Klaus Goergen: KÖRPER UND MORAL (2008) Medizinethische Positionen im Überblick Es gibt zwei widersprüchliche Urteile darüber, was durch moderne Medizin dem Menschen offen steht: Das eine ist eine Klage über den Verlust von Natürlichkeit und eine Warnung vor entgrenzter Freiheit im Umgang mit dem menschlichen Körper. Das andere ist ein Loblied auf die neuen Möglichkeiten der Heilung und der ästhetischen und leistungsmäßigen 'Optimierung' des Menschen dank der Medizin. Die Klage klingt etwa so: Wir wollen das menschliche Schicksal kontrollieren, von der Zeugung bis zum letzten Atemzug: Frei wollen wir darüber entscheiden, ob, wann und wie viele Kinder entstehen sollen, welche genetische Ausstattung, welches Geschlecht sie haben, wer sie austrägt. Die einen sollen Eltern werden und wollen es nicht, die anderen können es nicht und wollen es trotzdem. Wer mit seinem Aussehen, seinen Anlagen, seinen Organen und der Anzahl seiner Kinder im Bauch nicht zufrieden ist, dem kann geholfen werden: mit Schönheitschirurgie, mit Hormonen und Psychopharmaka, mit fremden Organen und bald wohl mit eigenen, oder mit selektiver Abtreibung. Corriger la nature – wir verstehen uns nicht länger als Gewordene, sondern als Gemachte. Und die Freiheit setzt sich am Ende fort: Dank Patientenverfügung, Sterbehilfe und assistiertem Suicid wollen wir auch selbst bestimmen, wann und wie es zu Ende geht. Der Anspruch auf völlige Beherrschung der menschlichen Natur entspringt einer grandiosen Hybris, die vergessen hat, dass die Seele nicht alles mittragen kann, was der Verstand sich an Freiheiten anmaßt. Wer sich als Gemachter versteht, wird am Ende als Gemachtes behandelt. Demgegenüber klingt das Loblied etwa so: Welch ein Fortschritt, wenn es nur noch Wunschkinder gibt, wenn sie gesund sind und bleiben, wenn Hässlichkeit und schwere Erbkrankheiten vermieden, versagende Organe ersetzt, ein unmenschliches Dahinvegetieren human verkürzt werden kann. Wer diese Fortschritte im Namen einer Natürlichkeit und Schicksalsergebenheit verteufelt, der verkennt, Natürlichkeit ist kein Wert – die Natur ist nicht moralisch, sondern unerbittlich – und menschliche Kultur besteht gerade darin, sich dem Schicksal nicht in Demut zu ergeben, sondern es gestaltend in die eigenen Hände zu nehmen. Der besondere Wert des Menschen besteht nicht in seiner Natürlichkeit, sondern in seiner vernünftigen Kunstfertigkeit. „Das, was den Menschen allein zum Menschen macht", sagt Scheler, ist "eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die natürliche Lebensevolution zurückgeführt werden kann, “1 Es ist sein freier Geist, mit dem er sich und die Welt gestaltet. Klage und Loblied markieren, als Extreme, die Spannweite der medizinethischen Beurteilung dessen, was sich aktuell auf der 'Baustelle' des menschlichen Körpers abspielt. Die Tatsache, dass die menschliche Verfügungsgewalt über den eigenen Körper so dramatisch zugenommen hat, ist weitgehend wissenschaftlicher Forschung und Technik zu verdanken. Aber die naturwissenschaftlichen Erfolge bescherten uns zugleich eine Menge neuer, ethischer Entscheidungsprobleme. Wir werden zum Zauberlehrling in eigener Sache. Nüchtern gesagt: Für die betroffenen Personen oder Gesellschaften kann das, was heute medizinisch zur Wahl steht, zu extremen ethischen Konflikten führen. Einige zentrale Fragen mögen die Konflikte und Widersprüche andeuten, die sich hinter den umstrittenen medizinethischen Themen auftun: 1 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern 1962, S. 38. 1 -Ist das Verbot von PID verwerflich, solange Abtreibung erlaubt ist, weil man eine Frau zwingt, erst in der Schwangerschaft zu erfahren, ob sie ein behindertes Kind gebären wird, obwohl es auch schon im Reagenzglas feststellbar wäre - oder ist das Verbot von PID geboten, gerade weil es sonst zu einfach wäre, ein potentiell behindertes Kind zu selektieren? -Ist es ein Fortschritt und Segen, wenn Paare, die keine Kinder bekommen können, sich dank Leihmutterschaft dennoch genetisch fortpflanzen können – oder werden Kinder zur 'Handelsware' und Frauen zu Brutmaschinen verdinglicht, wenn die Austragende ihr Neugeborenes nach der Geburt abgibt? -Ist das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren höher zu bewerten als das Lebensrecht des ungeborenen Kindes - oder ist der Embryo von Beginn an unverfügbar? -Entwickelt sich der Embryo "zum Menschen" oder entwickelt er sich "als Mensch"? Ist es moralisch geboten, seine Organe für Transplantationen zu spenden – oder ist der moralische Druck, Organe zu spenden, illegitim? Ist Hilfsbereitschaft erzwingbar – oder widerspricht das ihrem Geist? -Sind Sterbehilfe und Hilfe beim Suicid Ausdruck der Anerkennung der Menschenwürde als Autonomie des Sterbewilligen – oder widerspricht Sterbehilfe der Menschenwürde als Zweckfreiheit des Menschen? - Was zählt stärker: der vorausverfügte Sterbewunsch im Falle schwerster körperlicher und geistiger Behinderung oder der erkennbare Lebenswunsch in eben diesem Zustand? -Schützt das Sterbehilfeverbot Kranke und Alte vor dem Druck, sich als unnötige Last zu empfinden – oder verhindert es die Möglichkeit eines selbst bestimmten Todes? Jede einzelne dieser Fragen wird bei den aktuell Betroffenen zu intensiven ethischen Konflikten führen. Im Groben sind drei Reaktionsweisen auf die zahlreichen Möglichkeiten moderner Medizin denkbar: 1. Die Betroffenen legen alle moralischen Skrupel ab und nutzen, was immer ihnen die Wissenschaft bietet und das Gesetz erlaubt. Sie 'kapitulieren' gleichsam vor den Möglichkeiten der 'Optimierung' des Menschen und der freien Bestimmung über Leben, Aussehen und Tod. 2. Die Betroffenen lehnen die Möglichkeiten moderner Medizin, Genetik und Biochemie ab, die mehr verheißen als die Heilung aktueller Krankheiten oder Behinderungen. Sie beharren auf der Natürlichkeit von Werden und Vergehen. 3. Die Betroffenen suchen nach ethischer Orientierung und Beratung und wägen im Einzelfall ab, ob sie die Möglichkeiten der Forschung und Technik für ethisch akzeptabel halten. Die letzte dieser drei denkbaren Reaktionsweisen ist für die Medizinethiker natürlich die erfreulichste. Wie wird nun von Seiten der Ethik tatsächlich argumentiert, um zu angemessenen Urteilen in den konkreten Fällen medizinethischer Konflikte zu gelangen? Drei gängige Argumentationsmuster sind erkennbar: 1. Eine deduktive Argumentation -'top-down-Modell' – geht von allgemeinen moralischen Prinzipien – z. B. 'Selbstbestimmung' oder 'Folgenabschätzung' – aus und betrachtet den konkreten Einzelfall daraufhin, wie er unter dem Aspekt dieser Prinzipien zu beurteilen ist. Das konkrete medizinethische Problem wird also als Anwendungsfall allgemeiner ethischer 2 Normen bzw. moralischer Prinzipien betrachtet. Das meint ja die Rede von der Medizinethik als 'angewandter Ethik.' Allerdings: Das Argumentationsmuster ist wenig differenziert und wird der Komplexität konkreter moralischer Konflikte, zu denen schließlich auch Gefühle und Wertorientierungen, Interessen und Gewissen gehören, im Grunde nicht gerecht. 2. Eine induktive Argumentation -'bottom-up-Modell') – geht vom konkreten Einzelfall aus, der intuitiv unter Einbezug von Präzedenzfällen oder ähnlichen Fällen beurteilt wird. Ein Konsens entsteht durch die geteilten Wahrnehmungen all dessen, was in der bestimmten menschlichen Extremsituation auf dem Spiel steht. Allgemeine Normen dienen höchstens dazu, sich im Nachhinein theoretisch abzusichern. Hier gilt nun als kritischer Einwand umgekehrt: Ein gefühlsmäßiges, intuitives oder nur interessengestütztes Urteil im Einzelfall ist entweder gefährlich beliebig oder es stützt sich indirekt eben doch auf allgemeine Normen und Regeln, ohne dass diese bewusst sein bzw. eingestanden werden. 3. Eine kohärente Argumentation versucht nun sowohl 'von unten', vom konkreten Einzelfall aus, zu argumentieren, als auch 'von oben', von allgemeinen ethischen Prinzipien aus und zwar so lange, bis sich ein "Überlegungsgleichgewicht" (Rawls) einstellt, d. h. bis intuitive und theoretische Argumente widerspruchsfrei zusammen stimmen. Bettina Schöne-Seifert erläutert, dieses Verfahren bestehe "im abgleichenden modifizierenden und verwerfenden Hin- und Hergehen zwischen wohlüberlegten konkreten Intuitionen und abstrakteren Theorieteilen der Ethik, sowie relevanter Hintergrundaussagen über die Natur, Gesellschaft etc. – so lange, bis alles sich gegenseitig stützt, kohärent zusammenpasst."2 Diese dritte Argumentationsweise gilt heute als die übliche in medizinethischen Konfliktfällen. Sie wurde besonders durch das Standardwerk von Beauchamp und Childress populär. Die moralischen Einschätzungen der medizinischen und genetischen Möglichkeiten innerhalb der medizinethischen Debatte gehen, wie angedeutet, sehr weit auseinander. Orthodoxe Katholiken lehnen selbst Verhütungsmittel ab und bezeichnen Schwangerschaftsabbruch oder Sterbehilfe als Mord, andererseits brüsten sich asiatische Wissenschaftler damit, Embryonen geklont zu haben und Peter Sloterdijk fragt, ob die Zivilisierung des Menschen durch "optionale Geburt und pränatale Selektion"3 nicht besser zu erreichen sei als durch Erziehung. Die 'klassischen' Methoden der Optimierung, so Sloterdijk, hießen Kosmetik, Athletik und Prothetik – ihre elegante Ergänzung sei die Genetik. In den USA, wo die bioethische Debatte dreißig Jahre älter ist als in Deutschland, sind die beiden Grundpositionen seit langem unter den Parolen "pro life" und "pro choice" bekannt. Pro life, das meint das konservative, christlich-dominierte Bekenntnis zur 'Heiligkeit' des Lebens. Das Leben als solches gilt als erster und oberster Wert, als unverfügbar und als erhaltbar um jeden Preis und unter allen Umständen. Konsequenterweise werden daher Schwangerschaftsabbruch, Embryonenforschung und Sterbehilfe strikt abgelehnt. – Die Todesstrafe paradoxerweise allerdings nicht. Pro choice, das meint die liberale Auffassung, dass nicht das Leben als solches, sondern das 'gute Leben' im Sinne eines freien, selbst bestimmten Lebens der oberste Wert sei. Seit im Jahre 1973 der amerikanische Supreme Court in dem berühmten Fall Roe gegen Wade festlegte, dass Schwangerschaftsabbrüche in den ersten sechs Monaten in keinem Bundesstaat verboten werden dürfen, kämpfen die pro-life-Anhänger erbittert darum, dass diese Entscheidung rückgängig gemacht wird – bislang ohne Erfolg. 2 3 B. Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, Stuttgart 2007, S. 28. P. Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, Ffm. 1999, S. 46. 3 In den letzten Jahren hat sich die ethische Debatte z. T. verlagert von Fragen nach dem Lebensschutz beim Beginn, zu jenen nach dem Ende des Lebens. In den USA war es der spektakuläre Fall um Terry Shiavo, die seit 17 Jahren im Koma lag und nicht sterben durfte, in Europa sind es die liberalen Sterbehilfe-Regelungen in Holland und der Schweiz und neuerdings etwa der berüchtigte Tötungsapparat eines Robert Kusch, die für eine intensive Debatte um die Grenzen der Selbstbestimmung am Lebensende führen. Auf der einen Seite wird betont, dass die Selbstbestimmung relativiert werden müsse durch eine wohlmeinende und hilfsbereite Interpretation eines Lebenswillens gerade in jenen Fällen, in denen ein Patient sich nicht mehr rational äußern kann. Niemand dürfe zum Sklaven seiner vorausverfügten Entscheidungen gemacht werden4. Der mutmaßliche aktuelle Wille müsse genauso bedacht werden, wie der zu einem früheren Zeitpunkt festgeschriebene. Auf der anderen Seite betont etwa Ronald Dworkin: "Darauf zu bestehen, dass ein Mensch auf eine Art und Weise stirbt, die nach Meinung anderer richtig ist, für ihn selbst jedoch in einem gravierenden Widerspruch zu seinem Leben steht, ist eine Form menschenverachtender Tyrannei."5 Sklaven oder Tyrannen - im Ganzen stellen sich die medizinethischen Positionen nicht so unversöhnlich dar – vielmehr gibt es ein Kontinuum an ethischen Beurteilungen zwischen Ablehnung und Zustimmung, das ich an einigen Positionen knapp nachzeichnen will: Positionen zur Bioethik und medizinischen Optimierung Ablehnung Zustimmung zu medizin. u. genetischer medizin. u. genet. Eingriffe zur Optimierung Eingriffen |_______________________________________________________________________________| => LINIE ZUNEHMENDER LIBERALITÄT => Kathol. KommuniMorallehre taristen Kantianer Diskursethik Mieth Spaemann O. Höffe Beauchamp/ G. Ropohl H. M. Sass J. Habermas Childress D. Birnbacher M. Sandel Ansätze Werteabwäg. Liberale Radikaler mittlerer negativer EigenUtilitarismus Reichweite Utilitarismus verantwortung P. Singer N. Hoerster Dietmar Mieth, katholischer Moralphilosoph, befürchtet eine "Diktatur der Gene"6 in der medizinethischen Diskussion. Er verweist auf die erhöhte Risikobereitschaft in Bezug auf die Versprechen der medizinischen Forschung – obwohl konkrete Heilungserfolge durch die Genetik noch kaum erreicht seien. Vier Umstände setzen nach Mieths Überzeugung den medizinischen und wissenschaftlichen Eingriffen in die menschliche Natur enge Grenzen: - Durch die Gottes-Ebenbildlichkeit des Menschen wird dem Embryo von Beginn an Menschenwürde zugesprochen. 4 So etwa D. Mieth, Grenzenlose Selbstbestimmung? München 2008. Ronald Dworkin, Die Grenzen des Lebens, Reinbek 1994, S. 301. 6 D. Mieth, Die Diktatur der Gene, Freiburg 2001. 5 4 - Das biblisch begründete Diversitätsgebot der Schöpfung verlangt nach genetischer Vielfalt. Alle Versuche einer Vereinheitlichung, etwa das Klonen, widersprechen diesem Gebot der Vielfalt. Mieth verweist dazu auf die Geschichte Babylons. - Die Kontingenz, Endlichkeit, Imperfektheit alles Menschlichen gehört zu seinem Wesen. Die medizinischen Verheißungen nährten den Wahn, der Mensch könne sich perfektionieren und seiner Endlichkeit entgehen. Es komme aber eher darauf an, sich mit diesen menschlichen Beschränkungen zu versöhnen. - Die Verletzlichkeit des Menschen sollte uns sensibilisieren für den Umgang mit den Schwachen. "Um Menschen, die sich nicht selbst vertreten können, liegt stets eine Aura der Verletzlichkeit, ein äußerer Schmelz des nicht zu berührenden Schmetterlings."7 Demnach werden alle Formen des Experimentierens mit und Selektierens von Embryonen, von der Befruchtung an, abgelehnt, ebenso fast alle Arten der assistierten Befruchtung. Alle massiven Eingriffe in den natürlichen, bzw. 'gottgewollten' Verlauf von Altern und Sterben, wie etwa: Sterbehilfe, Transplantationen, Hirntod werden skeptisch beurteilt. Insbesondere in Fragen der aktiven Sterbehilfe, der Patientenverfügungen, des Umgangs mit Demenzkranken und Menschen im Koma warnt Mieth davor, sich ausschließlich auf ein abstraktes Recht auf Selbstbestimmung als entscheidender moralischer Norm zu berufen. Man müsse zwischen aktueller und antizipierter (vorweggenommener) Selbstbestimmung unterscheiden: "mein späterer Zustand", so Mieth, sei nicht "der Sklave meines jetzigen Willens"8. Konkret: Wer im gesunden Zustand verfügt, nicht schwer behindert leben zu wollen, ändere seinen Willen vielleicht, wenn er im Rollstuhl sitzt. Deshalb dürften vorausschauende Willensäußerungen – z. B. Patientenverfügung oder Willensbekundungen gegenüber Nächsten – die Verantwortlichkeit von Ärzten nicht völlig aufheben. Erlaubt sei höchstens eine Verkürzung des Sterbens, keine Verkürzung des Lebens bei Menschen, deren Leben nicht kurzfristig zu enden drohe (Demente, Komatöse). Mieth sieht die Gefahr einer "Gewöhnung an das 'Töten gegen Leiden'"9 und stellt fest: "Selbstbestimmung ist zwar oberstes Kriterium, aber deren Umsetzung kann nicht einfach kontextlos und umstandslos...zu einem blinden Vollzug führen."10 - Dass er mit dieser Argumentation ärztlichem Paternalismus eine Steilvorlage liefert, nimmt er billigend in Kauf. Michael J. Sandel, Kommunitarist in Harvard, erläutert in seinem "Plädoyer gegen die Perfektion"11 drei Einwände gegen die "genetische Zurichtung" und alle anderen Formen von Optimierungsversuchen des Menschen, vom Doping über Psychopharmaka und schönheitschirurgische Eingriffe bis zur genetischen Selektion und Manipulation. Die Stichworte lauten: Demut, Verantwortung und Solidarität.12 Die Ausführungen dazu muten kaum weniger religiös fundiert an als bei Mieth. Unter Demut versteht er eine Haltung, die uns offen hält für das Unerbetene, Unerwünschte und damit unserem Drang zur Kontrolle entgegenwirkt. Demut sorgt dafür, dass wir unsere Talente und Fähigkeiten als 'Geschenk' betrachten, und nicht hochmütig glauben, unsere Eigenschaften selbst bestimmen zu können. Die Möglichkeiten genetischer und medizinischer Optimierung führten zu einer "Explosion der Verantwortung"13, weil wir für Umstände zuständig sind, die früher dem Zufall der Natur überlassen waren. In dem Maße, wie wir unsere Eigenschaften und die unserer Nachkommen bestimmen können, werden wir auch für sie zur Verantwortung gezogen. Dies überfordere 7 Ebd. S. 130. D. Mieth, Grenzenlose Selbstbestimmung? Düsseldorf 2008, S. 97. 9 Ebd. S. 91. 10 Ebd. S. 16. 11 M. J. Sandel, Plädoyer gegen die Perfektion, Berlin 2008. 12 Ebd. S. 107 ff. 13 Ebd. S. 108 8 5 unsere Verantwortungsfähigkeit. "Wenn genetische Untersuchungen routine-mäßig zu einer Schwangerschaft gehören, gelten Eltern, die sie meiden, als 'Blindflieger' und werden für jeden genetischen Fehler ihres Kindes verantwortlich gemacht."14 Damit werde auch unser Sinn für Solidarität mit jenen, die von der Natur weniger begünstigt wurden, schwinden. Bislang sei die Basis der Verpflichtung der Erfolgreichen, die Schwachen zu unterstützen, die Einsicht, dass sie mehr – unverdientes - Glück hatten. In dem Maße, wie dieses Glück aber durch genetische Optimierung selbst gemacht sei, schwinde die Basis dieser Verpflichtung. Die Schwachen würden "nicht mehr als benachteiligt" und daher ausgleichsbedürftig, "sondern schlicht als untauglich"15 und bestenfalls reparatur-bedürftig betrachtet. Jürgen Habermas verweist als Kantianer darauf, dass sich seit Kant die Vorstellungen von menschlicher Natur und von Freiheit ins Gegenteil verkehrt haben: Für Kant gehörte die menschliche Natur noch zum "Reich der Notwendigkeit", unsere körperliche Ausstattung und Eigenschaften lagen nicht in unserer freien Verfügung, sondern waren durch Naturgesetze vorherbestimmt. Heute betrachten wir unsere natürlichen Gaben als evolutionäre 'Lotterie der Natur' und wollen diesem "Reich des Zufalls" durch freie Eingriffe entkommen. Unsere Natur betrachten wir zunehmend als zum "Reich der Freiheit" gehörend.16 Damit verdinglichen wir uns selbst, indem wir uns den Status eines formbaren Gegenstands zuschreiben. Der Begriff der Menschenwürde wird von Habermas eng gefasst. Sie kann nur Personen zukommen, die sich gegenseitig – symmetrisch – moralisch verpflichten können. Alles andere sei eine "Überdehnung" der Menschenwürde, die gegen unsere Intuition spreche. Habermas wendet sich gegen eine "Resakralisierung"17 der menschlichen Natur. Der Körper sei nichts 'Heiliges', in das in keinem Fall eingegriffen werden dürfe. Zu unterscheiden sind daher "Würde des menschlichen Lebens", die auch Ungeborenen und Toten zukommt, und Menschenwürde, die in konkreten Menschenrechten von Personen aufgeht. Personen können in einem herrschaftsfreien Diskurs festlegen, welche medizinischen und genetischen Eingriffe sie erlauben oder verbieten wollen. Im ethischen Umgang mit all jenen, die nicht 'diskursfähig' sind, (Ungeborene, 'NichtEinwilligungsfähige', Komatöse, Demente) empfiehlt Habermas einen fiktiven Diskurs darüber, welchen Eingriffen – im schlimmsten Fall der Tod – der Betroffene zustimmen könnte. Dabei dürfe ein unterstellter Konsens sich nur auf "unzweifelhaft extreme Übel beziehen, die, wie erwartet werden kann, von allen abgelehnt werden."18 Konkret: Einem schwerst Krebskranken, der extreme Schmerzen leidet und sehr bald sterben wird, darf ich unterstellen, wenn er sich nicht mehr äußern kann, dass er einverstanden wäre, keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr durchzuführen; einem Fötus, der an einem DownSyndrom leidet, werde ich nicht unterstellen dürfen, dass er nicht ausgetragen und geboren werden will. Menschen dürfen sich nicht gegenseitig instrumentalisieren. Dazu gehört, dass sie sich nicht in einseitiger Weise – etwa durch genetische Manipulation – beeinflussen dürfen. Jeder muss die Chance behalten, sich als "der ungeteilte Autor des eigenen Lebens zu verstehen."19 Selektion, PID, Klonen, verbrauchende Embryonenforschung und nicht-therapeutische Eingriffe in die genetische Ausstattung sind damit nach Habermas moralisch inakzeptabel: "Keiner darf vom anderen in einer prinzipiell unumkehrbaren Weise abhängig sein."20 14 Ebd. S. 111. Ebd. S. 113. 16 J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, Frankfurt/M.. 2002, S. 53 f. 17 Ebd. S. 48. 18 Ebd. S. 79. 19 Ebd. S. 109. 20 Ebd. S. 110. 15 6 Einen pragmatischen Ansatz vertreten Tom Beauchamp und James Childress Sie lehnen die beiden üblichen Verfahren einer ethischen Argumentation in der Medizinethik als unzureichend ab: Einerseits eine Ableitung konkreter Handlungsanweisungen aus allgemeinen ethischen Normen, andererseits eine Herleitung des Normativ-Gebotenen aus der reinen Kasuistik. Sie gehen vielmehr von einem Kohärenz-Ansatz aus: Damit ein ethisches Urteil über einen konkreten Fall in der Medizinethik Bestand habe, müssten alle intuitiven Urteile über den Einzelfall zusammen stimmen mit der Beurteilung nach allgemeinen ethischen Normen. "Prinzipien...Gefühle...Tugenden...Rechte"21 dürfen beim Urteil nicht in Widerspruch geraten. Sie begründen vier Prinzipien für das ethisch angemessene Verhältnis von Arzt und Patient, die in konkreten Konfliktsituationen als Entscheidungshilfe gedacht sind. 1. Das Autonomieprinzip: Der Patientenwille ist zu respektieren, er gilt unabhängig von der Auffassung von Autoritäten, wie etwa Ärzten. Diese sollten sich nur als Berater in Entscheidungssituationen verstehen, Patientenverfügungen haben bindenden Charakter. 2. Das Nicht-Schadens-Prinzip fordert ein Unterlassen. Es verbietet das Töten, das Verursachen von Schmerzen oder Behinderungen. Es muss allerdings relativiert werden durch 3. Das Prinzip des Wohltuns, das aktive Hilfe bei Schmerz oder Lebensgefahr verlangt. Zwischen Nicht-Schaden und Wohltun muss im Einzelfall abgewägt werden: Die Amputation eines Beins schadet zwar, kann aber Leben retten; die hohe Morphiumdosis im Endstadium kann zwar Schmerzen lindern, verhindert aber ein klares Bewusstsein im Sterbeprozess. 4. Das Gerechtigkeitsprinzip ist von Bedeutung in all jenen Bereichen der Medizin, wo es um knappe Güter geht. Das gilt nicht nur für Organtransplantationen und teure Operationen sondern letztlich für alle medizinischen Leistungen. Es gilt auch hier die Präsumtion der Gleichheit: Alle Patienten sind strikt gleich zu behandeln, es sei denn, vernünftige Gründe legitimieren eine Ungleichbehandlung – und dazu zählt gewiss nicht die private Versicherung. Die vier Prinzipien sollen gleich gewichtet und einzelne im Bedarfsfall gegeneinander abgewägt werden. Sie sollen Arzt, Patient und Angehörigen helfen, im Dilemma ethisch richtig zu entscheiden. Hans-Martin Sass verweist auf den Widerspruch, der sich durch die zahlreichen Diagnoseund Kontrollmöglichkeiten der modernen Medizin aufgetan habe: Einerseits werde ein "Recht auf Nicht-Wissen" plötzlich bedeutsam - kann heißen, ich verzichte bewusst auf genetische Diagnostik, um eines unbeschwerten Lebens willen. Andererseits entstehe eine neue "Pflicht zum Wissen"22 hinsichtlich körperlicher Risikofaktoren und Chancen bei mir und meinen Nachkommen. In modernen Gesellschaften habe der Staat nur noch eine sehr begrenzte ordnungsethische Legitimation. Sein Recht, moralisch strittige Handlungen zu verbieten oder zu erlauben sei stark begrenzt. Vielmehr müssten das individuelle Gewissen und die Verantwortungsbereitschaft des einzelnen gestärkt werden. Dies geschehe am besten, indem der Staat nur dort Norm setzend aktiv werde, wo der innere Frieden bedroht sei. In allen anderen Fällen müsse die Entscheidungsfreiheit der unmittelbar Betroffenen bestehen bleiben. Dieses sogenannte "Subsidiaritätsprinzip" lautet demnach: "Wenn immer Theologen, Ethiker, Juristen und Politiker keinen inhaltlichen Konsens finden können, sollen die primär betroffenen und nächststehenden Individuen nicht in ihrer Verantwortlichkeit eingeschränkt werden; weltanschauliche und religiöse Gruppen sollen vielmehr dazu beitragen, die individuelle Kompetenz von Güterabwägung und Verantwortung zu stärken."23 Sass setzt also auf die Mündigkeit der Konfliktbeteiligten, im liberalen Jargon 21 T. Beauchamp, J. Childress, Principles of Biomedical Ethics, N-Y, Oxford, 2001³, S. 405. H. M. Sass, Medizinethik, in: A. Pieper, U. Thurnherr, Hg., Angewandte Ethik, München 1998 , S. 81. 23 Ebd. S. 107. 22 7 auf die "Stärkung der Eigenverantwortung" - eine reine Betroffenenethik. Auch ethisch umstrittene Möglichkeiten - PID, Embryonenforschung, Leihmutterschaft, Schwangerschaftsabbruch – können demnach individuell entschieden werden, denn der "innere Frieden" wäre durch eine Erlaubnis dieser Möglichkeiten sicher kaum bedroht. Norbert Hoerster schließlich argumentiert radikal utilitaristisch. Menschenwürde ist für ihn ein leeres Schlagwort, das konkretisierbar werde nur im Instrumentalisierungsverbot. Allerdings instrumentalisierten sich Menschen permanent: Der Taxifahrer werde vom Fahrgast zum Transport benutzt, der Lehrer vom Schüler, der Fußballer vom Trainer etc. Daher solle konkreter Würde als ethisch illegitime Instrumentalisierung definiert werden. Was illegitim sei, hänge aber entscheidend vom Menschenbild ab. Bei Kant etwa gilt Homosexualität als abscheuliches Verbrechen "wider die Zwecke der Menschheit" und Suicid als absolut verwerflich. Eine Einigung auf ein klares Menschenbild sei nicht in Sicht. Daher solle in der Medizinethik von "Menschenwürde" nicht die Rede sein. Man solle besser nach dem "Lebensrecht" des Fötus fragen. Dieser entwickele sich nicht als Mensch, sondern zum Menschen. Das Lebensrecht sei an ein Überlebensinteresse gebunden. Ohne Interessen könne es auch keine Rechte geben. Ein instinkthaftes Überlebensbedürfnis komme dem Fötus vielleicht zu – aber das gelte auch für Tiere, die wir ohne moralische Skrupel töten. Generell seien Interessen an Fähigkeiten gebunden: Das Interesse an Schmerzfreiheit setzt die Fähigkeit zur Schmerzempfindung voraus (die beim frühen Embryo nicht gegeben sei); das Interesse an Bildung setzt Lernfähigkeit voraus, etc. Das Überlebensinteresse sei an ein Ich-Bewusstsein gebunden, das sich erst beim Kleinkind ausbilde. Wer nicht wisse, dass es ihn gibt, könne auch keine Interessen haben: "Meine These", so Hoerster, "geht dahin, dass allein ein Überlebensinteresse […] einen guten Grund darstellt, Lebewesen das Recht auf Leben einzuräumen. Sie führt […] im Ergebnis zu der Forderung, dem menschlichen Individuum von der Geburt an, das Menschenrecht auf Leben einzuräumen."24 Mit dieser Argumentation rechtfertigt Hoerster fast alle ethisch umstrittenen Möglichkeiten moderner Medizin und Genetik, von der Embryonenforschung über PID bis zum Klonen, von aktiver Sterbehilfe bei Demenzkranken bis zum 'Abschalten' von Koma-Patienten. Die scharfe Gegenposition zu Hoersters Konzept eines abgestuften Lebensrechts sieht den Status des Embryos bekanntlich von der Befruchtung der Eizelle an (ab ovo) als gleichwertig mit einem geborenen Menschen, und damit von Beginn an als unverfügbar, bzw. 'heilig'. Mit vier Argumenten wird diese Position gestützt. Sie sind inzwischen so populär, dass sie nach ihren Anfangsbuchstaben als SKIP-Argumente bezeichnet werden25: 1. Zur Spezies der Menschen gehöre der Embryo von Beginn an. Als Mitglied der Gattung Mensch genieße er deren vollen Schutz. 2. Die Kontinuität in der Entwicklung des Embryos lasse jede Abstufung im Status als willkürlich erscheinen. 3. Die Identität des Embryos mit dem aus ihm entstehenden Menschen verbiete jeden Eingriff in dessen Entwicklung. 4. Die Potentialität des Embryos bedeute, dass er sich zu einem lebensfähigen Menschen entwickle, wenn man ihn nicht daran hindere. Da jede befruchtete Eizelle das Potential zu einem 'vollständigen' Menschen habe, dürfe diese Möglichkeit keinesfalls unterbunden werden. Alle vier SKIP-Argumente sind allerdings ihrerseits heftig umstritten26: 24 N. Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, Stuttgart 2002, S. 77. Vgl. B. Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, a.a.O. S. 157 ff. 26 Vgl. Ebd. S. 158-161 und Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1994², S. 205ff. 25 8 Das erste und dritte Argument verlieren ihre Kraft bei einem anderen Verständnis von Spezies und Identität. Gegen eine Kontinuität sprechen moralisch relevante Entwicklungsschritte des Embryos, z. B. der späte Beginn von Schmerzempfindlichkeit. (25. - 30. Woche) Gegen das Argument der Potentialität spricht, dass Ansprüche nirgendwo mit der reinen Erwartbarkeit eines Zustands zu begründen sind: Ein Prinz hat noch nicht die Rechte des Königs. Neben den 'harten' Themen der Bioethik, die sich mit den ethischen Aspekten von Geburt, Krankheit und Sterben befassen, gibt es in den letzten Jahren zunehmend 'weiche' Themen, die mit den Begriffen "Körperkult", Schönheitswahn", "Body- und Neuro-Enhancement" "body-modification" bezeichnet werden. Hier geht es meist um massive, irreversible Eingriffe in den Körper, die der 'Optimierung' dienen sollen, der ästhetischen oder der leistungsmäßigen. Wie kommt es zu dieser Entwicklung? Nun, die Kehrseite fortschreitender Dematerialisierung in der Produktion von Gütern, der 'Entkörperlichung' von Arbeit, Kommunikation und Distribution zeigt sich in diesem grassierenden Körperkult. Je bedeutungsloser der menschliche Körper für die praktische Lebensbewältigung wird, umso bedeutungsvoller wird er als Kultobjekt. Allein die schönheitschirurgischen und pharmazeutischen Eingriffe machen heute einen Milliardenmarkt aus, Millionen Menschen lassen sich operativ und medikamentös behandeln und im TV schauen Millionen zu, wenn sich ein hässliches Entlein unter dem Messer des Schönheitschirurgen in einen Schwan verwandelt. Was wird nicht alles gemacht? Zur ästhetischen 'Optimierung' werden Augen vergrößert und gerundet, Augenlider gestrafft, Beine verkürzt und verlängert, die Haut chemisch aufgehellt oder nachgedunkelt, der Busen vergrößert, verkleinert und gestrafft, Falten entfernt und Fett abgesaugt, Lippen und Popos aufgespritzt, der Magen verkleinert und der Penis verlängert. Und daneben wird gedopt: der Körper mit Hormonen, Endorfinen und Appetitzüglern, der Geist mir Ritalin, Donepezil und Wachmachern. Die Einschätzung dieser Praktiken der körperlichen 'Optimierung' schwankt, wie auch bei den 'harten' Themen der Bioethik, zwischen Toleranz - unter Verweis auf die Selbstbestimmung des Einzelnen - und Ablehnung. Eine ethische Beurteilung dieser Eingriffe fällt aber schwer: "Wo liegen die Grenzen zwischen kreativer Selbstgestaltung und autoaggressiver Selbstverstümmelung, zwischen autonomer Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Anpassung"27. Einerseits geschehen die Eingriffe – abgesehen von psychopathischen Motiven - freiwillig und können als Ausdruck der Selbstbestimmung gesehen werden: Jeder kann mit seinem Körper machen, was er will. Keine andere Person wird dadurch geschädigt. Andererseits verstoßen einige der Eingriffe gegen den Grundsatz der Gerechtigkeit (Doping, Neuro-Enhancement) indem man sich durch sie unfaire Vorteile im körperlichen und geistigen Wettbewerb verschafft. Den meisten Eingriffen kann man vorhalten, sie zeugten von einem Machbarkeitswahn und mangelnder Verantwortung in Bezug auf den eigenen Körper und Geist. Den Anbietern von Leistungen kann man zudem vorhalten, sie schürten falsche Ängste und weckten unberechtigte Hoffnungen in Bezug auf Schönheit und Leistung, um sich damit zu bereichern. Eindeutiger als die moralischen Einwände sind die Klugheitsgründe, die gegen die körperlichen Eingriffe zur vermeintlichen Optimierung sprechen. Aber natürlich haben auch Klugheitserwägungen eine ethische Dimension: Sie sagen zwar nicht, was moralisch richtig, wohl aber was gut ist im Sinne der Glücksdienlichkeit. Warum also sind viele Praktiken der Optimierung nicht gut? 27 Johann S. Ach, Arnd Pollmann, no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper, Bielefeld 2006, S. 10. 9 1. die kurzfristigen Motive und Modeorientierungen bei den Eingriffen stehen im Widerspruch zu den langfristigen und irreversiblen Folgen: Die Tattoos auf alter Haut, das geliftete Gesicht nach 10 Jahren widersprechen den ästhetischen Erwartungen. 2. Viele Eingriffe würden sich auf gesündere und kostengünstigere Weise durch Sport, Körperpflege und bewusste Ernährung erübrigen. 3. Die erhoffte Steigerung des Selbstwertgefühls durch die Eingriffe wird meist enttäuscht, da die Wertschätzung durch andere kaum vom Aussehen abhängt. 4. Die gesundheitlichen und psychischen Belastungen der Eingriffe werden häufig ebenso unterschätzt wie die Auswirkungen auf die Identität. Wer sich ein Barbie-Gesicht operieren lässt, der erkennt sich vielleicht nicht wieder. 5. Viele Eingriffe bergen Suchtgefahren, bzw. müssen nach Jahren wiederholt werden, da die Wirkung nachlässt. Eine Wiederholung ist aber nur begrenzt möglich – wer sich zu früh liften lässt, hat im Alter ein echtes Problem. Modebedingte aber irreversible Eingriffe können bei einer Änderung der Mode rasch die erhoffte Wirkung ins Gegenteil verkehren: Die nächste Natürlichkeitswelle kommt gewiss – und dann haben viele ein neues ästhetisches Problem. Das Glück, so muss man wohl auch hier in Erinnerung an Kant zusammenfassend feststellen, lässt sich eben nicht kalkulieren. Jürgen Habermas betont – beim Blick auf die 'harten' Themen der Medizinethik: der Embryonenforschung und dem Klonen – unsere affektiv ablehnenden Reaktionen drückten "nicht so sehr moralische Empörung als vielmehr Abscheu vor etwas Obszönem aus." Es seien "Schwindelgefühle, wie sie uns erfassen, wenn ein sicher geglaubter Boden unter den Füßen wegrutscht."28 Vermutlich ist es bei den 'weichen' Themen ähnlich: Unsere Irritation beim Anblick der vermeintlich ästhetisch Optimierten rührt weniger von moralischer Empörung als von einer seltsamen Mischung aus Staunen, Belustigung und Trauer. September 2008. 28 J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, a.a.O. S. 72 f. 10