Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Fakultät für Sonderpädagogik Reutlingen WS 2006/2007 Seminar: Unterrichtlicher Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit herausfordernden Verhaltensweisen in der Schule für Geistigbehinderte Dozent: Glas, P. Datum: 06.11.2006 a) Einstieg: Rückblick auf die Diskussion der ersten Veranstaltung vom 23.10.06 → Begrifflichkeiten ( verhaltensauffällig, verhaltensgestört, etc.) → 1. Gründe für die neu aufkommende Diskussion über herausfordernde Verhaltensweisen von Schüler/innen an Schulen für Geistigbehinderte: Heute gibt es eine veränderte Schülerschaft in der Schule für Geistigbehinderte. Früher waren viele der schwierigen Schüler/innen in Heimsonderschulen untergebracht, heute tauchen sie vermehrt in öffentlichen Schulen auf. Denn es gibt heute ein gutes Netz der Frühförderung, dies beginnt mit der Diagnose einer Behinderung während der Schwangerschaft. (Bsp.: Frau, die ein Kind mit Down-Syndrom bekommen wird und schon einen Termin bei der Frühförderung hat). Viele Schüler aus Förderschulen werden an Schulen für Geistigbehinderte geschickt, weil sie ansonsten keinen Platz finden und haben dann Schwierigkeiten sich zu integrieren. Dadurch kann aggressives Verhalten entstehen. Die Ausbildung der Lehrer, Therapeuten, etc. an G-Schulen ist qualifizierter. Die Eltern schicken ihre Kinder gerne auf die G-Schule um Hilfe zu bekommen. → Diskussionen, die sich aus dieser Wiederholung ergaben: Pränataldiagnostik und breitere Hilfsangebote für die Eltern stürzen Eltern in einen Entscheidungskonflikt. Der Lindenhof, ein eigenständiges Theater, das kritische, gut inszenierte Stücke in Kooperation mit z.B. mit Maria Berg durchführt. Durch solche Projekte wird das Bewusstsein der Bevölkerung für Menschen mit Behinderungen und auffällige Verhaltensweisen verstärkt. Ein weiterer Diskussionspunkt war die Tatsache, dass durch die hohe Arbeitslosigkeit die Solidarität für behinderte Menschen in der Gesellschaft eigentlich nicht gewachsen ist, sondern das Leistungsbewusstsein nur noch verstärkt wurde. Und es dadurch noch schwieriger ist Arbeitsplätze außerhalb von Behindertenwerkstätten für Menschen mit Behinderung zu finden, da die Leistungsbezogenheit ihnen im Weg steht. 1 → 2. Nachbesprechen von herausfordernden Verhaltensweisen von Schüler/innen aus eigener Erfahrung der Studenten/Studentinnen, die in der letzten Sitzung in Kleingruppen gesammelt wurden: Die Verweigerung etwas zu tun. Z.B.: Sich nicht hinsetzen wollen für die Wochenplanarbeit oder demonstratives Schlafen im Geschichtsunterricht. Den Lehrer provozieren. Z.B.: „Ich mach mir doch den Mund nicht schmutzig, indem ich mit dir spreche!“ Starkes Speicheln oder Spucken, abhängig von der Behinderung. Stark angepasstes Verhalten an die gesellschaftliche Norm, obwohl diese unmöglich zu erreichen ist. – An diesem Punkt stellte sich die Frage, ob die Schule dieses Streben nach angepasstem Verhalten vermittelt oder ob die Motivation tatsächlich aus dem/der Schüler/in heraus kommt? Selbstverletzendes Verhalten von Schüler/innen: Schwierige Einschätzung der Gründe dafür. Aufmerksamkeit? Den eigenen Willen durchsetzen? Schmieren mit Kot, obwohl der/die Schüler/in dieses Handeln nicht unbedingt als eklig empfindet. Ignorieren der Lehrperson und eventuell freundliches Verhalten zu anderen Lehrern. → Daraus entstandene Diskussionen: Wie soll man also mit Autoaggressionen umgehen? Sind diese und andere auffällige Verhaltensweisen, wie das Kotverschmieren nun bewusst eingesetzt oder nicht? In einem starken Fall von Autoaggression musste ein Schüler sogar in Eishockeyschutzkleidung herumlaufen, um ihn vor sich selbst zu schützen. Erfahrungen über Angriffe, die gegen die Lehrperson persönlich gerichtet waren? Bisher nur bei der Streitschlichtung erlebt. Tolerieren wir zu viel, leben wir in einem Schonraum, im „Dornröschenschloss G-Schule“? Oftmals wird man als Lehrer/in erst aufmerksam für auffälliges Verhalten, wenn man mit seinen Schülern in der S-Bahn sitzt und die Leute sich über deren Verhalten beschweren! Man muss nicht alles mit sich machen lassen als Lehrer/in in der G-Schule und inakzeptables Verhalten tolerieren oder als berufsbegleitende Erscheinung hinnehmen. Dieser Gefahr sollte man mit professioneller Hilfe, wie Supervision entgegen wirken und auch den Schüler/innen klare Grenzen aufzeigen, den Schonraum in dieser Hinsicht für die Schüler/innen abbauen. 2 b) Ergänzung von auffälligen Verhaltensweisen, die im Plenum nicht genannt wurden anhand des Handouts „Verhaltensauffälligkeiten“ (vgl.Handout) zu Schreien, Kreischen, Schrill Lautieren: Das Problem hierbei ist, dass dies meist mehrere Schüler/innen gleichzeitig tun und es dadurch kaum auszuhalten ist. In Härtefällen, wie Z.B. einem dauernd schreienden Autisten, kann man außerschulische Hilfe bekommen. (Integrationshelfer) Wobei es fragwürdig ist, ob man für solch eine Arbeit EinEuro-Jobber einsetzen darf/soll? Zu Toben, Wutanfälle (Fremdaggression): Gründe dafür finden und versuchen diese zu bearbeiten. Wutanfälle können auch Angst auslösen bei Schüler/innen und Lehrer/innen. Zu Treten, Zwicken, Beißen, Schlagen, andere bedrängen: Hier stellt sich die Frage, ob Zwicken schon Gewalt ist, oder ob in die Rippen kneifen noch Spaß ist? Akzeptiert man dies oder sollte hier schon eine klare Grenzsetzung erfolgen? Zu Gegenstände herumwerfen – zerstören: Bsp.: Schüler erschlägt Lehrer fast mit Pflasterstein. Zu Gegenstände entwenden: Kommt sehr häufig vor, sehr beliebtes Objekt sind die wichtigen Schlüssel der Lehrer. Wobei es Schüler/innen gibt, die sich nicht beherrschen können. Oft finden die Eltern die Beute wieder. Zu Medikamente ausspucken, nicht einnehmen wollen: Problematik bei Anfallsmedikamenten! Zu dranghaftes Essen: „Prader-Willi-Syndrom“ Zu Apathie, Rückzug, depressives Verhalten: Reizt manche Lehrer/innen überhaupt nicht, wieder andere reagieren gerade darauf. Allgemein variiert das Schülerverhalten innerhalb des Lehrerteams, was nicht immer nur als negativ zu bewerten ist, da es zumindest zeigt, dass die Schüler/innen differenzierte Beziehungen aufbauen. 3 c) Erarbeitungsphase: HILFESCHREIE – In Kleingruppen wurde erarbeitet, ob Verhaltensschwierigkeiten in verschiedenen Kontexten eventuelle Hilfeschreie sind. Es sollten Hypothesen in Bezug auf die Person selbst und deren Umwelt aufgestellt werden. (15 min ) 4 Themenbereiche für die jeweiligen Kleingruppen: 1. depressives Verhalten, Apathie, Rückzug 2. Autoaggressionen, selbstverletzendes Verhalten 3. Fremdaggressionen 4. gesteigerte, andauernde Unruhe Ergebnisse: Zu 1. depressives Verhalten, Apathie, Rückzug: - Rückzug ist nicht unbedingt ein Hilfeschrei. Eventuelle Gedanken des Schülers: „Ich kann mit den Menschen um mich herum nichts anfangen. Ich bin anders als die anderen, also zieh ich mich zurück.“ - Apathie könnte entstehen, wenn ständige Misserfolge erlebt wurden und Selbsttätigkeit nur Nachteile mit sich brachte. Also tut man gar nichts mehr. - Depressionen könnten eventuell aus einem niedrigen Selbstwert heraus entstehe und hängt sehr eng mit Apathie zusammen. Wobei es in dieser Form kein Hilfeschrei mehr ist, sondern Resignation. Die Person ist sich selbst nicht einmal mehr so wichtig, dass er seinen eigenen Körper verletzen würde. Dies wiederum kann Hilflosigkeit im Lehrer selbst auslösen. Zu 2. Autoaggression, selbstverletzendes Verhalten: - Unzufriedenheit und dabei keine andere Möglichkeit diese auszudrücken. - Gegen andere aggressiv zu sein, verbessert das eigene Selbstwertgefühl. - Wahrnehmungsstörung – sich selbst erleben. - Aus Angst vor etwas - durch Autoaggression aus der unangenehmen Situation heraus kommen. - Mit sich selbst unzufrieden sein und sich daher selbst bestrafen. - Hilflose Gefühle bei Mitmenschen, wenn z.B. Autisten sich selbst verletzen. - Selbststimulation, falls der/die Schüler/in reizarm ist. (gerade im Autismusbild gehäuft, wenn sie sich selbst spüren wollen) - Etwas ausblenden wollen durch Autoaggressionen. Zu 3. Fremdaggressionen - Angst, bedrohliche Situationen abwehren wollen. - Stärke zeigen, um sich zu wehren. - Form von Problemlösung, die eventuell im Elternhaus erlernt wurde. - Wenn die Aggression gegen die Lehrperson geht, ist es schwierig dies nicht persönlich zu nehmen. Verständnis für den Aggressiven aufzubringen ist dann oft schwierig. Doch: ist die Aggression nun wirklich nicht gegen die Lehrperson selbst gerichtet? Denn die Angst und den Schmerz erlebe ich selbst als Person, auch wenn ich Lehrer/in bin. - Ein Weg zur Selbstbestätigung. Gefühl: „ich bin wertlos“, also fühle ich mich durch Fremdaggression mächtig. Zu 4. gesteigert, andauernde Unruhe → siehe Protokoll vom 13.11.2006 4 d) Persönliche Reflexion der Veranstaltung: Warum die Diskussion um herausforderndes Verhalten an Schulen für Geistigbehinderte (G-Schulen) als Thema heute verstärkt auftaucht, entsteht meiner Meinung nach nicht nur aus der sich wandelnden Schülerschaft an G-Schulen, sondern auch aus der Tatsache heraus, dass an allen anderen Regelschulen auch Verhaltensauffälligkeiten gehäuft auftreten. Daher stellt man als Sonderschullehrer vielleicht deutlicher fest, dass einige Verhaltensauffälligkeiten der Schüler/innen nicht unbedingt durch ihre Behinderung bedingt sind, sondern noch andere Ursachen haben können, wie Frustration, geringes Selbstwertgefühl, familiäre Probleme, etc. Dadurch verdeutlicht sich, dass gewisse Verhaltensauffälligkeiten nicht akzeptiert werden müssen und man deren Folgen nicht als berufsbegleitende Erscheinung ertragen muss. Vielmehr kommt damit eine neue Aufgabe auf die Lehrer/innen zu, nämlich die Hintergründe für solches Verhalten zu erforschen und eventuell zu verändern, also zu verbessern. Auch bedeutet dies für mich, dass die Zusammenarbeit mit den Kollegen und das gegenseitige Vertrauen in solchen Problemfällen verstärkt werden muss, um nicht aus eventueller Scham mit den Problemen allein zu bleiben. Dass diese Diskussion in der gesamten Gesellschaft zum Thema wird, liegt sicher daran, dass die Bevölkerung heute viel mehr Menschen mit Behinderung im öffentlichen Leben sieht und erlebt. Sei es im Theater, im Fernsehen, oder einfach nur in öffentlichen Verkehrsmitteln. Dadurch entstehen deutlich mehr Konfrontationen mit für die Gesellschaft im allgemeinen auffälligem Verhalten, was für Menschen mit sonderpädagogische vorgeprägtem Blick schon als „normal“ akzeptiert und erlebt wird, was wiederum zum Problem des Schonraums in der Schule für Geistigbehinderte führt. Akzeptieren wir zu viele auffällige Verhaltensweisen unserer Schüler/innen oder sollte sich die Gesellschaft mehr an herausforderndes, unangepasstes Verhalten gewöhnen? An diesem Punkt stellt sich die Frage nach der Art von herausforderndem Verhalten von Schüler/innen. Denkt man an die vier Kategorien, in die die meisten Verhaltensauffälligkeiten eingeordnet werden könnten: Depressives Verhalten, Autoaggression, Fremdaggression, sowie gesteigerte, andauernde Unruhe, so fallen bestimmte Formen von Kategorie zwei und drei in unserer Gesellschaft sofort als unangenehm auf, wobei andere Auffälligkeiten eventuell untergehen. Daraus ergibt sich für mich die klare Schlussfolgerung, dass wir Verhaltensauffälligkeiten erkennen, nicht hinnehmen, aber auch nicht für die allgemeine gesellschaftliche Ruhe bekämpfen müssen. Vielmehr sollten wir an der Ursachensuche für depressives, zurückgezogenes, autoaggressives oder sehr unruhiges Verhalten arbeiten, um den Schüler/innen zu helfen und ein gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten für beide Seiten so ideal wie möglich zu gestalten. Doch dieser Prozess erfordert Zeit, Ausdauer, gute Beobachtung, eine gute kollegiale Zusammenarbeit und eventuell auch professionelle psychologische Hilfe. Dass Verhaltensauffälligkeiten, wie in den vier Bereichen aus der Gruppenarbeit Hilfeschreie sein können, können wir an uns selbst beobachten, wenn wir mit einem Problem kämpfen. Die einen werden launisch und aggressiv, die anderen ziehen sich zurück und wieder andere greifen zum Allheilmittel “workaholic“ und sind Tag und Nacht aktiv. Wir zeigen also auch auffällige Verhaltensweisen, jedoch kennen wir meist selbst die Ursache, können mit Freunden reden, uns Hilfe holen oder gar uns selbst helfen. Dieser selbständige reflektierte Schritt ist für viele Schüler/innen an der Schule für Geistigbehinderte ohne unsere Unterstützung fast unmöglich. 5 6