwecke —der Erhebung des Menschen über sich selbst. Er hat sich mit Fleiß und Geduld immer weiter abhärten und über seh selbst erheben wollen, was man bei Betrachtung einer Personalität nicht hoch genug schätzen kann. Im allgemeinen könnte man einen Gegenstand seines Studiums oft viel deutlicher besthnmn als sonst, indem man ihn mit einem anderen vergleicht. Habe ich hier Novalis als Objekt meiner Abhandlung aufgestellt, so möchte ich mich jetzt auf eine andere Person beziehen, wobei ich doch an niemand anderen denken kann als an Goethe, der etwa 23 Jahre früher geboren und 31 Jahre später gestorben als Novalis und dessen Anbeter und Kritiker zugleich dieser zu Lebenszeiten gewesen ist. In welcher Hinsicht aber soll man diesen mit jenem vergleichen? Allerdings handelt es sich hier um das Motiv der Erziehung. Da ich oben von Novalis’ beständigem Ringen um Selbsterkenntnis und Selbstbüdung einigermaßen berichtet habe, möchte ich jetzt die Rede auf dasjenige von Goethe bringen, und mich hierin auf Thomas Mann berufen, der einmal in der Abhandlung über Goethes Laufbahn als Schriftsteller gerade das Erziehungsmotiv treffend behandelt hat. „Ich will aber einen Gedanken, eine Neigung und Idee nennen, die der Hauptausdruck der Liebe des Geistes zum Leben ist. Es — 90 — ist der ErziebungsRcdanke. Goethe war ein durchaus erzieherischer Mensch. Die beiden großen Denkmale seines Lebens, der ‚Faust’ und der ‚Wilhelm Meister’, beweisen es. Namentlich der ‚Wilhelm Meister’ zeigt, wie der autobiographische, bekennerisch-selbstbild-nerische Drang sich objektiviert, sich nach außen ins Soziale, ja Staatsmännische wendet und erzieherisch wird. Drang und Berufung aber zur Erziehung stammen n^ht aus eigener Harmonie, sondern aus eigener Problematik, Disharmonie, Schwierigkeit, aus der bekennenden Nos mit sich selbst. Das Erziehertum des Dichter-Schriftstellers ist zu bestimmen als e'ne bekennende Problematik, als eine UnaJItäglichkeir, die dennoch zur Repräsentativität und zum Ausruck des menschlich Allgemeinen berufen ist...Der Schriftsteller, so kann man definieren, ist der Erzieher, der selbst auf dem sonderbarsten Wege erzogen worden, und immer geht die Erziehung bei ihm Hand in Hand mit dem Kampf mit sich selbst.“17) Es ist nicht zufällig, daß Wilhelm Meister durchaus ein Lieblingsbuch von Novalis war. Zu wiederholten Malen hatte Novelis den Meister so eifrig gelesen, daß er ihn zuletzt teilweiss auswendig lernen konnte. Was überhaupt zog ihn aber so stark an? Wahrscheinlich war es der Erziehungsgedanke im Meister, bei dem er viele Anklänge an sich selbst fand; denn er war selber auch auf dem sonderbarsten Wege erzogen worden. Mit anderen Worten: er mochte vielleicht im Roman ein Vorbid seiner eigenen Selbstbildungs-jahre, nämlich der Übergangsjahre vom Unendlichen zum Endlichen sehen, obwohl er doch später in seinen letzten Lebenstagen anfing scharfe Kritik an Goethe zu üben. Genau wie Goethe war Novalis von Jugend auf darum ganz und gar erzieherisch, weil er selbst ein problematisches Dasein führen mußte. Das kann man nicht schwer verstehn, wenn man von seinem Werdegang etwas Eingehends zu wissen bekommt. Nun soll-in wir wieder auf die besagte Selbsterkenntnis zurückkommen. Sich selbst erkennen ist nicht so leicht, wie man im allgemeinen denkt. Denn von alters her hat es niemand gegeben, der diesen einfachen aber vielsagenden Sinnspruch absolut definieren — 91 — konnte. Freilich kann jeder Mensch diese alte Gnome so auslegen wie er will, aber schließlich könnte man sich nicht damit zufriedengeben. Gibt es denn gar keine Hinweise, worauf wir angewiesen sein können? Doch können wir auch in dieser Hinsicht Goethe zu Rate ziehen. „Man hat zu allen Zeiten gesagt und wiederholt, man solle trachten sich selber zu kennen. Dies ist eine seltsame Forderung, der bis jetzt niemand genüget hat und der eigentlich auch niemand genügen soll. Der Mensch ist mit allem seinem Sinnen und Trachten aufs Äußere angewiesen, auf die Welt um ihn her, und er hat zu tun, diese insoweit zu kennen und sich insoweit dienstbar zu machen, als er es zu seinen Zwecken bedarf. Von sich selber weiß er bloß, wenn er genießt oder leidet, und so wird er auch bloß durch Leiden und Freuden über sich belehrt, was er zu suchen oder zu meiden hat. Übrigens aber ist der Mensch ein dunkles Wesen, er weiß nicht, woher er kommt, noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt, und am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht, und Gott soll mich auch davor behüten.“18) Goethe sagt, er wolle sich selber nicht erkennen, aber gerade daran schein ein Paradoxon zu liegen; denn sein langes, künstlerisches Leben selbst bekundet die Geschichte und Konfession eines sich immer erkennenden und erziehenden Menschen. In den 'Maximen und Reflexionen' finden wir z.B. diejenige Stelle, die uns darauf hinweist, daß Goethe selbst über db Selbsterkenntnis nicht selten nachgedacht habe. „Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: Erkenne dich selbst, so müssen wir es nicht im aszetischen Sinne auslegen. Es ist keineswegs die Heautognosie unserer modernen Hypochondristen, Humoristen und Heautontimormenen damit gemeint; sondern es heißt ganz einfach: Gib einigermaßen acht auf dich selber, nimm Notiz dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst. Hiezu bedarf es keiner psychologischen Quälereien; jeder tüchtige Mensch weiß und erfahrt, was es heißen soll: es ist ein guter Rat, der einem jeden praktisch zum — 92 — größten Vorteil gedeiht.“ 19) Dies ist ein ganz praktischer Gesichtspunkt, der deutlich einen der Grundsätze von Goethes Gesinnungen und Handlungen zum Ausdruck bringt. Goethe war in der Tat kein verträumter Theoretiker, sondern sein ganzes Leben hindurch ein tüchtiger Praktiker. In dieser Beziehung hat Novalis einmal Goethe scharf besprochen: „Goethe ist ganz praktischer Dichter. Er ist in seinen Werken, was der Engländer in seinen Waren ist: höchst einfach, nett, bequem und dauerhaft. Er hat in der deutschen Litertur das getan, was Wedgwood in der englischen Kunstwelt getan hat. Er hat. wie die Engländer, einen natürlich ökonomischen, und einen durch Verstand erworbenen edlen Geschmack. Beides verträgt sich sehr gut und hat eine nahe Verwandtschaft, in chemischem Sinn. In seinen physikalischen Studien wird es recht es klar, daß seine Neigung ist, eher etwas Unbedeutendes ganz fertig zu machen, ihm die höchste Politur und Beauemlichkeit zu geben, als eine Welt anzufangen und etwas zu tun, wovon man voraus wissen kann, daß man es nicht vollkommen ausführen wird, daß es gewiß ungeschickt bleibt, und daß man es nie darin zu einer meisterhaften Fertigkeit bringt. Auch in diesem Felde wählt er einen romantischen oder sonst artig verschlungenen Gegenstand.“20) In diesen Kennzeichnungen darf man etwas Richtiges oder Zutreffendes anerkennen, was Novalis erst nach wiederholtem Lesen in Goethe hat ausfindig machen können, sei es, daß man dafür oder dagegen ist. Ohne Streben nach der Selbsterkenntnis und Selbstbildung kann aus einem Menschen michts werden, wenn er auch mit vollem Talent geboren worden sei. Mit Novalis kann man auch keine Ausnahme machen. Er war eigentlich ein strebsamer, sich nur langsam vollendender Mensch, nicht so ein frühvollendetes Genie, wie man ihn sich im allgemeinen vostellt. Gestützt auf seine naive Empfindsamkeit, bescheidene Selbstbewußtheit und unbeugsame Willenskraft, fing er an im Dunkeln zu tappen, dann erst schlug den Weg zur Selbsterkenntnis ein und ging dabei Schritt für Schritt, um sich langsam weiter biszur Vollendung ausbilden zu lassen. — 93 — Novalis war sich selber seiner langsamen Vollendung voll bewußt. Zum Beispiel beweist es sein folgendes Wort, das sich in einem Brief an Friedrich Schlegel findet: „Ich will mich nicht übereilen und langsam Eins vollenden, um mich selbst vollenden zu lernen.“21) Ein andermal beschrieb Novalis den verworrenen Menschen im Vergleich mit dem geordneten. „Je verworrener ein Mensch ist, man nennt die Verworrenen oft Dummköpfe, desto mehr kann durch fleißiges Selbststudium aus ihm werden; dahingegen die geordneten Köpfe trachten müssen, wahre Gelehrte, gründliche Enzyklopädisten zu werden. Die Ver-worrnen haben im Anfang mit mächtigen Hindernissen zu kämpfen, sie dringen nur langsam ein, sie lernen mit Muhe arbeiten: dann aber sind sie auch Herren und Meister auf immer. Der Geordnete kommt geschwind hinein, aber auch geschwind heraus. Er erreicht bald zweite Stufe: aber da bleibt er auch gewöhnlich stehn. Ihm werden die letzten Scgritte beschwerlich, und selten kann er es über sich gewinnen, schon bei einem gewissen Grade von Meisterschaft sich wieder in den Zustand eines Anfängers zu versetzen. Verworrenheit deutet auf Überfluß an Kraft und Vermögen, aber mangelhafte Verhältnisse; Bestimmtheit auf richtige Verhältnisse, aber sparsames Vermögen und Kraft. Daher ist der Verworrene so progressiv, so perfektibe!, dahingegen der Ordentliche so früh als Philister aufhört. Ordnung und Bestimmtheit allein ist nicht Deutlichkeit. Durch Selbstbearbeitung kommt der Verworrne zu jener himmlischen Durchsichtigkeit, zu jener Selbsterleuchtung, die der Geordnete so selten erreicht. Das wahre Genie verbindet diese Extreme.“22) Als ein wahres Genie hatte Novalis selbst einerseits viel Verworrenes im Leibe, so begabt er auch andereseits war. Sonst hätte er auf keinen Fall dieses Fragment schreiben können. Um mit Fleiß und Ceduld sein eigenens Talent zum Dichten zu entwickeln, und um mit Mühe und Not seine romantische Welt zu ergründen, brauchte er auch lange Lehrjahre, die man wenigstens auf die Dauer von 16 Jahren schätzen kann, und zwar vom 12. Lebensalter, wo er — 94 — Lateinisch und Griechisch kennenlernte und erste Gedichte versuchte, bis zum 28., wo er den ersten Teil des ‚Heinrich von Ofterdingen’ fertig machte. Inzwischen schrieb er über 200 Briefe und machte auch etwa 200 Gedichte, außer einer Abhandlung und zwei Romanversuchen. Noch dazu zählen seine natur-und geisteswissenschaftlichen Fragmente insgsamt mehr als 2300, abgesehn von einigen Tagebüchern, Studienblättern und Reisejournalen. Im Februar 1800 berichtete Novalis dem Kreisamtmann Just von der Vollendung seiner philosophischen Lehrjahre: „Die Philosophie ruht jetzt bei mir nur im Bücherschranke. Ich bin froh, daß ich durch diese Spitzberge der reinen Vernunft durch bin, und wieder im bunten erquickenden Lande der Sinne mit Leib und Seele wohne. Die Erinnerung an die ausgestandenen Mühseligkeiten macht mich froh. gehört in die Lehrjahre der Bildung. Es Uebung des Scharfsinns und der Refexion sind unentbehrlich—Man muß nur nicht über die Grammatik die Autoren vegessen: über das Spiel mit Buchstaben die bezeichneten Größen. Man kann die Philosophie hochschätzen, ohne sie zur Hausverwalterin zu haben, und einzig von ihr zu leben. Mathematik allein wird keinen Soldaten und Mechaniker, Philosophie allein keinen Menschen machen.“23) Aus diesen Worten läßt sich folgern, daß Novalis seinem Wesen nach eher zu Dichtern gehörte als zu Philosophen. Um diese Zeit war er gerade dabei, seinen originellsten Roman 'Heinrich von Ofterdingen' niederzuschreiben, wodurch er nun erfuhr, daß die wahre Poesie erst da anfängt, wo die philosophische Sphäre zu Ende geht. Wie der Held seines Romans wurde er selbst zum Dichter reif genug, um etwas zu schreiben und zu dichten, was seit langem sein sehnlichstes Verlangen gewesen war. Zuletzt werde ich noch einmal auf das Problem der Selbsterkenntnis zurückkommen. Inwieweit Novalis überhaupt sich selbst erkennen konnte, das gibt uns sein Brief-an Tieck zu verstehen: „Mein Bruder ist recht fleißig und es rührt sich in ihm unser gemeinschaftliches Band, die Poesie. Er dichtet und schreibt, und wie mich dünkt, nicht ohne Hoffnungen. Er hat in kurzer Zeit viele — 95 — Schwierigkeilen der ersten Versuche überwunden und seine Versi-fication bildet sich immer mehr. Ich habe ihn gebeten nur amsig fortzufahren und sich von den Fehlern der ersten Versuche nicht abschrecken zu lassen. Er muß sich nachgerade von dem Einfluß seiner Lieblingsmuster losmachen lernen. Man lernt nur nach gerade ohne Hilfe gehn und es ist gut, wenn die Muster auch ihren eignen poetischen Gang gehn. Du bist ihm noch hinderlich—Er hat sich in Dich hineingelesen und nun wird alles tieckisch. Ich suche ihn Dir mit guter Manier abwendig zu machen—Kann er erst selbst gehn, so mag er immer in Deine Pußtapfen treten. Es freut mich sein Eyfer, der ihm gewiß belohnt wird und ich sehe ihn gern in eine Beschäftigung vertieft, die auf alle Weise zur Reife befördert, und den anmuthigsten Lebensgenuß gewährt.“24) Dieses treffende Urteil über seinen zweiten Bruder gründet sich auf seine eigene Erfahrung, daß er selbst auch im Dichten und Schreiben viele gleichartige Schwierigkeiten hatte, sie mit großer Mühe überwinden und sich nachgerade von allem Einfluß seiner bisherigen Lieblingsmuster (insbesondere von Goethe) losmachen mußte. Zu diesem Zeitpunkt wußte er in Dichtung und Leben schon gut Bescheid, daher konnte er ebenso sagen wie Reiner Maria Rilke, daß die Poesie ganz und gar auf Erfahrung beruhe. Erfahren heißt die Leiden erdulden, Schmerzen ertragen und Schwierigkeiten des Lebens überwinden. Auf dem Wege zur Selbsterkenntnis kann man sich nur dadurch überwinden, daß man sich stets schwierige Aufgaben stellt und sie zur Ausführung bringt. Dieser Weg läuft nicht immer auf flachen Ebenen, sondern manchmal auf so schroffen Felsengegenden, daß man oft den gefährlichen mühseligen Gang gehen muß und sein Endziel nur selten erreichen kann. Es gibt zwar viele Leute, die immer mit Nachdruck behaupten, wie mühsam und schwer man sein tägliches Brot verdienen muß, aber leider wenige, die genau wie Sokrates sich so eifrig bestreben, ihren Geist immer gößer zu machen und sich desto weniger um Körper und Geld zu kümmern. Wenn man doch wahrer Mensch werden will, dann muß man immer — 96 — danach streben, daß man auf olle Fälle durch die enge Pforte eingeht. In diesem Sinne können wir uns Novalis zum Vorbild nehmen. Denn als Weltmann und Dichter zugleich wußte er sich immer Proben zu geben und sie zu ertragen. Tatsächlich ist er der einzige unter seinen zeitgenössischen Romantikern, der einen festen Beruf ausgeübt und nur in Nebenstunden dichterische Werke geschaffen hat. Der Unterschied zwischen seinem Alltagsleben und seiner Dichtung scheint zwar sehr groß, abei der Schein trügt oft. Um das rechte Verständnis für diesen Romantiker zu bekommen, muß man in erster Linie sein Gewissen und dessen Herkunft, sein Ethos und dessen Wirkung erforschen. Sonst könnte man eine solche Persönlichkeit durchaus nicht richtig verstphn, geschweige denn sie würdigen. Jetzt möchte ich diesen Aufsatz über Novalis mit einem Gedicht beschließen: Volk und Knecht und Überwinder, Sie gestehn, zu jeder Zeit, Höchstes Glück der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit. Anmerkungen Orthographie und Interpunktion in den Zitaten basieren auf den als Quellen angegebenen Texten. Es werden folgende Abkürzungen verwandt: HKA = Novalis Historisch-kritische Ausgabe. Stuttgart Bd.l : 1960 ; Bd.2 : 1965 ; Bd.3 : 1968 ; Bd.4 : 1975. Die Angaben beziehen sich auf Band und Seite. NFRA = Novalis Fragmente. Erste vollständige, geordnete Ausgabe. Dresden 1929. EGMG =Eckermanns Gespräche mit Goethe in zwei Bänden. Der Tempel Verlag in Leipzig. Ohne Jahresangabe. Die Angaben beziehen sich auf Band und Seite. 1 ) HKA 4, 373. 2 ) EGMG 2, 67 f. 3 ) Nietzsches Werke in drei Bänden. München 1966. Bd.2. S. 652. 4) ebd. S. 738. 5) G.W.F.Hegel Werke in zwanzig Bänden. Prankfurt am Main 1970. Bd.10. S. 108. — 97 —