Workshop Symposium 2006 Praktische Hilfestellungen zum Umgang mit Aggressionen in ambulanter Beratung von Karin Ebert Pastoral- Ass. u. Christliche Beraterin (IACP) Supervisorin i.A. © für das Script: Karin Ebert, Kolpingstr. 45, D-83308 Trostberg, [email protected] 2 Überblick - Zorn und Zornursachen, Beratungsgrundlagen Aggressionen in ambulanter Beratung In ambulanter Beratung äußern sich Aggressionen primär in zwei Formen - als direkter und indirekter Zorn. Dabei tritt gerade in christlicher Beratung die zweite Form häufiger auf: nämlich als getarnter Zorn, der nicht wahrgenommen oder sogar bewußt verleugnet wird. ► Häufige Symptome von offenem Zorn ● Streit, ● Ehekrise ● Wutanfälle, Jähzorn ► Häufige Symptome von verdecktem Zorn ● Depression, depressive Stimmungslage ● Resignation, Apathie ● Permanente Kritik, Unzufriedenheit ● Unvergebenheit, Bitterkeit ● Verachtung, Selbstablehnung (Minderwert) bis hin zum Selbsthass ● Opfer-, Märtyrerrolle ► Mögliche körperliche Symptome bei verdecktem Zorn ● Starke Muskelverspannungen, Rücken- bzw. Kopfschmerzen ● Psychosomatische Beschwerden ● Autoaggression: Selbstverletzung, unfallriskierendes Verhalten ► Zornursachen Berechtigter Zorn ist eine angemessene Reaktion (motiviert von der Aggression) auf eine tatsächliche Mißhandlung bzw. tatsächlich begangenes Unrecht. Hier ist die biblische Anweisung, im Zorn nicht zu sündigen und Zorn nicht über Nacht wachsen zu lassen eine hilfreiche Handlungsmaxime. Wird dieser berechtigte Zorn nicht angemessen ausgedrückt oder benutzt, richtet er sich schnell gegen andere Menschen und die Person selbst und wirkt deshalb unangemessen nach. Eine zweite Ursache für Zorn ist aber auch ein nicht tatsächlich begangenes Unrecht, sondern die eigene, subjektive Bewertung, daß einem Unrecht geschehen sei - wie ● der Eindruck, ungerecht behandelt worden zu sein ● der Eindruck, bloß gestellt, gekränkt worden zu sein ● der Eindruck, angegriffen und verletzt worden zu sein ● der Eindruck, daß alle gegen einen sind, die Schuld bei den anderen liegt ► Beratungsgrundlagen ● Zugang des Beraters zu seinen eigenen aggressiven Gefühlen und die Fähigkeit, i.d.R. konstruktiv mit ihnen umzugehen ● Biblische Grundlagen zum Umgang mit Zorn ● Schaffung eines sicheren und geschützten Ortes, damit der Klient sein Herz offenbaren kann, verdrängtes erleben und zulassen kann ● Mut, die Gefühle des Klienten anzusprechen, evtl. zu provozieren ● Bereitschaft, Tabus zu durchbrechen, die im eigenen Denken, in Familiengeschichten oder Gemeindetraditionen Zorn verdecken helfen ● Wissen um Ursachen und Zusammenhänge von Zornreaktionen 3 Nonverbale Hilfsmittel In der ambulanten Beratungssituation ist es oft sinnvoll, mit dem Klienten nicht nur auf der kognitiven Ebene zu arbeiten, sondern bewußt die Kreativität und die Körperebene miteinzubeziehen. Dies kann durch allgemeine Maßnahmen geschehen, die Adrenalin abbauen helfen oder durch Objekte bzw. Hilfsmittel außerhalb des eigenen Körpers, die für akute Situationen vorübergehend eine angemessene Aggressionsbewältigung bieten. ► Hilfsmittel zum Aufdecken von nach innen gerichtetem Zorn ● Malen (innerhalb der Beratung, zu Hause) ● Pantomimisches Ausdrücken der Reaktion des Klienten auf die auslösende Situation durch eine Haltung oder eine Skulptur ● Modellieren mit Ton oder Salzteig ● Situationsspiel mit Figuren, Symbolen ● Biblische Geschichten zum "selber erleben" ● Spazierengehen (langsam oder schnell, je nach Bedarf) ► Hilfsmittel für die Selbstarbeit der Klienten ● regelmäßige Bewegung ● Boxhandschuhe und Boxsack ● Bälle, Softbälle, Tennisschläger und Ball ● Gartenarbeit, körperlich anstrengende Arbeit ● Kissen zum darauf Einschlagen, Zusammendrücken Fast alle diese Dinge können sowohl während der Beratungssituation eingesetzt werden als auch für zu Hause erprobt und "verordnet" werden - gerade auch in der Behandlung von Depression hat sich regelmäßige Bewegung (mind. 30 Min. schnelles Gehen) als sehr hilfreich erwiesen. Auch bei Autoaggression oder Fremdaggression ist es möglich, andere Formen der Wut- bzw. Schmerzverarbeitung und des "Sich-Spürens" mit solchen Hilfsmitteln entwickeln zu helfen. Sinnvoll erscheint hier eine Kombination zwischen regelmäßigem Aggressionsabbau durch Bewegung und konkretem "Notfall"Management mit dem parallelen Einüben, Aggressionen verbal auszudrücken und zu verarbeiten. Welche Mittel zu wählen sind, kommt immer auf den Klienten an - was dient ihm, womit kann er sich innerlich identifizieren und was ist in der Beratungssituation und im Alltag leicht umsetzbar. In der konkreten Beratungssituation ist bei einer zu starken Eskalation immer eine sofortige Pause ein wirksames Mittel - wenn möglich, mit Aufstehen , sich bewegen und evtl. Frischluft (manchmal auch eine spontane Fortsetzung des Gespräches während des miteinander Gehens). 4 Verbale Hilfsmittel Ein besonderes verbales Hilfsmittel: Die Klage Wenn Aggressionen aus der Sprachlosigkeit und dem unmittelbaren Ausagieren auf verbale Art und Weise geäußert werden können, ist man schon einen großen Schritt weiter. Das klare Aussprechen, was einen so wütend/ohnmächtig gemacht hat, warum das so ist und was dies an Bildern und Wünschen in einem auslöst, ist jedoch gerade unter Christen immer noch eher unüblich oder mit inneren Verboten belegt. Hier hat sich für mich die Arbeit mit Psalmen als sehr positiv erwiesen. Für viele Klienten ist die Information befreiend, daß sogar in der Bibel Gefühle wie Rachewünsche, Leid, Schmerz, Zorn oder Wut vorkommen - und zwar primär in der Gebetsform. Ein wenig Hintergrundinformation zum Thema Klage-Psalmen, die übrigens die häufigste Psalmform in der Bibel darstellen: In keiner anderen Religion der damaligen Zeit gab es etwas, was diesen Klageliedern entsprach. Nur das Volk Gottes wagte es, solche Klagelieder an seinen Gott zu richten. Und das aus gutem Grund, denn von allen damaligen Völkern glaubten nur die Israeliten an einen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat und sich dennoch dafür interessiert, ob wir Schmerzen leiden. Und ER ist derjenige an den man sich wenden muß, damit ER etwas dagegen tut. 1 Ein Gebet für den Armen, wenn er schwach wird und vor dem HERRN seine Klage ausschüttet. 2 HERR, höre mein Gebet! Mein Hilferuf soll zu dir kommen. 3 Verstecke dein Angesicht nicht vor mir am Tag, da ich in Not bin. Neige dein Ohr zu mir am Tag, da ich rufe. Antworte mir rasch. Psalm 102 Ich schreie zum Herrn, so laut ich kann, und flehe um sein Erbarmen. Ihm klage ich meine Not; ihm sage ich, was mich bedrängt. Wenn ich niedergeschlagen bin und nicht mehr weiter weiß, kennst du noch einen Ausweg. Wohin ich auch gehe: überall will man mich ins Unglück stürzen. Wohin ich auch sehe: nirgendwo will man etwas von mir wissen. Ich finde keine Hilfe mehr, und keiner kümmert sich um mich. Deshalb schreie ich zu dir, Herr! Du allein bist meine Zuflucht! Du sorgst dafür, daß ich am Leben bleibe. Ps 142,2-6 Die Klage beinhaltet den Schrei des Herzens über tiefe Not, Krankheit, Bedrohung, Verfolgung, Gefangenschaft und tiefer Verlassenheit von Gott und Menschen: sie formuliert diese Not ohne Leugnung und ohne fromme Worthülsen vor dem ewigen, einzigen, gerechten, zuverlässigen, ewigen und guten Gott. Selbst in tiefstem Zweifel und Hoffnungslosigkeit bleibt Gott allein das Gegenüber im Gespräch. Im Gegensatz dazu bleibt das Selbstmitleid und die Opferhaltung bei sich selbst, dem eigenen Schmerz, der eigenen Schmerzverarbeitung und dem schrecklichen Anderen stehen - das Böse wird nicht im Licht Gottes angeschaut, sondern in dem Sumpf des eigenen Schmerzes und der Selbstgerechtigkeit und wird dann zur Anklage gegenüber dem Anderen, den Umständen und der Welt (und auch oft Gott). Es verhärtet das eigene Herz mit dem tiefen Gefühl, ungerecht und schrecklich behandelt worden zu sein und zementiert tief (oft verdrängt) in einem den Wunsch nach Rache, Rechtfertigung und Wiedergutmachung: verdrängtes Böses gebiert Böses. 5 Wenn man vor Gott klagt, entscheidet man sich dafür, leidenschaftlich ehrlich zu sein. Man schüttet seinen Schmerz, seine Wut, seinen Haß und seine Rachewünsche vor IHM aus - und indem man es vor IHM tun, relativiert man nicht das Böse - es wird nicht entschuldigt, gerechtfertigt oder erklärt - sondern die Klage lädt Gott ein, zu handeln: einen zu tragen wo man es selber nicht mehr kann, wo man als Mensch kapituliert vor Leid und Not und vor dem, was das Böse anrichtet. Statt Rache zu üben und für Gerechtigkeit nach eigenem Ermessen zu sorgen, lädt man Gott ein, Seine Gerechtigkeit aufzurichten. Wenn man vor Gott klagt, erkennt man oft auch seinen eigenen Anteil an Schuld (z.B. wo man als Opfer zum Täter an dem anderen geworden bin) und seinen Bedarf an Vergebung. Das führt dann zur eigenen Kapitulation vor IHM und dazu, sich ganz auf Seine Gerechtigkeit und Sein Erbarmen einzulassen: "Herr, handle Du nicht so wie ich oder der andere es 'verdient hätten' sondern aufgrund Deines Erbarmens". Und so führt dieser Prozeß der Klage, dieses "Herz-Ausschütten" vor Gott dazu, daß man seine Not und Anfechtung auf Gott wirft, in der (oft winzigen) Hoffnung, daß man IHM trotz allem vertrauen kann. Dies lädt Gott ein, das Herz in einen Zustand zu versetzen, in dem es wieder in Seiner Gegenwart ruhen kann. Und so enden viele Klagepsalmen im Lob Gottes, im Ausdruck des Vertrauens auf Gott, in dieser Geborgenheit, daß Gott handeln wird - wenn auch vielleicht ganz anders, als man es erwartet oder ersehnt! Aber wenn man IHN als den Tröster und Helfer, als den Felsen in der Not und die Rettung im Sturm erlebt, dann wird man IHN loben und anbeten. ► Beispiele für Psalmen mit Klageanteilen: 4, 5, 10, 11, 17, 21, 22, 28, 37, 40, 41, 49, 53, 55,59, 64, 69,72, 102, 109, 110, 120, 137 ► Übung: Das Schreiben eines eigenen Klagepsalms Elemente dazu: ● Vor/zu dem einzigen, gerechten, zuverlässigen, ewigen und guten Gott klagen ● Böses darf Böses genannt werden, ausgedrückt werden ● Rache darf formuliert und Gott übergeben werden ● Jesus anschauen, wie und was er freiwillig litt - was könnte das bedeuten? ● Erkenntnisse, die aus diesem Prozeß kommen, beschließen den Psalm 6 Symbolische Handlungen Das Kreuz als Ort der Heilung entdecken Alle Formen von Aggressionen, die Menschen sich gegenseitig antun können, hat Jesus freiwillig während seiner Verhaftungszeit und am Kreuz von Golgatha getragen. Verschiedene Blickwinkel helfen die unterschiedlichen Ursachen und Auswirkungen von Aggressionen zu entmachten: ► Ein Teil der Geschichte werden Sich mit einer Person der biblischen Geschichte identifizieren, die ähnliches getan hat und eigene Sätze/Handlungen einsetzen und aussprechen, evtl. symbolisch darstellen. Den Satz Jesu dahinein gesprochen hören: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!" Wie geht der Klient mit diesem Satz um? Was macht er mit ihm - welche Gefühle, Worte, Eindrücke weckt er? Den Satz wieder hineinsprechen - immer wieder als Angebot (entweder im Beratungsgespräch oder als schriftliche Hausaufgabe) bis der Klient sich der Entscheidung von Herzen stellen kann, diese Vergebung anzunehmen, sich selbst gegenüber auch zu gewähren oder bewußt abzulehnen. ► Am Kreuz "verschmerzen" Die Kränkung, die Verletzung, der Mißbrauch, der den Zorn verursacht hat kann in einem Heilungsgebet am Kreuz von Golgatha "verschmerzt" werden, wenn der Klient seinen Schmerz an Jesus loslassen kann, der freiwillig diesen Schmerz vor dem jeweiligen Opfer ertragen hat. Indem der Schmerz geheilt wird, kann dann auch der Zorn, die Rachewünsche etc. leichter aufgegeben werden. ► Der leere Stuhl Selbst erlebten Schmerz, erlittene Verletzung, Beschämung als Ursache der eigenen Aggression erkennen (oft hilft hier die Klage, es konkret zu formulieren) und in der Gegenwart Gottes es vor dem "Täter" auszusprechen. Hier kann es hilfreich sein, einen leeren Stuhl hinzustellen und den "Täter" symbolisch darauf zu setzen und zu ihm in direkter Anrede zu sprechen. Wenn die Klage fertig ist, das Angebot machen, Jesus in die Szene hinein einzuladen und IHN zwischen den Klienten und den Täter gehen zu lassen. Was verändert das an der Situation? An der Klage? Kann der Wunsch nach Rache, nach Wiedergutmachung an Jesus abgetreten werden? Was möchte Jesus dem Klienten schenken? ► Andere symbolische Handlungen ● Die eigene Klage/Rache an ein Holzkreuz nageln (bei tiefer Wut und Rachewünschen oft hilfreich) ● Klagen "In Rauch aufgehen lassen" verbrennen ● Klagen, Vorwürfe etc symbolisch, z.Bsp. als Stein in einen See/Bach/Fluß werfen ●…