Zwei Literaturgeschichten im Vergleich: Die Kleine Geschichte der Deutschen Literatur. Von Viktor Žmegač u.a. Und Deutsche Literaturgeschichte. Von Wolfgang Beutin u.a. Hausarbeit zur Vorlesung: Literatur des 20. Jahrhunderts WS 2002/03 Veranstalter: Prof. Dr. Klaus - Michael Bogdal Sabine Hönicke Matrikel-Nr: XXX [Adresse] [e-mail oder Telefonnummer] Einleitung In der vorliegenden Arbeit sollen zwei einbändige Literaturgeschichten verglichen werden: Die KLEINE GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR. VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUR GEGENWART von Viktor Žmegač u.a. und die DEUTSCHE LITERATURGESCHICHTE. VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUR GEGENWART von Wolfgang Beutin u.a. 1 Konkreter Gegenstand des Vergleichs sind die literaturgeschichtlichen Darstellungen desjenigen historischen Abschnitts, der allgemein als die „Literarische Moderne“ bezeichnet wird. Es geht also um die Literaturbewegungen in der raumzeitliche Situation „Kulturraum Europa“2 an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert3 mit dem Fokus auf dem deutschen Kaiserreich. Da die Literaturgeschichte als Disziplin in den vergangenen Jahrzehnten einige Veränderungen durchlaufen hat, werden zunächst einige Worte zum „Unternehmen Literaturgeschichte“ im allgemeinen vorausgeschickt. Zur Literaturgeschichtsschreibung Viktor Žmegač schrieb 1980 in der Einleitung zu seiner GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR VOM 18. JAHRHUNDERT BIS ZUR GEGENWART, „mehr denn je“ bedürfe eine Literaturgeschichte heute „einführender Worte“. Es gelte, „ein Unternehmen zu begründen, dessen Besonderheit unter anderem darin besteht, daß es durch seine bloße Zugehörigkeit zu einem besonderen Typus literaturwissenschaftlicher Betrachtung gewisse Zweifel zu wecken vermag.“ 4 In den 60er und 70er Jahren mehrten sich in der Fachwelt die Stimmen, denen zufolge sogenannte „traditionelle Gesamt- oder Epochendarstellungen (einer, S.H.) Nationalliteratur“ zur Gattung der bereits in den 60er Jahren „als unseriös und anmaßend geltenden Literaturgeschichten“5 gehörten. Was im 19. Jahrhundert, also nach Hans Robert Jauss zu Zeiten von „Gervinus und Scherer, De Sanctis und Lanson als das krönende Lebenswerk des Philologen“6 galt, ist den wissenschaftlichen Ansprüchen des 20. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen. Wenn ein zeitgenössischer Literaturhistoriker es wie 1 2 3 4 5 6 Viktor Žmegačs „Kleine Geschichte der deutschen Literatur“ erschien erstmalig im Jahr 1974 im Verlag „Mladost“, Zagreb. Die deutsche Erstausgabe erfolgte 1981 unter dem Titel „Scriptors Geschichte der deutschen Literatur“ und wurde bis zur vorliegenden Ausgabe von 1993 viermal aktualisiert. Die „Deutsche Literaturgeschichte“ von Beutin u.a. erschien erstmalig 1979 und wurde bis zur vorliegenden Ausgabe von 2001 bereits sechsmal aktualisiert (verbessert und erweitert), wobei das Kapitel über die Literarische Moderne für die vorliegende Ausgabe neu geschrieben wurde. Beutin u.a. 2001, S.IX In dieser Untersuchung wird der Naturalismus ein- und der Expressionismus ausgeschlossen. Žmegač 1980, S.XI Jauss 1967, S.6 Ebd., S.5 Georg Gottfried Gervinus als seine Aufgabe ansehen würde, den „Meisterwerken unserer Dichtung...gewogene Leser“7 zu verschaffen, indem er „solchen Geistestaten ein würdiges Denkmal zu setzen“8 sich anschickte, weil sie „zur wesentlichen Förderung und der gesellschaftlichen Bildung“9 beitrügen, dann wäre sein Vorhaben im Sinne von Jauss anmaßend und unseriös. Entscheidend ist hierbei die Sicherheit in Gegenstand („Meisterwerke“) und Methode („ein Denkmal setzen“) seines Vorhabens, die dem Literaturhistoriker nach der wissenschaftlichen Wende in der Germanistik nicht mehr gegeben ist – die aber trotzdem von einigen Literaturhistorikern weiterhin angenommen wird.10 Eine solche Sicherheit in bezug auf die Frage, was ein kanonisierungswürdiges Werk ist (und warum der literaturwissenschaftliche Laie gerade dieses lesen sollte), ist nach der wissenschaftlichen Wende vom akademischen Fach zur wissenschaftlichen Disziplin,11 die die Literaturwissenschaft in den 60er Jahren durchläuft, aber nicht mehr gegeben. Die seit Gervinus nahezu konstant gebliebenen Arbeitsbereiche und Zielsetzungen der Literaturwissenschaft, d.h. die Arbeit am Kanon nach hermeneutischen Verfahren, stehen im Zuge der Reformierung der Germanistik in Frage.12 Den Hintergrund dieser Entwicklung bildet ein aus dem Zugriff von Psychoanalyse und Marxismus resultierendes vertieftes und verbreitertes Wissen über den Gegenstand Literatur,13 das zu einer Entmystifizierung des dichterischen Schaffens und des Werkes führt mit der Folge, dass das Lesen als vormals soziales Privileg an Wert verliert14 und der vormals ehrwürdige Gegenstand „Literatur“ zum „Text“ wird.15 In Ermangelung eines „einheitlichen Selbstverständnisses“ nach dem Verlust der traditionellen kulturellen Funktion16 der Literaturwissenschaft sind in der Folge eine Vielzahl von Theorieansätzen17 entstanden, die immer auch um Identitätsstiftung und 7 Gervinus 1871, S.3 Ebd., S.7 9 Ebd., S.5 10 Vgl. z.B. die KLEINE LITERATURGESCHICHTE von Kurt Rothmann (erste Auflage 1978, die vorliegende 15. und erweiterte Auflage von 1997), deren Autor zwar seine Geschichtsschreibung nicht wie Gervinus als eigenes Kunstwerk sieht, der aber den Begriff des Literaturkanons (nach Gero von Wilpert eine „als allgemeingültig und dauernd verbindlich gedachte Auswahl vorbildlicher Werke“) mit der gleichen Sicherheit verwendet wie Gervinus den des Meisterwerks, und der in ganz ähnlicher Weise, wenn auch ohne einen gesellschaftlichen Bildungsauftrag zu benennen, „zugleich zum Lesen der Werke selbst anregen“ möchte. Rothmann 1997, Vorwort 11 Baasner 2001, S.92 8 12 Vgl. ebd., S.89 Bogdal 1997, S.15 14 Ebd., S.20 15 ebd., S.20. Vgl. auch von Heydebrand/Winko 1996: Ein Grund für den Bedeutungsverlust der Literatur in der modernen Mediengesellschaft dürfte darin liegen, daß einige der Funktionen, die traditionellerweise das Lesen literarischer Texte erfüllt hat, heute auch von anderen Medien wie Fernsehen und Film übernommen werden können;...S.95 Fußnote 20 16 Bogdal 1997, S.20 17 ebd. Und Baasner 2001, S.94 13 Objektkonstituierung konkurrieren, und der Platz dieses Selbstverständnisses wird vom „Problem der Legitimierung der wissenschaftlichen Praxis“ besetzt.18 In dem Moment, in dem der „ehrwürdige Gegenstand Literatur“, der „Kanon der Meisterwerke“ nicht mehr obligatorisch gedacht wird, sondern den verschiedenen möglichen Gegenständen (also Texten) und Methoden eine prinzipielle Gleichrangigkeit 19 eingeräumt wird, hat der Literaturhistoriker zumindest theoretisch grundsätzlich die Wahl, über welche Texte er wie schreibt, sofern er dem Leser die Evidenz seines Unternehmens vermittelt.20 - Der französische Historiker Paul Veyne stellt die „Ehrwürdigkeit“ des Gegenstands der Geschichtsschreibung in einem provozierenden Vergleich in Frage, der hier auf die Literaturgeschichtsschreibung übertragen werden und kurz vorgetragen werden soll, weil er den Entmystifizierungsvorgang des „ehrwürdigen Gegenstands“ der Geschichtsschreibung nachvollzieht und beleuchtet. Zum Vorgehen dieser Arbeit: Über Geschichte und Geschichten Die deutsche Sprache hat für die beiden Gegenstände, die das Englische mit Story und History bezeichnet, nur das eine Wort Geschichte. Die Bedeutung von Geschichte als story, als „Geschehnis“ oder „Folge der Ereignisse“21 ist die ältere von beiden Bedeutungen, während Geschichte als history, als Gegenstand von Geschichtswissenschaft, erst im 18. Jahrhundert (durch Herder) in die Allgemeinsprache einging.22 Einige Theoretiker der Geschichtsschreibung, darunter der französische Historiker Paul Veyne, nehmen in ihren Ausführungen eine Gleichsetzung der beiden Termini vor. Das Berichten von Geschichte als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, so Veyne, sei mit dem Erzählen einer Folge von Ereignissen, wie es im Roman geschieht, vergleichbar. Eine solche Folge von Ereignissen, 18 Bogdal 1997, S.20 19 Baasner 2001, s.94 Vgl. Baasner 2001 S.94: „Trotzdem ist die Anwendung eines oder mehrerer Ansätze nicht beliebig. Ihre Eignung für die jeweils durchzuführende Forschungsarbeit sollte begründet, sowie die Reichweite ihrer Fragestellungen und methodischen Verfahrensweisen geprüft werden.“ Was Baasner hier als einen prinzipiellen Vorteil der Methodenvielfalt beschreibt („Die Offenheit dieses wissenschaftlichen Pluralismus sichert hohe Kreativität“, ist Bogdal zufolge das Symptom der Krise der Literaturwissenschaft: „Das Legitimationsproblem durchdringt mit einem Wort sämtliche Methoden der Literaturwissenschaft seit ihrem Entstehen krisenhaft und macht sie anfällig für eine Kritik aus dem Bereich der institutionalisierten Kultur, die primär das methodisch geleitete Lesen als Angriff auf ihre Identität darstellt....“ Bogdal 1997, S.21 (vgl auch Willemsen in Griesheimer/Prinz 1991, S.49:„...keine andere Wissenschaft lebt so überschwenglich von der permanenten Erörterung ihrer Fundamentalien...“. Mögliche Antworten (auf das Problem kultureller Legitimation) stellt Bogdal in den NEUE(N) LITERATURTHEORIEN vor. Bogdal 1997, S.21 20 21 22 Vgl. den Artikel Geschichte in Duden Etymologie 1963, S.215 ebd. wie sie im Geschichtsbuch aufzufinden ist, benennt er mit dem Begriff der Fabel: „Das Wort Fabel hat den Vorteil, daran zu erinnern, daß das vom Historiker Erforschte etwas ähnlich Menschliches ist wie der Roman oder ein Drama, wie Krieg und Frieden oder Antonius und Kleopatra.“23 Die Idee von einer Geschichte, die in Form von verschiedenen Geschichten erzählt wird, steht bei Veyne im Zusammenhang mit der Annahme, der Geschichtenschreiber stünde dem Stoff seiner „Fabeln“ in gleicher Weise gegenüber wie der Geschichtsschreiber, der aufgrund der Unmöglichkeit, eine Totalität zu beschreiben,24 ein Auswahlkriterium benötigt: Die Historiker erzählen Fabeln.25 [...] Eine Fabel ist ein Stück Leben, das sich der Historiker nach seinem Geschmack herausgreift und in dem die Tatsachen ihre objektiven Zusammenhänge und ihre relative Bedeutung haben... 26 Veyne konfrontiert hier das traditionelle Geschichtsverständnis, dass sich nicht nur im Bereich der Literaturgeschichte seiner Gegenstände sicher ist, mit der These von der „Willkür“ des Historikers, der sich die Geschichten „nach seinem Geschmack herausgreift“. Die pointierte Formulierung, der zufolge der Historiker nach Maßgabe eines zutiefst persönlichen Maßstabs vorgehe, stellt der Annahme von einer objektiven Wertigkeit des historischen Gegenstandes die Behauptung gegenüber, es wäre die Geschichtsschreibung eine höchst subjektive Angelegenheit. Es wird die Bewertung eines Gegenstandes als „geschichtswürdig“ auf die Seite des Historikers bzw. der Geschichtsschreibung verlegt – und natürlich seiner Rollenvorgaben und persönlicher Vorlieben etc. - und nicht auf die Seite des durch seine Werthaftigkeit irgendwie herausragenden Gegenstands: Aber es gibt auch keine besondere Kategorie von Ereignissen, (die politische Geschichte beispielsweise), aus denen »die« Geschichte besteht und die sich für eine Auswahl zwingend anbieten würden. Es ist demnach im buchstäblichen Sinne wahr, daß, wie Marrou sagt, alle Geschichtsschreibung subjektiv ist: Die Wahl eines geschichtlichen Gegenstands ist frei, und prinzipiell gelten alle Gegenstände gleich viel. »Die« Geschichte gibt es nicht, und noch weniger verläuft der Gang der Geschichte in einer bestimmten Richtung. Der Gang der Ereignisse folgt nicht einem fertig verlegten Gleis (und wird nicht von der Lokomotive einer wirklich wissenschaftlichen Geschichte vorwärts gezogen). Der Historiker kann sich den Weg aussuchen, den er zur Beschreibung des Ereignis-Feldes einschlagen will; alle Wege sind gleich legitim (wenn auch nicht gleich interessant).27 Es ließe sich einwenden, dass HistorikerInnen und auch LiteraturhistorikerInnen im Dienste ihrer Rolle und bestimmter institutioneller Vorgaben stehen und insofern einen historischen Gegenstand nicht frei „nach ihrem Geschmack“ wählen können. So steht z.B. Christine Kanz mit Sicherheit im Dienst des bewährten „>Erfolgsmodells<“ Metzlers Literaturgeschichte, welches in verschiedene europäische und nichteuropäische Sprachen 23 24 25 26 27 Veyne 1990, S.36 ebd., S.38 ebd., S.39 ebd., S.36 ebd., S.39 übersetzt wurde, und welches die AutorInnen der sechsten Auflage (wohl im Bewusstsein der Legitimierungsfrage) „nicht völlig neu schreiben“ wollten.28 Aber auch die institutionellen Vorgaben und diejenigen der Rolle des Literaturhistorikers liegen auf der Seite des Literaturgeschichte schreibenden Subjekts und nicht auf der Seite des historischen Objekts, und schließlich tritt der Autor einer Literaturgeschichte als schreibendes Subjekt auch persönlich auf. Deshalb soll die gedankliche Prämisse, dass alle Gegenstände der Geschichtsschreibung „im Prinzip gleich viel gelten“, beim Vergleich der beiden Literaturgeschichten den Blick dafür schärfen, was die Geschichtsschreiber in ihrer Darstellung aus den an sich egalitären Gegenständen gemacht haben, d.h. welche Gegenstände sie in ihre Darstellung aufgenommen haben, und wie sie sie dem Leser präsentieren und dabei ihre Auswahl legitimieren. Dies sollen die Leitfragen der Untersuchung sein. 1 Zwei Geschichten der Literarischen Moderne »Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede– und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich Widersprüche und höchst unterschiedliche Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemeinsamen Atem; würde man jede Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein, wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen. Diese Illusion, die ihre Verkörperung im magischen Datum der Jahrhundertwende fand, war so stark, daß sich die einen begeistert auf das neue, noch unbenützte Jahrhundert stürzten, indes die anderen sich noch schnell im alten [...] gehen ließen [...], ohne daß sich diese beiden Verhaltensweisen als sehr unterschiedlich gefühlt hätten.« 29 1.1 Der Zugriff auf den Gegenstand Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert markiert einen historischen Abschnitt, in dem die gegensätzlichsten Gesinnungen nebeneinander existierten – insoweit stimmen die Autoren Kanz und Žmegač in ihrem Blick auf die Literarische Moderne mit Robert Musil überein und verwenden das Zitat aus dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ als „geistvolle Skizze 28 29 Beutin u.a. 2001, S.IX Aus diesem Ausschnitt aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften zitiert Žmegač 1993 auf S. 237 und Kanz 2001 auf S.355) kontrastreicher und ineinander verschlungener Linien“ eines „skeptischen Betrachters“ (Žmegač)30 bzw. als Zeugnis der „Disparatheit“ oder des „Stilpluralismus“ dieser Zeit (Kanz).31 Schon in diesen Formulierungen deutet sich die Verschiedenheit in den Zugriffsweisen der beiden Autoren auf die historische „Totalität“ der raumzeitlichen Situation 1890-1910 an und bestätigt sich in einem Blick in die Vorworte: Žmegač räumt dem „spezifisch literarischen Gegenstand“ in seiner Darstellung den Vorrang ein und lässt dafür die „allgemeinen historischen Fakten“ in den Hintergrund treten. Die Autoren von Metzlers Literaturgeschichte dagegen geben in ihrem Vorwort an, die Literarische Moderne „im Kontext eines sich bis in die Psychoanalyse ausweitenden neuen Erfahrungsraums, den die europäische Avantgarde quer durch alle Künste und insbesondere die Literatur ... als eine unerwartete Krise der neuzeitlichen Subjektivität empfindet“, darstellen zu wollen.32 Die Fokussierungen auf den „spezifisch literarischen Gegenstand“ einerseits und den „neuen Erfahrungsraum“ und die „Krise der neuzeitlichen Subjektivität“ auf der anderen Seite spiegeln sich in den Gliederungen: Die Literarische Moderne (1890-1920) 1 Die Naturalisten als erste Generation der literarischen Moderne 1.1 Der Schriftsteller als Naturwissenschaftler 1.2 Infragestellung traditioneller Geschlechter- und Familienkonzepte 1.3 Der Naturalismus in der Rezeption 2 Literaturbewegungen um 1900 2.1 Krise des modernen Subjekts 2.2 Literatur und Geschlecht 3 (Expressionismus (1910-1920) (Metzlers Deutsche Literaturgeschichte) 1.2 11 Naturalismus und Anfänge des Ästhetizismus 12 Im Zeichen des Symbolismus 13 Wiener Moderne 14 Wege des Romans 15 (Expressionismus und verwandte Strömungen) (Žmegačs Kleine Geschichte der deutschen Literatur) Die Fragen der literarischen Moderne bei Christine Kanz Der Leitfaden von Kanz´ Geschichte ist weder primär am literarischen noch primär am gesellschaftlichen Gegenstand orientiert, sondern an einer dritten Komponente, die man das „geistige Klima“ der Jahrhundertwende nennen könnte. Ihre (aus dem Text rückgeschlossene) Fragestellung lautet in etwa, wie sich dieses geistige Klima, welches 30 31 32 Žmegač 1993, S.237 Beutin u.a. 2001, S.355 Beutin u.a. 2001, S.X durch den „neuen Erfahrungsraum“ und die Krise des „männlich konnotierten neuzeitlichen Subjekts“ (s.o.) geprägt ist, in der Gesellschaft und ihren Literaturen widerspiegelt und manifestiert. Die Fragen, die in diesem Rahmen verhandelt werden, kreisen um die Bereiche Wahrheit und Identität. 1.2.1 Neue Wahrheiten Krise, Wandel, Innovation; Verlust von Werten und Verlust von „geistigen Orientierungsmarken“33 sind die Schlagworte, mit denen Kanz die gesellschaftliche Situation der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert charakterisiert. Ein Bruch im vormals festen Gefüge der Selbstverständlichkeiten und ein dem Zeitgeist entsprechendes Ideal der Innovation,34 welches die Ideale der Antike abzulösen beginnt, schafft im kollektiven Bewusstsein den Raum für neue „Wahrheiten“, die den alten Orientierungsmarken z.T. diametral entgegenstehen. Die Annahme von einer göttlichen Schöpfung und Darwins „Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Auslese“ sind solche Gegensätze, die zum Entstehen von Musils „eckigem Kreis aus hölzernem Eisen“ beitragen.35 Das Erkennungsmerkmal dieser Umbruchsituation ist, so Kanz, die Disparatheit und die Masse der existierenden Anschauungen, Denkrichtungen und Lebensformen, die sich aus dem Nebeneinanderstehen von noch nicht abgelösten, aber in Frage gestellten alten Formen und in der Erprobungsphase befindlichen, aber noch nicht etablierten neuen Formen des Lebens, Liebens, Arbeitens und des Denkens und Schreibens ergibt. Die Vielzahl der Möglichkeiten, die diese Situation produziert, spiegelt sich in einer Vielzahl von literarischen Äußerungen, die altes versichern und neues verdammen oder neues propagieren und altes verdammen oder einen anderen neuen Weg propagieren als die anderen u.s.w. Die großen Probleme des Einzelnen als Teil dieser Gesellschaft ergeben sich aus der Notwendigkeit, sich zu der plötzlichen Pluralität der Meinungen und Möglichkeiten zu verhalten. Die Fragen, die in dieser Situation über das Medium Literatur verhandelt werden, sind u.a. die folgenden: Wo liegt die Wahrheit in einer Gesellschaft, in der an Stelle der Vorstellung einer göttlichen Schöpfung die Naturwissenschaften und die Sozialwissenschaften getreten sind und wenn plötzlich nicht mehr gut ist, was alt ist wie das Kunstideal in der Antike, sondern wenn gut ist, was neu und modern ist?36 Welche Lebensform soll der Mensch wählen, wenn die vorgezeichneten Rollen nicht mehr zwingend an die Familie gebunden sind und wenn 33 34 35 36 Beutin u.a. 2001, S.354 f Ebd. S.342 Vgl. ebd., S.343 Vgl. S.342 f. die nachlassende soziale Kontrolle in den Großstädten die Erprobung neuer Lebens- und Liebesformen erlaubt?37 Wie ist es um die Identität des Mannes beschaffen, wenn plötzlich Frauen in die sorgsam behüteten (öffentlichen) Territorien von Männern eindringen und wie ist es um die Identität von Frauen beschaffen, die ihre angestammten Rollen im Privaten einer Gesellschaft verlassen und im öffentlichen Leben sich ihren Platz erst noch erkämpfen und die Wege mühsam neu bahnen?38 Und nicht zuletzt: Welche gesellschaftliche Funktion soll die Kunst erfüllen und was macht überhaupt ein modernes Kunstwerk aus? In dieser Situation, in der in der literarischen Öffentlichkeit all diese Fragen besprochen, reflektiert und beschrieben werden,39 steht nicht zuletzt die Sprache als die letzte gesellschaftliche Selbstverständlichkeit auf dem Prüfstand, als tägliches Medium und insbesondere als Mittel der Kunst, welches nun ebenfalls der Innovation bedarf. Die Wahrheit des Naturalismus Die erste „moderne“ künstlerische Wahrheit liefern die Naturalisten, deren Motto in Abgrenzung zu der idealistischen Ästhetik der antiken Tradition lautet: Wahrheit statt Schönheit.40 Diese Wahrheit orientiert sich an den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaften, zunächst der Biologie und Soziologie (wie der o.g. Evolutionstheorie). Der Anspruch der Naturalisten lautet, den Menschen in „Fleisch und Blut“ darzustellen und diejenigen gesellschaftlichen Phänomene, die aus der idealistischen Ästhetik aufgrund von Tabuisierungen oder aufgrund ihrer Hässlichkeit herausgefallen sind,41 beim Namen zu nennen und sie mit Vorliebe im Kunstwerk – also vornehmlich dem naturalistischen Drama zu thematisieren: „Als progressiv galt es z.B. Gesellschaftsfragen wie Alkoholismus oder Probleme des Proletariats zu thematisieren, die besonders in den Großstädten zutage traten.“42 Die Innovationen des Naturalistischen Dramas sind daher in der Hauptsache inhaltlicher Natur und liegen im Bereich der Themen. Der Künstler soll, so der Anspruch der Literaturtheorie im Gefolge von Emile Zola, im Idealfall wie ein Naturwissenschaftler 37 Vgl. S.356 f. Vgl. S.353 39 „Die Identitätskrise des spätestens seit der Aufklärung >männlich< konnotierten Subjekts sowie die Infragestellung alter Werte und Institutionen wie der Familie führen zu einer unüberschaubaren Fülle lebensreformatorischer Schriften über Liebe, Ehe, Familie und Kindererziehung. Die ideologische Bandbreite der Studien reicht von der Verteidigung oder Reformierung der traditionellen Lebensformen über den wissenschaftlichen Sozialismus oder unterschiedliche feministische Auffassungen bis zu mysogynen Elaboraten wie dem von Otto Weininger. Der Modernisierungsschock bildet einen fruchtbaren Boden auch für kulturkonservative Utopien, rassistische oder völkische Ideen, die Ausweitung des Darwinismus oder die Wiederbelebung der idealistischen Philosophie.“ Ebd. S.356 40 Ebd. S.346 41 Ebd. S.346: „Das Hässliche und Kranke, das Perverse und bislang Tabuisierte wurden zentral in Literatur und bildender Kunst.“ 42 Ebd. S.346 38 vorgehen, um eine naturwissenschaftlich begründete Ästhetik und Poetik in ein Kunstwerk umzusetzen: „Der Romanschriftsteller solle die Menschen wie ein Wissenschaftler studieren Er muss die sie bestimmenden psychischen, physischen und sozialen Mechanismen erforschen und die gesellschaftlichen Begebenheiten mit gleichsam naturwissenschaftlicher Methode aufzeichnen.“43 Trotz dieses wissenschaftlichen Ansatzes kann, so Kanz, „von einer >wissenschaftlichen< Durchdringung der literarischen Themen“ kaum gesprochen werden.44 Die naturalistischen Dichter griffen Kanz zufolge gerne auf die Vererbungsgesetze und die Erkenntnisse der Milieutheorie zurück,45 wie Gerhart Hauptmann mit seinem Stück Vor Sonnenaufgang. Das Stück löste mit seiner realitätsgetreuen Thematik und Sprache der Figuren (Soziolekt) und aufgrund fehlender dramatischer Wendungen bei seiner Uraufführung einen Theaterskandal aus, „der den Durchbruch des naturalistischen Theaters auf der deutschen Bühne markiert.“46 Mit der raschen Fluktuation dessen, was in der Gesellschaft als modern angesehen wird, wandeln sich auch die Bezugsgrößen der Kunst. Wie die aufkommenden „neuen“ Wissenschaften Psychologie, Psychiatrie, die Neurosen – und Hysterielehre jetzt nicht mehr die äußere Wirklichkeit, sondern das Innere des Menschen in den Blick nehmen,47 orientiert sich auch die zugehörige moderne „Kunst der Nerven“48 nicht mehr am naturalistischen Idealbild des Menschen „in Fleisch und Blut“ und der Anatomie der sozialen Verhältnisse, sondern mit Hofmannsthals Worten an der „Anatomie des eigenen Seelenlebens“ und des Traumes.49 In Korrespondenz mit den Werken Nietzsches und Freuds stehen viele Autoren der Jahrhundertwende (George, die Manns, Döblin, Benn, Brecht, Schnitzler, AndreasSalomé, Rilke, Jünger u.a.).50 Anders als die naturalistische Bewegung, die sich trotz innerer Differenzen noch einheitlich benennen ließ, entzieht sich die „Kunst der Nerven“, so Kanz, einer einheitlichen Zuordnung. Kursierende Termini sind „Impressionismus, Symbolismus, Décadence und Fin de siècle, Neuromantik oder Ästhetizismus“.51 Die Wahrheit des Ästhetizismus Die „allgemeine Kulturkrise“52 produzierte neben den vornehmlich inhaltlichen (Kunst-) 43 Ebd. S.344 44 Ebd. S.345 Ebd. Ebd. S.347 Ebd. S.360 Ebd. Ebd. S.361 Ebd. Ebd. Ebd. S.357 45 46 47 48 49 50 51 52 Antworten der Naturalisten, die die Anerkennung realer Verhältnisse durch die Kunst forderten, eine Gegenreaktion auf die „entartete“ (weil der Forderung nach Schönheit nicht mehr entsprechenden) Kunst der Moderne.53 Der explizite Gesellschaftsbezug der naturalistischen Kunst mit ihrer in Georges Worten „falschen auffassung der Wirklichkeit“, „weltverbesserungen und allbeglückungsträumen“ findet hier sein komplementäres Gegenstück in dem von George vertretenen Autonomiekonzept der Kunst, zu dessen Vorund Mitdenkern Nietzsche mit seiner Kulturkritik und die französischen Symbolisten Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé gehören.54 Dieses Konzept wird von Angehörigen des mittleren und gehobenen Bürgertums vertreten, die sich in Wien, einem Gegenpol zum naturalistischen Zentrum Berlin trafen.55 Das zugehörige künstlerische Ideal dieser „Kunst für Eingeweihte“ ist ein Ideal der Schönheit der Form, in Georges früher Zeit ein Ideal des Klanges, demzufolge die Dichterworte nur „intuitiv, emotional, assoziativ“ zu erfassen seien, während der spätere George mit seiner Kunst „vor allem erziehen“ wollte.56 1.2.2 Das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft: Protest oder l´art pour l´art Zum naturalistischen Programm gehörten Lärm und Skandal. Diese Kunst sollte nicht unterhalten, sondern aufrütteln, indem sie sich um die Explizierung gesellschaftlich verdrängter Themen bemühte und deshalb mit den herrschenden Meinungen auf die eine oder andere Weise in Konflikt geriet: Die Aufführungen des Naturalisten Gerhard Hauptmanns Drama VOR SONNENAUFGANG provoziert die Empörung der Zuschauer und des Kaisers, (S.347) der seine Theaterloge Kündigt und Hauptmann den Schillerpreis zugunsten Ernst von Wildenbruchs aberkennt, weil er soziales Elend unterer Schichten und die Dekadenz von Neureichen thematisiert. 57 Hauptmann nutzt die Öffentlichkeitswirkung des Dramas, das „als Protest gegen klassischidealistische Verklärung und Beschönigung verstanden werden“ sollte,58 sozial niedriger transportieren, Schichten zu beleuchten das – in Anlehnung an und gleichzeitig ein die rezipierten um das Elend Menschenbild zu Wissenschaften - von Determiniertheit und Vererbung ausgeht. Im Gegensatz zu den Theaterskandalen der naturalistischen Dramen bemühten sich die Ästhetizisten nicht um breite Öffentlichkeit, sondern verblieben in elitären Zirkeln wie der Kreis um Stefan George, der 1890 seinen ersten Lyrikband Hymnen als Privatdruck publizierte.59 53 54 55 56 57 58 59 Ebd. S.356 Ebd. S.357 Ebd. S.356 Vgl. ebd. S.357 Ebd. S.346 f. Ebd. S.347 Ebd. S.356 1.2.3 Über Identität Das „männlich konnotierte Subjekt“, das „von seiner plötzlichen Freiheit schockiert scheint“,60 weil es seine Rolle in Gesellschaft und Familie in Frage gestellt sieht, befindet sich um die Jahrhundertwende in einer Identitätskrise. Auf die plötzliche Infragestellung der tradierten Rollenkonzepte von Mann und Frau geben die Literaturen verschiedene Antworten, die gleichzeitig vermitteln, wie der Mensch ist und wie er sein sollte. So zeigen die naturalistischen Künstler mit ihrem Konzept „Wahrheit statt Schönheit“ einerseits entgegen aller herrschenden Tabus und einem idealisierenden Kunstideal der wilhelminischen Gesellschaft, wie der Mensch (in Fleisch und Blut) bzw. die Gesellschaft wirklich sei; mit ihrer Übernahme des deterministischen Menschenbildes61 aus der Soziologie und Vererbungslehre vermitteln sie gleichzeitig, dass er anders auch nicht werden kann. Gleichzeitig tradieren sie (hier Hauptmann, Holz und Schlaf) ein bestimmtes Tabu in ihren Dramen ungehindert weiter, indem sie durch den immergleichen Ausgang von Schicksalen eine bestimmte Frauen- und Männerrolle festschreiben, deren Unverrückbarkeit noch durch den Determinismus (der ja besagt, dass ein Mensch nicht aus seiner ererbten „Haut“ herauskann) bestärkt wird. „Die bevorzugte Thematisierung von Prostituierten, Arbeiterinnen und >einfachen Mädels< aus dem Volk resultierte zwar auch aus der Vorliebe für deklassierte Milieus, lässt zugleich aber männliche Projektionen und Ängste erkennen, die sich in der Degradierung und Dämonisierung der Frau niederschlagen.62 So beenden die ersten populären Dramen der deutschen Naturalisten (VOR SONNENAUFGANG von Hauptmann und FAMILIE SELICKE von Arno Holz und Johannes Schlaf) ihre pessimistischen Milieudarstellungen mit der Selbstaufopferung der Frau,63 während Akademikerinnen, also Frauen in untypischer Rolle, auf der Bühne von ihren Autoren gewöhnlich verlacht werden.64 Als ungewöhnliche Ausnahme nennt Kanz die Ärztin Sabine Graf aus Elsa Bernstein- Porges´ Drama DÄMMERUNG, das 1893 auf der Freien Bühne aufgeführt wurde.65 Henrik Ibsens Drama NORA dagegen, dessen Protagonistin sich in der Originalversion aus ihrer 60 „Liebfrauchenrolle“ emanzipiert und ihre Familie verlässt, wird vor der Kanz zitiert H. Thomé, ebd. S.356 61 Im Grunde laufen sämtliche Wissenschaftstheorien, an denen sich der Naturalismus orientierte, darauf hinaus, dass der Mensch nicht mehr länger als autonomes Subjekt, sondern als determiniertes Wesen verstanden werden konnte. Ebd. S.344 62 63 64 65 Ebd. S.350 Ebd. S.352 Ebd. S.353 Ebd. Erstaufführung in Hamburg zensiert. Ibsens Nora entschließt sich, aus ihrer entmündigenden Rolle als Ehefrau heraus die Familie und die drei Kinder zu verlassen, um „auf eigenen Füßen zu stehen“.66 Dieser selbständige „Austritt“ einer unterdrückten Frau aus der Rolle der Ehefrau und Mutter wurde für die Erstaufführung dahingehend abgewandelt, dass die zum Gehen entschlossene Frau nach einem Blick auf ihre schlafenden Kinder nicht mehr in der Lage ist, zu gehen; sie bleibt also in ganz naturalistischer (und deterministischer) Manier an ihrer Mutterrolle hängen. Identität der Frau und Künstlerin Die selbständigen Frauen sind nicht nur im naturalistischen Drama deutlich unterrepräsentiert, sondern auch im Leben und insbesondere in der naturalistischen Szene; von 27 aufgeführten Stücken der freien Bühne stammen nur 5 von Frauen, und unter diesen ist es nicht unüblich, wie Elsa Bernstein-Porges, unter einem männlichen Pseudonym zu schreiben (Ernst Rosmer); dieses Vorgehen diente ihnen, so Kanz, als „Marktstrategie und als Schutz“.67 Um die neue Definition von Frauen und Weiblichkeit, die ihre Erfüllung nicht mehr selbstverständlich in der Rolle der Ehefrau und Mutter sieht, bemüht sich um die Jahrhundertwende ein eigener literarischer Zweig. Die Spannbreite solcher Literaturen reichte von „mysogynen Elaboraten“68 bis hin zu Verherrlichungen der Mutterrolle: Eine Frau, die nicht Ehegattin und Mutter ist, kann nur eine femme fatale oder eine femme fragile sein, Vamp oder Mädchen, animalisch oder androgyn.69 Diesen „zentralen Frauenbildern der Jahrhundertwende“70 stehen „ein betont maskulines Selbstverständnis“ gegenüber, eine „virile Ideologie in Fragen der Kultur“ bzw. der „übersensible(), wirklichkeitsscheue()“ Mann, der feminine Künstler, der von der zerbrechlichen femme fragile vom „sexuellen Leistungszwang, von Potenz-Ängsten und ehelichen Pflichten“ und von den „Qualen der Begierde“ erlöst wird.71 Das logische Gegenstück zu den neuen Frauenbildern stellt ein Verklärungsakt der Mütterlichkeit dar, aber auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit paternalen Gesellschaftsstrukturen wie bei Otto Gross.72 Identität des Künstlers 66 67 68 69 70 71 72 Ebd. S.350 Ebd. S.353 Ebd. S.364 Ebd. Ebd. Zitate ebd. S.364 f. Ebd. S.365 In Frage stehen Kanz zufolge in dieser Gesellschaft nicht nur die Identitäten von Mann und Frau in Abgrenzung zueinander, sondern auch die Identität des Künstlers in Abgrenzung zu den anderen, dem gemeinen Volk. Deshalb stiften die Vertreter der naturalistischen Gegenströmungen ihre (nicht gemein-bürgerliche) Identität als Zugehörige zu einem ausgewählten Kreis von Eingeweihten nach außen in einem „bewusst zur Schau getragenen Geistesaristokratismus“73 und nach innen im Verwenden einer Chiffrensprache, die nur den Zugehörigen verständlich ist und die diese Kunst vom Normalen abhebt. Die Identität, die hier geschaffen und bestätigt werden soll, ist die einer männlichen (Geistes)elite, eines quasi erworbenen (Geistes)aristokratismus, also eines Adelsstandes, der den Autoren der naturalistischen Gegenströmungen durch die Geburt in mittleres oder gehobenes Bürgertum74 verwehrt geblieben ist. 1.2.4 Sprachkritik Der große Bedarf an Neuorientierung in der Gesellschaft der Jahrhundertwende ist einer von mehreren Gründen für den inflationären Gebrauch des geschriebenen Wortes: „Die Identitätskrise des spätestens seit der Aufklärung >männlich< konnotierten Subjekts sowie die Infragestellung alter Werte und Institutionen wie die der Familie führen zu einer unüberschaubaren Fülle lebensreformatorischer Schriften über Ehe, Familie und Kindererziehung.“75 Die große Quantität der literarischen Äußerungen, die auch den jeweiligen Modeerscheinungen der Moderne unterworfen sind, führten nun ihrerseits zu einer heftigen Kritik am Kulturbetrieb, da ihnen eine schlechte Qualität vorgeworfen wurde. So z.B. von Karl Kraus, der als Anwalt der „demolirte(n) Litteratur“ auftrat und der sich bemühte, den Wiener Kaffeehausliteraten „sprachliche(n) Nachlässigkeiten“ ihrer „zum Journalismus degenerierten zeitgenössischen Literatur“ nachzuweisen.76 Auf Seiten der künstlerischen Praxis wird dem Infragestehen der deutschen Sprache von Naturalisten und Ästhetizisten auf die je-ihrige Weise Rechnung getragen: Von den einen in Form der Verwendung von Dialekt und Soziolekt zum Zwecke einer größeren Wahrhaftigkeit ihrer Darstellung, von den anderen (insbesondere dem George-Kreis) in Form jener elaborierten Chiffrensprache, die ausschließlich dem Kreis der „Eingeweihten“ zum Verständnis gereichen sollte, da durch den „»normalen« Sprachgebrauch“ die „Dichterworte ... nicht mehr abgedeckt“ würden.77 Sprachliche Innovationen (und damit das, „was man heute als das eigentlich innovative der 73 74 75 76 77 Ebd. S.356 Ebd. Ebd. Ebd. S.360 Ebd. S.357 frühen Moderne“ verstehe,78 unternahm auf naturalistischer Seite, so Kanz, nur Arno Holz mit seinen revolutionären „Wortkunstwerken“.79 Auf theoretischer Seite trug die „Sprachkrise“ nun ihrerseits zum Anstieg der Produktion von Literatur bei, indem Philosophen und Dichter die Abnutzung der Sprache thematisierten, so Fritz Mauthner in seinen BEITRÄGE ZU EINER KRITIK DER SPRACHE und Hofmannsthal mit seinem berühmten CHANDOSBRIEF und so wie Wittgenstein mit dem TRACTATUS LOGICO PHILOSOPHICUS.80 1.3 Die Literarische Moderne bei Viktor Žmegač Im Vorwort zu seiner LITERATURGESCHICHTE VOM 18. JAHRHUNDERT BIS ZUR GEGENWART nennt Žmegač die Aufgabe einer Literaturgeschichte die „Rekonstruktion des vormals Selbstverständlichen“.81 Es gelte, die Ereignisse zu bedenken, „auf die literarische Ereignisse implizit eine Antwort darstellen“.82 Entsprechend geht Žmegač in der KLEINEN GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR vor: In vier Geschichten (Kapiteln)arbeitet er heraus, auf welche historischen Ereignisse die literarischen Erscheinungen Naturalismus und Ästhetizismus, Symbolismus, Wiener Moderne und die Romandichtung als künstlerische Antworten zu verstehen sind. Zum wichtigen Unterscheidungs – und Zuordnungsfaktor wird in seiner Darstellung das geographische Zentrum der jeweiligen literarischen Richtung mit seinen speziellen Standortbedingungen und dem dazugehörigen „Typ Mensch“. Den Naturalismus und den Ästhetizismus stellt Žmegač als zwei Seiten einer gesellschaftlichen Medaille vor; es hätten beide, so Žmegač, „trotz starker Unterschiede, dieselben Wurzeln“.83 Der Ästhetizismus wird als der deutsche Ausläufer des französischen Symbolismus verstanden, als dessen geographisches Zentrum aber eigentlich Paris gilt. Die speziellen Eigenheiten Wiener Moderne dagegen entsprechen, so stellt Žmegač dar, den nationalen Eigenarten der österreichischen und insbesondere der Wiener Gesellschaft. Die „Wiedergeburt“ der Gattung des deutschen Romans84 erzählt Žmegač separat als die Geschichte ihrer Haupt – Protagonisten Thomas und Heinrich Mann, Herrmann Hesse. 1.3.1 Naturalismus, Ästhetizismus und Symbolismus Die Gegensätzlichkeit der literarischen Erscheinungen, die die Epoche zwischen 78 79 80 81 82 83 84 Ebd. S.345 Ebd. S.345 f. Ebd. S.358 f. Žmegač 1980, S.XXXII Ebd. Žmegač 1993, S.238 Ebd. S.259 Naturalismus und Expressionismus prägt, ist Žmegač zufolge nicht nur im Großen, also auf der gesamten literarischen Bühne zu beobachten, sondern auch am einzelnen Schriftsteller. In dieser Epoche gab es, so Žmegač, „wohl keinen Schriftsteller, der sich in diesem Geflecht von Tendenzen ausschließlich als Naturalist oder Impressionist oder Neuromantiker bezeichnen konnte. Diese Benennungen sind lediglich Orientierungsmerkmale für ganze Bündel stilistischer Merkmale, die sich nur selten in reiner Konzentration zusammenfanden. Bei einer Vielzahl von Autoren, so bei Hauptmann und Holz, wechseln die verschiedenen Stilkonzeptionen und ergänzen einander.“ 85 So wie in einigen Fällen ein und derselbe Autor verschiedenen Stilkonzeptionen folgt, so bringt auch dieselbe gesellschaftliche Ausgangssituation so – auf den ersten Blick gegensätzliche – Erscheinungen hervor wie den Naturalismus und den Ästhetizismus. Beide geben, so Žmegač, mögliche Antworten „auf die Verhältnisse, die in den ersten jahrzehnten des vereinten Deutschlands, nach dem Jahr 1871, geschaffen wurden“:86 In Deutschland ist der Ästhetizismus zunächst keine Reaktion auf den Naturalismus, sondern eine gleichzeitige Erscheinung, und beide haben, trotz starker Unterschiede, dieselben Wurzeln. Es verbindet sie die Kritik an der damaligen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung (so holen sich beide literarischen Strömungen nicht selten ihre Argumente von Nietzsche), dann die angewiderte Empfindlichkeit gegenüber der akademischen Routine der vorangehenden Generation, die Bereitschaft zur Aufnahme ausländischer literarischer Vorbilder und schließlich eine jeder religiösen Metaphysik abgeneigte Orientierung. Die naturwissenschaftliche Ambition der Naturalisten und der nur mit sich selbst beschäftigte Artismus sind verschiedene Parts im selben Orchester. 87 Naturalismus Die naturalistische Bewegung ist, so Zmegac, stark durch die Standortbedingungen ihres geographischen Zentrums Berlin geprägt. Stichworte sind hier das rasante Anwachsen der Einwohnerzahl zwischen 1850 und 1914, Veränderung der Klassenstruktur und der gesellschaftlichen Struktur überhaupt, mitbedingt durch ein rasantes Anwachsen der Industriearbeiterschaft.88 Die (Žmegač zufolge bedeutende) deutsche Literatur der 80er und 90er Jahre im Allgemeinen und der Naturalisten im Besonderen wird „soziologisch gesehen weitgehend zur Großstadtliteratur“ in Abgrenzung zu der sogenannten „Heimatkunst“, die in den populär gewordenen Familienzeitschriften ihr Forum findet und konservative Moralvorstellungen vertritt. Die naturalistischen Künstler fordern dagegen eine Kunst, die die „Wahrheit“ über die gesellschaftliche Wirklichkeit sagt89 und die sich auszeichnet durch „Lebensnähe, eine komplexe Darstellung des Lebens, ohne Idealisierungen und ohne die 85 86 87 88 89 Ebd. S.229 Ebd. S.220 Ebd. S.238 Vgl. S.220 die drei letzten Zitate ebd. S.221 konventionellen Rücksichtnahmen auf die Gewohnheiten des Lesepublikums“ 90 im Gegensatz zum „Feindbild“ der bürgerlichen Belletristik, welche die „literarische Lüge“ verkörpere.91 Die Naturalisten rezipieren ausländische Literatureinflüsse wie Ibsen, Tolstoi, Zola.92 Unter konsequenter Anwendung des mimetischen Prinzips versuchen die Naturalisten, ein „umfassendes Bild des Lebens“ zu schaffen, weshalb ihre größte Stärke, die „Gestaltung von Situationen“, von „intensiver Atmosphäre“ vornehmlich im Theater zum Tragen kommt. Umfasst werden in der Darstellung auch diejenigen Bereiche des Lebens, die früher für die Literatur tabuisiert waren;93 Žmegač weist darauf hin, dass die Naturalisten entgegen der populären Vorstellungen nicht an bestimmten Stoffen besonders interessiert sein, wie „Erscheinungen von physischem oder moralischem Verfall“,94 sondern an einem umfassenden Bild des Lebens unter Einbeziehung des vormals Tabuisierten. Wichtige naturalistische Künstler gehören, so Žmegač, zur „Berliner Gruppe“, das sind Heinrich und Julius Hart, Arno Holz und Johannes Schlaf, Gerhart Hauptmann, der Erzähler Hermann Conradi und der Kritiker und Naturforscher Wilhelm Bölsche.95 Symbolismus Der Symbolismus dagegen versteht sich Žmegač zufolge als eine Richtung, die jede gesellschaftliche (und auch nationale) Zugehörigkeit negiert. Ihre Mitglieder sind kosmopolitisch orientierte junge Künstler verschiedenster Nationalitäten, die sich in der Weltstadt Paris in Mallarmés Haus trafen, einem „Kreis von Anhängern erlesener und disziplinierter Schönheit“,96 einer „dichterische(n) Internationale“.97 Die vollständigen Negierung jeder Gesellschaftlichkeit wird Žmegač zufolge durch eine neue Form der Gebundenheit und Zugehörigkeit ersetzt: Durch die Zugehörigkeit zu einem ausgewählten, esoterischen Kreis von Gleichgesinnten,98 von Vertretern einer absoluten, reinen Poesie, einer Kunst, die ausdrücklich ohne gesellschaftliche Bezugspunkte sein will. Zu dieser „dichterischen Internationale“, zählen sich auch die in Deutschland ansässigen Ästhetizisten, namentlich der Kreis um Stefan George, der sich nahezu zeitgleich mit der naturalistischen Bewegung entwickelte, aber eben nicht als literarisches Gegenprogramm, sondern als alternative Antwort auf herrschende gesellschaftliche Zustände. Diese 90 91 92 93 94 95 96 97 98 Ebd. S.222 Ebd. S.222 Ebd. S.221 Vgl. S.223 Ebd. S.222 Ebd. S.221 Ebd. S.234 Ebd. Ebd. S.235 (negative) Gesellschaftsbezogenheit ist, so Žmegač, den Vertretern der ästhetizistischen Richtung nicht bewusst,99 sie fühlen sich exklusiv und in gewisser Weise „ungesellschaftlich“. Die Exklusivität leben die Autoren der Jahrhundertwende entweder in Form der „aristokratischen Isolation“ aus oder in der „Bohème-Existenz“.100 Historisch zeitgleich mit der Industrialisierung, dem Anwachsen von Großstädten, dem Verarmen eines dritten Standes leben die Ästhetizisten in einem „luftleeren Raum“101, indem sie den „materiellen Teil der Wirklichkeit“ den Naturalisten überlassen. Genau wie ihr Dasein ist auch ihre künstlerische Sprache der „absoluten Poesie“ ohne Gesellschaftsbezug: „Symbole sind Worte, deren Bedeutung im Subjektiven Erlebnis ruht: Sie vertrauen sich einem nicht auf die übliche Art an, ihre Botschaft lässt sich nicht dechiffrieren,, sondern nur intuitiv begreifen. Dem Symbolismus fremd ist jedes konventionelle zeigen und Erklären oder Sprechen von etwas, was außerhalb der Poesie besteht; die Wirklichkeit eines Textes ist einmalig und nur ihm selbst immanent.“ 102 Manifestationen der Exklusivität sind z.B. Georges Veröffentlichung seiner ersten Gedichtsammlungen im Privatdruck und der Verteilung an auserwählte Leser sowie die weitere Betonung seiner Außerordentlichkeit mit der Schöpfung einer eigenen GeorgeSchrift und einer besonderen Orthographie.103 Naturalisten und Ästhetizisten geben zwei Antworten auf eine Gesellschaft, die in Konventionen erstarrt ist und der es an „Unmittelbarkeit in der Sphäre menschlicher Beziehungen“104 mangelt. Die einen bemühen sich um „Wahrheit“ und „Lebensnähe“ durch die mimetische Erfassung einer (wenn auch fiktiven) Wirklichkeit, die anderen glauben (mit Hofmannsthal) an die Wahrheit des Dichterwortes: „Was der Dichter in seinen unaufhörlichen Gleichnissen sagt,...das läßt sich niemals auf irgendeine andere Weise (ohne Gleichnisse) sagen: nur das Leben selbst vermag das gleiche auszudrücken, aber in seinem Stoff, wortlos.“ 105 1.3.2 Wiener Moderne Als dritte große Stilrichtung der literarischen Moderne behandelt Žmegač die „Wiener Moderne“. In Wien, dem geographischen Zentrum dieser literarischen Richtung der Jahrhundertwende, wo der Naturalismus keine bedeutende Rolle spielte, ist der kulturelle Horizont der „neuen“ Literatur ausdrücklich bestimmt durch Einflüsse aus verschiedenen 99 Ebd. Vgl. S.237 Ebd. S.236 101 Ebd. S.237 102 Ebd. S.235 103 Ebd. S.240 104 Ebd. S.237 105 Ebd. S.235 100 künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen. Die Stadt Wien war damals, so Žmegač, nicht nur die „Stadt der Straußschen Walzer“, sondern auch ein Schauplatz vielfältiger „geistiger Vorstöße und Spannungen, die eine tiefe Spur in der Kulturgeschichte unseres [d.i. des 20., S.H.] Jahrhunderts hinterlassen haben. Zu diesen geistigen Vorstößen zählen namentlich Sigmund Freuds Psychoanalyse, die „auch die Literatur lehrte, die unsichtbare Wirklichkeit des psychischen Lebens mit anderen Augen anzusehen“.106 Im Bereich der Musik unternahmen die Mitglieder der „Wiener Schule“ Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton von Webern den Schritt von der traditionellen Harmonielehre zu einer völligen „Emanzipation der Dissonanz“ bis hin den Prinzipien der Zwölftonmusik in den 20er Jahren. Zeitgleich fand auch in den Bereichen der Architektur (Adolf Loos) und der Literaturkritik (Karl Kraus) eine (polemisch wortgewandte) Abkehr von den Prinzipien des dekorativen Ästhetizismus statt.107 In ihrer Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit entspricht Žmegač zufolge die Literatur der Wiener Moderne dem geistigen Klima der Stadt Wien: weniger dogmatisch fixiert als die naturalistische und die ästhetizistische Strömung in Deutschland, stehe sie zwischen den beiden Gegenströmungen Naturalismus und Ästhetizismus mit einem „impressionistischen Stil“, der sich durch einen strengen „Empirismus der Sinne“ auszeichnet (der sich aber nicht auf die Wissenschaften gründet), durch ein sensibles Sich versenken des Künstlers in die Welt der Erscheinungen und ihre kleinsten und seltensten Nuancen( Farben, Düfte und Laute etc.).108 Der „Kult der Nuance“ und das Erforschen der „Anatomie des eigenen Seelenlebens“109 hat, so Žmegač, zur notwendigen Vorbedingung eine „Persönlichkeit, welche sich Reaktionen erlauben kann, die nicht von praktischem Nutzen sind“.110 In Hinsicht auf diese vorausgesetzte Exklusivität der Dichterpersönlichkeit ähnelt die Wiener Moderne der ästhetizistischen Bewegung in Deutschland, während das streng mimetische Vorgehen dem Naturalismus verwandt ist. 1.3.3 Romandichtung In dem Kapitel „Wege des Romans“ widmet sich Žmegač schließlich der literarischen Gattung mit dem breitesten Einfluss auf das Lesepublikum, der „Dominante des literarischen Lebens um die Jahrhundertwende“.111 Als populärste literarische Form beschäftigte die Romandichtung, so Žmegač, „Legionen von Romanschriftstellern“ jeglicher Couleur damit, „die Bedürfnisse des Lesepublikums auf allen Ebenen zu 106 107 108 109 110 111 Ebd. S.248 Ebd. Ebd. S.249 Ebd. S.250 Ebd. S.250 Ebd. S.268 befriedigen, von künstlerisch verantwortlichen Werken bis zum Groschenroman“. Als „vitalste(s) Produkt bürgerlicher literarischer Kultur“112 spiegelt der Roman Žmegač zufolge die Lesebedürfnisse einer ganzen Generation. Die verschiedenen Genres vom Heimatroman über Abenteuer- und Reiseromane (Karl May) bis hin zu den in künstlerischer Verantwortung stehenden Werken der (tendenziell) naturalistischen oder neuromantischen Richtung (Thomas Mann, Ricarda Huch) sprechen ihre eigene Sprache über den Istzustand und die Sehnsüchte der Gesellschaft, aus der sie hervorgehen. Die „Wege des Romans“, die Žmegač auf 12 Seiten erzählt, bestimmen im Wesentlichen die Wege der Romanautoren Thomas und Heinrich Mann und Hermann Hesse. Thomas Manns Dokuments“ 113 BUDDENBROOKS kommt die Bedeutung eines „kulturgeschichtlichen zu, weil sie für jene Zeit typische historische Ereignisse zeigen, nämlich „den Prozeß des Verfalls der Patrizierfamilie, ein Prozeß der die Auflösung der alten, hierarchisch aufgebauten Familie überhaupt ankündigte“ 114 Eine solche Beispielhaftigkeit für die Epoche, „in der die Normen und Auffassungen der Vergangenheit ihre Grundlagen verloren und zu hohlen Masken der Konvention gerieten“ 115 sieht Žmegač auch in anderen Romanen Manns wie im ZAUBERBERG, der „ein einzigartiges Bild von Zeit und Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Krankheit“ zeichnet.116 Einen sarkastischen Blick auf die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse wirft Heinrich Mann z.B. mit seinem Roman PROFESSOR UNRAT.117 Als künstlerisch etwas weniger bedeutend, aber besonders für die Nachwelt populär stellt Žmegač das Werk Herrmann Hesses vor (der als „Vorläufer und Klassiker der Hippie-Kultur angesehen wird“),118 dessen psychologische Romane eher intimen Bekenntnissen gleichen als den ironisch-relativierten Darstellungen von Thomas Mann. 1.3.4 Verschiedenes und Gemeinsames. Über Kanonisierungen Obwohl Kanz und Žmegač in ihren Darstellungen der „Literarischen Moderne“ sowohl die Literatur als auch die Gesellschaft betreffende Daten und Entwicklungen in den Blick nehmen, beschreiben sie nicht die gleichen Ausschnitte der historischen Totalität der Jahrhundertwende. Verschiedenes 112 113 114 115 116 117 118 Die letzten drei Zitate ebd. S.268 Ebd. S.259 Ebd. S.260 Ebd. Ebd. S.261 Vgl. ebd. S.264 Ebd. S.266 Die auffälligste Abweichung der beiden Geschichten besteht in dem Umstand, dass Žmegač auf 51 Seiten Literaturgeschichte beinahe ohne eine Autorin auskommt – mit Ausnahme einer „Quotenfrau“ und ihrer Werke. Im Kapitel WEGE DES ROMANS nennt er im Anschluss an die Besprechung Hermann Hesses die Autorin Ricarda Huch, die „in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu den ersten Frauen gehörte, die es wagten, trotz der Vorurteile in der Gesellschaft, regulär an einer Universität zu studieren.“ 119 Mit der Erwähnung von Ricarda Huch liefert Žmegač auch einen (einzigen) Blick auf die Situation von Frauen in der wilhelminischen Gesellschaft, ein Phänomen, das im Zuge seiner Gesellschaftsanalysen ansonsten im Dunkel bleibt. Dagegen ist derselbe thematische Bereich, der bei Žmegač nur zwei Zeilen einnimmt, bei Kanz Gegenstand zweier eigenständiger Kapitel. Im Kapitel INFRAGESTELLUNG TRADITIONELLER GESCHLECHTER – UND FAMILIENKONZEPTE120 geht sie auf die gesellschaftliche Stellung der modernen Dramatikerinnen, ihre Position in der naturalistischen „Gemeinde“ und auf ihren Anteil am Naturalismus ein. Genannt werden namentlich Gabriele Reuter, Irma von Troll-Borostyani, Helene Bölau, Minna Kautsky; außerdem Hedwig Dohm, Clara Viebig. Im Kapitel LITERATUR UND GESCHLECHT121 stehen die Frauen- (und Männer-) -bilder in der Gesellschaft und in den verschiedenen Literaturen im Vordergrund. Dass diese Komponente gesellschaftlicher und literarischer Entwicklung bei den beiden Autoren so unterschiedlich ins Gewicht fällt, erklärt sich mit der Verschiedenheit ihrer Fragestellungen. Wie Žmegač bereits im Vorwort ankündigt, steht in seinen Ausführungen der „spezifisch literarische Gegenstand“ im Vordergrund. Anhand der präsentierten Autoren und Werke lässt sich leicht ausmachen, dass es sich bei diesem Gegenstand um kanonisierte Weltliteratur handelt, „dem anzugehören“, um mit von Heydebrand und Winko zu sprechen, „so etwas wie eine Überlebensgarantie für Autoren und Werke“ bedeutet.122 „Jeder Autor, jeder Literaturkritiker bildet sich, mehr oder weniger in Anlehnung an einen Gruppenkonsens, aus dem Überlieferten >seinen< Kanon.“ 123 In diesen Kanon werden aus verschiedenen Gründen, die von Heydebrand und Winko in ihrer Untersuchung über GESCHLECHTERDIFFERENZ UND LITERARISCHER KANON124 als Thesen herausarbeiten, nur äußerst selten Autorinnen aufgenommen, und das „auch seit der Zeit, in der eine nennenswerte Anzahl von Schriftstellerinnen auf den Plan traten, und einige von ihnen durchaus Ansehen gewannen, seit dem Ende des 18. 119 120 121 122 123 124 Ebd. S.266 S. 349-352 S. 363-366 von Heydebrand/Winko 1994, S.131 Ebd. S.135 ...Historische Beobachtungen und systematische Überlegungen. Tübingen, 1994 Jahrhunderts also, bis an die letzten Jahrzehnte heran“. 125 Žmegač hat sich einen solchen Kanon „in männlicher Genealogie“126 gebildet, der dem „Voraussetzungssystem des Mannes“127 sowohl im materialen Kanon128 als auch im Deutungskanon129 entspricht.130 Die Autorin Ricarda Huch wird anhand der „Kriterien des >männlichen< Kanons“131 in diesen eingegliedert. Žmegač stellt sie vor als eine Vertreterin der neuromantischen Richtung, die in ihrem Roman ERINNERUNGEN VON LUDOLF URSLEU DEM JÜNGEREN den Verfall einer Patrizierfamilie darstellt „in der Art, wie es die Buddenbrooks von Thomas Mann andeuten“.132 Ausgehend von diesem Literaturbegriff, der beinahe ausschließlich männliche Autoren erfasst, richtet er seinen gesellschaftsanalytischen Blick konsequent auf die Entwicklungen, die mit diesen männlichen Literaturen im Zusammenhang stehen; denn wenn es gilt, die Ereignisse zu bedenken, „auf die literarische Ereignisse implizit eine Antwort darstellen“,133 und wenn die literarischen Antworten dem Voraussetzungssystem des Mannes entsprechen, dann entsprechen auch die gesellschaftlichen Fragen, die der Autor in seiner Literaturgeschichte behandelt, diesem Voraussetzungssystem. Seine Betrachtung der Gesellschaft ist demnach nicht auf die gesellschaftliche Totalität gerichtet, sondern durch den Ausgangspunkt des „spezifisch-literarischen-männlichen“ Gegenstands eingegrenzt. Die Stärke von Žmegačs Geschichte liegt dagegen in den klaren Zuordnungen von literarischen Phänomenen zu geschichtlichen Entwicklungen; ferner erhalten die literarischen Phänomene ein klares Profil dadurch, dass sie zueinander ins Verhältnis 125 von Heydebrand/Winko 1994, S.99 Ebd. S.143 127 Ebd. 128 D.h. „als überliefertes und im Lauf der Geschichte immer wieder umgestaltetes Korpus, das >materialer Kanon< heißen soll...“ Ebd. S.132 126 129 „...und als diejenigen Wertvorstellungen, die in diesem Kanon vergegenständlicht erscheinen. Sie stellen die Kriterien für die Selektion dar und werden durch Kommentare und Deutungen hervorgehoben. Darum sollen diese Wertvorstellungen, die der materiale Kanon nur in potentia enthält, als >Kriterien- und Deutungskanon< bezeichnet werden. Ebd. S.132 130 von Heydebrand/Winko arbeiten in ihrer Untersuchung heraus, dass „unter der Voraussetzung einer wie auch immer gearteten Bipolarität des biologischen Geschlechts und eines gesellschaftlichen sex/genderSystems in ihren je historischen und individuellen Ausformungen Geschlechterdifferenzen beim Wahrnehmen, Verstehen und Werten literarischer Texte zu erwarten sind. Stellt man zusätzlich die Geschlechterdifferenz in der Verteilung der Machtpositionen und Kompetenzen zur Bestimmung gesellschaftlich gültiger Normen und Werte in Rechnung, die ihrerseits wieder auf die Voraussetzungssysteme der wertenden Individuen zurückwirken, muß gender mit großer Wahrscheinlichkeit auch in der Kanonbildung wirksam sein.“ von Heydebrand/Winko 1994, S.131, und weiter S.141: Der Begriff des Genies, ausschließlich männlich konnotiert, bindet Originalität, auch und gerade in der Geste der Negation, zurück an einen Kanon: Es war – und ist – ein Kanon aus der Position des Mannes. Auch Autorinnen, die als kanonwürdig wahrgenommen werden wollen, müssen sich – so scheint es wenigstens bisher – auf die männliche Tradition beziehen. Die Begründung einer weiblichen >Tradition< durch Muster aus der Zeit der heteronomen Ästhetik führt später aus der Sicht der Literaturvermittler konsequent zur Ausgliederung von >Frauenliteratur< aus der maßgeblichen literarischen Reihe.“ 131 Ebd. S.153 132 Žmegač 1993 S.269 133 Žmegač 1980, S.XXXII gesetzt werden.134 Der genaue Umriss dieser Begrifflichkeiten bleibt dagegen bei Kanz, mit Ausnahme des Naturalismus, eher blass. Während der Naturalismus in seinen Entstehungsbedingungen, Manifestationen und auch in der Rezeption ausführlich (in eigenen Kapiteln, s.o.) behandelt wird, muss sich der/die LeserIn in Bezug auf andere Stiltermini eher auf sein Vorwissen verlassen: „Während die Bezeichnung >Jahrhundertwende< eher die Begeisterung für den Neubeginn, den Aufbruch ins nächste Jahrhundert markiert, verweist die in zahlreichen Literaturgeschichten ebenso häufige Bezeichnung >Fin de siècle< eher auf das Gegenteil, auf das »Gefühl des Fertigseins, des Zu-Ende-Gehens« (Marie Herzfeld). Dieser Terminus wird zumeist mit der Literatur der >Décadence< assoziiert, einer Kunstrichtung dieser Zeit, »die sich der Thematik des Verfalls im weiteren Sinne widmet« (D. Borchmeyer). Im Bereich der Décadence- und Ästhetizismus-Literatur zwischen Oscar Wilde und Gabriele d´Annunzio, dem frühen Thomas Mann und Frank Wedekind, Rainer Maria Rilke und Stefan George wird die >Wiener Moderne< angesiedelt.“ 135 Dagegen kann Kanz mit ihrer Fragestellung nach den neuen Wahrheiten der Moderne und der „Krise der neuzeitlichen Subjektivität“, mit der Betonung der Vielheit und Gegensätzlichkeit der existierenden Meinungen die naturalistischen Dramatikerinnen und ihre Themen erfassen. Des weiteren fasst sie mit ihrer Fragestellung einen ganzen Komplex von Literatur (vgl. das Kapitel über Identität der Frau und Künstlerin dieser Arbeit), die sich nicht nur mit der Krise des männlich konnotierten Subjekts beschäftigt, sondern mit der Infragestellung und Neudefinition des tradierten Rollenverständnisses in Bezug auf Mann und Frau, Künstler und Künstlerin und der dazugehörigen Gesellschaftsstruktur. Gemeinsames Die auffälligste Übereinstimmung der beiden Geschichten besteht dagegen darin, dass ein bestimmtes Inventar an Autoren und Werken übereinstimmend behandelt wird (wenn sich auch die Zuordnungen zu den jeweiligen literarischen Phänomenen teilweise unterscheiden), obwohl sie von so unterschiedlichen Ansätzen (Fragestellungen) ausgehen. Trotzdem wird die „maßgebliche literarische Reihe“136 des „einen, materialen Kanons“137 nahezu identisch wiedergegeben (Gerhart Hauptmann, Arno Holz, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Freud und Nietzsche u.s.w.). Die stärkere oder schwächere Gewichtung dieser kanonisierten Autoren nimmt Žmegač u.a. durch teilweise umfassende biographische 134 Vgl. ebd. S. 249: „...Einer solchen Art des Empirismus verschrieben sich die Impressionisten. Mit dem Naturalismus verbindet sie die strenge Unterordnung der Phantasie unter die Erfahrung, ferner die Mimesis in dem Vorzug, den sie der Darstellung des damaligen Alltags einräumen. Deshalb ist ihnen der Exotismus der Symbolisten fremd. Aber auch den naturalistischen wissenschaftlichen Ambitionen stehen sie fern...“ 135 Beutin u.a. 2001, S.355 136 Von Heydebrand/Winko 1994, S.141 137 Ebd. S.152 Informationen vor.138 Er folgt hier seinem eigenen Kriterium, „den Autor über das private hinaus als Produzenten im gesellschaftlichen Kontext zu begreifen und dabei die im historischen Sinne repräsentativen Züge seiner Persönlichkeit ins Gesamtbild der Epoche einzufügen.“139 Biographische Angaben finden sich bei Kanz nur sehr spärlich; die Gewichtung der aufgeführten Autoren wird eher durch ausführliche Beschreibung ihrer künstlerischen Theorie und Praxis vorgenommen, was z.B. im Fall von Arno Holz 1,5 Seiten Text und eine mehr als halbseitige Abbildung ausmacht. Auffällig ist hierbei, dass die Arbeiten der erwähnten Autorinnen ausschließlich im Hinblick auf ihre Thematik beschrieben werden140 und nicht im Hinblick auf das, „was man heute als das eigentlich Innovative der frühen Moderne begreift, nämlich Sprach- und Formexperimente“, wie Kanz an anderer Stelle bemerkt.141 Ein Grund dafür könnte in dem traditionellen Verständnis von „Frauenliteratur“ als Tendenzliteratur liegen (gegenüber der Genieästhetik des männlichen Kanons) und einer sich hieraus ergebenden Erwartungshaltung an Texte von Autorinnen, die demzufolge auf die maßgeblichen Kanonisierungskriterien, also formal-stilistische Merkmale,142 gar nicht mehr überprüft werden: „Texte von Autorinnen scheinen in erhöhtem Maße selektiv gelesen zu werden. Zum einen, so Kolodny (B2:1981, S.34f) sind männliche Leser und Interpreten nicht in die Codes der Symbolsysteme weiblicher Autoren eingeübt und übersehen daher entsprechende Strukturen in deren texten. Zum anderen können die eingeschränkten Erwartungen, die professionelle Leser und Leserinnen an >Literatur von Frauen< herantragen, als Wahrnehmungsfilter fungieren...“143 Fazit Trotz dieser Einschränkung nimmt Kanz eine „Erweiterung des tradierten Kanons durch Autorinnen“ vor; sie erweitert ihn durch „die >Besten< der >Frauenliteratur<“ und bringt dadurch, wie von Heydebrand und Winko theoretisch feststellen, praktisch „eine eigene 138 Solches Gewicht verleiht er der Autorin Ricarda Huch nicht, was sich aber auch mit der ungenügenden Forschungslage erklären könnte, wie von Heydebrand und Winko am Beispiel Gabriele Reuters beschreiben: „Für viele Antworten auf dringliche Fragen fehlt, wie in der >Frauenforschung< überhaupt, wissenschaftliche Vorarbeit, wenn nicht sogar die Materialgrundlage: Die Publikationsgeschichte Reuters ist nicht genügend erarbeitet, die Rezeptionsgeschichte nur in Ansätzen, ...Die Korrespondenz Reuters ist, falls überhaupt erhalten, nicht ediert.“ Von Heydebrand/Winko 1994, S.111 139 Žmegač 1980, S.XXVII. Ein (wie ich finde überzeugendes) Beispiel ist Rilke, der als dauerhaft bindungslos lebend „in das Bild der Epoche“ des gesellschaftlich unabhängigen Symbolismus eingefügt wird. Vgl. Žmegač 1993 S.244 140 Vgl. Beutin u.a. 2001, S.351: „Dieses Thema sowie die Problematisierung von Armut und Elend vor allem der Proletarierfrauen, Kindsmord, Abtreibung und Prostitution sind charakteristisch für die Literatur von Schriftstellerinnen jener Zeit...“ 141 Ebd. S.345 142 Von Heydebrand/Winko 1994, S.135f 143 Ebd. S.122 Weltsicht ins Spiel“.144 Wenn Žmegač dagegen von der „maßgeblichen literarischen Reihe“ abweicht, nennt er Autoren von der Kehrseite des Kanons nennt wie z.B. Karl May,145 „Erzähler vom Schlage Paul Heyses“,146 Hermann Sundermann,147 Detlev von Liliencron und Richard Dehmel.148 Dadurch grenzt er die kanonwürdige Literatur vom „Kitsch“ oder von der populären Literatur ab, also die Kunst von der Nichtkunst, und bestätigt das bestehende Bezugssystem. 2 Wer spricht wie über was? Nachdem bis hierher herausgearbeitet wurde, welche Geschichten in den beiden Literaturgeschichten präsentiert werden, geht es im folgenden um die Frage nach dem Wie. 144 145 146 147 148 Ebd. S.152 Žmegač 1993, S.269 Ebd. S.222 Ebd. S.226 Ebd. S.228 Geschichtsschreibung gehört – so impliziert Paul Veynes Theorie und so sagen andere Autoren auch – zu den narrativen und dabei nichtfiktionalen Textformen.149 Nichtfiktional sind hierbei die historischen Quellen, auf welche die Narration sich gründet. Das Gründen auf historischen Tatsachen kann aber nicht das Kriterium sein, an dem sich ein fiktionaler Text von einem Wirklichkeitsbericht unterscheidet, wie Vogt am Beispiel von Musils MANN OHNE EIGENSCHAFTEN ausführt. Allein die Bezugnahme auf historische Quellen macht den Wirklichkeitsbericht nicht aus, wohl aber lassen sich – so zeigt Vogt in Anlehnung an Käte Hamburger – einige innertextliche Merkmale fiktionaler Texte beschreiben, immer unter der Annahme, dass „fiktionalisierende Schreibweisen“ auch im Wirklichkeitsbericht eingesetzt werden können.150 Unter der weitergeführten Annahme, dass Historiker im Prinzip Fabeln (wie ein Roman) erzählen, sollen im folgenden die beiden Literaturgeschichten exemplarisch nach den Merkmalen fiktionaler Texte untersucht werden; einerseits nach den Merkmalen des Erzählten und andererseits nach den Merkmalen des Erzählers, der sich durch die Art und Weise des Erzählens auf eine direkte oder indirekte Art profiliert. „Selbst ein Roman, in dem kein Erzähler dramatisiert ist, läßt implizit das Bild von einem Autor entstehen, der hinter den Kulissen steht – sei es als Regisseur, Marionettenspieler oder als ein indifferenter Gott - und sich die Fingernägel schneidet.151 Der Erzähler soll verstanden werden als diejenige Instanz, die bestimmt, was erzählt wird (aus der geschichtlichen Totalität) und wie diese Fakten in Vernetzung mit dem präsentiert werden, was der Autor als Expertenwissen (als Mischung aus Fachwissen und Meinungen) einbringt. 2.1 Über Merkmale fiktionaler Texte und Erzähler Jochen Vogt entwickelt in Anlehnung an Käte Hamburger die internen sprachlichen Merkmale fiktionaler Texte, die „die Kontext-Definition `Roman´ bestätigen.“152 Zwei dieser Merkmale sollen in den Literaturgeschichten von Kanz und Žmegač exemplarisch nachgewiesen werden. Es sind zum Einen die Verwendung von bestimmten Tempora und zum Anderen von Verben der inneren Vorgänge, die Vogt zufolge literarisches Erzählen „in signifikanter Weise Sprachverwendung, 149 von S.H.], pragmatischer besonders auch Sprachverwendung vom alltäglichen [wissenschaftlicher Erzählen bzw. Vogt 1998, S.220 Ebd. S.33: „Solche Nachweise (dass „fiktionalisierende“ Schreibweisen auch in nichtfiktionalen Texten vorkommen, S.H.) heben aber nicht den kategorialen Unterschied von Fiktion und Wirklichkeitsbericht (bzw. den unterschiedlichen Status des Präteritums hier und dort) auf, sondern zeigen lediglich, daß ein ´fiktionalisierender´ Sprachgebrauch (meist aus wirkungsästhetischen Gründen) auch im Wirklichkeitsbericht möglich ist – eine Interferenz, die Hamburger allerdings nicht hinreichend reflektiert.“ 151 Booth 1974, S.156 152 Vogt 1998, S.27 150 Wirklichkeitsbericht“ unterscheiden.153 2.1.1 Über verschiedene Tempora Die verschiedenen Tempora haben, so Vogt, „insgesamt Signalfunktion“: „Das Präteritum ist insbesondere ein Tempus der erzählenden Welt und trägt dem Hörer in dieser Klassengemeinschaft Informationen über die angemessene Sprechhaltung zu. In diesem Sinne signalisiert es die Erzählsituation schlechthin.` (S.27) Und steht dabei im Bunde mit Plusquamperfekt und Konditional, während eine andere `Tempusgruppe` (Präsens, Perfekt, Futur) für die kommunikative Handlung des `Besprechens´ zur Verfügung steht, welche sich ihrerseits in einer Vielfalt von deskriptiven, erörternden, kommentierenden Texten bzw. Textsorten realisiert.“154 In den beiden Geschichten der literarischen Moderne markieren die Tempuswechsel auch einen Wechsel in der Erzählhaltung. Sowohl bei Kanz als auch bei Žmegač lassen sich solche Wechsel zwischen der „erzählenden“ und der „besprechenden“ Welt ausmachen.155 Diese Stimme der Wissenschaftlerin ist bei Kanz neben dem Tempusgebrauch noch an weiteren offensichtlichen Merkmalen zu erkennen; so zitiert sie und verweist in ihrem Text auf Sekundärliteratur,156 die im Anhang in einem Verzeichnis zusammengestellt ist. Diese Explizierung wissenschaftlichen Vorgehens stellt einen großen Unterschied zu Žmegačs Geschichte dar. Zwar markieren auch hier die Tempora den Unterschied von Erzählen und Besprechen. Žmegač zitiert aber keine Sekundärliteratur, sondern verweist höchstens auf Primärtexte.157 Daneben werden einige Textstellen zitiert, über deren Herkunft sich aber nur spekulieren lässt.158 Im Anhang findet sich ein Verzeichnis der besprochenen Werke. Wenn Žmegač also die Tempusgruppe verwendet, die „für die kommunikative Handlung des Besprechens zur Verfügung steht“ (s.o.), dann spricht er als Experte und aus einer Art Expertenwissen heraus, während Kanz als Expertin und Wissenschaftlerin spricht, die auch 153 Ebd., S.47 Ebd., S.36 155 So z.B.: „Nach dem Jahre 1848 schien es einige zeit, als ob die Stimme Österreichs in der europäischen Literatur verstummt und eine Ära der Epigonen und Schriftsteller ohne universelle Bedeutung heraufgezogen sei. Diese Stagnation war beinahe in dem Moment beendet, in dem in Deutschland mit dem Naturalismus eine neue literarische Epoche begann. Die Wiener Moderne ist kein isoliertes Phänomen...“Žmegač 1993, S.249 „Ähnlich argumentierten später Franz Mehring oder Georg Lukács, wenn sie den Naturalisten vorwarfen, sie seien dekadente Spätbürger,...Unabhängig von solch kontroversen Einschätzungen sind die Einflüsse der kurzen naturalistischen Bewegung auf den sozialistischen Realismus...hervorzuheben.“ Beutin u.a. 2001, S.354 154 Tatsächlich werden die Tempora nicht immer konsequent verwendet, und es gibt Mischformen wie z.B. die Erläuterung zur Verwendungsgeschichte des Begriffs „modern“ zu Beginn des Naturalismuskapitels, die erzählerisch im Präteritum geschrieben ist. In meiner Untersuchung soll die generelle Tendenz aufgezeigt werden. 156 Vgl. z.B. auf S.356 u.a. 157 z.B. S.252: „Unter den zahlreichen Gedichten des sensiblen Jünglings finden sich einige Anthologietexte des Symbolismus (z.B. Lebenslied, Ballade des äußeren Lebens..)“ 158 Vgl. ebd.: „Ein Autor dieser Art ist PETER ALTENBERG..., Autor zahlreicher Prosaskizzen, in denen er auch noch das kaum mehr merkbare Vibrieren menschlicher Gefühle notiert, `Extrakte des Lebens`.“ mit anderen Forschungsmeinungen arbeitet. Episches Präteritum Die im Präteritum erzählten Textabschnitte bei Kanz und Žmegač zeichnen sich stellenweise durch einen besonderen Gebrauch des Präteritums aus, der als ein Merkmal für fiktionale Texte angesehen werden kann. Die Vergangenheitsform, so Vogt, verliert in einem fiktionalen Text ihre „temporale Qualität“.159 „Da das epische Präteritum ein fiktives, aber gegenwärtig scheinendes Geschehen bezeichnet, kann es mit Zeitadverbien wie „jetzt“, „bald“, „heute“, „morgen“, kombiniert werden,, die ... auf Gleichzeitiges oder Zukünftiges „zeigen“.“ 160 In Kanz´ Geschichte finden sich einige solcher offensichtliche Hinweise auf das epische Präteritum: „Denn von jetzt an sollte es >naturwissenschaftlich < zugehen.“ 161 „Auch wenn sich die Nationalsozialisten später zentrale Gedanken Darwins aneigneten...waren es doch zunächst gerade konservative Kritiker, die den Naturalismus verdammten“162 „Es bildete sich eine...Gegenfront, an deren Vokabular und Ressentiments nationalsozialistische Kulturkritik später ohne Umschweife anknüpfen konnte.“ 163 die „George kam es zunehmend auf den >Klang der Seele< an,... Nun wollte er mit seiner Kunst vor allem erziehen.“164 Ein solcher Tempusgebrauch verschafft (im fiktionalen Text und in „gattungsfremden“ Schreibweisen im Wirklichkeitsbericht) eine „Illusion von Gegenwärtigkeit“, indem – je nach Betrachtungsweise - entweder das vergangene Geschehen dem Leser vergegenwärtigt wird oder der Leser imaginativ in die Vergangenheit zurückversetzt wird.165 Bei Žmegač sind solche offensichtlichen Hinweise auf das epische Präteritum selten (Nicht das Präteritum als Tempus des Erzählens). Daneben verwendet er eine entsprechende Präsensform, die ebenfalls in ihrer temporalen Qualität uneindeutig ist: „Die Aufenthalte in Deutschland erweitern Rilkes Kenntnisse der zeitgenössischen Literatur, und in seinen Dichtungen zeigen sich Einflüsse der symbolistischen Poetik, z.B. Maeterlincks. Einem dekorativen Stil wendet der Dichter sich in seinem populärsten frühen Text zu... Die wirklich entscheidenden Erlebnisse jedoch verdankte er nach eigenen Aussagen seinen Reisen... Er vertieft seine Sprachkenntnisse, übersetzt Lermontov und Čechov, ja noch mehr, er schreibt sogar Gedichte in russischer Sprache – so wie er sie zwei Jahrzehnte später manchmal auch in Französisch schreiben wird.“ 166 159 160 161 162 163 164 165 166 Vogt 1998, S.29 Ebd. S.30 Beutin u.a. 2001, S.342 Ebd. S.343 Ebd. S.356 Ebd. S.357 Vogt 1998, S.29 Žmegač 1993, S.165 2.1.2 Verben der inneren Vorgänge Die Verwendung von „Verben der inneren Vorgänge“,167 d.h. des „Wahrnehmens, Denkens, Empfindens“ in der dritten Person ist nach Vogt „geradezu ein Beleg für die fiktionale Beschaffenheit eines Erzähltextes“,168 denn das Wissen über die inneren Vorgänge seiner Figuren gehört zwar zu dem, was der Leser von dem Urheber eines fiktionalen Textes geradezu erwartet (es sei denn, es handelt sich um eine Ich-Erzählung), wogegen der Berichterstatter eines wirklichen Geschehens aber die Beweispflicht antreten müsste. „Man kann nicht behaupten, daß der Pariser „Figaro littéraire“ seine Leser allzu sehr überrascht habe, als er im September 1886 Moréas´ Manifest des Symbolismus veröffentlichte. In Wirklichkeit beendete der Text, der mit der Absicht auftrat, ein Programm zu sein, nur Vermutungen um den Begriff Symbolismus sowie um einige literarische Tendenzen, die zu einer solchen Benennung neigten. Der Schreiber befand sich dagegen gewissermaßen in einem Irrtum; indem er Fundamente zu setzen glaubte, vollendete er eigentlich ein Gebäude; indem er einen Entwurf schrieb, bot er in Wahrheit eine Zusammenfassung. [...] Die erwähnten Autoren hätten sich, befragt, auf welche Position sie sich, befragt, auf welche Kunst sie sich stützten, ganz sicher bei Edgar Allan Poe, den deutschen Romantikern und der berauschenden Magie von Wagners Partituren in der Schuld gesehen.“169 Solche inneren Vorgänge bilden einen wesentlichen Teil dessen, was der Leser im Einleitungsteil von Žmegačs Kapitel über den Symbolismus erfährt: Der Pariser FIGARO LITTÉRAIRE wollte seine Leser mit Moréas Artikel in der Septemberausgabe von 1886 offenbar überraschen; die Leser waren entgegen dieser Behauptung nicht allzu sehr überrascht; der Verfasser des Textes intendierte eine bestimmte Absicht (die, ein Programm zu verfassen, Fundamente zu setzen, einen Entwurf zu schreiben). Des weiteren besitzt der Urheber des Textes nicht nur Kenntnis darüber, was die einzelnen Personen intendiert haben, sondern auch darüber, was die erwähnten Autoren hätten sagen können, wenn sie gefragt worden wären. Der Erzähler, der in diesen Sätzen in Erscheinung tritt („als einer zwischen dem historischen „Schriftsteller Soundso“ und seiner Leserschaft vermittelnden Instanz“),170 weist sich aber nicht nur durch seine Kenntnis des Innenlebens seiner Figuren als auktorialer Erzähler aus. „Selbstbewußt ergreift er das Wort, mit unbezweifelbarer Autorität, seines Vorhabens und seines Urteils sicher – und ziemlich herablassend gegenüber dem Helden der Geschichte.“ 171 So charakterisiert Vogt den Erzähler aus Thomas Manns ZAUBERBERG, wie er im ersten Satz des Romans in Erscheinung bzw. vor des Lesers Gehör tritt und dadurch ein Profil erhält. Eine ähnliche Herablassung kennzeichnet auch das Verhältnis zwischen Erzähler und Erzähltem des oben genannten Abschnitts. Die handelnde Figur, der „Schreiber“ Moréas, 167 168 169 170 171 Ebd. Ebd. S.28 Žmegač 1993, S.234 Vogt 1998, S.46 Ebd., S.58 erscheint angesichts seiner bedeutungsvollen Absicht, das Fundament einer in den Anfängen befindlichen literarischen Epoche zu legen, aus der allwissenden Perspektive des historischen Überblicks als ein naives Gemüt, das die historische Tragweite seiner Tat hoffnungslos überschätzt. Indem dem/der LeserIn Geheimnisse mitgeteilt werden, von denen die „Romangestalten“ noch keine Ahnung haben, steigert der Erzähler einerseits die dramatische Ironie172 und setzt sich andererseits als allwissender Erzähler, denn die Fehldeutung Moréas bezüglich der historischen Stellung seines Manifests kann nur dem allwissenden Erzähler bekannt sein.173 Gleichzeitig kontrolliert er mithilfe der Ironie das Urteil des/der LeserIn über die erzählte Figur.174 Diese Kontrolle funktioniert im genannten Textausschnitt umso besser, als der Erzähler die Kenntnis der Wahrheit für sich beansprucht, wie an den folgenden Wendungen sichtbar wird: „In Wirklichkeit beendete der Text[...] nur Vermutungen um den Begriff Symbolismus...“, er vollendete „eigentlich (Hervorhebung von S.H.) ein Gebäude“, er schrieb „in Wahrheit“ eine Zusammenfassung“. Der Ausdruck des Wahrheitsanspruchs wird nur noch verstärkt durch das indefinite Pronomen „man“, das eine fiktive rhetorische Antwort auf mögliche Gegenstimmen einleitet: Man kann nicht, d.h. niemand kann behaupten, der Figaro littéraire hätte seine Leser überrascht. Sieht man von der experimentellen Situation, die Geschichtsschreibung als Romandichtung zu betrachten, ab, und stellt das wirkliche Vorhaben, das Schreiben einer Literaturgeschichte in Rechnung, muss der/die LeserIn dem Autor Žmegač an dieser Stelle die skeptische Frage stellen: „Woher wissen Sie das?“175 Eine überzeugende Antwort auf die Frage, woher der Autor der deutschen Literaturgeschichte so sicher weiß, dass die Leser des Figaro nicht überrascht waren, dass man nicht das Gegenteil behaupten kann, wäre der Umstand, dass ihm als historisches Dokument eine Leserumfrage des Figaro Litteraire aus dem Jahr 1886 vorliegt, in der die Leserschaft nach dem Überraschungseffekt des o.g. Manifests gefragt wurden. Das Vorliegen eines solchen Dokuments hätte aber noch nicht zwingend zur Folge, dass sein Informationsgehalt vom Erzähler dramatisch gestaltet würde (wie z.B. die Wendung „allzu sehr überrascht habe“ zeigt). Wahrscheinlicher ist eine andere Erklärung: Zum Einen spart dieses Vorgehen Platz, denn „dadurch daß er eine allwissende Haltung einnimmt, kann er in [wenigen, S.H.] Zeilen unterbringen, was mit jeder anderen Methode viel mehr Raum beanspruchen würde“.176 172 173 174 175 176 Vgl. Booth 1978, S.257 Vgl. ebd., S.175f. Ebd. Nach Vogt S.27 Booth 1978, Bd.I, S.175 Diese Erklärung erscheint auch für Kanz plausibel, wenn sie über Käthe Kollwitz schreibt, dass diese „die Motive aus der Proletarierwelt zunächst aus ästhetischen, nicht aus moralischen oder emotionalen Gründen“ gestaltete.177 Während aber hier die Verifizierbarkeit des Erzählten durch eine Belegstelle (einen Brief oder eine private Aufzeichnung von Kollwitz) noch vorstellbar ist, erscheint die Erzählung von Žmegač doch eher wie eine mögliche Entwicklung der Ereignisse, wie eine fiktive Parallelhandlung zur Wirklichkeit.178 Zum Anderen könnte es sich um die oben bereits angesprochenen „wirkungsästhetischen Gründe“ handeln, denn das Lesen gewinnt (gegenüber einer rein pragmatischen Berichterstattung) an Reiz. Gleichzeitig aber legt diese Erzählperspektive eine Gleichsetzung des Autorsubjekts mit einem allwissenden Erzähler nahe, wodurch der/die LeserIn in Versuchung gerät, diesem Autor auch das entsprechende „Vertrauen“ entgegenzubringen und ihm unhinterfragt zu glauben, was wir im wirklichen Leben „aufgrund unseres Wissens um den Charakter des Sprechenden oder auch um die menschliche Fehlbarkeit schlechthin nicht vorbehaltlos hinnehmen“179 – und zwar nicht nur, was er an historischer Erzählung dem Leser präsentiert, sondern auch an Bewertung, Analyse, Kommentar. 2.1.3 Kanz und Žmegač: Zwei Erzähler Anhand der o.g. Textmerkmale lässt sich folgendes festhalten: 1. Sowohl Kanz als auch Žmegač verwenden in ihren Literaturgeschichten Schreibweisen, die typisch für fiktionale Texte sind und in der Gattung Literaturgeschichte, verstanden als Wirklichkeitsbericht, eigentlich gattungsfremd sind. Sie erzählen damit der Form nach „Fabeln“ im Sinne von Paul Veyne, die aber im Inhalt einem Wirklichkeitsbericht entsprechen sollen. Wie am Beispiel gezeigt wurde, können mit der Erzählweise nicht immer die Ansprüche eingelöst werden, die der/die LeserIn an einen Wirklichkeitsbericht streng genommen stellen müsste. 2. Beide Literaturgeschichten haben neben dem „erzählerischen“ Anteil noch einen „besprechenden“ Anteil, in dem sie den erzählten Anteil kommentieren, analysieren, bewerten. In den verschiedenen Anteilen treten verschiedene Erzähler auf. Der Geschichtenerzähler von Žmegač ist mit einem auktorialen Erzähler zu 177 Beutin u.a. 2001, S.346 Vgl. Vogt 1998, S.19:„Produktionsästhetisch betrachtet heißt dies [dass fiktionales Erzählen eine Art „Parallelaktion“ zur Wirklichkeit ist; S:H:)auch, daß der Erzähler für seine Fiktion mehr oder weniger intensiv und umfänglich Elemente der Wirklichkeit nutzt: Daten, Orte, Fakten, Figuren, Äußerungen, Ereignisse, Zusammenhänge aller Art dienen, mehr oder weniger bearbeitet, verfremdet, verkleidet, als Bausteine eines Gebäudes, das als Ganzes dann nicht mehr in der historischen Wirklichkeit, sondern eben in einer imaginären Parallelwelt steht.“ 179 Ebd., S.11 178 vergleichen, der aufgrund seiner rhetorisch erzeugten Allwissenheit jeder Beweispflicht entgeht, obwohl er inhaltlich einen Wirklichkeitsbericht zu erstellen beansprucht. Genauso verhält es sich mit dem Erzähler des besprechenden Anteils bei Žmegač, der als Experte ohne wissenschaftliche Nachweispflicht auftritt (also nicht zitiert, belegt etc.). Beide Erzählhaltungen zusammengenommen ergeben ein stimmiges Bild. Die Geschichtenerzählerin von Kanz erscheint ähnlich wie Žmegač, in einer allwissenden Erzählhaltung, jedoch ohne diese in so ausgeprägter Form wie Žmegač auszugestalten wie z.B. durch das Mittel der Ironie etc.. In den besprechenden Textteilen stehen die Expertin, die eigene Wertungen, Analysen etc. ohne Beleg abgibt, und die Wissenschaftlerin, die sich auf andere Forschungsmeinungen stützt, nebeneinander. In diesem Kontext lässt sich ihr Erzählen von Geschichte als Narration eines Wirklichkeitsberichts verstehen. Bei Žmegač bleibt das Bild des allwissenden Erzählers durch die erzählenden und besprochenen Passagen hindurch bestehen, bei Kanz wird das Bild des allwissenden Erzählers durch die wissenschaftlich (d.h. mit Belegen und anderen Forschungsmeinungen) arbeitende Expertin relativiert. 3 Zusammenführung und Ergebnis Im ersten Teil dieser Arbeit sollte gezeigt werden, welche Geschichten Christine Kanz und Viktor Žmegač sich „nach ihrem Geschmack“ aus der geschichtlichen Totalität der literarischen Moderne herausgegriffen haben. Es wurde festgestellt, dass sie zwar verschiedene Geschichten erzählen, die zum Einen die „Krise der neuzeitlichen Subjektivität“ und zum Anderen den „typisch literarischen Gegenstand“ betreffen, dass sie aber einen weitgehend übereinstimmenden Kanon tradieren, den Kanz um einige Autorinnen erweitert, also gewissermaßen bearbeitet, und den Žmegač durch Abgrenzung von der Trivialliteratur versichert. In Anbetracht der Verschiedenheit der Geschichten findet Paul Veynes These von den Fabeln, die sich der Historiker nach „seinem Geschmack“ herausgreife, hier ihre Bestätigung;180 beim Vergleich dieser beiden Geschichten wird deutlich, dass eine Literaturgeschichte der literarischen Moderne entweder so aussehen kann, wie Kanz sie sieht, oder so, wie Žmegač sie sieht – oder ganz anders. Die Übereinstimmungen, die den materialen sowie den Deutungskanon betreffen, sind ein Hinweis darauf, dass beide Autoren dem maßgeblichen „einen“ Kanon der deutschen Nationalliteratur zustimmen und ihn tradieren wollen (wenn nicht aus Gründen des persönlichen Geschmacks, dann aus solchen, die ihre Institution o.a. betreffen) und damit gegenwärtig geltende Werte durch Verankerung in der Vergangenheit (oder kritische Bezugnahme) legitimieren, in der Gleichzeitigkeit Identität stiften in Abgrenzung gegen andere Gesellschaften oder gesellschaftliche Gruppierungen Handlungsorientierung im Blick auf die Zukunft schaffen. und eine 181 Viktor Žmegač, dessen Literaturgeschichte „zum größten Teil in den Jahren 1970-1972“182 geschrieben wurde, also zeitlich durchaus nach Beginn der wissenschaftlichen Wende in der Literaturwissenschaft, war derzeit und ist aktuell mit seinem Unternehmen nicht zeitgemäß, denn (systematische entgegen Begründung den Ansprüchen eines eigenen an eine wissenschaftliche Gegenstandbereichs, Disziplin angemessener methodischer Verfahrensweisen und wissenschaftlicher Selbstreflexion)183 arbeitet er einfach am „spezifisch literarischen Gegenstand“ weiter, also „mit traditionellen Mitteln an einem überlieferten, sich scheinbar von selbst verstehenden Kanon“.184 Die Erweiterung des Kanons, die Kanz in ihrer Literaturgeschichte vornimmt, stellt im Gegensatz dazu eine mögliche Option dar, Literaturgeschichtsschreibung zu verändern. Die Kriterien, nach denen sie Autorinnen in den Kanon aufnimmt, und die ausschließlich inhaltlicher Natur sind (und nicht formal-stilistischer) zeigen aber letztlich auch hier die Dominanz des „Erfolgsmodells“ und damit des tradierten Kanons, der von der Forschung schon lange als veränderbar erkannt worden ist. Im Gegensatz zu den anderen möglichen Optionen, sich zu diesem Kanon zu verhalten (durch Aufstellung eines Gegenkanons, Kritik an den Kriterien, Subversion des männlichen Deutungskanons, poststrukturalistische Bestreitung jeglichen Kanons)185 ist die Erweiterung des Kanons durch Autorinnen bei Beibehaltung des alten Kanons zwar eher unspektakulär, aber wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, 180 die Literaturgeschichtsschreibung wissenschaftlichen Anforderungen Und nicht zufällig, so erscheint es mir, entsprechen die Rollen- und Geschlechterfragen, die Kanz darstellt, dem Geschmack einer Autorin. 181 S. von Heydebrand/Winko 1994, S.131 182 Žmegač 1993, Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe 183 Baasner 2001, S.92 184 Ebd. 185 Vgl. von Heydebrand/Winko 1994 anzupassen und dabei das „bewährte Erfolgsmodell“ nicht zu gefährden. Was passiert aber, wenn der Kanon literaturgeschichtlicher Werke, der im Prinzip auch in einer ganz anderen Zusammensetzung denkbar ist, von einem „Erzähler“ vorgetragen wird, dem man aufgrund seines rhetorischen Vorgehens so „uneingeschränkt“ zu vertrauen versucht ist wie sonst nicht einmal „dem glaubwürdigsten Zeugen?“186 Wenn der Leser von Žmegač dem „breiteren Leserkreis“ entstammt, an welchen sich seine Literaturgeschichte richtet (also aus einem Laienpublikum oder, wie Jauss 1967 etwas verächtlich formuliert, aus dem „Bildungsbürgertum“),187 dann ist es wahrscheinlich, dass er/sie die Relativität von Žmegačs Literaturgeschichte nicht erkennen kann, weil der Autor vom „Olymp“ der Experten aus mit einem großen Wahrheitsanspruch spricht, der für Laien schwierig zu hinterfragen ist. Solche Leser müssen vielmehr davon ausgehen, dass diese eine Fabel (mit diesen Werken und Autoren), eben dieser fest definierte „spezifisch literarische Gegenstand“ sich zwingend als Gegenstand für Literaturgeschichte angeboten hätte. - Eine solche Annahme wird auch durch die von Žmegač gewählte Wertungssprache unterstützt, auf die ich aus Gründen des Umfangs der Arbeit nicht noch separat eingegangen bin. Hierzu sei nur angemerkt, dass Žmegačs Wertungen der von Heydebrand und Winko geforderten Explikation von Wertmaßstäben nicht entsprechen und daher zwar für den Laien nicht nachvollziehbar sind, sich aber immerhin zum Tradieren, also in diesem Fall zum unhinterfragten Weitersagen, eignen können.188 Insofern man mit von Heydebrand und Winko davon ausgeht, dass Neuinterpretationen und Erweiterungen des tradierten Kanons als bewusstseinsbildend und daher wünschenswert angesehen werden können,189 stellen alle Geschichten und damit verbundenen Wertungen, die auf einem Wahrheitsanspruch aufbauen, für den Leser einen Verlust dar. Anhand von Kanz´ Geschichte wird dagegen vom Ansehen (der zitierten Forschungsliteratur) her deutlich, dass es zur Geschichte der literarischen Moderne mehrere Forschungen und Meinungen gibt, und dass sie sich mit ihren Ausführungen auf einige dieser Meinungen stützt; ihre Geschichte lässt das Verständnis zu, eine von mehreren alternativen Geschichten zu sein; und sie lässt mehr Raum für ein Bewusstsein, 186 Vgl. Booth 1978 Bd.I, S.7 Jauss 1969, S.5 188 Vgl. von Heydebrand/Winko 1996, S.350: Ein Werturteil kann nicht in der Art einer wissenschaftlichen Aussage Geltung fordern. Damit wir es akzeptieren, müssen folgende Voraussetzungen akzeptiert sein: (1)Wir müssen den Aussagen des Wertenden über das vom Text erzeugte Lektüreergebnis und Leseergebnis zustimmen, also der Sachverhaltsbeschreibung; (2)Wir müssen die Wertprinzipien oder –maßstäbe teilen, die aus den Sachverhalten positive oder negative Qualitäten des Textes machen, und wir müssen (3)über die gleichen Zuordnungsvoraussetzungen verfügen, also aus unserem Wissens- und Erfahrungshintergrund bestätigen können, daß der Wertmaßstab durch den betreffenden Sachverhalt auch erfüllt ist. 189 Vgl. von Heydebrand/Winko 1994, S.157 187 demzufolge „Kanonbildungen nicht die Sache allein einer literarisch-ästhetischen EliteKultur sein müssen.“190 190 Ebd. 4 Literatur Baasner, Rainer und Zens, Maria (2001): Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft: eine Einführung. Erich Schmidt Verlag; Berlin Beutin, Wolfgang u.a. (2001): Deutsche Literaturgeschichte: von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler Verlag; Stuttgart Bogdal, Klaus Michael Hg. (1997): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Westdeutscher Verlag; Opladen Booth, Wayne C. (1974): Die Rhetorik der Erzählkunst. Band 1 und 2. Übers. von Alexander Polzin. Quelle & Meyer Verlag, Heidelberg Duden Etymologie (1963): Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Günther Drosdowski u.a. Dudenverlag; Mannheim, Wien, Zürich Gervinus (1871): Geschichte der Deutschen Dichtung. Band 1. Wilhelm Engelmann Verlag; Leibzig Griesheimer, Frank und Prinz, Alois (1991): Wozu Literaturwissenschaft? Francke Verlag, Tübingen Heydebrand, Renate von Hg. (1998): Kanon – Macht – Kultur: theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Metzler; Stuttgart, Weimar Heydebrand, Renate von und Winko, Simone (1994): Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. Historische Betrachtungen und systematische Überlegungen. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur: IASL/Institut für deutsche Philologie. Niemeyer Verlag; Tübingen. S.96-172 Heydebrand, Renate von und Winko, Simone (1996): Einführung in die Wertung von Literatur: Systematik – Geschichte – Legitimation. Schöningh Verlag; Paderborn, München, Wien, Zürich Jauss, Hans Robert (1969): Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Verlagsanstalt Konstanz, Konstanz Rothmann, Kurt (1997): Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Philipp Reclam Verlag; Stuttgart Veyne, Paul (1990): Geschichtsschreibung – Und was sie nicht ist. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main Vogt, Jochen (1998): Aspekte erzählender Prosa: eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. Westdeutscher Verlag; Opladen Žmegač, Viktor Hg. (1980): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 1. Athenäum Verlag; Königstein, Ts. Žmegač, Viktor u.a. (1993): Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Anton Hain Verlag Verlag, Frankfurt am Main Inhalt Einleitung .................................................................................................1 Zur Literaturgeschichtsschreibung .................................................................2 Zum Vorgehen dieser Arbeit: Über Geschichte und Geschichten ..............................4 1 Zwei Geschichten der Literarischen Moderne...............................................6 1.1 Der Zugriff auf den Gegenstand ............................................................6 1.2 Die Fragen der literarischen Moderne bei Christine Kanz ...............................7 1.2.1 Neue Wahrheiten ........................................................................8 Die Wahrheit des Naturalismus .............................................................9 Die Wahrheit des Ästhetizismus .......................................................... 10 1.2.2 Das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft: Protest oder l´art pour l´art .... 11 1.2.3 Über Identität .......................................................................... 12 Identität der Frau und Künstlerin ........................................................ 13 Identität des Künstlers ..................................................................... 13 1.2.4 1.3 Sprachkritik............................................................................. 14 Die Literarische Moderne bei Viktor Žmegač ........................................... 15 1.3.1 Naturalismus, Ästhetizismus und Symbolismus........................................ 15 Naturalismus ................................................................................. 16 Symbolismus ................................................................................. 17 1.3.2 Wiener Moderne ....................................................................... 18 1.3.3 Romandichtung ......................................................................... 19 1.3.4 Verschiedenes und Gemeinsames. Über Kanonisierungen ....................... 20 Verschiedenes ............................................................................... 20 Gemeinsames ................................................................................ 23 Fazit .......................................................................................... 24 2 Wer spricht wie über was? ................................................................... 25 2.1 Über Merkmale fiktionaler Texte und Erzähler ......................................... 26 2.1.1 Über verschiedene Tempora ......................................................... 27 Episches Präteritum ........................................................................ 28 2.1.2 Verben der inneren Vorgänge ........................................................ 29 2.1.3 Kanz und Žmegač: Zwei Erzähler.................................................... 31 3 Zusammenführung und Ergebnis .................................................................. 32 4 Literatur ............................................................................................. 36