Falldiskussionsmuster (speziell für die Zusatzbezeichnung "Verhaltenstherapie") _________________________________ VERFASSER DATUM Falldiskussion (Fall Nr. 1) 1. Patientennummer: 2. Signalement: XY Parson Jack Russel Terrier - Rüde „Jester“, 15 Monate, nicht kastriert 3. Vorstellung am (Datum) wegen: Schwererziehbarkeit, Angst auf dem Hundeplatz 4. Anamnese: im Alter von 12 Wochen vom Züchter gekauft, lebte dort auf einem Aussiedlerhof zusammen mit Windhunden und seiner Mutter, Hunde bewegten sich frei auf dem Gelände. Jetzt bei Herr und Frau H. in Mehrfamilienhaus mit Garten, tagsüber bei der Schwiegermutter da beide Besitzer berufstätig. Spaziergänge ausschließlich an der Leine, da ausgeprägtes Jagdverhalten (Kaninchen, Katzen, Vögel, Jogger, Fahrradfahrer und Autos) Ab dritten Lebensmonat Teilnahme an Welpenstunden, seit Frühjahr Trainingsgruppe für erwachsene Hunde in einem Hundeverein. Erste zwei Übungsstunden gut mitgearbeitet, war sehr aufgeregt und sprang oft an seinen Besitzern hoch. Daraufhin vom Trainer an der Leine quer über den Platz gezogen. Mit „-Rolle“ versucht, ihn auf den Rücken zu drehen und festzuhalten: nach Trainer geschnappt. Auch aggressives Verhalten beim Versuch, ihn ins „Platz“ herunter zu drücken. Wegen Zerren an der Leine Endloswürgehalsband und zeitweise ein Stachelhalsband benutzt, an dem der Ausbilder eine zweite Leine fixierte, an der dieser dann zusätzlich ruckte (Hund hat sich mehrfach überschlagen). Will jetzt auf dem Hundeplatz nicht mehr aus dem Auto. Schreit während Übungsstunde ununterbrochen, befolgt kein Signal mehr. Bei Annäherung des Trainers: rückwärts Ausweichen und Drohverhalten. Schnappt, wenn der ihn anfassen will. Seit Schießen in der Übungsstunde Angst vor Schüssen. Inzwischen Wimmern, Panik und Verkriechen auch bei Feuerwerk und Gewitter. Zu Hause sehr anhänglich, sucht sehr häufig Körperkontakt Besitzern, liegt an den Füßen. Bei Rückkehr des Mannes von der Arbeit, bei Besuch und während der Mahlzeiten sehr aufdringlich. Reitet an jedem Körperteil auf, dass er erreichen kann. Wenn er davon abgehalten wird, bellt er. Besitzer isolieren ihn dann, beruhigt sich schnell. 5. 6. Duldet Körperpflegemaßnahmen schlecht, hohe Körperspannung, schnappt manchmal gehemmt nach der Hand der Besitzerin. Beim Tierarzt so unruhig, dass eine normale Untersuchung unmöglich ist. Bei fremden Menschen (Kinder, Männer, ältere Menschen), außer dem Hundeplatztrainer, freundlich bis aufdringlich. Bei fremden Rüden knurrt er manchmal, sonst sind Hundebegegnungen unproblematisch. Laut Besitzer keine gesundheitlichen Probleme. Er bekommt zweimal täglich eine Portion eines Trockenfutters mit erhöhtem Energiegehalt für Leistungshunde. Sein Gewicht ist normal. Eigene Beobachtungen: Während der Anamnese extrem aufdringlich und aufgeregt. Versucht meine Futtertasche zu öffnen. Nachdem ich sie weglege, reitet er an meinem Oberarm auf und hängt da mehrere Minuten. Besitzerin redet ständig auf ihn ein. Gebe Anweisung den Hund zu ignorieren: Jester setzt sein aufdringliches Verhalten mit Aufreiten verstärkt fort. Wird an Leine fixiert: fängt an zu bellen. Wird daraufhin im Nachbarraum isoliert. Beruhigt sich schnell, wird wieder dazugeholt. Das gleiche Verhalten beginnt erneut, wird wieder isoliert. Kann in Testsituation sehr leicht von mir über Futter motiviert werden an lockerer Leine neben mir zu laufen. „Sitz“ innerhalb kürzester Zeit über Handsignal abrufbar. Bei Frustrationstest (Blockade von Futter in der Hand) schnell sehr hoher Erregungslevel, lernt aber sehr schnell, ein Alternativverhalten zu zeigen, um an Belohnung zu kommen. Jester zerrt an der Leine von Besitzerin weg, Gesichtsmuskulatur deutlich zurückgezogen, hechelt stark, versucht, unter jeden erreichbaren Unterschlupf zu kriechen. Häufiges Urinmarkieren, mehrmaliges Absetzen von dünnflüssigem Kot. Besitzerin im Umgang mit dem Hund sehr gestresst, ruckt häufig an der Leine. „Sitz“ nur nach starker Leineneinwirkung und massiver körperlicher Bedrohung für Sekunden möglich. Jester wirkt wie abwesend. Bei von Besitzerin ausgehendem Körperkontakt oft Beschwichtigungssignale (Ohren an den Kopf angelegt, über die Nase lecken) mit Ausweichen Weiterführende Untersuchungen: Untersuchung der Schilddrüse empfohlen. Die Besitzerin veranlasst diese Untersuchung bei ihrem Haustierarzt. Nach dessen Äußerung sind die Werte im Normalbereich. 7. Differentialdiagnosen: Schilddrüsendysfunktion Deprivationsschaden Hypersexualität Eine Schilddrüsendysfunktion kann trotz der Aussage des Haustierarztes nicht sicher ausgeschlossen werden, da Jester viele dafür typische Verhaltenssymptome zeigt (Übererregbarkeit, Stressintoleranz, Geräuschphobie) und einerseits schon Werte im unteren Drittel der physiologsichen Werte zu Verhaltensauffälligkeiten führen können, andererseits schon auffälliges Verhalten vorhanden sein kann aber veränderte Laborwerte erst einige Monate später manifest werden. Jedoch war die Besitzerin zu keiner weiteren Diagnostik bereit. Die stark Aufmerksamkeit heischende Komponente der meist mit hohem Erregungslevel gezeigten störenden Verhaltensweisen sowie massive Angstverknüpfungen durch die angewendeten Strafmaßnahmen lassen auch bei einer nicht sicher ausgeschlossenen Fehlfunktion der Schilddrüse stark erlernte Anteile vermuten. Ein ähnliches Bild kann infolge von Deprivationsschäden entstehen. Jester war zwar während der entsprechenden Phase seines Lebens (Sozialisation und Habituation, bis zur 12. Lebenswoche) vielen Umweltreizen ausgesetzt, aber über deren Qualität ist wenig bekannt. Die Sozialkontakte zu verschiedenen Menschen und Hundetypen in dieser Zeit waren eher reduziert. Das Aufreiten und übermäßige Markierverhalten, welches Jester in Erregungssituationen zeigt, wird auch nicht ansatzweise gegenüber Hündinnen gezeigt. Das spricht gegen Hypersexualität und für Übersprungshandlung sowie rein erlerntes Aufmerksamkeit heischendes Verhalten mit deutlichen Stresssymptomen. 8. Diagnosen: Erlernte Angst aufgrund der schlechten Erfahrungen auf dem Trainingsplatz - im Zusammenhang mit den Besitzern - im Zusammenhang Erziehungsübungen - im Zusammenhang mit der Trainingssituation selbst Angst bzw. beginnendes ängstlich-aggressives Verhalten bei körperlicher Restriktion und Körperpflegemaßnahmen aufgrund schlechter Erfahrungen Verminderte Frustrationstoleranz bei starker Übererregbarkeit Aufmerksamkeit heischendes Verhalten (Aufreiten, Bellen, Hochspringen) Erlernte Geräuschphobie mit beginnender Generalisation Verdacht auf unzureichende Sozialisation Unerwünschtes Jagdverhalten 9. Ätiologie: Angst: Angst ist biologisch sinnvoll. Sie soll ein Lebewesen vor Bedrohungen schützen und dient so, wie der Schmerz, dem Überleben des einzelnen Individuums. Um das zu erreichen, arbeiten die Systeme Wahrnehmung, Physiologie und sichtbares Verhalten zusammen und in als bedrohlich empfundenen Situationen kommt es zu angstspezifischen körperlichen Reaktionen und Verhaltensweisen. Angst zu haben ist nicht eine erlernte Erwartung von etwas Schädlichem, sondern angeboren. Um das Angstsystem effektiv nutzen zu können, ist Lernen allerdings essentiell. Die Verallgemeinerung einer einmaligen angsterregenden Erfahrung kann im Prinzip die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Individuums verbessern. Unzureichendes Lernen, vor allem mangelnde Habituation (Gewöhnung an die unbelebte Umwelt) und mangelnde Sozialisation (Gewöhnung an die belebte Umwelt= Sozialpartner), ist, abgesehen von genetischen Faktoren, letztlich die Ursache von genereller Ängstlichkeit und unangemessenem Verhalten. Es gibt angeborene angstauslösende Faktoren wie z.B. Schmerz, Geräusche, Feinde, Gebiet ohne Deckungsmöglichkeit usw., allerdings können alle über die Sinne erfassbaren Reize letztendlich bei entsprechenden Erfahrungen zu erlernten angstauslösenden Faktoren werden. Dies ist bei Jester aufgrund seiner Erfahrungen mit Halter und Trainer geschehen. Es sind aber nicht nur Verknüpfungen mit den einzelnen Personen und mit deren Handlungen, sondern auch mit der Umgebung und der allgemeinen Situation erfolgt. Jester hat mittlerweile grundsätzlich Angst auf dem Übungsplatz, in der Übungssituation (z.B. an kurzer Leine geführt werden) und wenn sich die Besitzer an ihn annähern. Derartige Angstverknüpfungen können sowohl die Folgen einmaliger, sehr intensiver angsterregender Erlebnisse sein oder von immer wieder mit Angst verbundenen Erlebnissen sein. Aufgrund dieser schon vorhandenen angstbesetzten Erregungslage hat das Schießen auf dem Übungsplatz bei Jester keine Gewöhnung an das Schussgeräusch bewirkt, sondern im Gegenteil eine Sensibilisierung und eine Schussphobie verursacht. Inzwischen hat hier schon eine Generalisierung im Bezug auf Feuerwerk und Gewitter eingesetzt. Aggression und Angst: Bei Angst sind unterschiedliche Verhaltensweisen biologisch sinnvoll: Erstarren (die Gefahr ist weit weg, oder unausweichlich) Flucht (die Gefahr ist nahe, kann aber vermieden werden) Drohverhalten (so kann man eine Bedrohung vielleicht dazu bringen, sich zu entfernen) Angriff ( Versuch, die Bedrohung zu verjagen oder zu vernichten) Es können aber auch Übersprungshandlungen gezeigt werden. Dies erfolgt vor allem in stressbelasteten Situationen, bei Jester gegenüber Menschen. Angst und Aggression dienen dem Schutz des eigenen Lebens und sind eng miteinander verknüpft: ein Tier, das keine Angst empfinden kann, wird möglicherweise nicht alt werden. Das gilt ebenfalls für ein Tier, das in spezifischen Situationen nicht aggressiv reagieren kann. Damit ist aggressives Verhalten beim Hund ein angeborenes, natürliches Verhalten und es gibt keinen Hund, der nicht aggressiv reagieren kann. Man geht mittlerweile davon aus, dass ungefähr 90% aller aggressiven Reaktionen von Hunden auf Angst beruhen. Jester hat auf dem Übungsplatz die Erfahrung machen müssen, dass Menschen höchst gefährlich sein können. Er hat mittlerweile soviel Angst vor dem Platz, dass er gar nicht mehr aus dem Auto aussteigen will, und, einmal auf dem Platz, nur noch schreit. Er kann sich nicht konzentrieren, die Angst blockiert seine Lernfähigkeit. Die Annäherung des Trainers wird als so bedrohlich empfunden, dass er zunächst versucht, auszuweichen. Wenn das nicht möglich ist, versucht Jester, durch Drohen Abstand zwischen sich und dem Trainer herzustellen. Auch wenn körperliche Manipulationen durch seine Besitzer an ihm vorgenommen werden sollen, fühlt Jester sich bedrängt und bedroht. Er reagiert auch hier aus Angst und Unsicherheit mit Abwehrverhalten. Insgesamt ist für Jester der Umgang mit Menschen, vor allem seinen Besitzern, außerordentlich stressbelastet (das zeigt das Hecheln, das Absetzen des dünnflüssigen Kotes und das häufige Urinieren). Während Jester Probleme damit hat, wenn die Initiative zur Annäherung von den Menschen ausgeht, kann er das ohne Schwierigkeiten aushalten, wenn er selbst das möchte. Daraus haben sich ein Reihe von unerwünschten Verhaltensweisen entwickelt, wie z.B. das Aufreiten. Solche Verhaltensweisen werden als aufmerksamkeitsheischendes Verhalten bezeichnet, weil jede Art von Aufmerksamkeit, jede Art der Zuwendung, die man diesem Verhalten schenkt, das unerwünschte Verhalten weiter verstärkt. Das gilt für Ansehen, den Versuch zu beruhigen, aber auch Schimpfen, Strafe oder körperliches Abwehren. Da dies jedoch die normalen menschlichen Verhaltensweisen sind, wenn ein Hund ein auffallendes Verhalten zeigt, hat sich hier ein Teufelskreis entwickelt. Jester zeigt sein unerwünschtes Verhalten – seine Besitzer reagieren darauf . Als Notlösung sind seine Besitzer dazu übergegangen, Jester kurzfristig zu isolieren, und können damit auch das unerwünschte Verhalten unterbrechen. Leider hält das erwünschte Verhalten nur so lange an, wie Jester ausgesperrt ist. 10. Prognose: Günstig im Hinblick auf die unerwünschten Verhaltensweisen und die Erziehungsprobleme, da diese überwiegend auf die angstbesetzte und nicht funktionierende Kommunikation zwischen Hund und Halter zurückzuführen und erlernt sind. Vorsichtig im Hinblick auf die Geräuschphobie. Während bei Schuss- und Feuerwerksphobie in geplanten und geordneten Trainingseinheiten eine systematische Desensibilisierung und Gegenkonditionierung durchgeführt werden kann, ist das bei Gewitter nicht möglich. Einerseits sind hier Trainingseinheiten nicht planbar, und außerdem gehen Gewitter mit atmosphärischen Schwankungen einher, die von Hunden oft schon sehr früh wahrgenommen werden. Dadurch kann schon frühzeitig Angst ausgelöst werden, und Angst per se behindert das Lernen. Ungünstig im Hinblick auf das Jagdverhalten, da dieses beim Jack Russel Terrier stark genetisch fixiert ist. Hier wäre nur bei ausreichend langer und konsequenter Trainingsarbeit eine Änderung zu erwarten. 11. Therapie: a) Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zum Besitzer, konfrontationsfreie Rangeinweisung Stressreduktion: Erhöhung der Anzahl der positiven Interaktionen durch ausschließliche Fütterung aus der Hand für Darbietung erwünschter Verhaltensweisen. Klare Grenzen setzen: Jegliches Aufmerksamkeit heischende Verhalten wird vollständig ignoriert (wenn ignorieren nicht möglich ist, sollte der Hund notfalls isoliert werden). Ruhiger Umgangston, bedrohliches Verhalten durch die Besitzer wird vermieden. Das gilt auch für menschliche Körpersprache, die von Hunden als bedrohlich empfunden wird.. Verbesserung des Handlings durch Desensibilisierung und Gegenkonditionierung (während des Handlings füttern) Vollständiges Ignorieren ängstlichen Verhaltens bei Geräuschen, um eine weitere Verstärkung des Problems seitens der Besitzer zu verhindern b) Stressfreies Gehorsamtraining Zunächst Einzeltrainingsstunden, damit Übungen ohne Ablenkung gelernt werden können - Besitzer werden über Normalverhalten und Körpersprache bei und gegenüber Hunden sowie Lernbiologie aufgeklärt. - Besitzer werden angeleitet und dabei unterstützt, unerwünschte Verhaltensweisen zu ignorieren und ruhig zu bleiben. - Haltegewöhnung - Aufbau von „Sitz“ und „Platz“ und Leinenführigkeit mittels Handzeichen, positiver Verstärkung und ohne Druck - Rückorientierung auf Ansprache c) Umstellung der Fütterung auf ein Futter mit normalem oder reduziertem Energiegehalt 12. Verlauf: Nach 10 Einzelstunden, die zunächst wöchentlich und dann in größeren Abständen stattfanden, konnte eine Integration in einen unserer Hundeschulkurse durchgeführt werden. Dort war Jesters Erregungslevel anfangs noch sehr hoch, aber die Halter lernten zunehmend besser mit dem Hund umzugehen. Jester wurde immer motivierter und konnte schließlich alle Übungen ohne Probleme mitmachen. Im März 2002 beenden Besitzer zufrieden den Hundeschulbesuch. Sie erkennen jetzt Jesters Erregungszustände besser und können angemessen mit ihm umgehen. Bei privaten Spaziergängen befolgt er alle Signale zufriedenstellend, er läuft an einer 10 Meter-Leine. Zu Hause bestehen kaum noch Probleme mit Aufmerksamkeit heischendem Verhalten. Er liegt jetzt bei Mahlzeiten ruhig und beruhigt sich schneller, wenn Besuch da ist. Jester kann am ganzen Körper gebürstet werden, ohne aggressives Verhalten zu zeigen. Seine Geräuschempfindlichkeit ist besser geworden. Die Besitzer vermeiden Spaziergänge bei Gewitter und Feuerwerk. 13. Literatur: (bitte verwendete Literatur angeben) Die fachliche Richtigkeit dieser Falldiskussion wird bestätigt: .................................. .............................................................................................. Datum Unterschrift des betreuenden Tierarztes