Ethik-Zentrum der Universität Zürich Gesundheitliche Schädigungen durch mangelhafte Arzneimittel: wer ist moralisch verantwortlich? Individuelle und korporative moralische Verantwortung Diplomarbeit im Rahmen des Nachdiplomstudienganges 2005-2007 Master of Advanced Studies in Applied Ethics (ASAE) von Hans Ulrich Gally Im Margarethenletten 3 4053 Basel 30. August 2007 Redaktionelle Überarbeitung April 2009 Erstgutachter: Prof. Dr. M. Huppenbauer (Zürich) Zweitgutachter: PD Dr. St. Grotefeld (Zürich) Tutor: Paulus Kaufmann (Zürich) Seite 1 von 48 1 Einführung ............................................................................................................................... 4 2 Beispiele von Gefährdungen von Patienten durch mangelhafte oder riskante Arzneimittel – mögliche moralische Fragen .................................................................................................. 7 2.1 Klinische Studie Phase I: Änderung des Studiendesigns nach ernsthaften Nebenwirkungen ................................................................................................................ 7 2.2 Unerwartete Nebenwirkungen eines eingeführten Arzneimittels Rückzug des Schmerzmittels Vioxx ........................................................................................................ 9 2.3 Qualitätsmängel bei auf dem Markt befindlichen Arzneimitteln ........................... 10 2.4 Gemeinsame Aspekte der verschiedenen Fälle einer Gefährdung durch Arzneimittel ...................................................................................................................... 11 3 Der Begriff der Verantwortung ............................................................................................ 11 3.1 Verantwortung als mehrstelliger Relationsbegriff ................................................. 11 3.2 Beispiel von Verantwortungsrelationen bei Arzneimitteln .................................... 12 4 Was es bedeutet, Verantwortung zu tragen .......................................................................... 13 4.1 Die Entwicklung des Begriffs der Verantwortung ................................................. 13 4.2 Moralische Verantwortung ..................................................................................... 14 4.3 Wer kann Verantwortung tragen? .......................................................................... 14 4.4 Prospektive und retrospektive moralische Verantwortung, Handlung und Unterlassungen und Schuld .............................................................................................. 16 5 Korporative Verantwortung ................................................................................................. 17 5.1 Was ist eine Korporation, eine Institution und ein Unternehmen? ....................... 17 5.2 Individuelle Verantwortung innerhalb von Korporationen .................................... 17 5.3 Gibt es korporative Verantwortungen? .................................................................. 18 5.4 Verteilung von Verantwortung bei mehreren Akteuren ......................................... 18 5.5 Das Personenmodell des Unternehmens nach Peter A. French ............................. 19 5.6 Das Maschinen-Modell des Unternehmens von John Ladd ................................... 20 Seite 2 von 48 5.7 Verantwortung des Individuums als Basis der Unternehmensethik....................... 21 5.8 Die sekundäre moralische Verantwortung der Korporation .................................. 23 5.9 Folgerungen zur moralischen Verantwortung von Unternehmen .......................... 24 6 Die moralische Entwicklung eines Unternehmens............................................................... 25 6.1 Das Konzept von Lawrence Kohlberg zur moralischen Entwicklung von Individuen......................................................................................................................... 25 6.2 Die moralische Stufen bei Unternehmen ............................................................... 26 7 Entscheide bei Risiken und Mängeln von Arzneimitteln ..................................................... 29 7.1 Unter welchen Bedingungen werden die Entscheide getroffen? ........................... 29 7.2 Der Umgang mit Risiken und Ungewissheiten bei Entscheiden............................ 31 8 Güterabwägungen und Dilemmas bei Entscheiden zu Risiken von Arzneimitteln ............. 35 8.1 Moralische Dilemmas ............................................................................................ 35 9 Die moralische Verantwortung eines Unternehmens gegenüber dem Patienten ................. 37 9.1 Patient wird einem Risiko ausgesetzt, ohne dass er sich dessen bewusst ist und dazu eingewilligt hat ........................................................................................................ 37 9.2 Der Prinzipien-Ansatz von Beauchamp und Childress und die moralische Verantwortung des Unternehmens ................................................................................... 39 10 Die Integration der moralischen Verantwortung für die Arzneimittelsicherheit im Unternehmen ........................................................................................................................ 40 10.1 Die rechtliche Verantwortung für die Qualität der Arzneimittel ........................... 40 10.1 Die Organisation eines Pharmaunternehmens........................................................ 40 10.2 Warum moralische Verantwortung in die Unternehmenskultur und -organisation integriert werden muss ..................................................................................................... 41 10.3 Wie kann die moralische Verantwortung in der Praxis im Unternehmen wahrgenommen werden?.................................................................................................. 42 11 Zusammenfassung ........................................................................................................... 43 12 Literaturverzeichnis ......................................................................................................... 45 Seite 3 von 48 1 Einführung Arzneimittel sollen dazu dienen, Krankheiten zu heilen, deren Symptome und Folgen zu lindern oder Krankheiten zu verhindern. Bei jeder Anwendung von Arzneimitteln ist auch zu bedenken, dass Nebenwirkungen möglich sind und dass gesundheitliche Schäden durch das Arzneimittel hervorgerufen werden können. So kann es schon bei der für die Entwicklung von Arzneimitteln nötigen klinischen Versuchen an gesunden und kranken Probanden zu unerwarteten und unter Umständen gefährlichen Nebenwirkungen kommen. Auch wenn alle für die Zulassung des Arzneimittels nötigen Untersuchungen erfolgreich abgeschlossen wurden und die Wirkungen und Nebenwirkungen des Medikaments weitgehende bekannt sind kann nicht ausgeschlossen werden, dass nachträgliche bei speziell sensiblen Personengruppen unerwartete Nebenwirkungen auftreten oder dass bei einer kombinierten Behandlung mit anderen Medikamenten unerwartete medizinische Effekte auftreten. Auch können bei der Herstellung der Medikamente für die Gesundheit der Patienten kritische Qualitätsmängel entstehen, die möglicherweise erst nach der der Freigabe und dem Vertrieb der ArzneimittelChargen für den Markt erkannt werden. Falls nun Qualitätsmängel erkannt werden oder Signale für Nebenwirkungen auftauchen, die unter Umständen noch nicht eindeutig interpretiert werden können, muss entschieden werden, ob Massnahmen ergriffen werden sollen, um Gefahren für die Patienten abzuwehren, wie zum Beispiel ein Rückruf einzelner Produktions-Chargen des Arzneimittels oder der generelle Rückzug des Arzneimittels vom Markt. Bei allen geschilderten Fällen stellt sich die Frage, wer die Verantwortung, in speziellen die moralische Verantwortung für die Verhütung einer Schädigung der Patienten durch das mangelhafte Arzneimittel trägt. In gewissen Fällen sind Verantwortungen durch Gesetze klar zugeordnet, in anderen Fällen ist es jedoch rechtlich gesehen nicht eindeutig, wer die Verantwortung trägt und zum Handeln verpflichtet wäre. Oft ist die Faktenlage auch so komplex und mehrdeutig, dass die richtige Handlungsoption nicht einfach erkannt werden kann und dass Risiken gegeneinander abgewogen werden müssen. Güterabwägungen sind vorzunehmen und unter Umständen sind Dilemmaentscheide zu treffen. Nicht zuletzt spielen auch wirtschaftliche Überlegungen eine nicht zu unterschätzende Rolle und die Verantwortungsträger können in eine Konfliktsituation kommen. Seite 4 von 48 Die Handlungsentscheide verlangen daher oft ein Abwägen von verschiedenen Handlungsalternativen und es stellt sich die Frage nach der moralischen Verantwortung für den Entscheid und damit für das Wohl der Patienten. Diese Entscheide werden von Akteuren getroffen, die in ihrer Funktion Mitglieder einer Korporation respektive eines Unternehmens sind. Kann die moralische Verantwortung immer einzelnen Individuen zugeschrieben werden oder gibt es auch eine korporative moralische Verantwortung für die Entscheide über die Arzneimittelsicherheit und damit über das Wohlergehen der Patienten? Diese Arbeit will der Frage nachgehen, wer diese moralische Verantwortung im PharmaUnternehmen trägt und wie diese im Spannungsfeld von Individuum und Korporation in entsprechendes Handeln umgesetzt werden kann. Unter Korporationen sollen in dieser Arbeit Organisationen wie Unternehmen, öffentliche Institutionen und Verbände verstanden werden, die auf Grund einer Zielsetzung intentional und autonom handeln und daher auch für die Folgen ihrer Handlungen oder Unterlassungen öffentliche oder gesetzlich zur Rechenschaft gezogen werden können. Korporationen haben heute eine grosse Entscheidungsmacht und beeinflussen unser Leben in einem Masse, dass bei der Ausarbeitung der klassischen Moraltheorien von Aristoteles, Kant, Bentham und anderen Ethikern noch unvorstellbar war. Wenn wir die Entwicklung der Anforderungen an die Qualität, Sicherheit und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln betrachten so zeigt sich oft, dass das entschiedene Eintreten von Einzelpersonen, die eine genügende Abklärung der gesundheitlichen Risiken verlangten, für die Patientensicherheit von entscheidender Bedeutung war. Als Beispiel kann hier die Rolle, welche der medizinische Begutachterin Frances Oldham Kelsey der „Food and Drug Administration“ (FDA) der Vereinigten Staaten bei der Zulassung des Medikaments Contergan zukam, angeführt werden. Das Arzneimittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid wurde 1957 ohne ausreichende Untersuchung der Nebenwirkungen in Europa zugelassen. Auch schwangere Frauen nahmen dieses Schlafmittel häufig ein und in der Folge kam es zu zahlreichen schweren Schädigungen der Embryonen. In den Vereinigten Staaten hingegen wurde dieses Medikament nie zugelassen, da Frau Kelsey auf genügenden abgesicherten klinischen Studien zur Gefährdung von Embryonen durch Contergan bestand und der Antragsteller diese nicht beibringen konnte. Dadurch wurde viel Leid verhindert und Frau Kelsey leistete einen massgeblichen Beitrag zur Festlegung der heutigen Anforderungen an die Prüfung der Sicherheit von Arzneimitteln (Bren 2001). Seite 5 von 48 Die moralische Entscheidungskompetenz von Personen oder Personengruppen, die in einer Institution oder einem Unternehmen für die Beurteilung der Qualität und Sicherheit eines Arzneimittels verantwortlich sind, sind also für das Wohlergehen und die Sicherheit der Patienten von zentraler Bedeutung. Es muss daher in jeder Organisation sichergestellt werden, dass diese wichtigen Verantwortungen gegenüber dem Patienten klar zugewiesen und mit den nötigen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet werden. Daher möchte ich die folgenden Thesen „anschlagen“ und im Folgenden auch begründen: These Die Sicherung der Arzneimittelqualität zum Schutz der Gesundheit der Patienten muss bei der Entwicklung und Herstellung von Arzneimitteln an erster Stelle stehen. Verantwortungen für die Arzneimittelqualität müssen klar zugewiesen werden um sicherzustellen, dass gesundheitsgefährdende Arzneimittel nicht auf den Markt kommt oder, falls gesundheitsgefährdende Mängel erst nach Markteinführung festgestellt werden, dass umgehend Massnahmen zur Minderung oder Elimination der gesundheitlichen Gefahren ergriffen werden. Die Führung von pharmazeutischen Unternehmen hat daher die moralische Pflicht eine Organisation aufzubauen und zu unterhalten, welche die Risiken überwacht, die Verantwortungen für die Arzneimittelqualität klar zuweist und auch bei korporativen Entscheiden sicherstellt, dass diese immer unter Berücksichtigung der moralischen Pflichten gegenüber den Patienten gefällt werden. Daneben trägt ein Unternehmen auch eine korporative, nicht personenbezogene moralische Verantwortung für die Kompensation von Schäden und die Verhinderung von zukünftigen Schädigungen durch mangelhafte Arzneimittel. 1. Die Verantwortlichen für die Qualität und Sicherheit der Arzneimittel sind in erster Linie gegenüber dem Patienten als Person moralische verpflichtet, nur einwandfreie Arzneimittel zu vertreiben. Es ist ihr moralische Pflicht, die Sicherheit und Gesundheit des Patienten an erster Stelle zu setzen und sie müssen die Konsequenzen ihres Handelns grundsätzlich gegenüber dem Patienten als Person rechtfertigen können. 2. Das Unternehmen hat für eine Organisation zu sorgen, die sicherstellt, dass Verantwortungen klar zugewiesen werden und Entscheide zur Qualität und Sicherheit der Arzneimittel vom den dafür moralisch Verantwortlichen unabhängig von anderen Interessen der Organisation gefällt werden können. Seite 6 von 48 3. Bei komplexen Entscheiden mit der Beteiligung mehrere Personen muss gewährleistet sein, dass die moralische Verantwortung gegenüber dem Patienten effektiv wahrgenommen wird. Eine oder mehrer Personen müssen für die Entscheide persönlich die moralische Verantwortung übernehmen. Diese Personen müssen klar bezeichnet werden, eine Verantwortungsdiffusion, bei der die Verantwortung niemanden mehr klar zugeschrieben werden kann, darf nicht vorkommen. 4. Das Unternehmen als ganzes hat gegenüber dem Patienten den Status einer moralischen Person (eines Gegenübers) und muss dementsprechend die moralische Verantwortung für Schäden übernehmen. Der Patient darf gegenüber dem Unternehmen nicht nur Bittsteller sein, sondern er hat Anspruch auf einen verantwortlichen Ansprechpartner, der ihn als Person ernst nimmt und auf seine berechtigen Ansprüche eingeht. Dies gilt unabhängig von der Verantwortung einzelner Mitarbeiter des Unternehmens, die möglicherweise Verursacher eines Schadens sind und persönlich dafür haftbar gemacht werden können. 5. Ein Unternehmen muss sich seiner moralischen Verantwortung bewusst sein und durch das interne Führungs- und Wertesystem sicherstellen, dass eine entsprechende Unternehmenskultur existiert und so die moralische Verantwortung wirklich wahrgenommen werden kann. 2 Beispiele von Gefährdungen von Patienten durch mangelhafte oder riskante Arzneimittel – mögliche moralische Fragen 2.1 Klinische Studie Phase I: Änderung des Studiendesigns nach ernsthaften Nebenwirkungen Klinische Studien der klinischen Phase I dienen zur Prüfung der Sicherheit von Arzneimitteln am Menschen, nach dem Prüfungen an biologischen Systemen und an Tieren durchgeführt wurden. Diese Studien werden meist an gesunden Freiwilligen durchgeführt. Im März 2006 wurden der monoklonale Antikörper TGN 1412 zum ersten Mal intravenös an sechs junge, gesunde Männer verabreicht (Mayor 2006). Dieser Antikörper bindet spezifisch an ein Oberflächenmolekül sogenannter T-Zellen des menschlichen Immunsystems. Diese TZellen spielen eine zentrale Rolle bei verschiedenen Immunantworten des menschlichen Organismus. Der hier zur Anwendung gelangte Wirkstoff wurde zur Behandlung der Seite 7 von 48 Leukämie sowie von Autoimmunerkrankungen und Entzündungen entwickelt. Er wurde zuvor nur bei Tieren, jedoch noch nicht an Menschen getestet. Alle sechs Freiwilligen entwickelten innerhalb von drei Stunden ernsthafte gesundheitliche Störungen. Später erlitten sie multiple Organversagen und mussten in einer Intensivstation eines Krankenhauses behandelt werden. Offenbar hatten sich entzündliche Reaktionen entwickelt, die den ganzen Körper in Mitleidenschaft zogen. Sehr wahrscheinlich bleiben bei Ihnen irreversible Schädigungen zurück, die auch zu einem vorzeitigen Tod führen könnten. Wer trägt nun die rechtlichen und moralischen Verantwortung für die gesundheitliche Schädigung dieser Personen, die zwar freiwillig am Test teilgenommen hatten, über die Möglichkeit von so ernsthaften Nebenwirkungen jedoch vermutlich nicht oder nicht ausreichend informiert wurden? In einer Publikation zu diesem Vorkommnis (Kenter und Cohen 2006) wird diskutiert, ob solche ernsthafte Folgen für die Gesundheit der Probanden bei sorgfältigen Abklärungen nicht voraussehbar gewesen wären und ob bei der Durchführung und Bewertung der präklinischen Tests nicht Fehler passiert seien. Nach dem jetzigen Stand der Abklärungen kann jedoch davon ausgegangen werden, dass zumindest keine groben Fahrlässigkeiten begangen wurden (Hopkin 2006). Als Folge dieses Ereignisses wurde die Empfehlung herausgegeben, erste Tests der klinischen Phase I bei Wirkstoffen einer neuen chemischen oder biologischen Klasse nur noch mit einer Person und geringsten Mengen durchzuführen. Die von den Behörden erlassenen Richtlinien für klinische Versuche wurden als Folge dieses Ereignisses ergänzt (http://www.emea.europa.eu/pdfs/human/swp/2836707en.pdf). Es stellt sich hier die Frage, ob neben der haftungsrechtlichen Verantwortung auch eine moralische Verantwortung vorliegt und wer diese tragen müsste. Klinischen Tests müssen zwar von einer Ethikkommission geprüft und gutgeheissen werden, das garantiert jedoch noch nicht, dass alle Risiken von den Mitgliedern der Ethikkommission erkannt werden können, wie dieses Beispiel eindrücklich zeigt. Soll eine moralische Verantwortung nun auch dem für die Entwicklung verantwortlichem Unternehmen als solchem zugeschrieben werden oder trifft die moralische Verantwortung nur einzelne Mitarbeiter des Unternehmens oder der Studieneinrichtung? Es kann schwierig oder unmöglich sein, Personen direkt moralisch verantwortlich zu machen, da an der Entwicklung sowie an der Ausarbeitung und Durchführung der präklinischen Tests viele Personen mitgearbeitet haben. Welche Person trägt nun die moralische Verantwortung – ein einzelner Entscheidungsträger oder eine Gruppe Seite 8 von 48 von Personen? Wie geht das Unternehmen mit dieser Problematik um, welche Folgerung im Bezug auf die Verantwortung für die Schädigung der Probanden werden gezogen und welche Massnahmen werden ergriffen, um in Zukunft ähnliche Schäden zu vermeiden? 2.2 Unerwartete Nebenwirkungen eines eingeführten Arzneimittels: Rückzug des Schmerzmittels Vioxx durch die Firma MSD Im September 2004 wurde das in vielen Ländern von den Arzneimittelbehörden zugelassene Schmerzmittel Vioxx (Wirkstoff: Rofecoxib) weltweit vom Markt zurückgezogen (Aronson 2006). Eine Studie hatte ergeben, dass die Verwendung von Vioxx mit einem erhöhten Risiko von kardiovaskulären Ereignissen in Verbindung gebracht werden kann. Dieses Medikament wurde seit der Markteinführung von sehr vielen Patienten eingenommen. Es gibt Schätzungen, dass über 20 Million Amerikaner diese Medikament eingenommen haben und bis zu 144'000 möglicherweise geschädigt wurden. Auch wenn diese Schätzung zu hoch gegriffen wäre, so bleibt doch die Tatsache, dass viele Menschen Leid erfahren mussten. In der Folge wurden auch die Risiken von anderen Schmerzmitteln mit gleichem oder ähnlichem Wirkprinzipien untersucht und von den Gesundheitsbehörden wurden Empfehlungen zur Verwendung dieser Schmerzmittel herausgegeben. Die Pharmaindustrie hatte diese Arzneimittel sehr stark beworben und als ideale Therapie bei allen möglichen Schmerzen bezeichnet. Es gibt Anzeichen dafür, dass schon früher Hinweise auf eine erhöhte Gefahr für kardiovaskuläre Schädigungen vorlagen, diese jedoch nicht genügend ernst genommen wurden. Hat die Furcht vor dem Feststellen dieser Tatsache und den daraus entstehenden persönlichen und finanziellen Konsequenzen Verantwortungsträger daran gehindert, diese Problematik schon früher anzusprechen? Gibt es so etwas wie ein moralischer Schwellwert, ab dem die Verantwortlichen erst zu handeln beginnen? Auch hier stellt sich die Frage, ob neben der Pflicht zum Schadensersatz nicht auch moralische Verantwortungen von Mitarbeitern des Unternehmens existiert oder das Unternehmen selbst als Akteur moralische verantwortlich ist. Der Entscheid, ein potentiell umsatzstarkes Medikament für den Markt freizugeben, wird in einem komplexen Prozess von verschiedenen Personen eines Unternehmens getroffen und wirtschaftliche Aspekte sind von grosser Wichtigkeit. Es stellt sich hier gebieterisch die Frage, ob die moralische Verantwortung in einer solchen Situation im Unternehmen richtig verankerte ist und auch wahrgenommen wird. Seite 9 von 48 2.3 Qualitätsmängel bei auf dem Markt befindlichen Arzneimitteln Auf dem Markt befindliche Arzneimittel können durch Herstellungs- oder Entwicklungsfehler bedingte qualitative Mängel aufweisen, die erst nach der Marktfreigabe von den Verwendern oder dem Pharmaunternehmen entdeckt werden. Diese Mängel können für die sichere Anwendung des Arzneimittels von geringer Bedeutung sein (Klasse III), möglicherweise zu leichteren Gesundheitsschädigungen führen (Klasse II) oder auch lebensbedrohlich sein (Klasse I). Typische Qualitätsmängel sind zum Beispiel eine mangelhafte Stabilität, die zu einer Verminderung der Wirksamkeit oder zu einem erhöhten Gehalt an Zersetzungsprodukten führt, beschädigte Packungen, bei denen das Arzneimittel austreten oder verunreinigt werden kann sowie falsche Bezeichnungen oder Untermischungen mit anderen Arzneimittel. Je nach Schweregrad des Mangels muss das mangelhafte Arzneimittel teilweise oder ganz vom Markt zurückgezogen und die Verwender müssen informiert werden. Bevor eine Charge, das heisst eine aus Sicht der Herstellung qualitativ homogene Menge eines Arzneimitteln auf den Markt gebracht werden darf, muss diese umfassend geprüft und von der fachtechnisch verantwortlichen Person für den Vertrieb freigegeben werden. Gemäss schweizerischem Heilmittelgesetz kann diese Person rechtlich zur Rechenschaft gezogen werden, falls ein Patient durch ein qualitativ mangelhaftes Arzneimittel geschädigt werden sollte. Nicht immer sind jedoch die Ursachen für den Mangel klar ersichtlich und oft kann nicht ein offensichtlich Schuldiger bezeichnet werden. Der Mangel könnte durch einen Mitarbeiter verursacht worden sein und vielleicht war es faktisch unmöglich, den Mangel bei der Freigabe des Arzneimittels festzustellen. Selbst wenn Arzneimittel zurückgerufen werden, können Risiken nicht ausgeschlossen werden; nicht alle Verwender erhalten oder verstehen die Rückrufmeldung, die Patienten können verunsichert und die Compliance in Frage gestellt werden. Auch könnte kein Ersatz für das mangelhafte Arzneimittel verfügbar und eine Weiterführung der Arzneimittel-Therapie daher nicht möglich sein und der Patient könnte dadurch gefährdet werden. Es stellt sich auch hier die Frage, inwieweit neben der fachtechnisch verantwortlichen Person auch noch andere Personen moralische verantwortlich sind und ob nicht auch das Unternehmen als solches eine moralische Verantwortung trifft, falls es ungenügende Vorkehrungen zu Verhinderung solcher Schäden getroffen hat. Seite 10 von 48 2.4 Gemeinsame Aspekte der verschiedenen Fälle einer Gefährdung durch Arzneimittel Alle diese Fälle von Gefährdungen der Gesundheit des Probanden oder Patienten durch gefährliche oder mangelhafte Arzneimittel sind drei Punkte gemeinsam. Erstens sind die Patienten beim Eintreten der Gefährdung nicht oder nicht ausrechend über den Mangel informiert und sie sind den Risiken ohne ihre informierte Einwilligung ausgesetzt. Wer trägt hier in welchem Ausmass die moralische Verantwortung für das Wohlergehen dieser Personen? Zweitens konnten die Gefährdungen beim Entscheid über den Einsatz nicht eindeutig erkannt werden, es liegt also keine grobe Fahrlässigkeit vor. Sie hätten jedoch möglicherweise auf Grund eines umfassenden Risiko- und Qualitätsmanagements erkannt werden können. Dies sind Aufgaben, die in einem Unternehmen umfassend gelöst werden müssen. Entscheide über das Handeln oder nicht Handeln erfolgen meist, ohne dass absolute Gewissheit über die Folgen vorliegt. Überlegungen zu Entscheiden auf Grund von Risikoerwägungen sind also einzubeziehen. Drittens sind in einer Korporation praktisch immer mehrere Personen bei die Entscheidungsfindung beteiligt, das Unternehmen handelt als kollektiver Akteur und es muss untersucht werden, wer welche strafrechtliche oder moralische Verantwortung trägt – Einzelpersonen, ein Kollektiv von Personen oder auch das Unternehmen als solches? 3 Der Begriff der Verantwortung 3.1 Verantwortung als mehrstelliger Relationsbegriff Der Begriff der Verantwortung kann als mehrstelliger Relationsbegriff angesehen werden (Rophol 1996). Getragen wird die Verantwortung von einem Verantwortungssubjekt. Dies kann eine einzelne Person oder auch eine Korporation wie zum Beispiel ein pharmazeutisches Unternehmen sein. In einer Korporation kann die Verantwortung auch einer speziellen Gruppe von Personen mit entsprechenden Entscheidungsbefugnissen zugeteilt worden sein. Das Verantwortungssubjekt ist im Bezug auf eine bestimmte Aufgabe oder Stellung in ihrem Umfeld oder der Korporation zuständig. Dies kann explizit in einer Stellenbeschreibung oder auf Grund der Organisationsstruktur und dem zugehörigen Organisationssystem sowie den Seite 11 von 48 dort beschriebenen Prozessen und Zuständigkeiten festgelegt sein, kann sich jedoch auch auf Grund einer nicht vorgesehenen Situation aus der Position in der Firma, der sozialen Stellung und den Fähigkeiten einer Person ergeben, ohne dass dies vorher schriftlich oder mündlich festgelegt worden sein muss. Dieses Verantwortungssubjekt ist für eine Handlung, Handlungsfolgen oder Zustände rechenschaftspflichtig. Die Verantwortung kann sich auch auf die Folgen von Unterlassungen und nicht wahrgenommenen Pflichten beziehen. Das Verantwortungssubjekt ist gegenüber einem Adressaten verantwortlich. Dies kann eine Person – ein Patient, ein Unternehmen, die lokale oder internationale Instanzen oder die Gesellschaft generell sein. Gegenüber diesem Adressaten muss moralisch Rechenschaft abgelegt werden können. Verantwortlich ist das Verantwortungssubjekt im Bezug auf Normen oder Gesetze. Diese umfassen nicht nur die staatlichen Gesetze und technische Normen, sondern auch die moralischen, oft ungeschriebenen Normen und Werte der Gesellschaft. Die Verantwortlichen müssen gegenüber Gerichten oder gegenüber den Beurteilungen der Betroffenen oder der Öffentlichkeit im Bezug auf ihre Handlungen und deren Folgen Red und Antwort stellen. Gegenüber ihrer inneren Instanz, ihrem Gewissen, müssen sie die Handlungen und ihre Folgen persönlich verantworten können. Verantwortung muss einerseits prospektiv im Bezug auf die Handlungsentscheide und retrospektiv im Bezug auf die Folgen der Handlung getragen werden. Es ist die Aufgabe des Verantwortungssubjekts die Handlungsalternativen gegeneinander abzuwägen, für die Folgen einzustehen und gegebenenfalls daraus weitere Entscheide und Aufgaben abzuleiten. 3.2 Beispiel von Verantwortungsrelationen bei Arzneimitteln Im Bezug auf die vorgängig besprochenen Fälle von risikoreichen Arzneimitteln kann die Verantwortungsrelation wie folgt beschrieben werden. Bei der Durchführung von klinischen Studien trägt der Studienleiter gemäss den ihm auferlegte Aufgaben und Pflichten gegenüber dem Probanden, der sich für die Prüfungen zur Verfügung stellt, die Verantwortung für dessen Gesundheit und möglichen Gesundheitsbeeinträchtigungen als Folge der Studie. Prospektiv muss er mögliche negative Folgen abschätzen und Notfallmassnahmen vorbereiten. Retrospektiv kann er für Schäden Seite 12 von 48 von Gesetzeswegen verantwortlich gemacht und vor der Ethikkommission, den Behörden oder dem Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Bei einem neu auf den Markt gebrachten Arzneimittel trägt das Unternehmen als produktverantwortliche Zulassungsinhaberin gegenüber den Patienten und der Gesellschaft die prospektive Verantwortung dafür, unerwartete Arzneimittelwirkungen zu erfassen, den Behörden zur Kenntnis zu bringen und nötigenfalls Massnahmen zu ergreifen um Schädigungen zu vermeiden. Auf Grund des Heilmittelgesetzes kann das Unternehmen bei Verletzung der Meldepflicht vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Bei einem sich auf dem Markt befindlichen Arzneimittel trägt die fachtechnisch verantwortliche Person die prospektive Verantwortung für dessen zulassungskonforme Qualität. Bei einem Qualitätsmangel kann sie auf Grund der Bestimmungen des Heilmittelgesetzes retrospektiv für eventuelle gesundheitliche Schädigungen von Patienten verantwortlich gemacht und vor Gericht gezogen werden. 4 Was es bedeutet, Verantwortung zu tragen 4.1 Die Entwicklung des Begriffs der Verantwortung Der Begriff der Verantwortung wird erst seit der Zeit der Aufklärung und der Entstehung der heutigen wirtschaftlichen und technisch-naturwissenschaftlichen Kultur in dem heute verstandenen Sinn gebraucht. Kant spricht noch nicht von der Verantwortung des Menschen, sondern von den Pflichten, die ein vernünftiger Mensch beachten soll. Eine Pflicht erfüllen wir gegenüber einem Mitmenschen, den wir als Zweck an sich, das heisst als menschliche Person, und nicht nur als Mittel achten sollen. Der Begriff der Verantwortung umfasst einerseits den Bereich der Pflichten, wird aber andererseits auch weiter gedacht. Verantwortlich sind wir nicht nur gegenüber dem direkt uns gegenüberstehenden Mitmenschen, sondern zum Beispiel auch gegenüber der Gesellschaft oder der Organisation, der wir angehören oder auch gegenüber der Umwelt. Verantwortung tragen heisst auf Fragen anderer antworten können, die sich im Bezug auf die Folgen unserer Handlungen stellen können. Die Frage nach den Verantwortlichen für ein Übel wird in unserer Zeit oft gestellt, es ist jedoch nicht immer klar, welche Individuen nun wirklich direkt für einen Schaden verantwortlich gemacht werden können und welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um Verantwortungen klar einer Person zuschreiben zu können, speziell in komplexen Seite 13 von 48 Situationen wie sie in einem Unternehmen oft vorliegen. Die Bedeutung des Begriffs Verantwortung muss deshalb auch im Bezug auf das Handeln in Rahmen einer Tätigkeit innerhalb einer Korporation wie einer wirtschaftlich ausgerichteten Organisation, die komplexe Entscheidungsstrukturen besitzt und in einem vielfältigen Umfeld tätig ist, geklärt werden. 4.2 Moralische Verantwortung Wie unterscheidet sich die rein technische und organisatorische Verantwortung vor der moralischen Verantwortung? Bei beiden Verantwortungstypen kann der Handelnde für die Folgen seiner Handlungen oder Unterlassungen zur Rechenschaft gezogen werden. Bei der rein technischen oder bloss organisatorischen Verantwortung gehen wir davon aus, dass zwar Schäden entstehen können, dass jedoch keine Personen unmittelbar geschädigt werden und die Folgen grundsätzlich finanziell oder durch andere Kompensationsmechanismen wieder gut gemacht werden können. Moralisch verantwortlich im direkten Sinn sind wir in denjenigen Fällen, bei denen uns eine Person gegenübersteht und diese einen persönlichen Schaden erleiden könnte oder schon erlitten hat. Die Person als solche muss hier beachtet und geachtet werden. Falls sie, wie zum Beispiel bei klinischen Studien, in Folge unserer Handlungen möglichen Risiken ausgesetzt wird, so darf das grundsätzlich nur mit ihrer Zustimmung auf Grund einer angemessenen und verständlichen Information erfolgen. 4.3 Wer kann Verantwortung tragen? Verantwortung tragen heisst grundsätzlich, dass wir für die Folgen unseres Handelns aber auch der Unterlassung einer gebotenen Handlung einstehen müssen und dafür zur Rechenschaft gezogen werden können. Damit wir uns verantwortlich fühlen oder von anderen verantwortlich gemacht werden können müssen verschieden Voraussetzungen erfüllt werden. Wir müssen über die Fähigkeit verfügen, die Folgen unserer Handlungen voraussehen oder abschätzen zu können. Das setzt eine für die Tätigkeit angemessen Ausbildung und die entsprechenden kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten voraus. Niemand wird ein Kleinkind oder eine geistige behinderte Person für alle Folgen ihrer Handlungen verantwortlich machen wollen. In einer Organisation oder einem Unternehmen muss daher sichergestellt werden, dass die Personen über die für ihre Position nötigen intellektuellen und Seite 14 von 48 moralischen Fähigkeiten verfügen um die mit ihrer Stellung verbundenen Aufgaben erfüllen zu können. Für die richtige Besetzung von Stellen tragen die jeweils vorgesetzten Instanzen die Verantwortung. Falls Sie die Anforderungen an die entsprechenden Stelleninhaber nicht beachtet oder falsch eingeschätzt haben, fällt gegebenenfalls die Verantwortung für die Folgen der Handlungen ihrer Mitarbeiter auf sie zurück. Weiter muss die verantwortliche Person über genügend Information verfügen, um die Situation richtig einschätzen und die Auswirkungen ihrer Entscheide oder Handlungen möglichst gut voraussagen zu können. Einerseits müssen ihr die Informationen von den Personen im Handlungsumfeld zur Verfügung gestellt werden, andererseits ist sie auch selbst verpflichtet, sich die nötigen Informationen zu beschaffen und die Qualität der Information zu überprüfen. In einem unternehmerischen Umfeld muss sie sicherstellen, dass sie von Vorgesetzen und Mitarbeitern die nötigen Entscheidungsunterlagen erhält. Sie muss jedoch auch alle weiteren relevanten Informationsquellen soweit wie nötig ausschöpfen, um zu einer möglichst robusten Entscheidungsgrundlage zu kommen. Jeder Entscheid ist mit einem Risiko behaftet und dieses ist umso grösser, je unsicherer und spärlicher die Informationen über die zu beachtenden Tatsachen sind. Jemand kann nur dann für die Folgen seiner Handlung moralisch verantwortlich gemacht werden, wenn er absichtlich gehandelt und kausal diese Folgen verursacht hat. Treten Situationen ein, die nicht voraussehbar waren und die von anderen Personen und Kräften ausserhalb des Einflussbereichs des Handelnden verursacht wurden, so kann der Handelnde moralisch nicht verantwortlich gemacht werden. So kann zum Beispiel weder ein Unternehmen noch deren Mitarbeiter für Schädigungen durch Medikamente verantwortlich gemacht werden, die durch nicht kontrollierbare kriminelle Handlungen in ihrer Qualität beeinträchtigt wurden, wie dies zum Beispiel bei Fälschungen von Medikamenten der Fall ist. In solchen Fällen kann das Unternehmen möglicherweise erst dann handeln, wenn Gesundheitsschädigungen schon eingetreten sind. Dann allerdings muss es alle Massnahmen ergreifen, die zur Verhinderung weiterer Schäden nötig sind, ungeachtet davon, dass die primäre Verantwortung nicht bei ihm liegt. Die Handlungsentscheide müssen den heutigen Stands der Wissenschaft und Technik, speziell auch im Arzneimittelbereich, berücksichtigen. Dies ist im schweizerischen Heilmittelgesetz in Artikel 3 zur Frage der Sorgfaltspflicht festgelegt. Niemand kann für schädigende Effekte die Schulde übernehmen, die auch nach intensiven Untersuchungen und Abklärungen nicht vorausgesehen werden konnten. Allerdings kann es in vielen Fällen schwierig sein zu Seite 15 von 48 beurteilen, ob schädigende Effekte bei genügender Nachforschung nicht doch hätten vorausgesagt werden können. Schliesslich kann eine Person nur dann für die Folgen ihrer Handlung moralisch verantwortlich gemacht werden, wenn sie frei und ohne Zwang entscheiden konnte und über Handlungsalternativen verfügte. Hier stellt sich die Frage, welcher Grad an Zwang einen Entscheid für eine Handlungsalternativ, die Patienten stärker schädigt als alternative Handlungsmöglichkeiten, rechtfertigt. Ist ein möglicher Verlust der Stelle schon ein genügend grosser Zwang um Risiken für Dritte einzugehen, denen man ohne Zwang eigentlich nicht zustimmen würde? Wurden wirklich alle realistische möglichen Handlungsalternativen erwogen und wurden sie angemessen bewertet? Hier müssen bei Entscheiden im Bezug auf die Qualität von Arzneimitteln sicher strenge Massstäbe angesetzt werden und ein nicht zu umgehenden Zwang muss gelten gemacht werden können, um von Schuld freigesprochen zu werden. Diese Frage wird in den folgenden Ausführungen noch diskutiert werden. 4.4 Prospektive und retrospektive moralische Verantwortung, Handlung und Unterlassungen und Schuld Einerseits müssen wir prospektiv für unsere Entscheidungen und deren Konsequenzen Verantwortung tragen. Täglich werden uns sehr viele Entscheide abgefordert und wir müssen auf Grund unseres Wissens und unserer Werte entscheiden, welche Handlungsalternativen wir wählen wollen. Auch wenn wir uns nicht aktiv für eine Handlungsweise entscheiden und nichts unternehmen haben wir einen Entscheid gefällt und müssen die Verantwortung für die eventuell schädlichen Folgen unserer Unterlassungen tragen. Unseren prospektiven Verpflichtungen können wir nur nachkommen, wenn wir uns über unsere Aufgaben voll bewusst sind, uns ständig neu informieren und sorgfältig abgewogene Entscheide fällen. Retrospektiv müssen wir die Verantwortung für die Folgen unserer Entscheidungen und vergangener Handlungen tragen. Es stellt sich die Frage einer eventuellen Schuld oder Haftung. Falls negative Folgen auftreten oder andere Mitmenschen geschädigt werden heisst dies nicht unbedingt, dass wir schuldig sind. Möglicherweise konnten wir die Folgen nicht voraussehen oder es traten plötzliche neue, unerwartete Gefahren auf. Trotzdem müssen wir für das Geschehen einstehen, Fragen zu den Ursachen beantworten und möglicherweise die Folgen mitverantworten und lindern. Ein Unternehmen trägt praktisch immer eine Mitverantwortung für Schädigungen durch sein Produkt, selbst wenn ihm keine Fehler oder Unerlassungen nachgewiesen werden können. Seite 16 von 48 5 Korporative Verantwortung 5.1 Was ist eine Korporation, eine Institution und ein Unternehmen? Die Begriffe Institution, Korporation und Unternehmen werden von verschiedenen Autoren oft nicht einheitlich verwendet und sie werden daher hier für diese Arbeit definiert. Unter einer Institution verstehen wir ein gesellschaftliches Norm- und Regelsystem, dass für die geregelte Funktion einer Gesellschaft oder einer Gruppe etabliert wurde, um ein geordnetes Zusammenleben zu ermöglichen. Die Institution schafft Verhaltensnormen, Regeln des Zusammenlebens und Anreizsystem, ohne die eine Gesellschaft nicht ordentlich funktionieren kann. So gesehen schaffen die Institutionen das Umfeld, in dem sich die Individuen wie auch Korporationen und Unternehmen bewegen. Eine Korporation ist eine Organisation mit einem begrenzten Personenkreis, die Verhaltensvorschriften und Regeln der Zusammenarbeit etabliert hat. Sie besitzt eine Organisationsstruktur und Verantwortungen und Kompetenzen werden einzelnen Positionen zugeordnet. Handlungsentscheide werden von den dazu befugten Mitgliedern bewusst auf Grund ihrer Stellung getroffen. Es kann sich dabei um Unternehmen sowie auch Vereine oder politische oder religiöse Organisationen handeln. Ein Unternehmen ist eine Korporation mit wirtschaftlichen Zielsetzungen. Es hat eine rechtliche Form wie zum Beispiel die einer Aktiengesellschaft oder GmbH und untersteht gesetzlichen Regelungen. Es muss eine Organisations- - und eine interne Entscheidungsstruktur besitzen und es verfügt über die rechtlich vorgesehenen Instanzen wie einen Verwaltungsrat und eine Geschäftsleitung. Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen sind grundsätzlich natürlichen Personen als Verantwortungsträgern zugewiesen. Verantwortungsträger sind dabei nicht nur die Direktionsmitglieder und die Führungskräfte, sondern grundsätzlich alle Mitarbeiter. Verantwortungsträger können nicht nur moralisch, sondern auch gesetzlich verantwortlich gemacht werden. 5.2 Individuelle Verantwortung innerhalb von Korporationen Jede Person, die innerhalb einer Korporation tätig ist, trägt eine individuelle Verantwortung, sowohl gegenüber der Korporation wie auch gegenüber den von seinen Handlungen betroffenen Personen innerhalb und ausserhalb der Korporation sowie gegenüber der Gesellschaft und dem Staat. In der Regel werden die Verantwortungen in Rahmen einer Stellen- oder Aufgabenbeschreibung festgehalten und im Bezug auf die Prozesse festgelegt. Seite 17 von 48 Bei der Ausführung seiner Tätigkeiten hat das Individuum die im Bezug auf seine Stellung festgelegte Pflichten und eine allgemeine Sorgfaltspflicht zu beachten und kann bei Missachtung der damit verbundenen Verantwortung sowohl von der Korporation als auch von Aussenstehenden zur Verantwortung gezogen werden. Falls das Individuum diese Pflichten verletzt wird es persönlich haftbar und es kann sich nicht auf eine korporative Verantwortung beziehen. Die Organisation muss allerdings sicherstellen, dass die Stellen durch Individuen besetzt werden, die das nötige Wissen und eine angemessen Erfahrung mitbringen und charakterlich für die Arbeit geeignet sind. Die Korporation hat auch für Aus- und Weiterbildung sowie die nötige materielle und personelle Unterstützung der Arbeit des Individuums zu sorgen. 5.3 Gibt es korporative Verantwortungen? Die Diskussion um die Verantwortungen von Korporationen wird schon seit längerer Zeit geführt und es gibt darüber keine Einigkeit. Eine Zusammenstellung des Stands der Diskussion findet sich im Text von Matthias Maring „Verantwortung von Korporationen“ (Maring 2001). Tatsache ist, dass im Falle von Schädigungen von Personen oder auch der Umwelt durch Korporationen, zum Beispiel bei einer ernsthaften Gefährdung von Patienten durch unerwünschte Arzneimittelnebenwirkungen oder bei Schädigung der natürlichen Umwelt durch giftige Stoffe in der Gesellschaft davon gesprochen wird, das Untenehmen XY sei dafür verantwortlich und habe seine Pflichten vernachlässigt. Eine Firma wird also von der Gesellschaft wie eine Person mit einer moralischen Verantwortungen betrachtet, die den Patienten oder die Umwelt geschädigt hat - gleich wie zum Beispiel eine Autofahrer, der wegen nicht Beherrschung des Fahrzeugs eine Person bei einem Unfall verletzt hat. Hier sollen nun einige der bekannteren Theorien der korporativen Verantwortung kurz vorgestellt werden und es soll dann überlegt werden, wie sie im Bezug auf die Verantwortung bei einer Schädigung durch qualitativ mangelhaft Arzneimittel oder klinische Tests angewendete werden können. 5.4 Verteilung von Verantwortung bei mehreren Akteuren Joel Feinberg (Feinberg 1970) hat eine Typologie der kollektiven moralischen Verantwortung aufgestellt, die über den Bereich der direkten persönlichen Verantwortung hinausgeht. Er unterscheidet die folgenden möglichen Typen: kollektive Verantwortung ohne fehlerhaftes Seite 18 von 48 Verhalten, kollektive Verantwortung infolge fehlerhaften Verhaltens, bei dem nur von einem oder einigen Mitgliedern Schäden infolge deren Verhaltens verursacht werden und bei dem diese direkt haftbar gemacht werden können; kollektive Verantwortung, bei denen das Verhalten aller zum Schaden beiträgt und alle haftbar gemacht werden können und kollektive Verantwortung für Schäden, die kollektiv verursacht werden, bei denen die Verantwortung für den Schaden jedoch keiner einzelne Person zugeschrieben werden kann. Dieser letztgenannte Verantwortungstyp ist für die nachfolgende Diskussion zentral. Ein Patient wird durch ein mangelhaftes Arzneimittel geschädigt, doch kann niemand direkt für den Schaden verantwortlich gemacht werden. Es waren so viele Personen in den Prozess, der zum Schaden führte, eingebunden, dass, so scheint es, niemand mehr direkt dafür verantwortlich gemacht werden kann. Offenbar kann hier nur noch die Korporation respektive das Unternehmen als solches für die Schädigung des Patienten verantwortlich gemacht werden, es scheint unmöglich zu sein, eine oder mehrere Person direkt zur Verantwortung zu ziehen. Die gesamte Verantwortung setzt sich in diesem Fall nicht einfach aus den Verantwortungen der einzelnen Mitgliedern der Korporation zusammen und scheinbar kann keine Person direkt haftbar gemacht werden - es kommt zu einem Phänomen, dass als „Verantwortungs- Diffusion“ bezeichnet werden kann. In solchen Fällen steht der Geschädigte der Situation oft hilflos gegenüber. Die enorme Komplexität des Handelns von grossen Korporationen wie zum Beispiel von international tätigen Pharmaunternehmen kann die Ursache für ernsthafte gesundheitliche Schädigungen von Patienten sein, falls nicht geeignete Vorkehrungen gegen die Verwischung von Verantwortungen im Unternehmen und die Rückführung der Entscheidungen auf einzelnen Firmenmitglieder erfolgt. Eine Korporation kann allerdings strafrechtlich und auch im Bezug auf Schadensersatz zur Rechenschaft gezogen werden. Trotzdem stellt sich die Frage, ob eine solche Korporation nicht auch moralisch zur Rechenschaft gezogen werden kann und was in dieser Beziehung für Unterschiede zwischen Korporationen und Individuen gelten gemacht werden können. Falls eine Korporation zur Verantwortung gezogen werden kann, so stellt sich die Frage, ob sie auch einen ontologischen Status hat. Oder gilt, was schon der englische Parlamentarier Ambrose Bierce (Maring 2001, 111) gesagt hat: „Corporation: an ingenious device for obtaining profit without individual responsibility“. 5.5 Das Personenmodell des Unternehmens nach Peter A. French Peter A. French hat in seinem Buch „Collective and corporate responsibility“ (French 1984) ein Modell für die Verantwortlichkeit von Firmen ausgearbeitet, das einen grossen Einfluss Seite 19 von 48 auf die Diskussion über Verantwortung in Unternehmen hat und eine Analogie der Verantwortung von Korporationen zur personellen Verantwortung zieht. Er geht davon aus, dass auch Unternehmen, ähnlich wie Personen, auf Grund von Absichten handeln, die sich aus den Eigenheiten des Unternehmens und seiner Intentionen folgerichtig ergeben. Das Handeln des Unternehmens ergibt sich wie folgt: einerseits setzt sich jedes Unternehmen klare Ziele, die zu erreichen sind. Aus dem Verfolgen dieser Ziele ergeben sich die Handlungsimpulse der Firma. Die Entscheide über das Handeln ergeben sich aus der korporativen internen Entscheidungsstruktur und diese Struktur bildet auch die moralische Verantwortung der Firma ab. Diese Entscheidungsstruktur lässt freie Entscheide zu, die sich nicht automatisch aus den organisatorischen, strukturellen und materiellen Voraussetzungen ableiten lassen und ermöglicht auch neuartige Entscheidungen. Diese Entscheidungen beruhen nicht nur auf den Entscheidungen einzelner Individuen, sondern erfolgen in einem hierarchisch geordneten Prozess. Dies stellt auch sicher, dass die Entscheidungsprozesse unabhängig von einzelnen Stelleninhabern, die ja wechseln können, ablaufen. Diese Entscheidungsstruktur erzeugt also korporative Absichten und daher auch korporatives intentionales Handeln. Wer mit Absicht handelt erwägt auch die Folgen seiner Handlung und bezieht damit auch moralische Gesichtspunkte in seine Entscheidungen eine - einer Korporation kann also als moralischer Akteur verstanden werden. Korporationen sind also moralisch verantwortlich für ihre Handlungen und Unerlassungen und haben dieselben Rechte und Pflichten wie Individuen. Fraglich bei diesem Ansatz ist allerdings, ob die Korporationen respektive Unternehmen dieselbe Reflexionsstruktur wie Individuen haben. Die Entscheide werden ja nach wie vor von Individuen mit eigenen Wertesystemen getroffen werden und so etwas wie ein gemeinsames Gewissen kann nicht angenommen werden. In welcher Form Firmen moralische Probleme reflektieren und entsprechende Entscheide fällen muss daher an Hand von praktischen Beispielen überprüft werden. 5.6 Das Maschinen-Modell des Unternehmens von John Ladd John Ladd (Ladd 1988) geht von einem mechanistischen Modelle der Korporation aus, auch im Bezug auf die moralische Verantwortung. Er kommt in seinen Überlegungen zur Chemiekatastrophen von Bophal zum Schluss, dass niemand für die Schädigung der Anwohner verantwortlich gemacht werden könne (Ladd 1992). Seite 20 von 48 Er geht davon aus, dass Unternehmen formale Organisationen sind und als solche keine moralische Verantwortung gegenüber Individuen tragen können, auch wenn Handlungen Organisationen zugeschrieben werden können. Die Verantwortlichen in einer Organisation können als ihre Repräsentanten nur im Namen der Organisation Entscheide treffen und dabei müssen sie allein die Zielsetzungen der Organisation im Auge behalten. Die Entscheidungsträger sind daher simple Instrumente der Organisation und sie sollen auch so behandelt werden. Dementsprechend sind auch alle Personen einer Organisation austauschbar, sie sind nicht als Individuen von Bedeutung, sondern als Vollstrecker der Unternehmensziele. Die Bedürfnisse der Mitarbeiter sind nicht identisch mit den Bedürfnissen des Unternehmens. Dieses funktioniert wie eine Maschine und kann daher vernünftigerweise keine moralischen Verpflichtungen gegenüber Personen eingehen, so wie auch Personen keine moralischen Pflichten gegenüber dem Unternehmen haben. Die moralischen Rechte und Interessen von Aussenstehenden sind daher irrelevant für die Entscheidungen der Firmen. Eine Firma wird ihr Verhalten also nie aus moralischen Gründen ändern, sondern nur auf Grund von Gesetzen, finanziellen Anreizen oder dem Druck der öffentlichen Meinung. Solche Faktoren werden dann in die Entscheidungsfindung einbezogen. Firmen haben also weder moralische Rechte noch Pflichten. Dieses Modell berücksichtigt die moralischen Ansprüche von Patienten in keiner Weise. Es wird nicht davon ausgegangen, dass die Handelnden innerhalb der Organisation moralische Aspekte in ihre Entscheidungen einbeziehen oder grundsätzlich einbeziehen sollten. 5.7 Verantwortung des Individuums als Basis der Unternehmensethik Walther Ch. Zimmerli geht von der Verantwortung des Individuums als Basis jeder Ethik im Bereich der Technik und der Wissenschaften und damit auch im Unternehmen aus (Zimmerli 1991). Er kritisiert die Tatsache, dass die Schwierigkeit des Problems der Zuordnung von Verantwortungen in der heutigen komplexen Welt von Technologie und Wissenschaft dazu geführt hat dass behauptet wird, die Individualethik habe ausgespielt und müsse durch eine neu, noch zu entwerfenden Institutionenethik ersetzt werden. Es sieht das Individuum als Basis und den Letzt-Adressaten moralischer Forderungen auch im Bereich der korporativen Verantwortung. Er fragt sich, wie aus der Einsicht in die grundsätzliche Nichtvorhersehbarkeit aller Folgen die Verantwortung durch das Handlungssubjekt überhaupt wahrgenommen werden kann. Er postuliert, dass wer nur auf die Institution setzt, sich vor der individuellen moralischen Verantwortung drückt. Selbst dann, wenn die Haftungsverantwortung zum Teil oder ganz Korporationen zukommt, bleibt die moralische Seite 21 von 48 Verantwortung an das Individuum gebunden. Moralisch gesprochen kann das Individuum niemals in das Kollektiv überführen werden, da diesem das Verantwortungsgefühl und ein Gewissen fehlt. Daher können nur individuelle Menschen Verantwortungssubjekte sein. Eine Institution resp. Korporation hat keinen ontologischen Status. Für eine Ethik des korporativen Handelns ergibt sich die zweistufige Verpflichtung, Verfahren für die Umsetzung von korporativen Haftbarkeitsstrukturen in Verantwortlichkeitsstrukturen der individuellen Eben zu erarbeiten. Dass kollektive oder korporative Akteure Verantwortung für die Folgen ihres Handelns übernehmen müssen, bleibt so lange leeres Gerede, wie nicht die Umsetzung verantwortbarer Ziele bis auf die Ebenen des einzelnen Mitarbeiters gelingt. Individuen müssen die prospektive Verantwortung für das Handeln wahrnehmen, Unternehmen können nur die retrospektive Haftungsverantwortung übernehmen. Nur im Sinne einer schlechten Metaphysik kann gesagt werden, dass kollektive Akteure wie zum Beispiel Unternehmen ein Gewissen hätten oder moralische Subjekte seien. Es gilt eine umsetzbare Antwort auf die Frage zu finden, wie unter den Bedingungen der Moderne individuelle Verantwortung noch möglich ist. Es stellt sich die Frage, ob durch den Rückgriff auf die individuelle Verantwortung wirklich die in unserer heutigen Gesellschaft zu Recht an ein Unternehmen gestellten moralischen Ansprüche erfüllt werden können. Das Individuum kann im Rahmen seiner Stellung im Unternehmen moralisch nicht in dem Masse frei entscheiden, wie es als Privatperson moralische argumentiert und entscheidet. Der Mitarbeiter als Individuum hat die an ihn gestellten Forderungen des Unternehmens im Bezug auf die Erfüllung seiner Aufgaben zu beachten und besitzt nur eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten. Entschieden wird oft zusammen mit anderen Mitarbeitern und die Ziele und berechtigten Interessen des Unternehmens sind zu beachten. Falls das Individuum externe Interessen stärker gewichtet wie die Firmeninteressen und seine vorgegebenen Kompetenzen überschreitet kann es zum Konflikt kommen und vorgesetzte Stellen können seine Entscheide verwerfen und eventuell die Entlassung aussprechen. Die Durchsetzung von moralischen Anliegen kann so illusorische bleiben. Ohne eine feste Integration der moralischen Verantwortung in die FirmenOrganisation und Kultur kann die Berücksichtigung der berechtigten Interessen von Aussenstehenden nicht gewährleistet werden. Im heutigen Firmenalltag tritt oft an Stelle des individuellen Handelns das korporative Handeln, das ein effektives Handeln im nicht metaphorischen Sinn ist und die entsprechende moralische Verantwortung ist der Korporation und nicht dem Individuum zuzuschreiben. Seite 22 von 48 5.8 Die sekundäre moralische Verantwortung der Korporation Patricia H. Werhane (Werhane 1985) sieht Korporation als sekundär moralische Handelnde an und sie ordnet daher den Unternehmen eine sekundäre moralische Verantwortung zu. Diese sind nicht nur wirtschaftliche, sondern auch moralische Akteure, wobei sie dies allerdings nicht immer berücksichtigen. Unternehmen betrachten sich als unabhängige, ökonomische Organisationen und sie wollen möglichst wenig staatliche oder rechtlichen Beschränkungen unterworfen sein. Sie beanspruchen das Recht auf Autonomie und ökonomischer Freiheit. Legale Rechte müssen, um gerechtfertigt zu sein, eine moralische Basis haben. Falls daher Unternehmen legale Rechte auf Freiheit und Autonomie fordern, dann müssen sie auch moralische Rechte einfordern. Falls sie moralische Rechte besitzen, dann müssen sie auch moralische Verpflichtungen eingehen und sie können moralisch verantwortlich gemacht werden. Die Handlungen von Unternehmen sind sekundäre Handlungen, die von primären Handlungen von rational handelnden Personen ausgelöst werden, die moralische urteilen und moralische Verantwortung tragen können. Unternehmen können also sekundär moralisch handeln, dies kann jedoch nicht einfach nur auf das primäre Handeln einzelner Personen zurückgeführt werden. Die Öffentlichkeit seht das auch so und oft wird von einem Unternehmen gesprochen, als ob es eine leibliche Person wäre. Die Rechte von Unternehmen sind sekundär und von den Rechten der Individuen abgeleitet. Diese Rechtsansprüche verlangen die Respektierung der Rechte anderer Individuen wie auch von Unternehmen. Sie tragen darum Verantwortung und sie können für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden. Als sekundäre moralische Akteure haben sie die Fähigkeit moralische Entscheide zu treffen. Falls die ökonomische Freiheit ein hohes Gut in unserer Gesellschaft ist und für den ökonomischen Erfolg so wichtig ist, dann müssen die Unternehmen ihren Status als sekundäre moralische Akteure ernst nehmen. Sie müssen daher Personen als freie und moralisch gleichwertige Partner achten. Unternehmerisches Handeln ist allerdings nicht einfach aggregiertes individuelles Handeln auf Grund von persönlichen Präferenzen. Das Untenehmen ist ein Gesamtsystem, das Ziele verfolgt und dazu intentional handelt. Dazu haben die Personen im Unternehmen Rollen und Rollenverantwortungen. Diese sowie die Gesamtverantwortung des Unternehmens werden vom Unternehmensleitlinien, den Zielen, den gesetzlichen Vorgaben, den Prinzipien der Vertragsfreiheit und den sozialen Erwartungen bestimmt. Das Unternehmen ist somit für die Qualität und die Sicherheit seiner Produkte und Dienstleistungen verantwortlich. Es hat daher Seite 23 von 48 eine Rollenverantwortung gegenüber dem Kunden und muss ihn als Partner mit moralischen Ansprüchen respektieren. Bei Konflikten muss es nicht nur die wirtschaftlichen Aspekte berücksichtigen, sondern auch die moralischen Rechte der Kunden und der Gesellschaft bei seinen Entscheid berücksichtigen. Wenn es sich nur auf das Recht beruft, untergräbt es die moralische Legitimation des Rechts in unserer Gesellschaft. Falls das Recht auf ökonomische Freiheit für uns einen Wert, speziell einen moralischen Wert darstellt, und von dem sollten wir ausgehen, dann müssen Unternehmen moralische ansprechbare Akteure unserer Gesellschaft sein. Nur wenn sie ihre Rolle als sekundäre moralische Akteure anerkennen, können sie ihre Tätigkeit ohne übermässige gesetzliche Einschränkungen auf die Dauer erfüllen. Kritische kann dazu angemerkt werden, dass offengelassen wird, wie die Firmen in der Praxis ihre moralische Verantwortung wahrnehmen sollen. Dies soll im Folgenden ausgeführt werden. 5.9 Folgerungen zur moralischen Verantwortung von Unternehmen Die moralische Verantwortung einer Korporation kann nicht identisch mit der moralischen Verantwortung einer Person sein. Korporationen haben keine direkten sozialen Verantwortungen wie sie zum Beispiel in einer Familie existieren. Die moralische Verantwortung dieser künstlichen moralischen Instanzen muss anders begründet werden und sie muss mit den moralischen Grundsätzen und Werten einer Person nicht übereinstimmen. Da jedoch die Korporationen Mittel zur Informationsbeschaffung und -analyse besitzen, die die Möglichkeiten von Einzelpersonen weit übersteigen, und Entscheide fällen und Handlungen ausführen, die weitreichende Konsequenzen haben, sind sie auch verpflichtet, moralische Verantwortlichkeiten zu übernehmen (Green 2005). Diese neuen moralischen Pflichten sind Rollenverantwortungen von Repräsentanten dieser Unternehmen und daher dem Unternehmen als solchem zugeordnet. Wir können auch die Perspektive umdrehen und die Situation aus der Sicht der Betroffenen, in unserem Fall der Patienten, betrachten. Die fundamentalen moralischen Werte wie Autonomie, Entscheidungsfreiheit, Schutz vor Schädigungen, Achtung der Rechte sind auf Personen bezogen und die Personen können die Gewährleistung dieser Werte auch gegenüber einem Unternehmen einfordern. Die Handlungen des Unternehmens wirken auf sie wie die Handlungen von natürlichen Personen und daher können sie auch die Beachtung von moralischen Grundsätzen erwarten. Aus der Sicht des Patienten, der eine Seite 24 von 48 Gesundheitsschädigung erleidet, ist die Frage, ob das Übel auf Grund der Handlung einer natürlichen Person oder einer Korporation erfolgte, sekundär, und er kann die Schädigun auf jeden Fall als moralisch unakzeptabel bezeichnen und eine Entschuldigung oder eine Entschädigung verlangen. 6 Die moralische Entwicklung eines Unternehmens 6.1 Das Konzept von Lawrence Kohlberg zur moralischen Entwicklung von Individuen Lawrence Kohlberg hat in seinen Arbeiten ein Konzept zur Entwicklung des moralischen Urteils von Individuen aufgestellt und bei Studien mit Personen aus verschiedene sozialen Kreisen und verschiedenen Alters untersucht (Kohlberg 1996, 128). Er hat sich die Frage gestellt, gemäss welchen moralischen Prinzipien ein Individuum im Laufe seiner persönlichen Entwicklung handelt und wie es seine Handlungen begründet. Seine Thesen hat er an Hand von empirischen Untersuchungen geprüft und belegt. Kohleberg teilt die moralische Entwicklung des Individuums in drei Niveaus und sechs Stufen ein. Auf dem ersten, vorkonventionellen Niveau (Stufe 1 und 2) bleiben ihm die sozialen Normen und Erwartungen noch äusserlich, auf dem konventionellen Niveau (Stufe 3 und 4) hat es die Regeln und Erwartungen der Autoritäten und der Gesellschaft internalisiert, auf dem nachkonventionellen Niveau (Stufe 5 und 6) reflektiert es die Regeln und Erwartungen selbst und handelt gemäss den eigenen Erkenntnissen über das moralisch richtige Handeln. Auf der ersten Stufe richtet sich das Individuum an den unmittelbaren Folgen seiner Handlung aus. Es zieht bei seinem Entscheid im Wesentlichen nur die Möglichkeiten der Bestrafung oder Belohnung für sein Handeln in Betracht. Nicht das Wohlergehen der von der Handlung betroffenen Person ist von essentieller Bedeutung, sondern Fragen der Gehorsamkeit und der aufgrund der Handlung zu tragenden Folgen bestimmt die Entscheidungen. Moralische Anforderungen werden vom Buchstaben her und nicht vom Sinn her verstanden. Auf der zweiten Stufe des moralischen Handelns richten sich die Handlungen des Individuums nach dem zu erreichenden Zweck aus und es erwartet für sein Engagement ein Gegenwert. Für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse wird auch dem Gegenüber das Recht auf einen Gegenwert zugestanden, das Wohl des anderen steht jedoch nicht im Zentrum Seite 25 von 48 der Überlegungen und Entscheide. Das Handeln richtet sich grundsätzlich nicht danach aus, ob eine Handlung moralische richtig sei und ethischen Prinzipien folge. In der dritten Stufe werden die Bedürfnisse und die Folgen der Handlung für den unmittelbar betroffenen Mitmenschen reflektiert und in die Entscheide einbezogen. Die Handlungen richten sich nach den Forderungen der ummittelbar betroffenen Primärgruppe aus, berücksichtigen aber noch nicht die Anliegen der Gesellschaft im weiteren Sinn. Die Sozialisation der Person in den Gruppen, die das unmittelbare Umfeld bestimmen, wie Familie, Unternehmen oder Verein, ist für die Entscheidungen in moralischer Hinsicht wesentlich und der Handelnde möchte als guter, vertrauensvoller Partner anerkannt werden, der die goldene Regel „Behandle deinen Mitmenschen so, wie du auch vom ihm behandelt werden möchtest“ beachtet. In der vierten Stufe wird das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft bei den Entscheiden einbezogen. Die Frage, was das Handeln für das gesamte soziale und politische System für Folgen hat und ob es den in der Gesellschaft allgemein gültigen Prinzipen folgt, ist für das moralische Verhalten wichtig. Die Folgen für die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen werden in Betracht gezogen und die öffentlichen Pflichten werden erfüllt. In der fünften Stufe werden auf Grund von übergeordneten Perspektiven und dem Sozialvertrag die Handlungsfolgen reflektiert. Werte anderer Mensche werden geachtet. Die Gedanken der Freiheitsrechte aller Menschen und der Gerechtigkeit sind zentral, Pflichten werden im Rahmen einer Güterabwägung gegeneinander abgewogen und DilemmaSituationen werden reflektiert. Auf Grund des persönlichen Wertesystems wird die Realisierung der jeweils höchsten Werte angestrebt. In der sechsten Stufe wird versucht, alles Handeln aus übergeordneten, universellen moralischen Prinzipien abzuleiten. Für das alltägliche Handeln ist diese Stufe allerdings nicht von praktischer Bedeutung, sie dient eher zur Ableitung der Prinzipien der fünften Stufe. 6.2 Die moralische Stufen bei Unternehmen Wir können uns nun die Frage stellen, ob sich bei Unternehmen ähnliche moralische Stufen beobachten lassen wie beim Individuum und ob eine Firma sich auch moralisch entwickeln kann. Ein Unternehmen durchläuft allerdings nicht gezwungenermassen eine Entwicklung wie ein menschliches Wesen. Es kann schon bei seiner Gründung hohe Werte in sein Unternehmensleitbild aufnehmen und im Alltag auch leben. Es kann sich jedoch moralische Weiterentwickelten und sein Verhalten sowohl gegenüber den Kunden und der Gesellschaft Seite 26 von 48 wie auch den Mitarbeitern ändern. Da jedoch ein Unternehmen moralisch nicht einfach einem Individuum gleichgesetzt werden kann und nicht in gleicher Weise wie ein Individuum entscheidet, sind die Stufen zu modifizieren. Die These, dass es verschiedene Stufen und eine Entwicklung in Bezug auf die Wahrnehmung der moralischen Verantwortung für die Qualität und Sicherheit der Arzneimittel und in der Folge für die Gesundheit der Patienten gibt, soll im Folgenden zuerst theoretisch und dann anhand von Beispielen diskutiert werden. Es wird dabei davon ausgegangen, dass, wie schon diskutiert, gemäss der von Patricia Werhane (Werhane 1992) vorgeschlagenen These einem Unternehmen eine sekundäre moralische Verantwortung zugeschrieben werden kann. Vorgeschlagen werden vier Stufen der moralischen Unternehmensentwicklung. In der untersten Stufe engagiert sich ein Unternehmen nur in dem Ausmasse für die Produkequalität und -sicherheit, als bei Verletzung der von den Behörden und der Gesellschaft erwarteten Sorgfaltspflicht strafrechtliche Folgen oder unmittelbare schwere finanzielle Einbussen zu erwarten sind. Das Wohl der Patienten ist für das Unternehmen im Grund genommen nicht von Interesse und eventuelle Beschwerden und Klagen von Patienten werden nur unter finanziellen Gesichtspunkten wahrgenommen. Das Unternehmen und seine Repräsentanten fühlen sich gegenüber dem Patienten nicht moralisch verpflichtet. Die Wahrnehmung der Verantwortung für die Qualität der Produkte wird lediglich als Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht gesehen und die fachtechnisch verantwortliche Person ist bei näherer Betrachtung nicht in der Lage, ihre Verantwortung wirklich wahrzunehmen, da sie von der Unternehmensleitung nicht oder nur ungenügend unterstützt oder sogar unter Druck gesetzt wird. Es existiert keine positive Unternehmenskultur und Werte werden im Unternehmen nicht gepflegt. Auf der zweiten Stufe wird den Patienten und ihren Vertretern wie z.B. den Ärzten, Apothekern oder Patientenorganisationen das Recht zugesprochen, Forderungen bezüglich der Arzneimittel-Sicherheit und -Qualität zu stellen. Es wird jedoch nur reaktiv auf Forderungen eingegangen und es werden keine oder nur minimale Vorleistungen erbracht. Überlegungen, wie durch vorbeugende Massnahmen Schäden vermieden werden könnten, werden nicht angestellt. Beim Auftreten von Nebenwirkungen oder Qualitätsmängeln wird erst dann reagiert, wenn dringende Beschwerden von den Behörden oder Kunden eingereicht werden oder eine Krise klar ersichtlich ist und nicht mehr ignoriert werden kann. Die Organisation hat entweder nur eine ungenügende Unternehmenspolitik im Bezug auf die Stakeholder definiert und eine Wertesystem existiert faktisch nicht oder die enthaltenen Seite 27 von 48 Grundsätze wurden nicht so implementiert, dass sie im Alltag und speziell im Risiko- oder Schadensfall aktiv von Vorgesetzten und Mitarbeitern umgesetzt werden. Auf der dritten Stufe hat das Unternehmen festgelegt, wie es bei der Feststellung von neuen Nebenwirkungen oder Qualitätsmängeln vorgehen will. Die Grundsätze der Unternehmenspolitik wurden im Rahmen eines Führungs- oder QualitätsmanagementSystems klar festgelegt und auch umgesetzt, die zentralen Werte wurden erarbeitet und die Verantwortlichkeiten sind eindeutig zugeschrieben. Das Unternehmen verfügt jedoch noch nicht über eine interne Instanz, die Problem unabhängig moralisch beurteilt und die Patienteninteresse im Unternehmen systematisch wahrnimmt. Es besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass der den Patienten zugefügte Schaden rein wissenschaftlich-technisch wahrgenommen wird und dass nicht im angemessenen Interesse der Patienten entschieden wird. Der Patient wird noch nicht als moralisches Gegenüber gesehen. Auf der vierten Stufe hat sich das Unternehmen zusätzlich dafür entschieden, eine firmeninterne moralische Instanz aufzubauen, die die moralischen Verpflichtungen des Unternehmens gegenüber dem Patienten wirklich wahrnehmen kann. Diese Instanz kann in einer separaten Ethik-Einheit gebündelt sein, die alle moralisch kritischen Entscheide einer Prüfung unterzieht oder spezielle Personen der Organisation oder eine kleiner Gruppe von Personen werden bezeichnet, die diese Aufgabe übernehmen. Die Entscheide werden auch moralisch begründet und gegebenenfalls weiter verfolgt. Die Begründungen werden festgehalten und von den zuständigen Personen schriftlich gutgeheissen, so dass sie nachvollziehbar sind. Der Patient wird als Mensch mit moralischen Ansprüchen wahrgenommen und die Handlungen der Unternehmens und damit aller Mitarbeiter beziehen immer dessen Interesse bei der Entscheidungsfindung und den nachfolgenden Tätigkeiten ein. Es wird bei allen Entscheidungen der Ethik-Check gemacht: Wurden alle rechtlichen Grundlagen und die firmeninternen Weisungen eingehalten, berücksichtigt die Entscheidung alle einzubeziehenden Ansprüche auf gerechte Weise, hätte ich oder hätten wir als Individuen unabhängig vom Unternehmen moralisch gleich entschieden und könnten die Argumente öffentlich gemacht werde, ohne dass wir uns dafür schämen müssten. Seite 28 von 48 7 Entscheide bei Risiken und Mängeln von Arzneimitteln 7.1 Unter welchen Bedingungen werden die Entscheide getroffen? Entscheide zur Durchführung einer klinischen Studie, zu Massnahmen beim Auftreten von unerwarteten Nebenwirkungen oder bei einem Rückruf von Arzneimittel wegen eines Qualitätsmangels müssen meist getroffen werden, ohne dass alle für diesen Entscheid wichtigen Tatsachen bekannt sind. Auch bei sorgfältiger Evaluation und Abklärung aller möglichen Einflussfaktoren und Fakten kann nicht ausgeschlossen werden, dass wichtige Entscheidungsgrundlagen und Informationen nicht oder zu wenig detailliert vorliegen. Die Verantwortlichen müssen auf der Grundlage ihres momentanen Wissens darüber entscheiden, welche Risiken eingegangen werden können und diese Risiken müssen gegenüber Ansprüchen der Patienten im Bezug auf Sicherheit und Gesundheit, sowie auch im Bezug auf die Interessen der Ärzte und der Öffentlichkeit abgewogen werden. Oft müssen die Entscheide innerhalb kurzer Zeit gefällt werden. Dabei spielen auch die Grundsätze, Werte und Zielsetzungen des Unternehmens eine wichtige Rolle. Wirtschaftlichen Interessen werden berücksichtigt und sogar das Überleben der Firma kann vom Entscheid abhängen. Beim Entscheiden zur Durchführung von klinischen Versuchen geht es um die Frage, ob das Unternehmen ein sich in Entwicklung befindliches Arzneimittel, das eventuell für die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens von grosser Bedeutung sein könnte, weiterentwickeln und später auf den Markt bringen kann. Je nachdem wie weit die Entwicklung schon fortgeschritten ist und in welcher Phase der klinischen Erprobung das Arzneimittel sich befindet, sind schon grosse Beträge investiert worden. Obwohl jeder klinische Versuch von einer Ethikkommission gutgeheissen werden muss, kann, wie der Fall der schweren Nebenwirkungen beim ersten Einsatz des Antikörpers TGN1412 am Menschen zeigt, nicht ausgeschlossen werden, dass Probanden oder Patienten zu Schaden kommen können. Die primäre moralische Verantwortung für die Durchführung der Studie bleibt beim Unternehmen, selbst wenn der Ethikkommission unter Umständen eine moralische Mitverantwortung zukommen kann. Unerwartete Arzneimittelwirkungen können unter Umständen bei neu lancierten Arzneimitteln erst nach Markteinführung erkannt werden, da bei den klinischen Studien nur eine beschränkte Zahl von Patienten teilgenommen hatten. Gewisse Patientengruppen, wie zum Beispiel Kinder, ältere Personen oder Personen mit speziellen genetischen Dispositionen können anders wie die Durchschnittspopulation auf das Arzneimittel reagieren oder es können Seite 29 von 48 gefährliche Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln auftreten. Unter Umständen kann es, wie im der Fall der unerwünschten Nebenwirkungen des Schmerzmittels Vioxx, schwierig sein, das Signal für eine Gesundheitsgefährdung zu erkennen und abzuklären, ob die Nebenwirkungen wirklich vom Arzneimittel verursacht wurden oder ob nicht anderen medizinischen Gründen dafür verantwortlich gemacht werden können. Es muss einerseits beachtet werden, dass die Qualität der Meldungen nicht immer den gestellten Anforderungen an Objektivität, Wissenschaftlichkeit und Genauigkeit genügt und dass andererseits nur ein Bruchteil der unerwarteten Arzneimittelwirkungen überhaupt gemeldet wird. Die verantwortlichen Entscheidungsträger des Pharmaunternehmens müssen die Meldungen evaluieren und Entscheide über Massnahmen treffen. Alle unerwarteten Arzneimittelwirkungen müssen gemäss Heilmittelgesetz auch den Heilmittelbehörden gemeldet werden und diese können Massnahmen anordnen. Trotzdem liegt die moralische Verantwortung bei den Entscheidungsträgern der Unternehmen und auch hier spielen die wirtschaftlichen Interessen beim Entscheid über die Einführung eines Warnhinweises, einer Einschränkung bei den Indikationen des Arzneimittel oder sogar einem Rückzug vom Markt eine wichtige Rolle. So wurde beim Rückzug des Schmerzmittel Vioxx darüber diskutiert, ob nicht schon früher genügend Signale über Nebenwirkung vorlagen, die einen Rückzug nötig gemacht hätten. Auch die moralische Mitverantwortung der Behörden wurde diskutiert und die Frage gestellt, ob Vioxx von den Heilmittelbehörden überhaupt hätte zugelassen werden dürfen. Die primäre moralische Verantwortung liegt jedoch auch in diesem Fall beim Unternehmen. Qualitätsmängel können bei Arzneimitteln auftreten, wenn bei der Herstellung Fehler gemacht und die Regeln der Guten Herstellungspraxis (GMP-Regeln) nicht beachtet wurden oder wenn bei der Entwicklung des Arzneimittels nicht alle für die Qualität wichtigen Einflussgrössen beachtet und bei der Erstellung der Herstellunterlagen angemessen berücksichtigt wurden. In diesem Fall ordnet das Schweizerische Heilmittelgesetz die primäre Verantwortung der fachtechnisch verantwortlichen Person zu. Diese Person muss in jedem Herstellungsbetrieb für pharmazeutische Produkte bezeichnet und den Behörden gemeldet werden. Sie trägt die Verantwortung für die Qualität des Produkts und kann strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Sie muss bei Qualitätsmängeln die Abklärungen durchführen, den Mangel den Heilmittelbehörden melden, eventuell einen Rückruf einleiten und Massnahmen zur Verhinderung von weiteren Qualitätsmängel treffen. Es wäre aber sicher nicht richtig, ihr die alleinige moralische Verantwortung im Fall einer Gesundheitsschädigung Seite 30 von 48 infolge Qualitätsmängel zuzuschreiben. Sie ist in die Unternehmensorganisation eingebunden und Mängel können auf Entscheide zurückzuführen sein, die sie nicht direkt verantworten muss. Auch kann sie nicht direkt für Mängel verantwortlich gemacht werden, die sie auch bei sorgfältiger Prüfung der Arzneimittelchargen und den dazugehörigen Unterlagen nicht erkennen konnte. Es stellt sich also auch hier die Frage, wer moralische verantwortlich sei und ob das Unternehmen als solches nicht auch moralische Verantwortung tragen muss. 7.2 Der Umgang mit Risiken und Ungewissheiten bei Entscheiden Wie im vorhergehenden Abschnitt gezeigt wurde, müssen meist Entscheid getroffen werden, ohne dass alle für den Entscheid nötigen Fakten bekannt oder eindeutig sind - es müssen also Risiken eingegangen werden. Der Umgang mit Risiken wirft spezielle moralische Fragen auf. Weiterführende Darstellungen der Ethik des Risikos finden sich in den Texten von Klaus-Peter Rippe (2006) und Julian Nida-Rümelin (2005). Es soll hier dargestellt werden, wie Entscheide im Rahmen des Risikomanagements der Produktqualität und die moralische Verantwortung des Entscheidungsträgers oder des Unternehmens miteinander zusammenhängen. Wir sprechen von einem Risiko, wenn wir nicht mit Sicherheit voraussagen können, ob eine Schädigung wirklich eintreten wird und welches Ausmass sie erreichen könnte. Entscheidungen unter Risiko sind jedoch nicht Entscheide unter Ungewissheit. Bei Ungewissheit kann kein Risikokalkül durchgeführt werden, da uns dazu die nötigen Informationen fehlen. Risiken können dagegen auf Grund von Erfahrungswerten und dem Bewerten von möglichen Szenarien abgeschätzt werden (Kaufmann 1995). Der klassische Risikobegriff, so wie er heute in den Unternehmen verstanden wird, stammt aus der Versicherungswirtschaft und wurde entwickelt, um potentielle finanzielle Schäden abschätzen und Prämien für Versicherungen festlegen zu können. Das Risiko wird dabei als Produkt aus der Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes schädigendes Ereignis eintritt und dem Ausmass des Schadens, der mit dem Ereignis verbunden ist, berechnet. Voraussetzung für eine solche Berechnung sind Daten über gleiche oder ähnliche Fälle aus der Vergangenheit, aus denen sich Wahrscheinlichkeiten und Schadensausmass abschätzen lassen und dadurch eine möglichst objektive Berechnung des Risikos möglich ist. Bei den hier diskutierten gesundheitlichen Schädigungen von Patienten stellen sich sofort zwei Probleme. Einerseits kann die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung nur dann berechnet werden, wenn wirklich vergleichbare Fälle in der Vergangenheit aufgetreten sind. Dies war Seite 31 von 48 offenbar beim geschilderten Fall des klinischen Versuchs mit dem Antikörper TGN1412 nicht der Fall und auch beim Auftreten von unerwarteten Nebenwirkungen ist dies schwer abschätzbar. Andererseits ist eine finanzielle Bewertung von gesundheitlichen Schädigungen eines Probanden oder Patienten nur schwer durchführbar und moralisch zu rechtfertigen. Es lassen sich allenfalls die nötigen zusätzlichen Behandlungskosten und Kosten einer permanenten Gesundheitsschädigung oder Invalidität im Schadensfall abschätzen, wie soll jedoch der Wert von verlorener Lebensqualität, verlorenen Lebensjahren oder des menschlichen Lebens als solches in die Berechnung einbezogen werden? Moralisch ebenfalls schwer zu bewerten sind diejenigen Risiken, die wir meinen, eingehen zu dürfen, wenn die Schädigung zwar unwahrscheinlich, jedoch sehr gravierend sein könnte. Unterscheiden können wir auch die Begriffe des Risikos und der Gefahr. Wenn im Bezug auf künftige Schäden eine Unsicherheit besteht, gibt es zwei Möglichkeiten: „Entweder wird der etwaige Schaden als Folge der Entscheidung gesehen, also auf die Entscheidung zugerechnet. Dann sprechen wir von Risiko, und zwar vom Risiko der Entscheidung. Oder der etwaige Schaden wird als extern veranlasst gesehen, also auf die Umwelt zugerechnet. Dann sprechen wir von Gefahr“ (Luhmann 1991, 30f). Vom Eingehen eines Risikos kann nur dann gesprochen werden, wenn die Entscheide auch so getroffen werden können, dass es nicht zu einem Schaden kommen kann. Falls wir jedoch Entscheide treffen, die mögliche Gefahren mangels Wissen in den Risikoentscheid gar nicht einbeziehen können, dann stellt sich unmittelbar ein moralisches Problem. Müssen wir Gefahren a priori ausschliessen, das heisst denjenigen Weg wählen, der möglichst alle Gefahren ausschliesst oder dürfen wir im Hinblick auf mögliche Gewinne für die Patienten, wie zum Beispiel neue Therapiemöglichkeiten, Wagnisse mit wenn möglich negativen Auswirkungen für ihn eingehen? Möglicherweise können wir gar nie zu den nötigen Entscheidungen kommen, wenn wir alle Gefahren der Anwendung von Arzneimittel ausschliessen wollen. Im Folgenden soll diskutiert werden, unter welchen Bedingungen Personen, hier im speziellen Patienten oder Probanden, einem Risiko ausgesetzt werden dürfen (Nida-Rümelin 2005, 871f; Rippe 2006) und welche Regeln angewendet werden können. Wir gehen in den vorliegenden Fällen davon aus, dass wir Menschen einem Risiko aussetzen, ohne dass wie dazu ihr Einverständnis einholen können. Wir entscheiden also über Gesundheit, Schädigung oder Tod und sind dafür direkt juristisch und auch moralische verantwortlich. Welche Risiken können wir da moralisch verantworten und welches sind unsere Sorgfaltspflichten (Rippe 2006)? Seite 32 von 48 Bei dem meist im Risikomanagement angewandten konsequentialistischen Vorgehen wird das Bayes-Kriterium angewandt das besagt, dass der Erwartungswert aller Folgen unserer Entscheidungen und Handlungen maximiert werden soll. Es wird also diejenige Handlungsalternative gewählt, bei der ein maximaler Nutzen zu erwarten ist. So wären bei einem neuen Medikament, das eine bis jetzt nicht behandelbare und zu einem vorzeitigen Tod führenden Krankheit heilen kann, jedoch wie es sich später zeigt, bei einigen speziell disponierten Patienten auch kurzfristig zum Tod führen kann, dann nicht vom Markt zurückzuziehen, wenn die Anzahl der gewonnen Lebensjahre für die geheilten Patienten höher als die Anzahl der verlorenen Lebensjahre infolge der frühzeitigen Todesfälle wäre. Im Falle eines Qualitätsmangels eines wichtigen, nicht ersetzbaren Arzneimittels wären die Risiken einer Schädigungen gegen das Risiko, dass die Patienten vielleicht nicht mehr kontinuierlich behandelt werden könnten und dadurch gesundheitlich geschädigt würde, abzuwägen. Bei einer solchen Betrachtung steht das Wohl des einzelnen Patienten nicht mehr im Mittelpunkt der Entscheidung. Vom Standpunkt einer konsequenten deontologischen Ethik müsste dieses Vorgehen abgelehnt werden, da über Menschen gleich wie über irgend welche Mittel verfügt wird und die Person dabei instrumentalisiert wird. Die Frage stellt sich, mit welchem Recht dieser Standpunkt eingenommen werden darf? Die Schaden- und NutzenAbwägung erfolgt mechanistische ohne Berücksichtigung der speziellen Situation der betroffenen Menschen. Einen anderen moralischen Standpunkt nimmt das sogenannte Maximin-Kriterium ein. Es besagt, dass der minimale Nutzen zu maximieren sei oder anders gesagt, dass bei Handlungsalternativen diejenige gewählt werden soll, deren schlechtestmögliche Folgen besser als die schlechtestmögliche Folgen der anderen Alternativen ist. In Situationen der Unsicherheit und in Situationen, in denen bedeutende Rechtsgüter wie der Schutz der Gesundheit oder des Lebens in Frage gestellt werden, muss die Situation des Schlechtestgestellten verbessert werden. Es ist grundsätzlich unzulässig, jemanden Todesgefahren auszusetzen, auch wenn andere einen grossen gesundheitlichen Nutzen dadurch erfahren würden. So wären riskante klinische Versuche mit neuen chemischen oder biologischen Wirkstoffen wie derjenigen mit dem Antikörper TGN1412 grundsätzlich zu unterlassen, da es nicht zulässig sein kann, einen gesunden Probanden einer tödlichen Gefahr auszusetzen, selbst wenn die Eintretenswahrscheinlichkeit dieses Falls als sehr klein abgeschätzt würde. Auch das in Folge dieses Ereignisses vorgeschlagen Vorgehen, das neue Medikament zuerst nur einer statt sechs Probanden zu verabreichen, würde das MaximinSeite 33 von 48 Prinzip verletzen, da die Gesundheit dieses einen Probanden aufs Spiel gesetzt würde. Im Falle von Qualitätsmängeln von Arzneimitteln, zum Beispiel von möglichen Verwechslungen und fehlerhaften Angaben auf den Verpackungen, müsste alle möglicherweise betroffenen Chargen sofort vom Markt zurückgerufen werden, da andernfalls eine Gesundheitsschädigung nicht ausgeschlossen werden kann. Dieses Prinzip schränkt also die Handlungsmöglichkeiten sehr stark ein und kann einen Fortschritt der Arzneimittel-Therapie behindern sowie die Verfügbarkeit von zugelassenen, wichtigen Arzneimittel beeinträchtigen. Es stellt sich nach wie vor die Frage, wie wir beim Vorliegen von Risiken entscheiden sollen. Was können wir einerseits anderen ohne deren Zustimmung Menschen zumuten, ohne ihre grundlegenden Rechte und ihre Menschenwürde zu verletzen und welche Einschränkungen wollen wir hinnehmen, ohne damit den Behandlungserfolg und den Fortschritt in der Arzneimitteltherapie in einem nicht zu rechtfertigen Masse einzuschränken? Es scheint also in vielen Fällen schwierig zu sein, den moralisch richtigen Entscheid zu fällen. Der Entscheid kann offenbar nicht auf eine einfache Art berechnet oder logisch hergeleitet werden, es braucht das Individuum, das möglichst alle Faktoren ermittelt und in seinen Entscheid einbezieht. Julian Nida-Rümelin (2005, 874) sagt dazu: „Risikooptimierung ist ethisch nur innerhalb bestimmter Einschränkungen zulässig, die durch individuelle Rechte und Gerechtigkeit gesetzt sind. Dieses Defizit ist unabhängig vom gewählten Optimierungskriterium“. Die Sorgfaltspflicht bei der Arzneimittelsicherheit gebietet es, dass nicht formal oder mechanistisch entschieden wird und dass der Entscheid von Menschen oder einer Gruppe von Menschen getroffen wird, die sich der Situation der Patienten oder Probanden bewusst ist und auch dafür die moralische Verantwortung trägt. Auch bei gewissenhafter Beachtung der Sorgfaltspflicht kann es zu Schädigungen von Patienten kommen und die Entscheidungsträger müssen auch dafür die Verantwortung tragen. Es kann dabei jedoch nicht mehr von einer Schuld dieser Personen gesprochen werden, da sie ihre Entscheide nach bestem Wissen und Gewissen gefällt haben. Personen, deren Einwilligung zum Eingehen eines Risikos nicht eingeholt werden können, dürfen auch nur dann diesem Risiko ausgesetzt werden, wenn in dieser Beziehung von einer Sozialakzeptanz ausgegangen werden kann. Diese liegt dann vor, wenn die von den Arzneimittelrisiken betroffenen Patienten davon ausgehen können, dass die Akteure die künftigen Folgen ihres Handelns im Bezug auf ihre Gesundheit abschätzen und bei ihrem Handeln berücksichtigen (Rippe 2006, S.90). Die Pharmaunternehmen sind daher gehalten bei den Entscheidungen zur Arzneimittelsicherheit diejenigen Bedingungen zu schaffen, die Seite 34 von 48 bei Kenntnis der Betroffenen vermutlich von diesen akzeptiert würden. Sie müssen daher ihre Sorgfaltspflichten wahrnehmen und moralisch verantwortlich handeln. Wie kann nun ein Unternehmen sicherstellen, dass diese Entscheide wirklich unter Beachtung aller bis jetzt besprochenen Kritikerin gefällt wird? Dies soll im Weiteren diskutiert werden. 8 Güterabwägungen und Dilemmas bei Entscheiden zu Risiken von Arzneimitteln 8.1 Moralische Dilemmas Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass bei einer Entscheidung für Handlungsalternaiven die Risiken gut abschätzbar sind oder dass die Folgen einer Handlung sogar vorausgesagt werden können. Unter einem Dilemma verstehen wir eine schwierige Entscheidungssituation, in der zwischen zwei unerwünschten, sich gegenseitig ausschliessenden Alternativen entschieden werden muss. Ein moralisches Dilemma liegt dann vor, wenn zwei Handlungsalternativen vorliegen, die derart voneinander abhängig sind, dass bei der Wahl der einen Alternative zur Erfüllung der von ihr gebotenen moralischen Pflichten es zwangsweise zur Verletzung der durch die andere Alternative gebotenen moralischen Pflichten kommt (Brune 2002). Ein Arzneimittel mit Qualitätsmängeln kann entweder vom Markt zurückgezogen oder auf dem Markt belassen werden. Beim Rückzug von Chargen eines Arzneimittels kann die Situation eintreten, dass einige Zeit keine Ersatzware zur Verfügung steht und ein auch kein alternativ einsetzbares Arzneimittel erhältlich ist. Die entsprechende Therapie muss dann unterbrochen werden, was unter Umständen zu schwerwiegenden gesundheitliche Schädigungen führen kann. Selbst wenn ein Ersatzpräparat zur Verfügung steht besteht das Risiko, das dieses anders wirkt oder vom Patienten nicht so gut vertragen wird. Der Patient muss anders aussehende Präparate eines anderen Herstellers nach einem möglicherweise anderen Therapieschema anwenden und das kann dazu führen, dass er verunsichert wird und das Arzneimittel falsch anwendet. Auch ist es bekannt, dass bei vielen Arzneimittelanwendungen psychologische Gesichtspunkte eine Rolle spielen und das das Arzneimittel trotz praktisch stofflicher Identität nicht mehr so gut wirkt. Beim Einsatz von Psychopharmaka ist das zum Beispiel ein wohlbekannter Effekt. Falls andererseits das Arzneimittel nicht zurückgerufen wird, können durch die Qualitätsmängel Gesundheitsschäden hervorgerufen und das Pharmaunternehmen und seine Verantwortungsträger angeschuldigt werden. Dass bei schwerwiegenden Mängeln das Seite 35 von 48 Produkt vom Markt genommen werden muss ist selbstverständlich. Wie sieht die Situation jedoch aus, wenn der Mangel eher geringfügig ist und eine Schädigung des Patienten mit einer recht grossen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Ist dann ein Rückruf noch angebracht und überwiegen die Nutzen des Medikaments nicht die möglichen Schäden durch den Qualitätsmangel? Was aber, falls dann doch Patienten geschädigt werden und die Frage nach der strafrechtlichen und moralischen Schuld gestellt wird? Der Verantwortliche sieht sich bei seinem Entscheid mit diesen unausweichlichen Frage konfrontiert: Was soll ich tun? Lawrence Kohlberg (1996, S. 400) hat auf Grund seines Stufenkonzepts der moralischen Entwicklung gezeigt, dass Dilemmas aus verschiedenen moralischen Positionen entschieden werden können. Auf dem vorkonventionellen Niveau der Stufen 1 und 2 geht der Verantwortliche von der Gefahr von Strafe und der persönlichen Belastung durch den Entscheid aus. Er wird sich bei einem Chargenrückruf also denjenigen Entscheid treffen, bei dem es unwahrscheinlicher ist, dass er persönlich zur Rechenschaft gezogen wird und den Betroffenen Red und Antwort stehen muss. Auf dem konventionellen Niveau der Stufen 3 und 4 wird er die Rollenerwartungen erfüllen wollen und die primären und sekundären Bezugsgruppen berücksichtigen. Er wird also dasjenige zu tun versuchen, was Patienten, Ärzte und Behörden von ihm erwarten oder verlangen würden und die Auswirkungen primär auf die nächstliegenden Gruppen wie die direkt betroffenen Patienten in seinen Entscheid einbeziehen. Auf der nachkonventionellen Ebene der Stufen 5 und 6 wird er versuchen, sich von übergreifenden ethischen und sozialen Prinzipien leiten zu lassen und einen Entscheid zu treffen suchen, der auch die Anforderungen an eine allgemein gültiges moralische Prinzip erfüllen könnte. Bei diesen Entscheiden ist immer eine sorgfältige Güterabwägung zu machen um zu prüfen, ob überhaupt eine Dilemmasituation vorliegt und die richtigen Entscheidungskriterien vorliegen. Bei der Güterabwägung, einem komplexen Deliberationsprozess, werden die Vorund Nachteile der einzelnen Optionen gegeneinander gestellt und auf ihr relatives Gewicht hin untersucht (Horn 2002, 385-390). Es soll ja das wichtigste zur Wahl stehende Gut gewählt und die möglichen Schädigungen sollten auf ein minimales Mass reduziert werden. Dabei ist es unerlässlich, dass alle Informationen geprüft und auf ihre Qualität hin bewertet werden. Nur eine möglichst umfassende Informationsbasis kann die Grundlage für Entscheide sein, bei denen über Gesundheit und möglicherweise Leben und Tod entschieden wird. Unvermeidlich spielen bei den Entscheiden auch die persönlichen Werte eine Rolle und Seite 36 von 48 dessen soll sich der Verantwortliche immer bewusst sein. Er muss sich die Frage stellen, ob seine Werteskala mit derjenigen der Betroffen in den wesentlichen Punkten übereinstimmt und gegebenenfalls von ihnen auch akzeptiert werden könnte. Sowohl die Optimierung des Nutzens wie auch der kategorische Vorrang gewisser Prinzipien, wie der Achtung der Menschenwürde und der Autonomie der Betroffenen, muss in die Überlegungen einbezogen werden. Ein Rückgriff auf frühere Fälle soll sicherstellen, dass keine Einflussfaktoren vergessen gehen und dass in einer konsistenten Weise entschieden wird. Nicht zuletzt muss überlegt werde, ob die Entscheide gerecht ausfallen. Diese sind klassische moralische Fragen und sie wurden an Hand von hypothetischen Beispielen auch schon diskutiert (Thomson 1985). Beim Entscheid zu einem Rückruf stellen wir eine Weiche und wir müssen davon ausgehen, dass in beiden Fällen Personen geschädigt werden. Solange wir nicht entscheiden, ist das Schicksal der Personen auf Grund der Tatsachen vorgegeben. Sobald wir jedoch in die Entscheidungssituation kommen, müssen wir eine Handlungsalternative wählen. Falls wir uns zum Handeln entscheiden gefährden wir andere Personen, die ohne unseren Eingriff nicht geschädigt worden wären. Was ist jetzt moralisch besser, zu handeln oder nicht zu handeln? Abschliessend kann zusammengefasst werden, dass Entscheide über die Massnahmen beim auftreten von Risiken durch Arzneimittel unter Berücksichtigung zahlreicher Prinzipien und Überlegungen gefällt werden müssen. Aus den hier dargestellten Erwägungen folgt also dass in einem Pharmaunternehmen von der Führung sicherzustellen ist, dass die Voraussetzungen für Entscheide, die sowohl die einzelnen betroffenen Firmenmitglieder wie auch das Unternehmen als ganzes moralisch verantworten können, vorliegen. 9 Die moralische Verantwortung eines Unternehmens gegenüber dem Patienten 9.1 Patient wird einem Risiko ausgesetzt, ohne dass er sich dessen bewusst ist und dazu eingewilligt hat Gehen wir von dem Fall aus, dass ein Medikament auf den Markt gebracht werden soll, und über gewisse seltenere Nebenwirkungen oder Gesundheitsgefahren für speziell empfindliche Personengruppen wie Kinder oder Personen mit genetisch oder gesundheitlich bedingten medizinischen Besonderheiten auf Grund ungenügender klinischer Daten noch wenig bekannt ist. Wir setzen diese Personen nun diesen Risiken aus, ohne dass es möglich wäre, ihre Seite 37 von 48 Zustimmung einzuholen. Ist dies nun moralisch zulässig und hat das Unternehmen für mögliche Gesundheitsschädigungen eine moralische Verantwortung? Eine Risikobewertung unter Abschätzung von Nutzen und Risiken wird zwar, wie auch vom Gesetzgeber verlangt, durchgeführt, eine Zustimmung zum Mass des Risikos, das für sie noch tolerierbar wäre, können die Patienten jedoch nicht geben. Grundsätzlich sind solche Entscheide über Risiken nur mit Einschränkungen moralisch zulässig. Üblicherweise wird bei der Risikooptimierung nicht zwischen den entscheidenden und den von den Entscheiden betroffenen Personen unterschieden (Nida-Rümelin 2005, 874). Es wird eine konsequentialistische Sicht angewandt, bei der es um eine gesamthafte Risikooptimierung ohne spezielle Rücksicht auf einzelne betroffene Personen geht. Sobald jedoch Personen Risiken aussetzt werden, ohne dass diese dazu einwilligen konnten oder über das mögliche Schadensausmass und die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens informiert wurden, werden grundsätzliche die Individualrechte dieser Person in Frage gestellt. In der klinischen Forschung und bei medizinischen Eingriffen wird daher heute gefordert, dass der Patient den so genannten „Informed Consent“ (informierte Einwilligung) zur Behandlung geben muss. Es muss auf verständliche Weise über die Behandlung und die dabei auftretenden Risiken informiert werden und der Patient soll im Wissen der dabei auftretenden Risiken wie zum Beispiel den Nebenwirkungen von Medikamenten der Behandlung aus freien Stücken zustimmen. Bei den hier diskutierten Risiken ist es jedoch prinzipiell nicht möglich, diese Zustimmung einzuholen; der Patient wird also ungefragt dem Risiko ausgesetzt. Aus Sicht der Pflichtenethik wird er als Mittel, und nicht als Zweck an und für sich behandelt. Aus dieser Sicht müsste kategorisch verlangt werden, in diesem Fall eine Zustimmung des Patienten, der dieser Gefahr ausgesetzt wird, einzuholen. Der Patient wird andernfalls instrumentalisiert und nur noch als wissenschaftliches Objekt betrachtet. In der Tat ist es jedoch unmöglich, die Zustimmung der betroffenen Patienten zu den auftretenden Arzneimittel-Risiken einzuholen. Wie soll sich in diesem Fall das Unternehmen verhalten, um den berechtigten moralischen Ansprüchen von Patienten und Gesellschaft zu entsprechen und der Sorgfaltspflicht nachzukommen? Wie kann verhindert werden, dass rein wissenschaftlich-technische Entscheide gefällt werden, die das Wohl der Patienten nicht angemessen berücksichtigt? Kann ein betroffener Patient im Schadensfall neben Entschädigungsforderungen auch moralische Forderungen an das Unternehmen stellen und wer ist der moralische Ansprechpartner im Unternehmen? Seite 38 von 48 9.2 Der Prinzipien-Ansatz von Beauchamp und Childress und die moralische Verantwortung des Unternehmens Beauchamp und Childress haben in ihrer Monographie „Principles of Biomedical Ethics (Beauchamp/Childress, 2001) folgende vier grundsätzliche ethische Prinzipien für medizinischen Behandlungen von Menschen aufgestellt: das Prinzip des Respekts vor der Selbstbestimmung des Patienten, das Prinzip der Schadensvermeidung, das Prinzip der Fürsorge und das Prinzip der Gerechtigkeit. Diese Prinzipien wurden für die praktische Arbeit von Ärzten und Pflegepersonal ausgearbeitet. Aus diesen Prinzipen, speziellen den beiden ersterwähnten Prinzipien, können jedoch auch Grundsätze für das moralische Verhalten eines Pharmaunternehmens gegenüber dem Patienten abgeleitet werden. Der Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten muss bei der diskutierten Problematik sicher in die Entscheide einbezogen werden. Da jedoch der Patient als Person nicht präsent sein kann, müssen seine Interessen und Rechte von einer Person oder einen Personengruppe im Unternehmen stellvertretend wahrgenommen werden. Dies wird nicht der Fall sein, wenn die Entscheide über das in Verkehr bringen des Medikaments auf Grund von unklaren Entscheidungsfindungsprinzipien erfolgen und nicht Personen speziell dazu bestimmt werden, die Patienteninteressen wahrzunehmen. Der Entscheid darf nicht anonym erfolgen, so dass am Ende keine Verantwortlichen mehr benannt werden können, sondern die verantwortlichen Personen müssen namentlich bezeichnet werden können. Bei ihren Entscheiden haben Sie neben der Funktion als Stellvertreter der Patienten auch das Prinzip der Schadensvermeidung zu beachten. Das Risiko eines Schadens darf nur dann in Kauf genommen werden, wenn die Verantwortlichen dem auch zustimmen würden, wenn sie selbst das Risiko eingehen müssten oder zum Beispiel engen Familienangehörigen diesem Risiko aussetzen würden. Es muss daher gefordert werden, dass ein Pharmaunternehmen diese Forderungen aufnimmt und organisatorisch und personell umsetzt. Die könnte zum Beispiel so erfolgen, dass ein interne Ethik- Kommission eingesetzt würde oder in dem Personen in spezielle Funktionen des Unternehmens die Aufgabe übernehmen würden. Seite 39 von 48 10 Die Integration der moralischen Verantwortung für die Arzneimittelsicherheit im Unternehmen 10.1 Die rechtliche Verantwortung für die Qualität der Arzneimittel Unternehmen und ihre Mitarbeiter könne für Mängel ihrer Produkte juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Nach Artikel 55 des schweizerischen Obligationenrechts haftet das Unternehmen respektive der Geschäftsherr für den Schaden, den seine Arbeitnehmer in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre. Auf Grund dieser Sorgfaltspflicht können also der Geschäftsführer und die unterstellten Mitarbeiter strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden, falls sie die beruflichen Sorgfaltspflichten missachten und dadurch Patienten gefährden. Nach Artikel 1 des Bundesgesetzes über die Produktehaftpflicht gilt der Grundsatz, dass die herstellende Person (Herstellerin) für den Schaden haftet, wenn ein fehlerhaftes Produkt zum Tode oder zur Verletzung einer Person führt. Artikel 3 des Heilmittelgesetzes regelt die Sorgfaltspflicht: „Wer mit Heilmitteln umgeht, muss dabei alle Massnahmen treffen, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlich sind, damit die Gesundheit von Mensch und Tier nicht gefährdet wird.“ Das Heilmittelgesetz regelt weiter die Durchführung von klinischen Studien und die Meldung unerwünschter Arzneimittelwirkung sowie von Qualitätsmängeln. In den Verordnungen zum Heilmittelgesetz sind Bestimmungen enthalten, die Verantwortlichkeiten und Pflichten im nötigen Detaillierungsgrad festlegen. Eine spezielle Stellung besitzt die fachtechnisch verantwortliche Person, die in jedem Herstellbetrieb für Arzneimittel und in jeder Vertriebsorganisation namentlich bezeichnet werden muss. Sie muss sicherstellen, dass nur zulassungskonforme und qualitativ einwandfreie Arzneimittel für den Vertrieb freigegeben werden und dass die Arzneimittel unter Beachtung der Regeln der Guten Herstellungspraxis hergestellt wurden. Falls sie ihre Pflichten nicht gesetzesgemäss erfüllt, kann sie persönlich zur Rechenschaft gezogen werden. Im Heilmittelgesetz ist das Strafmass festgelegt, dass bei Verstössen oder Vergehen gegen das Gesetz zur Anwendung gelangt. 10.1 Die Organisation eines Pharmaunternehmens Das Unternehmen muss eine Organisations- und eine Entscheidungsstruktur besitzen. Von pharmazeutischen Herstellbetrieben wird verlangt, dass sie ein Qualitätsmanagement-System Seite 40 von 48 besitzen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass alle für die Qualität des Produkts relevanten Prozesse in einer kontrollierten Art und Weise ablaufen und dass die nötigen Vorschriften und Anweisungen vorliegen und konsequent befolgt werden. Von zentraler Bedeutung ist, dass allen Stellen funktionsgemässe Verantwortungen und Kompetenzen zugewiesen werden und dies in Stellenbeschreibungen dokumentiert ist. Die für die Qualität fachtechnisch verantwortliche Person soll direkt der Geschäftsleitung unterstellt und von den Herstellbetrieben unabhängig sein. Sie muss periodisch direkt der Geschäftsleitung Bericht erstatten und die Geschäftsleitung muss die im Bericht festgehalten Qualitätskenngrössen und Ereignisse bewerten und gegebenenfalls Massnahmen ergreifen. Bei schwerwiegenden Qualitätsmängeln und Ereignissen muss die fachtechnisch verantwortliche Person sofort Massnahmen ergreifen und die Geschäftsleitung informieren. Die Verantwortung für die Massnahmen trägt die fachtechnisch verantwortliche Person, selbst die Geschäftsleitung darf sie nicht zu einem Vorgehen zwingen, die sie nicht selbst verantworten kann. Auch für die Entgegennahme und Bearbeitung von Meldung von unerwünschten Nebenwirkungen muss eine verantwortliche Person bestimmt sein, die Meldungen über neue unerwartet Nebenwirkungen an die Behörden weiterleiten muss. Sie entscheidet jedoch nicht alleine über einen eventuellen Rückzug des Arzneimittels vom Markt. Bei klinischen Studien ist der Studienleiter primär für die Durchführung und für Massnahmen bei gesundheitlichen Gefahren verantwortlich. Seine Entscheide basieren jedoch auf Unterlagen und Bewertungen, die eine Vielzahl von Forschern erarbeitet haben. 10.2 Warum moralische Verantwortung in die Unternehmenskultur und organisation integriert werden muss Warum muss nun in einem Unternehmen sichergestellt werden, dass die moralische Verantwortung gegenüber den Patienten und Probanden wirklich wahrgenommen wird? Reicht es nicht, wenn das Unternehmen seine gesetzlichen Pflichten und die allgemeinen geschäftlichen Gepflogenheiten erfüllt? Ist eine Unternehmensethik, die spezielle Pflichten gegenüber dem Patienten beachten soll, nicht überflüssig oder bestenfalls ein neuartiges Marketinginstrument? Diese Fragen können nun auf Grund der vorangegangenen Darlegungen beantwortet werden. Entscheide, die gefällt werden müssen, damit der Patient keine gesundheitlichen Schädigungen erleidet, können oft nicht mechanisch auf Grund von Tatsachen und gesetzlichen Vorschriften gefällt werden. Risiken müssen abgewogen werden, Dilemmas sind Seite 41 von 48 sorgfältig zu evaluieren, Güterabwägungen sind durchzuführen und Verantwortlichkeiten sind aktiv wahrzunehmen. Das Unternehmen und damit seine Mitarbeiter müssen das Wohl der Patienten hoch gewichten. Wichtige Entscheide dürfen erst nach gründlicher Analyse und Abwägung von Nutzen und Risiken gefällt werden. Bei allen Entscheiden muss ein Überprüfung erfolgen, die mindestens folgende Punkte umfassen soll: Werden alle gesetzlichen Vorschriften und internen Regelungen erfüllt? Entspricht der Entscheid den in den Unternehmens-Leitlinien festgelegten Grundsätzen? Werden die Interessen des Patienten und dessen Rechte auf Schutz seiner Person und seiner Gesundheit erfüllt? Würde ich den Entscheid auch so treffen, wenn Menschen wie zum Beispiel mein Partner oder meine Kinder betroffen wären und könnte ich zu meinem Entscheid stehen, falls mein Entscheid publiziert oder öffentlich bekannt gegeben würde? Bei allen Entscheiden müssen wir die Betroffenen als Personen achten, so wie wenn sie uns als Individuen gegenüberständen! 10.3 Wie kann die moralische Verantwortung in der Praxis im Unternehmen wahrgenommen werden? Im Bezug auf die moralische Verantwortung können zwei Fragen gestellt werden: Wer hat etwas getan? Wer muss wem Rechenschaft ablegen? Diese Fragen können sowohl Unternehmensintern wie auch von externen Personen gestellt werden. Antworten auf diese Fragen müssen gegeben werden, wer ist jedoch die antwortende Person oder Instanz? Entscheide und damit auch die Verantwortung über die Entscheide müssen Personen oder Personengruppen klar zugeordnet werden. Fragen können von aussen auch an das Unternehmen als solches gestellt werden, sie müssen jedoch von natürlichen Personen beantwortet werden. Heute wird auch erwartet dass nach Aussen kommuniziert wird, wer die Antwort gibt. Dieser Rückgriff auf personal Verantwortung ist nötig, da dort wo alle verantwortlich sind, keinen Unterschied mehr zwischen denen, die wirklich verantwortlich sind und denen, die es nicht sind, mehr gemacht werden kann (Bayertz 1995, S. 67). Damit wird der Begriff der Verantwortung inhaltsleere reine Rhetorik, da diejenige Person, die jemanden zur Verantwortung ziehen möchte, kein Verantwortlichkeitssubjekt mehr ansprechen kann. Das Handeln der Unternehmen wird dann moralisch beliebig, da sich ja niemand mehr direkt moralisch verantwortlich fühlen kann und wird. Seite 42 von 48 Das Unternehmen soll Massnahmen zur ethischen Kompetenzförderung ergreifen und die Mitarbeiter auf allen Ebenen ermutigen, selbständig ethisch zu reflektieren und argumentieren (Ulrich 2005, S. 156). Nur die Integration der ethischen Reflexion in den Unternehmensalltag kann sicherstellen, dass auch in schwierigen und kritischen Situation, in denen wichtige und folgenreiche Entscheide schnell und sachgemäss gefällt werden müssen, die moralischen Gesichtspunkte auch das nötige Gewicht erhalten. Die Unternehmensführung muss sich dieser moralischen Verantwortung bewusst sein und die nötigen Veränderungsprozesse im Unternehmen eingeleitet haben, um in Krisensituationen gerüstet zu sein. Der einzelne Mitarbeiter soll auf allen hierarchischen Ebenen berechtigt, befähigt und ermutigt werden, immer dann, wenn ethische Entscheide anstehen, seine moralische Verantwortung wirklich wahrzunehmen, ohne dass er dafür wesentliche persönliche Nachteile in Kauf nehmen muss. Es liegt in der Verantwortung der Unternehmensführung die interne Entscheidungsstruktur so zu gestalten, dass diese Anforderungen erfüllt werden können. Die moralische Verantwortung kann auch nicht nur von der Geschäftsleitung getragen werden, da diese nicht „allwissend“ ist und viele Entscheide gar nicht selbst fällen kann. Allenfalls kann sie die Begründungen für den Entscheid verlangen und nachvollziehen und eventuell einen Entscheid umstossen. Ich postuliere daher, dass alle Entscheide, bei denen sich wichtige moralische Fragen im Bezug auf die Sicherheit des Patienten stellen, von klar bezeichneten Personen oder Personengruppen gefällt werden, die auch die moralische Verantwortungen für die Entscheide tragen sollen. 11 Zusammenfassung Arzneimittel werden mit dem Ziel entwickelt, Krankheiten zu heilen, deren Folgen zu mildern oder sie gar zu verhüten. Sie können unter Umständen jedoch auch Krankheiten hervorrufen, sei es bei der klinischen Versuchen, durch unerwünschte und unerwartete Nebenwirkungen, speziell auch bei sensiblen Patienten wie bei Kleinkindern oder geschwächten Patienten oder durch Fehler bei der Herstellung. Arzneimittel werden heute zum überwiegenden Teil von für den Patienten anonymen Unternehmen hergestellt und er hat kein direktes Gegenüber, bei dem er seine Ansprüche, speziell auch seine moralischen Ansprüche bei Schädigungen gelten machen könnte. Es stellt sich daher die Frage, wer in einem pharmazeutischen Unternehmen die moralische Verantwortung für das Wohl der Patienten oder Probanden tragen kann und soll. Gibt es im Unternehmen eine Instanz, die mindestens theoretisch die moralische Verantwortung trägt Seite 43 von 48 oder tragen kann oder hat das Unternehmen a priori moralische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten? Ausgehend von der grundsätzlichen Prinzipien der Verantwortungszuschreibung wird diskutiert, wie diese Prinzipien in einem Unternehmen wahrgenommen werden können. Die Arbeit kommt zum Schluss, dass allen Verantwortungen des Unternehmens schliesslich wieder bei den persönlichen Verantwortungen der agierenden Personen des Unternehmens enden müssen. Das Unternehmen ist moralisch verpflichtet, ein auf einem soliden Wertekatalog aufbauendes „Ethikmanagement“ zu implementieren und die persönlichen Verantwortungen klar festzulegen. Es darf nie zu einer „Verantwortungsdiffusion“ kommen, so dass bei einer Schädigungen des Patienten, vor allem auch wenn sie vermeidbaren gewesen wäre, niemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Seite 44 von 48 12 Literaturverzeichnis Aronson, J.K. 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