Zusammenfassung: Reisenzein, R., Meyer, W.-U. & Schützwohl, A. (2003). Einführung in die Emotionspsychologie, Bd. III. Bern: Huber. (Kapitel 3) Die Emotionstheorie von Weiner Weiners Theorie ist eine neuere kognitive Emotionstheorie (Weiner, 1986, 1995). Sie ist nicht umfassend, sondern konzentriert sich auf eine Teilgruppe von Emotionen (unter anderem Stolz, Schuld, Ärger, Dankbarkeit und Mitleid), welche bestimmte Kognitionen voraussetzen: 1. Überzeugungen über die Ursachen von Ereignissen 2. (zum Teil) darauf beruhende Urteile über die persönliche Verantwortlichkeit dieser Ereignisse. Weiners Theorie entstand im Rahmen der Attributionsforschung, die sich in den 1960er-Jahren innnerhalb der Sozialpsychologie entwickelte. 1. theoretischer Hintergrund: Die Attributionsforschung a) Begriffsabgrenzung Attributionsforschung: beschäftigt sich vor allem mit (alltags-) psychologischen Kausalüberzeugungen bzw. Kausalerklärungen. Attributionstheorien: Theorien, die sich mit dem Zustandekommen von Kausalattributionen befassen. Attributionale Theorien: beschäftigen sich mit den Auswirkungen von einmal gebildeten Attributionen auf weitere Kognitionen wie Emotionen, Motivation und Handeln. b) Heider: Erforschung der Alltagspsychologie Wir versuchen im Alltag eigenes sowie fremdes Verhalten und Erleben zu beschreiben, erklären, vorherzusagen und zu beeinflussen. Grundlegend sind dabei Kausalerklärungen. Sie ermöglichen ein tieferes Verständnis von Ereignissen und sind die Voraussetzung für deren Vorhersage und Kontrolle. Damit wird eine besserer Anpassung an die soziale Umwelt ermöglicht spezieller adaptiver Wert Heider schlug aus zwei Gründen vor die Alltagspsychologie zum Gegensstand der wissenschaftlichen Untersuchung zu machen: 1. Alltagspsychologie leitet unser Verhalten gegenüber anderen Menschen 2. Alltagspsychologie kann bei Bildung von Konzepten und Hypothesen benutzt werden Kenntnis der Alltagspsychologie ist implizit Heiders zentrales Teilprojekt: Explikation der Anahmen der Alltagspsychologie. c) Heiders Ursachenklassifikation Es gibt zahlreiche Ursachen, die zur Erklärung von Handlungsergebnissen herangezogen werden Zusammenfassung zu Gruppen, deren Mitglieder funktional gleichwertig sind Klassifikation von Heider (1958): Personabhängigkeit oder Ursachenlokation (extern versus intern), Stabilität über die Zeit (stabil versus variabel) und Kontrollierbarkeit. Diese Kausaldimensionen sind auch Bestandteile der Alltagspsychologie. Allerdings gibt es interindividuelle Unterschiede.Ausschlaggebend für die Auswirkungen von Kausalattributionen ist die Meinung der erlebenden Person. In Weiners Emotionstheorie spielen diese sogenannten Kausaldimensionen eine zentrale Rolle. 2. Weiners Emotionstheorie Theorie ist laut Weiner selbst im Wesentlichen ein Stück rekonstruierte Alltagspsychologie Theorieentwicklung über Zeitraum von 20 Jahren (1978-1995) Ausarbeitungen, Revisionen 2.1 Grundannahmen der Emotionstheorie von Weiner Weiner konzentriert sich auf Emotionen, die Kausalattributionen und zum Teil auch darauf beruhende Zuschreibungen von Verantwortlichkeit voraussetzen wie z.B. Stolz, Schuld, Ärger und Mitleid. 1 a) kognitive Voraussetzungen Emotionen beruhen typischerweise auf Kognitionen, einige Emotionen jeooch werden ohne zwischengeschalteten kognitiven Prozess ausgelöst. Kognitiv-evaluative Theorie der Emotionen Tatsachenüberzeugungen: 1) Glaube, dass ein bestimmtes Ereignis eingetreten ist, oder ein bestimmter Sachverhalt vorliegt 2) Überzeugung über die Ursache des Ereignisses Bewertungen: 1) Bewertung als positiv/negativ, relativ zu persönlichen (nichtnormativen) Wünschen oder Zielen 2) Bewertungen der Handlungen der verantwortlichen Personen als gut oder schlecht relativ zu internalisierten sozialen oder moralischen Normen. b) die Natur von Emotionen Definition von Weiner: Emotion als komplexes System oder Verbund von sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren. Eigenschaften: 1) Positive oder negative Qualität, die eine bestimmte Intensität besitzt 2) häufig gehen Einschätzungen voraus Ursachen 3) Emotionen geben Anlass zu Handlungen Wirkungen Weiner meint Erlebenszustände, deshalb Gefühl = Emotion Er nimmt keine Position zu physiologischer Erregung und Ausdrucksverhalten ein c) der Prozess der Emotionsentstehung Weiner unterscheidet zwischen einem nichtautomatischen = bewussten und einem automatischen = unbewussten Prozess. Der nichtautomatische Prozess Bildung des Glaubens, dass ein Sachverhalt vorliegt, der einen selbst oder jemand anderen betrifft. Bewertung als positiv oder negativ Wenn der Sachverhalt oder wichtig ist. Ereignisabhängige Emotionen unerwartet, negativ Kausaanalyse; Ursachenattribution Bestimmung der Ausprägung der Ursache auf den Kausaldimensionen Lokation, Stabilität, Kontrollierbarkeit Nur wenn Ursache kontrollierbar ist Zuschreibung von Verantwortlichkeit für den Sachverhalt (beinhaltet normative Bewertung) 1 Dimensionsabhängige Emotionen Normabhängige Emotionen1 Weiner verwendet diesen Begriff nicht 2 Der automatische Prozess Person wird mit Sachverhalt konfrontiert, für den sie über eine passende Interpretation verfügt Implizite Annahmen über Ursache und Verantwortlichkeit sind Bestandteile eines Gedächtnisschemas, dass gedankenlos auf konkreten Fall übertragen werden kann Die Folgen dieser unbewussten Ereigniseinschätzungen sind schnell und reflexartig auftretende Emotionen Woher weiß man, dass diese impliziten Annahmen existieren? 1) Personen können sie auf Nachfrage benennen 2) Man reagiert mit Überraschung, wenn sie widerlegt werden Vor allem bei Erwachsenen findet Gefühlsentstehung automatisch statt, da sie schon zahlreiche Schemata erworben haben Bei unerwarteten Ereignissen finden bewusste Prozesse statt implizite Annahmen haben sich als falsch erwiesen bewusste Prozesse der Ursachen- und Verantwortlichkeitszuschreibung dienen häufig der Theorierevision d) Auswirkungen von Emotionen 1) Handlungsmotivation: Emotionen rufen spezifische Handlungstendenzen hervor 2) Sozialkommunikative Auswirkungen: Emotionen informieren andere Personen, was die erlebende Person über das Ereignis denkt bzw. wie sie dieses einschätzt. 2.2 kognitive Grundlagen und Auswirkungen spezifischer Emotionen a) Dimensions-und normabhängige Emotionen Zusammenhänge zwischen Kausaldimensionen sowie Verantwortlichkeitsurteilen und Emotionen: Emotion / Gefühl Stolz Erniedrigter Selbstwert Schuld Ereignisbewertung Positiv Attribution internal Ursachenkontrolle unerheblich Verantwortung -------- Negativ Negativ internal unerheblich Scham Negativ internal internal kontrollierbar unkontrollierbar Dankbarkeit Positiv external kontrollierbar Ärger Negativ external kontrollierbar Mitleid Negativ external unkontrollierbar -------selbst verantwortlich normative Bewertung selbst nicht verantwortlich anderer verantwortlich normative Bewertung2 anderer verantwortlich normative Bewertung anderer nicht verantwortlich Hilflosigkeit/ Resignation Negativ stabile Ursache ---------- --------- die meisten Attributionen positiver Ereignisse sind nicht mit spezifischen Gefühlsbegriffen verbunden sprachliche Differenzierung positiver Gefühle ist weniger differenziert als die negativer Gefühle b) Die Beziehung zwischen Kontrollierbarkeit und Verantwortlichkeit In seinen neueren Arbeiten (1995) unterscheidet Weiner die Begriffe Kontrollierbarkeit und Verantwortlichkeit. Verantwortlichkeiturteile sind im Unterschied zu Kontrollierbarkeitsurteilen keine Kausalattributionen sondern Urteile über die soziale und moralische Qualität einer Person bzw. ihrer Handlungen. Man spricht auch von einer normativen Bewertung. 2 Bei Dankbarkeit spezielle kontrollierbare Ursache: Absicht der Person einem zu nützen normative Bewertung von Autoren provisorisch hinzugefügt 3 Revision zu kognitiven Grundlagen von Ärger, Mitleid, Schuld und Scham: Gefühle beruhen auf Überzeugung über Verantwortlichkeit und nicht mehr unmittelbar auf Überzeugungen über Kontrollierbarkeit (= indirekte Ursache) Die Kontrollierbarkeit ist eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für Verantwortlichkeit Nicht hinreichend wegen mildernden Umständen, z.B. höherrangige Norm oder moralischer Inkompetenz c) Emotionen als Ursachen von Handlungswünschen und Handlungen Zuschreibung von Kontrollierbarkeit und Verantwortlichkeit und die darauf beruhenden Gefühle haben einen starken Einfluss auf das Handeln, vor allem in sozialen Gefühlen. Gemeint sind Handlungen wie Hilfeleistung, Aggression, loben, tadeln oder Entschuldigen und Rechtfertigen. 3. Empirische Überprüfung der Theorie Weiners a) Überprüfung der Sequenz Kognition Emotion Motivation Untersuchung zu Stigmata3 von Weiner et al. (1988): Versuchsteilnehmer mussten zu 10 Stigmata angeben, ob sie die Personen für selbst verantwortlich und schuld halten, wieviel Mitleid und Ärger sie empfinden und ob sie helfen würden. Insgesamt Bestätigung der Annahme, dass Überzeugungen über Kontrollierbarkeit der Ursachen von Stigmata in engem Zusammenhang zu Verantwortlichkeitszuschreibungen, den Gefühlen von Mitleid und Ärger sowie zu Handlungstendenzen stehen. Gefühle als Ursachen von Handlungstendenzen Zwei Modelle (Abbildung 3.3, S.119) 1) Gefühle als unmittelbare Ursache von Handlungstendenzen 2) Wahrgenommene Verantwortlichkeit als unmittelbare Ursache von Handlungstendenzen Untersuchungen von Weiner (1980) und Reisenzein (1986): Fragebögen, in denen Situationen beschrieben werden, in denen Personen Hilfe benötigen Versuchsteilnehmer sollen angeben: (a) Kontrollierbarkeit/Verantwortlichkeit (b) wieviel Mitleid und Ärger sie empfinden (c) ob und in welchem Unfang sie helfen würden Analysen ergeben eine hohe Übereinstimmung der Korrelationen mit dem ersten Modell b) Emotionen als Kommunikationen von Attributionen Hypothese: Emotionen können auch sozial-kommunikative Wirkungen haben: Sie können anderen Personen Informationen über die Kognitionen (Situationseinschätzungen) des Erlebenden liefern. (Beobachtung einer Emotion Schluss auf die Kausalattribution) Fragebogenstudie von Weiner et al. (1982): Den Versuchspersonen wurde mitgeteilt, ein Schüler habe Misserfolg gehabt und der Lehrer habe entweder mit Ärger, Schuld, Mitleid, Überraschung oder Traurigkeit reagiert Versuchspersonen sollten aus fünf Ursachen auswählen, worauf Lehrer Misserfolg zurückführt. Es wurde auf die Attributionen rückgeschlossen, die nach Weiner die jeweiligen Emotionen typischerweise verursachen (Abbilung 3.4, S.123) Implikationen dieses Befundes: 1) Einschätzungen anderer Personen werden durch emotionalen Reaktionen indirekt mitgeteilt. 2) Indirekte Mitteilungen beeinflussen Selbsteinschätzung des anderen 3) Auswirkung auf weitere Kognitionen des anderen Bestätigung dieser Hypothesen in einem Laborexperiment von Rustemeyer (1984) 3 Stigmata = körperliche und charakterliche Merkmale und Verhaltensweisen, die negativ vom „Normalen“ abweichen 4 4. Diskussion der Emotionstheorie Weiners a) positive Aspekte 1) Spezifizierung der kognitiven Einschätzungen, Beschäftigung mit Gefühlen wie Ärger, Mitleid, Stolz, Schuld und Dankbarkeit, die relativ elaborierte Ereignisinterpretationen voraussetzen. 2) Beschäftigung mit Auswirkungen von Emotionen, speziell motivationale und kommunikative Auswirkungen 3) Empirische Belege für die postulierten Beziehungen zwischen Kognition, Emotion und Motivation b) Problematische Aspekte der Theorie Weiners Zur Beziehung zwischen Kausalattributionen und Emotionen Einwand von Lazarus (1991): Kausalattributionen sind notwendige, keine hinreichende Bedingungen für Emotionen wie Stolz und Scham, da sie nicht notwendigerweise eine Bewertung beinhalten. Die Ursache eines Ereignisses kann von unterschiedlichen Personen ganz unterschiedlich bewertet werden. Eine positive oder negative Bewertung der Ereignisse und deren Ursache ist für die Entstehung attributionsabhängiger Gefühle unabdingbar. Kritik aus folgenden Gründen nicht (mehr) berechtigt: 1) Viele Ereignisursachen werden in unserer Kultur gleich bewertet 2) Weiner weist auf Beurteilung eines Ereignisses als persönlich bedeutsam hin, was eine Bewertung im Sinne von Lazarus sein kann 3) Durch Unterscheidung von Kontrollierbarkeits-und Verantwortlichkeitszuschreibungen (1995) wird die Notwendigkeit einer normativen Bewertung anerkannt Die Rolle normativer Bewertungen bei anderen dimensionsabhängigen Emotionen Dankbarkeit: Vermutung, dass auch für Dankbarkeit eine normative Bewertung erforderlich ist positive soziale oder moralische Bewertung Übererfüllung einer Norm Stolz und Scham: Zuschreibung von Verantwortlichkeit und damit normative Bewertung bei Stolz und Scham ausgeschlossen Bewertung ist aber nach früheren Überlegungen auch für Stolz und Scham erforderlich Andere kognitive Emotionstheoretiker sprechen von Bewertung beruhend auf allgemeinen Konventionen Alltagserfahrung spricht dafür, dass Scham auch bei Kontrollierbarkeit entstehen kann Weiner betont nicht, dass kognitive Einschätzungen für die jeweiligen Emotionen einzeln notwendig und zusammen hinreichend sind, er betrachtet sie als typische, häufig vorkommende kognitive Auslöser Diese Ansicht wird durch die vorgebrachten Einwände nicht in Frage gestellt 5