Werner Gephart Einführung in die Rechtssoziologie Max Webers Vorlesung im Sommersemester 2003 In Zusammenarbeit mit Heinrich Gbur 1 Prof. Dr. jur. Werner Gephart - Seminar für Soziologie Adenauerallee 98a - 53113 Bonn Einführung in die „Rechtssoziologie“ Max Webers (SoSe 2003) Veranstaltungstyp: Grundlagenveranstaltung Zeit: Do 16.00-18.00 Uhr HS G (Juridicum) Sprechstunde: im Anschluss an die Veranstaltung sowie nach Vereinbarung Übersicht Erste Vorlesung ................................................................................................... 4 Zum schwierigen Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie Zweite Vorlesung............................................................................................... 48 Recht und soziologische Begriffsbildung. Die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Jurisprudenz Dritte Vorlesung ................................................................................................ 71 Gesellschaft, Handeln, Recht und Ordnung. Juristischer und soziologischer Begriff des Rechts Vierte Vorlesung................................................................................................ 87 Dimensionen des „rationalen“ Rechts Fünfte Vorlesung ............................................................................................. 102 Recht und Kultur. Kulturelle Aspekte des Rechts in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts 2 Sechste Vorlesung ........................................................................................... 116 Die Rationalisierung des Eigengesetzlichkeit des Rechts Rechts als Entfaltung der Siebte Vorlesung.............................................................................................. 145 Recht und Religion in der Entwicklung des Rechts Schluss ............................................................................................................. 171 Die Gefährdung der rationalen Rechtskultur. Materiale Gerechtigkeit statt formaler Rationalität Bibliographie .................................................................................................. 177 3 ERSTE VORLESUNG Zum schwierigen Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie Ich möchte Ihnen in dieser Vorlesung die soziologische Betrachtung des Rechts nahe bringen. Es ist eine andere als die in „der“ Rechtswissenschaft gepflegte. Auch hier müsste man unterscheiden: zwischen einer rechtsdogmatischen, rechtshistorischen oder einer über das Recht reflektierenden Disziplin, wie der Rechtstheorie, der Allgemeinen Rechtslehre oder der Rechtsphilosophie. Was zeichnet also die soziologische Betrachtung des Rechts bzw. eine rechtssoziologische Spezialdisziplin aus, wie unterscheidet sie sich von der juristischen Betrachtung des Rechts und was kann sie für die Fragestellungen der Jurisprudenz, nicht zuletzt eine Antwort auf die quid-juris-Frage zu geben, tatsächlich leisten? Das sind noch Vorfragen einer Soziologie des Rechts bzw. einer rechtssoziologischen Betrachtung des Rechts, deren Beantwortung freilich ganz entscheidend für die Rolle ist, die der Soziologie im juristischen Forschungszusammenhang legitimerweise zugewiesen werden kann. Um Ihnen diese für das Verhältnis von Jurisprudenz und Soziologie auch faktisch zentrale Fragestellung zu vermitteln, habe ich mich dazu entschieden, einen Klassiker der Rechtssoziologie ins Zentrum der Darstellung zu rücken, der in besonderer Weise geeignet erscheint, dieser schwierigen Beziehung Rechnung zu tragen und der gleichzeitig wichtige, materiale Beiträge für die Entwicklung der Rechtssoziologie geleistet hat. Und nicht nur dies: Max Weber gilt für die Mutterdisziplin der Soziologie, als eine der bedeutenden, für manche gar als die mythische Gründergestalt. Wie wir im Verlauf der Vorlesung sehen werden, ist Weber in besonderer Weise also für eine solche exemplarische Rolle der Vermittlung von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise des Rechts prädestiniert. Denn Weber war Jurist, hatte eine glänzende Juristenkarriere im Kaiserreich durchlaufen, vom ersten Staatsexamen bis zur zweiten Staatsprüfung, juristischer Promotion und Habilitation, bevor er, über den Umweg der Nationalökonomie, schließlich zum Begründer, wenn nicht Erfinder der Soziologie in Deutschland wurde. Allein diese Entwicklung belegt, dass es nicht nur darum geht, wie sozusagen 4 die frohe Botschaft der Soziologie, wie traurig sie auch immer sein mag, der Jurisprudenz zu überbringen ist, sondern auch den Spuren des Rechts in der Entwicklung der Soziologie nachzugehen. Denn machen wir uns nichts vor: Den Juristen erscheint die Soziologie leicht als ein Heilsbringer, der seine Versprechungen, normative Probleme zu lösen, gar nicht einhalten kann – übrigens aus zwingenden logischen Gründen wie wir sehen werden –, während die Soziologie ihrerseits sich ihrer juristischen Erbschaft nur ungern erinnern möchte. Es gilt also nicht nur einer Reserviertheit der Rechtswissenschaft gegenüber der Soziologie auf den Grund zu gehen, sondern auch umgekehrt zu fragen warum das Recht eine Art „Stiefkind“ der Soziologie geworden ist, obwohl in der Gründungsphase der Disziplin, Rechtswissenschaft und Soziologie so eng miteinander verzahnt waren, dass man von einer „Geburt der Soziologie aus dem Geist der Jurisprudenz“ sprechen könnte. Dies möchte ich Ihnen in wenigen Gedankenstrichen in einem ersten Schritt zunächst darlegen (I), um sodann darauf einzugehen, wie bei unserem Autor, Max Weber, das Verhältnis von soziologischer und juristischer Betrachtung des Rechts bestimmt wird (II). Anschließend werden wir sehen, wie Differenzen und Gemeinsamkeiten der normativen und empirischen Betrachtungsweise von Recht am Beispiel einer sozialwissenschaftlichen Grundfrage aufscheinen, in der sich Rechtsphilosophie und Soziologie in der Fragerichtung treffen: dem Problem sozialer Ordnung (III). 5 II. Das Recht als „soziologisches Stiefkind“ „After the brilliant start by Durkheim and Max Weber about the turn of the century, it is something of a mystery why the social sciences and particularly, perhaps, sociology have shown so little interest in the study of law and legal systems.”1 1. Auf die von Parsons formulierte Frage, warum denn die Sozialwissenschaften nach dem glänzenden Auftakt bei Durkheim und Weber das Interesse am Recht verloren haben, gibt es eine Reihe von denkbaren Antworten: Zunächst figurieren „Klassiker“ zwar als Orientierungspunkte einer Disziplin, die mit ihrer Identität noch immer Probleme hat,2 gleichwohl bleibt die Ausschöpfung des Potenzials der Klassiker hinter den verbalen Beschwörungen von Rezipienten vielfach zurück, während die Orientierung an den Klassikern anderen wiederum viel zu weit geht. Dies lässt sich gerade wie wir sehen werden – am Beispiel der soziologischen Betrachtung von Recht belegen. 2. Es liegt aber auch die Vermutung nahe, die Schwierigkeiten der Soziologen mit dem Recht3 auf das zu untersuchende Objekt zurückzuführen: nämlich Struktureigenschaften des modernen Rechts selbst. Damit ist die zwangsläufige Fremdheit des modernen Rechts für alle diejenigen gemeint, die nicht zur „Profession“ der Juristen gehören. Der moderne „Mythos“ des Rechts besteht vor allem darin, dass er für den Laien undurchdringlich ist, während die Nachmittags-Court-TV-Shows gerade an dieser Illusion arbeiten: der Verstehbarkeit des Rechts. Insofern findet sich der Sozialwissenschaftler in einer vergleichbaren Situation zum Betroffenen, der sein Recht „sucht“. Die praktischen Zugangsbarrieren zum Recht mögen durch allerlei Vorkehrungen unterlaufen werden; für die theoretischen hat es sich erwiesen, dass schlichte interprofessionelle Verständigung nicht ausreicht. Die hierfür erforderlichen 1 2 3 Vgl. Talcott Parsons, Law as an Intellectual Stepchild, in: H.M. Johnson (Hrsg.), Social System and Legal Process, San Francisco 1977, S. 11-58. Wolf Lepenies hat diesen Gesichtspunkt in seiner Geschichte der Soziologie, 4 Bde., Frankfurt am Main 1981, in den Vordergrund gerückt. Helmut Schelsky kommt von der soziologischen Seite her das Verdienst zu, diese Barrieren überwunden zu haben. Vgl. insbesondere die Aufsatzsammlung Die Soziologen und das Recht, Opladen 1980. 6 kommunikativen Voraussetzungen haben in dem Austausch von Sozialwissenschaften und Jurisprudenz offensichtlich in nur unzureichender Weise vorgelegen.4 Dennoch bleibt zu bezweifeln, ob es an der Misere der Diskursbedingungen liegt, oder ob es nicht „tiefer“ liegende Momente für die merkwürdige Fremdheit von Soziologie und Jurisprudenz gibt. 3. Die paradoxe These lautet, dass die Entfremdung gerade auf einer allzu großen Nähe beruht,5 in der die Ursprünge des soziologischen Denkens und der soziologische Gehalt der juristischen Denkformen im Dunkeln blieben. Max Weber hat vor allem die methodologischen Differenzen von juristischem und soziologischem Denken in aller Schärfe pointieren wollen, wie wir später noch sehen werden; dabei ist freilich der juristische Hintergrund nicht nur in der Kategorienlehre äußerst eindrucksvoll, wenn man den Blick auf diesen Zusammenhang einmal eingestellt hat. Es würde in umgekehrter Richtung die durchgängige Soziologiefremdheit vieler Juristen plausibel machen, die auf der Suche nach dem Neuen häufig enttäuscht werden: Entweder sind die erwarteten naturwissenschaftlichen Aussagen mit den intrinsischen Schwächen entsprechender Hypothesen im Bereich der Sozialwissenschaften belastet, oder die Entfaltung von Theoriegebäuden entpuppt sich als eine schlichte Imitation von „Begriffsjurisprudenz“, die man doch überwunden glaubt. Wenn aus dieser Situation gerade ein exponierter Vertreter der Rechtssoziologie, Niklas Luhmann, das Lob der Dogmatik anstimmt, wird es dem Juristen auch noch leicht gemacht, sich auf dem beruhigten Gewissen eines traditionsreichen Faches auszuruhen. Nun ist der Versuch immer reizvoll, festgefahrene Diskussionen durch die Umkehrung der Perspektive wieder in Gang zu setzen. Die These von der Jurisprudenz als besserer Soziologie freilich ist hierfür riskant: Die Soziologen würden damit endgültig von der Sozialwissenschaft ausgeschlossen und die Juristen müssten sich in ihren Abwehrmechanismen bestärkt fühlen. Wir kommen damit zur vierten These, die zum Verständnis der systematischen Vernachlässigung von Recht in der Soziologie des „nachklassischen Zeitalters“ 4 5 Vgl. zu dieser Problematik das jüngst von Doris Lucke herausgegebene Schwerpunktheft der Zeitschrift für Rechtssoziologie, 1988 (Heft 2) über die Verwendung soziologischen Wissens in juristischen Zusammenhängen. Als allgemeines wissenschaftsgeschichtliches Problem ist dies von Wolf Lepenies unter dem treffenden Bild Gefährliche Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1989, erfasst. 7 führen soll. Weder die mangelnde Klassikerrezeption innerhalb der Soziologie, noch die Struktureigenschaften des modernen Rechts selbst und auch nicht die heimliche Wahlverwandtschaft von Rechtswissenschaft und Soziologie sind ausreichende Erklärungsmomente. 4. Vielmehr scheinen eigendynamische Momente der Disziplinentwicklung mitzuspielen, die zu einer Umkehrung der ehemals engen Verzahnung von Gesellschaftstheorie und Soziologie des Rechts geführt haben. Talcott Parsons sucht seine Antwort auf das „Mysterium“ des Verschwindens von Recht in der Soziologie aus der Eigenart der Fachentwicklung selbst zu begründen. In einer weit ausholenden wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive6 zeigt er auf, mit welchen Schwierigkeiten die traditionsreiche „ökonomische“ Perspektive zu kämpfen hat, wenn sie Recht erfassen will: im klassischen Utilitarismus interessiert Recht nur am Rande, als Randbedingung ökonomischen Handelns und der moderne Utilitarismus in seiner Variante des Marxismus könne Recht nur als abhängige Variable der Produktionsverhältnisse begreifen. Neben einer „ökonomischen“ Perspektive, die in der Systemlogik von Parsons als Ausfluss von „Ökonomie“ im sozialen Handlungssystem zu verstehen ist, wird die Dominanz der „politischen“ Sichtweise für eine Verfehlung der eigentümlichen Problemstellung von Recht verantwortlich gemacht. Und hierfür ist gerade Max Weber belangt, der zwar in besonderer Weise als Jurist und Soziologe wie Parsons bemerkt dem Recht auf der Spur war; aber in der Betonung des Zwangsmomentes komme eine unstatthafte Nähe zur politischen Problemstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungsfindung zum Ausdruck, hinter der die Autonomie des Rechts auch bei Weber verblassen würde.7 Demgegenüber stellt die „kulturelle“ Betrachtungsweise von Recht auf die steuernde Kraft übergeordneter Werte und Normen ab, in der die Eigengesetzlichkeit von Recht nunmehr aus „kultureller“ Fremdsteuerung verloren ginge. Allein die „gemeinschaftliche“ Perspektive loziert Recht in dem Funktionsfeld, das zugleich für Parsons den Kernbereich der soziologischen Perspektive überhaupt darstellt: die Integrationsebene. Dennoch gibt es auch aus diesem Blickpunkt, in dem das Problem der Erzeugung gesamtgesellschaftlicher Solidarität im Vordergrund steht, eine ausgearbeitete Theorie des Rechts noch nicht. Demnach fällt das Recht – wie Parsons 6 7 Vgl. Talcott Parsons, Law as an Intellectual Stepchild, a.a.O. Wir werden in unserer Lektüre Webers zeigen, dass dieses Bild nicht zutrifft. 8 zugesteht – durch die Maschen der ökonomischen, politischen, kulturellen und auch gemeinschaftlichen Perspektiven hindurch. In der Logik des späten Parsons liegt die Richtung einer Lösung auf der Hand: Recht muss als Phänomen begriffen werden, das als Interpenetration von ökonomischer, politischer, gemeinschaftlicher und kultureller Sphäre konstituiert wird. Wie sehr Webers Auffassung vom Recht sich in diesem analytischen Schema deuten lässt, werden wir im Verlauf der Vorlesung sehen: Disziplingeschichtlich ist dieser Vorgang als Abkoppelung der Gesellschaftstheorie vom Recht und seiner Analyse zu begreifen, nachdem in der Soziologie Max Webers und Emile Durkheims eine überaus enge Verbindung zwischen Gesellschaftstheorie und Rechtsanalyse bestanden hatte. Es ist daher kein Zufall, wenn mit der Wiederentdeckung der Klassiker für die soziologische Theorie auch das Recht wieder theoriefähig geworden ist. „Recht“ hat damit in zentralen Ansätzen der jüngeren Theoriediskussion seinen strategischen Platz zurückgewonnen.8 Die Gesellschaftstheorie greift das Recht wieder auf, ohne dass freilich ersichtlich wäre, in welchem Ausmaß sie ihrerseits von der Analyse des Rechts als einer zentralen Struktur des sozialen Lebens profitiert hat. Dieser Zusammenhang ist in der Aufbruchphase der Soziologie sinnfällig. Diese ambivalente Einschätzung von Recht ist eng mit der Mehrdeutigkeit sozialer Ordnung verknüpft. Wie „Ordnung“ und „Recht“ in der parallelen Deutung von soziologischer Theorie und Rechtsphilosophie verknüpft sind, bildet den später nachfolgenden theoretischen Bezugsrahmen unserer Rekonstruktion der Wechselwirkung von Gesellschaftstheorie und Recht. 8 Während sich die Rechtssoziologie – von wenigen Ausnahmen (etwa Luhmann) abgesehen – zu einer soziologischen Teildisziplin entwickelt hat. Diese wird in der Bundesrepublik institutionell über die Fachgemeinschaft der Rechtssoziologischen Vereinigung und die Sektion Rechtssoziologie in der DGS sowie eigene Zeitschriften (Zeitschrift für Rechtssoziologie) und Periodica (Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie) sowie die Einrichtung von Lehrbüchern befördert. 9 I. Die Unterscheidung von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise „Wenn von ‚Recht‘, ‚Rechtsordnung‘, ‚Rechtssatz‘ die Rede ist, so muß besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden.“9 Für das Verständnis Webers ist die Art der Unterscheidung von juristischer und empirischer Betrachtungsweise grundlegend. Sie berührt schwierige Probleme seiner Wissenschaftslehre, die wir hier nur in einem ersten Anlauf behandeln wollen.10 Das Problem der Unterscheidung empirischer und normativer Betrachtungsweise zieht sich wie ein roter Leitfaden durch das gesamte Werk von der „Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter“, der juristischen Promotion, über seine verschiedenen Aufsätze zur Wissenschaftslehre bis in sein Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ hinein. Ich möchte Sie im Folgenden mit den Grundgedanken dieser Unterscheidung anhand einiger markanter Zitate konfrontieren, aus dem die These einer radikalen logischen Trennung von juristischer und empirischer Begriffsbildung, normativer und empirischer Geltung einer Regel, sowie empirischer und juristischer Betrachtungsweise deutlich hervorgeht, die gleichzeitig behauptet, dass rechtssoziologische Erkenntnis nur im Hinblick auf den möglichen normativen Sinn einer Norm überhaupt möglich sei und die Frage empirischer Geltung sich von dem „idealen“ Sinn der Norm zu lösen habe, um die Faktizität der Geltung zu erfassen. 1. „Juristische Konsequenzmacherei“ 9 10 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 181. Vgl. die nach wie vor hervorragende Darstellung bei Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970, S. 93 ff. 10 und „soziale Theorie“ Interessant ist ein wenig beachteter Ausgangspunkt in der juristischen Dissertation Webers. Hier ist der Rechtshistoriker nämlich äußerst skeptisch inwieweit zum rechtshistorischen Verständnis der Solidarhaftung der Gesellschafter der Bezug auf Vorstellungen einer „Gesamtperson“ philosophischer Provenienz erforderlich sei, oder aber eigengesetzliche Überlegungen der juristischen Problemlage zur Geltung kommen. Webers Antwort ist negativ: „Wieder ein Beweis dafür, wie weit juristische Konsequenzmacherei Grundlage der einzelnen Entscheidungen der Juristen ist und wie wenig man deshalb berechtigt ist, darin Ausflüsse einer tiefliegenden philosophischen oder sozialen Theorie zu sehen.“11 2. Normativer Sinn des juristischen Begriffs, faktische Wirkungsweise der Rechtsvorstellung und die Vorbildfunktion der normativen für die empirische Begriffsbildung In den methodologischen Arbeiten Webers bricht sich dann eine radikale Trennung der juristischen und der soziologischen Betrachtungsweise Bahn, die zuerst in dem Aufsatz über „Roscher und Knies“ formuliert ist. Mit dem Aufsatz über „Roscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie“ wird die Folge methodologischer Schriften eröffnet, die zunächst noch ganz im Zeichen der schweren Erkrankung Webers steht. Aus Nervi schreibt Weber noch am 3.1.1903: „Ich hoffe, wenigstens die Stoffeinteilung für den Rest dieser verfl... Arbeit mit nach Hause zu bringen.“12 Am Ende macht Weber die Arbeit zu Roscher und Knies gar für den unvermeidlichen Rücktritt vom Amt verantwortlich. Dabei merkt Marianne Weber über diese „lastende methodologische Zufallsarbeit“13 kritisch an: „Sie 11 12 13 Max Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach südeuropäischen Quellen, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hrsg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (zuerst 1924), S. 312443 (S. 431). Zit. bei Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 274. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, a.a.O., S. 278. 11 führt Weber zum erstenmal von konkreter Stoffgestaltung fort in weitschichtige logische Problematik hinein und zwingt zur kritischen Durchdringung schon gesponnener und teilweise veralteter Gedankengewebe. Dies ist an sich nicht anregend, denn es springen dabei keine neuen Einsichten in die Realität heraus.“14 Aber für das Verständnis der uns interessierenden Frage nach der Rolle juristischer Begriffsbildung und ihrer möglichen empirischen Bedeutung ist der Beitrag grundlegend. So wird die juristische Begriffsbildung einer „kausalen“ gegenübergestellt: „Sie erfolgt, soweit sie begriffliche Abstraktion ist, unter der Fragestellung: wie muß der zu definierende Begriff X gedacht werden, damit alle diejenigen positiven Normen, welche jenen Begriff verwenden oder voraussetzen, widerspruchslos und sinnvoll, neben- und miteinander bestehen können?“15 Dies könne man zwar teleologische Begriffsbildung nennen, um diese „eigenartige ‚subjektive Welt‘ der juristischen Dogmatik“ zu kennzeichnen. Juristische Begriffsbildung ist also Abstraktion, die den zu bildenden Begriff im Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit anderen Rechtsnormen, also im Sinne der Widerspruchsfreiheit systematisch ausformt. Dieser systematisierende Blickwinkel dogmatisch-normativer Sinnfindung verliert sich, sobald der von seinem Ursprung her juristische Begriff in einen empirischen Zusammenhang gerät: „Für letztere (die juristische Dogmatik W.G.) steht der begriffliche Geltungsbereich gewisser Rechtsnormen, für jede empirisch-geschichtliche Betrachtung dagegen das faktische ‚Bestehen‘ einer ‚Rechtsordnung‘, eines konkreten ‚Rechtsinstituts‘ oder ‚Rechtsverhältnisses‘ nach Ursachen und Wirkungen in Frage. Sie finden als diesen ‚faktischen Bestand‘ in der historischen Wirklichkeit die ‚Rechtsnormen‘ einschließlich der Produkte der dogmatisch-juristischen Begriffsbildung lediglich als in den Köpfen der Menschen vorhandene Vorstellungen vor, als einen der Bestimmungsgründe ihres Wollens und Handelns neben anderen, und sie behandeln diese Bestandteile der objektiven Wirklichkeit wie alle anderen: kausal zurechnend. Das ‚Gelten‘ eines bestimmten ‚Rechtssatzes‘ kann z.B. für die abstrakte 14 15 Ebd.; Max Weber sieht dies freilich anders: „Ausdrücklich sei dabei bemerkt, daß die Frage, ob dabei für die praktische Methodik der Nationalökonomie etwas ‚herauskommt‘, a limine abgelehnt wird.“ (in: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, S. 1-145, hier S. 46/Fn. 2, in Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winkelmann, Tübingen 1988.) Max Weber, Roscher und Knies, a.a.O., S. 86 f. 12 ökonomische Theorie unter Umständen begrifflich sich auf den Inhalt reduzieren: daß bestimmte ökonomische Zukunftserwartungen eine an Sicherheit grenzende faktische Chance der Realisierung haben.“16 Wenn Weber nun von dem „begrifflichen“ Geltungsbereich eines Rechtssatzes, also doch wohl im Sinne der Begriffsjurisprudenz gewonnenen Bestimmung des normativen Normsinnes, den faktischen Geltungsbereich, bzw. das „faktische Bestehen“ einer Rechtsordnung oder eines Rechtsinstituts, unterscheidet, dann stellt sich die Frage, wie diese „Faktizität“ denn vermittelt sein soll. Bedeutet es die Befolgung des Normsinnes, oder die Anerkennung des normativen Geltungsanspruchs und wie soll die Brücke aus dem heterogenen „Reich des Normativen“ in das der „empirischen Wirklichkeit“ geschlagen werden? Hier betont Weber, dass diese Verbindung nicht über den Weg äußeren Verhaltens, indem die beobachtete Wirklichkeit also mit dem normativ gebotenen Verhalten verglichen würde, sondern indem der Normgehalt, bzw. dogmatische Rechtsinhalt, sich in den Repräsentationen des Akteurs als ein Handlungsmotiv wiederfindet, d.h. der empirische Geltungsbereich, bzw. der faktische Bestand einer Rechtsordnung oder eines Rechtsinstituts ist über die handlungsmotivierende „Vorstellung“ von der Geltung der Norm vermittelt. Insofern reicht also die normative Welt in die empirische hinein, was im Übrigen auch die selbstverständliche Erwartung jeder Rechtssetzung ist, dass sie handlungsrelevant werde. Nur: ob dieses auch geschieht, ist eine empirisch offene Frage, die nicht im Wege äußeren Zwangs verläuft, also nicht ausschließlich durch einen Erzwingungsstab zu bewerkstelligen ist, sondern durch Einwirkung auf die Vorstellungskraft „in den Köpfen“ der Rechtsunterworfenen erfolgt. Damit hat Weber also implizit wichtige Aussagen über die Wirkungsweise von Recht im normativen Sinne getroffen. Hiervon zu unterschieden ist freilich ein neuer Gedanke, dass die „politische oder soziale Geschichte“, von der Weber hier spricht, terminologisch auf juristische Begriffsbildung im Zusammenhang kausal-historischer Zurechnung zurückgreift: „Und wenn die politische oder soziale Geschichte juristische Begriffe verwenden – wie sie dies fortwährend tun – so wird das ideale Geltenwollen des Rechtssatzes hier nicht erörtert, sondern die juristischen Normen sind nur der für die Geschichte allein in Betracht kommenden faktischen Realisierung gewisser äußerer Handlungen von Mensch zu Mensch 16 Max Weber, Roscher und Knies, a.a.O., S. 87. 13 terminologisch soweit substituiert, als dies nach Lage der Sache möglich ist.“17 Damit ist eine neuer Gedanke angesprochen, der erklärt, warum die von Weber so scharf attackierte Konfusion normativ-juristischer Begriffsbildung und wortgleicher, aber logisch differenter empirischer Begriffsbildung so leicht und vielfach unbemerkt vonstatten geht. Weil es nämlich innere Gründe für die Verwendung der juristisch-normativen Begriffe im empirischen Aussagezusammenhang gibt, die auf der faktischen Eingelebtheit, Plastizität und auch vermuteten Kausalrelevanz des juristischen Begriffsarsenals beruht. So insbesondere, wenn die aus der juristischen „subjektiven Welt“, wie Weber sagt, genommenen Kollektivbegriffe für die Wirklichkeit selbst gehalten werden, obwohl sie jeweils nur die Wahrscheinlichkeit bezeichnet, dass eine bestimmte Art des Handelns faktisch abläuft: „Das Wort ist dasselbe, – was gemeint ist, etwas in logischem Sinn toto coelo Verschiedenes. Der juristische Terminus ist hier teils Bezeichnung einer oder vieler faktischer Beziehungen, teils ein ‚idealtypischer‘ Kollektivbegriff geworden. Daß dies leicht übersehen wird, ist die Folge der Bedeutung rechtlicher Termini in der Praxis unseres Alltagslebens; – und im übrigen ist der Sehfehler nicht häufiger und nicht schwerwiegender als der umgekehrte: daß Gebilde juristischen Denkens mit Naturobjekten identifiziert werden. Der wirkliche Tatbestand ist, wie gesagt: daß der juristische Terminus zur Erfassung eines rein kausal zu analysierenden realen Sachverhaltes verwendet wird und normalerweise auch verwendet werden kann, weil wir alsbald dem Geltenwollen juristischer Begriffsgebilde das faktisch existente soziale Kollektivum unterschieben.“18 Diese untergründige Verwicklung von normativer und empirischer Begriffsbildung taucht dann im gleichen Bild des „Unterschiebens“ im Kategorienaufsatz, wenn Weber von dieser Notwendigkeit als dem „Schicksal“ aller Soziologie spricht. 3. Das Kausalitätsproblem als juristische und empirisch-historische Zurechnung 17 18 Max Weber, ebd. Max Weber, a.a.O., S. 87. 14 Auch im Eduard-Meyer-Aufsatz finden wir einschlägige Aussagen über das Verhältnis von Rechtswissenschaft und empirisch-historischen Sozialwissenschaften. So sei für die leidige Kausalitätsfrage gerade die juristische Theoriebildung, insbesondere im Strafrecht, auf fruchtbare Weise für die methodologischen Probleme der empirischen, nicht-normativen Disziplinen nutzbar zu machen. Die Jurisprudenz könne nämlich dort hilfreich sein, wo „die Geschichtslogik noch im argen liegt“.19 Folgende Annahme wird von Weber zugrunde gelegt: „Daß gerade die Juristen, in erster Linie die Kriminalisten, das Problem behandelten, ist naturgemäß, da die Frage nach der strafrechtlichen Schuld, insoweit sie das Problem enthält: unter welchen Umständen man behaupten könne, daß jemand durch sein Handeln einen bestimmten äußeren Erfolg ‚verursacht‘ habe, reine Kausalitätsfrage ist, – und zwar offenbar von der gleichen logischen Struktur wie die historische Kausalitätsfrage.“20 Damit ist die Kausalitätsfrage sowohl für die strafrechtliche wie die historische „Zurechnung“ auf den Handlungsbegriff zentriert. Hierfür gibt es einen inneren Grund, wie Weber anschließend ausführt: „Denn ebenso wie die Geschichte sind die Probleme der praktischen Beziehungen der Menschen zueinander und insbesondere der Rechtspflege ‚anthropozentrisch‘ orientiert, d. h. sie fragen nach der kausalen Bedeutung menschlicher Handlungen.“21 Auf dieser „Gleichstellung“ fußt daher die Übertragung der juristischen Kausalitätslehre auf die Geschichtswissenschaft. Im Unterschied nun zur naturwissenschaftlichen Kausalanalyse sind Jurisprudenz und Geschichtswissenschaft insofern durch ein gemeinsames Erkenntnisziel verbunden, als es in beiden Wissenschaften um die Zurechnung „konkreter“ Erfolge zu „konkreten“ Ursachen geht, „nicht auf die Ergründung abstrakter ‚Gesetzlichkeiten‘.“22 Damit scheint im Übrigen das methodologische Problem der „historischen Gesetze“ vorab negativ entschieden zu sein. Wir werden allerdings sehen, wie auch die juristische Kausalanalyse ohne „Abstraktionen“ und „Regeln“ nicht auszukommen vermag, so dass auch die Geschichtswissenschaft, soweit sie nach Weber kausal deutend verfährt, diesen Charakter annehmen muss. 19 20 21 22 Ebd. Ebd., S. 269. (Hervorhebung von W.G.) Ebd., S. 270. Ebd., S. 270. 15 Dies trifft bereits auf die Auswahl der möglichen Kausalfaktoren zu, die im Strafrecht durch das spezifische strafrechtliche Interesse der Subsumtion eines Handelns unter einen Straftatbestand geprägt und in der Geschichtswissenschaft durch die spezifische historische Bedeutung bestimmt ist. Erst nach dieser Vorselektion stellt sich im Strafrecht die Frage, ob die als strafrechtlich relevant identifizierte Handlung für den tatbestandsmäßigen Erfolg „kausal“ war. Nach der sogenannten Äquivalenztheorie23, die Max Weber implizit heranzieht, werden zunächst alle „Ursachen“ als gleichwertig („äquivalent“) betrachtet. Ihr Kausalbeitrag wird, nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts24, mithilfe der folgenden Formel entwickelt: „Ursache ist jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg (in seiner konkreten Gestalt) entfiele.“ Insofern ist also die nüchterne, auf „Tatsachen“ erpichte Jurisprudenz bereits für die allererste Selektion relevanter Kausalfaktoren auf Überlegungen zum hypothetischen Geschehensablauf angewiesen. Max Weber überspringt diese Stufe, indem sogleich die Frage aufgeworfen wird, ob eine Änderung des „Erfolges“ eingetreten wäre, wenn „wir von den tatsächlichen kausalen Komponenten des Verlaufs eine oder einige in bestimmter Richtung abgeändert denken.“25 In der Geschichtswissenschaft, die ja zunächst die Legitimität hypothetischer Geschehensabläufe nach der Äquivalenzformel anerkennen müsste, reicht diese Auswahl aus der unendlichen Fülle denkbarer Kausalverbindungen ebensowenig hin wie in der Strafrechtswissenschaft. Dort ist in Anlehnung an Arbeiten des Physiologen von Kries, den Weber übrigens in seiner Freiburger Zeit kennengelernt hatte, die „Lehre von der adäquaten Verursachung“ entwickelt worden – so der Titel der Arbeit des 23 24 25 Diese wird M. von Buri (Über Causalität und deren Verantwortung, 1873) zugeschrieben. Vgl. RGSt (Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen) 1, S. 373 ff.; 5, S. 29 ff.; 75, S. 372 ff. Auf den in der Formel enthaltenen Zirkelschluss weist Günther Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Berlin / New York 19912, S. 156 hin. Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 215-290, hier S. 273. 16 Rechtsreferendars Dr. Gustav Radbruch26, die Weber seinen „Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ zugrunde legte.27 Der dogmatische Anlass zur Entwicklung der Adäquanztheorie waren die mit dem Schuldprinzip nur schwer vereinbaren Tatbestände der sogenannten „erfolgsqualifizierten“ Delikte, die eine verschärfte Haftung auch für lediglich verursachte, aber nicht einmal fahrlässig verschuldete Folgen nach damaligem Recht vorsahen.28 In seiner kritischen Studie kommt Gustav Radbruch, wie Weber richtig bemerkt, auch nur zu einer begrenzten Anwendung der Adäquanztheorie, insbesondere für die erfolgsqualifizierten Delikte. Hiermit seien dann die historischen Zurechnungsurteile vergleichbar: „In gleicher logischer Lage mit jenen Fällen befindet sich aber eben die Geschichte.“29 Wir müssen sehen, ob diese These Webers haltbar ist. In völliger Parallele zu Radbruchs Ausführungen weist Weber zunächst darauf hin, dass sich die kausale Zurechnung in einer „Serie von Abstraktionen“ vollzieht. So muss für die Frage, ob ein bestimmter „Erfolg“ nur „zufällig“ oder „adäquat“ verursacht ist, sowohl die vermeintliche causa als auch der Erfolg „generalisiert“ werden.30 Nach Radbruch stellt die objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges die Grenze des Adäquanzurteils dar: „Adäquate Bedingung eines Erfolges ist mithin eine solche Bedingung, bei deren Setzung der Erfolg objektiv voraussehbar war, eine solche Bedingung, welche ‚möglicher Träger einer subjektiven Verschuldung‘ zu sein vermag.“31 Die Frage nach dem hypothetischen Kausalverlauf hat sich damit in ein prognostisches Urteil der Möglichkeit eines Geschehensablaufs gekehrt. Um diesen Modalbegriff kreist Webers methodologisches Interesse, wenn er darauf insistiert, dass diese Art der „objektiven Möglichkeit“ nicht auf 26 27 28 29 30 31 Vgl. Gustav Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, in: Abhandlungen des kriminalistischen Seminars, hrsg. von Franz v. Liszt, Neue Folge, Erster Band, Heft 3, Berlin 1902, S. 325-407. Es würde zu weit gehen, in der Zitierung Radbruchs das persönliche Moment überzubewerten. Freilich sollte man wissen, dass Weber erst 1914 – also acht Jahre nach dem Eduard-Meyer-Aufsatz – eine Gelegenheit sah, Gustav Radbruch „aufrichtig Glück zu wünschen zu der, weiß Gott! späten und ganz unzulänglichen Anerkennung, die Sie endlich finden...“ (Max Weber, Brief vom 20. IV. 1914 an Gustav Radbruch, Nachlass Radbruch, Universität Heidelberg). Zum strafrechtsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Günther Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil, a.a.O., S. 163 f. Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, a.a.O., S. 271/Fn. 1. Gustav Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, a.a.O., S. 344 ff. Ebd., S. 348. 17 einem nur unvollständigen, daher eben nur „möglichen“ Wissen beruhte, sondern gerade umgekehrt gelte: „Die Kategorie der ‚Möglichkeit‘ kommt also nicht in ihrer negativen Gestalt zur Verwendung, in dem Sinne also, daß sie ein Ausdruck unseres Nicht- resp. Nichtvollständigwissens im Gegensatz zum assertorischen oder apodiktischen Urteil ist, sondern gerade umgekehrt bedeutet sie hier die Bezugnahme auf ein positives Wissen von ‚Regeln des Geschehens‘, auf unser ‚nomologisches‘ Wissen, wie man zu sagen pflegt.“32 Das „Möglichkeitsurteil“ hat nämlich die Gestalt, dass wir bei der Analyse von „Bestandteilen“ des Geschehens fragen, „welcher Erfolg von jedem einzelnen von ihnen, bei Vorhandensein der anderen als ‚Bedingungen‘ nach einer Erfahrungsregel zu ‚erwarten‘ gewesen wäre.“33 Die Grundlage des Kausalurteils wird somit eine „Erfahrungsregel“. Während die strafrechtliche Adäquanzlehre sich danach verzweigt, auf wessen Urteil es bei dieser Prognose für die strafrechtliche Zurechnung ankommt – den „Täter“, den allwissenden Akteur oder den „Normalakteur“ –, begnügt sich Weber mit dem Standard „allgemeiner Erfahrungsregeln“, der in die nachfolgende Formel für das historische Zurechnungsurteil mündet: „Die Erwägung der kausalen Bedeutung eines historischen Faktums wird zunächst mit der Fragestellung beginnen: ob bei Ausschaltung desselben aus dem Komplex der als mitbedingend in Betracht gezogenen Faktoren oder bei seiner Abänderung in einem bestimmten Sinne der Ablauf der Geschehnisse nach allgemeinen Erfahrungsregeln eine in den für unser Interesse entscheidenden Punkten irgendwie anders gestaltete Richtung hätte einschlagen können...“34 In dieser Formel nun sind bei Weber zwei Momente der juristischen Kausalitätslehre ineinander verschlungen: die Frage der Kausalrelevanz nach dem Modus hypothetischer Kausalverläufe und die Hervorhebung „wesentlicher“ Ursachen für das Adäquanzurteil. Hierin liegt nicht die einzige Abweichung vom juristischen Sinn des Kausalproblems. Es ist Webers Verdienst, mit dem Dogma der positivistischen Geschichtswissenschaft gründlich aufgeräumt zu haben, sie habe sich nur um die „Wirklichkeit“, nicht aber um „Möglichkeiten“ zu kümmern. Ganz unmissverständlich heißt es: „Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir 32 33 34 Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, a.a.O., S. 276. Ebd. Ebd., S. 282 f. 18 unwirkliche.“35 Hinter diese methodologische Einsicht dürfe die Historiographie nicht mehr zurückfallen. „Abstraktion“ und sogar „Phantasiegebilde“ sind nicht nur zulässig, sondern notwendige Voraussetzung des historischen Kausalurteils. Dafür bleibt der logische Status der „allgemeinen Erfahrungsregeln“ unklar. Gustav Radbruch hatte angesichts der „Vagheit des Typischen, allgemein Bekannten u.s.w.“36 die Lehre von der adäquaten Verursachung für das Strafrecht gerade abgelehnt, weil es dem richterlichen Ermessen Platz einräume. Radbruch war freilich auf einem anderen Wege für die seinerzeit in der Strafrechtsdogmatik umstrittenen erfolgsqualifizierten Delikte37 zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Es läge die rechtspositivistische – wie Radbruch meint: auf „methodologisch völlig unanfechtbarem Wege“ ermittelte – ratio legis darin, über das Erfordernis der Kausalität hinaus noch deren Adäquanz in den genannten Fällen zu verlangen: „Die Verantwortlichkeit tritt ein, wenn ein hoher Grad objektiver Voraussehbarkeit des Erfolges vorlag.“38 Hiermit trägt Gustav Radbruch der Einsicht Rechnung, dass gerade über „das Maß der Rückwirkung des Schuldproblems auf das Kausalproblem“39 die verschiedenen Kausalitätstheorien streiten. Während aber Radbruch die Adäquanzfrage zum Schuldproblem rechnet, erliegt Weber der Illusion, mit der Formel „allgemeiner Erfahrungsregeln“, die im Strafrecht den Schuldvorwurf des Nichtwissens begründen mag oder eher nicht-adäquate Kausalverläufe auszuscheiden hilft, einen Maßstab für das historische Urteil kausaler Zurechnung gefunden zu haben. Die normative Relevanz des Alltagsverstandes mag für die Strafrechtslehre gelten40, für das historische Zurechnungsurteil aber wird – wie aus der klarstellenden Formulierung Radbruchs oben ja ersichtlich war – nunmehr die Kategorie der Verantwortlichkeit in die Geschichtswissenschaft hineingetragen. 4. Normative, empirische Geltung einer Regel und 35 36 37 38 39 40 Ebd., S. 287. Gustav Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, a.a.O., S. 373. Das Erfordernis fahrlässiger „Verursachung“ des Erfolges ist erst später über § 56 in das StGB eingefügt worden. Gustav Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, a.a.O., S. 390. Ebd., S. 328. Dabei ist es lange Zeit unklar geblieben, dass es in der strafrechtlichen Kausalitätslehre um Probleme der normativen Zurechnung geht. 19 ihre „komplizierten Kausalverknüpfungen“ In einem ungemein polemischen Aufsatz, einer Auseinandersetzung mit Rudolf Stammlers Werk „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung“ (2. Aufl. 1906), der eine vernichtenden Kritik dieses Autors enthält, die von Invektiven durchsetzt ist, wenn er von dem „Monströsen“ diese Buches spricht (S.291), oder ein „Dickicht von Scheinwahrheiten, Halbwahrheiten, falsch formulierten Wahrheiten und hinter unklaren Formulierungen versteckten Nicht-Wahrheiten, von scholastischen Fehlschlüssen und Sophismen vermerkt –, welche die Auseinandersetzung mit dem Buche zu einem, schon des wesentlich negativen Ergebnisses wegen, unerfreulichen, dabei unendlich lästigen und höchst weitläufigen Geschäft machen.“ Geht man in der Werkentwicklung noch einen Schritt weiter zurück, so ist im Stammler-Aufsatz eine auf die Norm bezogene, ebenso empirisch gemeinte Rechtsbetrachtung zu finden. Dies scheint Webers Rechtsauffassung in unmittelbare Nähe zu der von Durkheim seit der Einführungsvorlesung entwickelten These zu bringen, nach der Recht als Struktur des sozialen Lebens zu betrachten sei. Freilich ist dies gerade das Modell des Rechts, das von Weber aufs Schärfste, in hochgradig gereiztem Tonfall, kritisiert wird. Er führt aus, „daß es sinnlos ist, die Beziehung der Rechtsregel zum ‚Sozialen Leben‘ derart zu fassen, daß das Recht als die – oder eine – ‚Form‘ des ‚sozialen Lebens‘ aufgefaßt werden könnte […]“41 Wie kommt Weber zu dieser Aussage, die direkt auf Durkheim gemünzt schiene, falls Weber diese Auffassung Durkheims zur Kenntnis genommen hätte?42 Sie hat zunächst damit zu tun, dass Weber nicht passt, wie Stammler „die Möglichkeit einer selbständigen und eigenartigen sozialen Wissenschaft“43 an 41 42 43 Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 349. Da sich unsere Interpretation Durkheims auf posthum bzw. sehr versteckt publizierte Arbeiten Durkheims (etwa in den Annalen der Universität von Bordeaux) stützt, ist eine Kenntnis dieser Schriften durch Weber objektiv unmöglich. Insoweit stellt sich das Problem der wechselseitigen Nichtzurkenntnisnahme von Durkheim und Weber nicht (vgl. aber zur Streitfrage Edward A. Tiryakian, A Problem for the Sociology of Knowledge: The Mutual Unawarness of Emile Durkheim and Max Weber, in: European Journal of Sociology 7, 1965, S. 330-336). Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung, 2. Aufl. Leipzig 1906, S. 109. 20 die Vorstellung des „sozialen Lebens“ koppelt. Er behauptet nämlich, die Wechselwirkungslehre Simmels z.B. führe zwangsläufig auf eine naturwissenschaftliche Betrachtung von einzelnen Menschen als Wirkverhältnis zurück. Es ist die Stammlersche „Lösung“ des Emergenzproblems, die Weber herausfordert, nämlich in der äußeren „Reguliertheit“ des sozialen Lebens eine die Einzelwesen verbindende „Form“ entdeckt zu haben. Webers Thema, das sich an der Rezension R. Stammlers entfaltet, ist auf der unmittelbar wahrnehmbaren Ebene die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit des „Regelbegriffs“, der die „stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des Empirischen mit dem Normativen auf das Maximum“44 steigen lässt. In der Stammler-Auseinandersetzung wird aber zugleich die handlungsförmige Bestimmung des Gegenstandsbereichs einer verstehenden Soziologie vorbereitet, wie sie im Kategorien-Aufsatz explizite Gestalt annimmt. Sie entzündet sich an Stammlers Bestimmung des „sozialen Lebens“, dessen formale Eigenart darin bestehe, dass es „geregeltes“ Zusammenleben sei. Eine die „Konfusion des Empirischen mit dem Normativen“ vermeidende Betrachtung stellt nach Weber nämlich zwei Bedeutungen von „Regel“ fest, die beide nicht dafür taugen, „Recht“ als „Form“ des sozialen Lebens zu betrachten. Einmal ist mit „Regel“ der gelten sollende Sinn einer Norm gemeint, eine Aufgabe, die im Skatspiel von der „Skatjurisprudenz“, im „Rechtsleben“ von der Rechtswissenschaft zur Ermittlung der „juristischen Wahrheit“ 45 erfüllt wird, die als ein „rein ideelles, vom juristischen Forscher destilliertes Objekt begrifflicher Analyse“46 behandelt wird. Das „Gelten“ der Regel in diesem Sinne ist das Ergebnis – so Weber – der gedanklichen Verbindung von „Begriffen“, ein „Gelten-Sollen“ für den juristischen Intellekt. Diesem „idealen“ Sinn der „Regel“ aber kommt keinerlei Bedeutung für die „empirische“ Geltung der Regel zu. So heißt es im Stammler-Aufsatz: „Die Rechtsregel, als ‚Idee‘ gefaßt, ist ja keine empirische Regelmäßigkeit oder ‚Geregeltheit‘, sondern eine Norm, die als ‚gelten sollend‘ gedacht werden kann, also ganz gewiß keine Form des Seienden, sondern ein Wertstandard, an dem das faktische Sein wertend gemessen wird, wenn wir ‚juristische Wahrheit‘ 44 45 46 Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 343 (eigene Hervorh.). So die Formulierung im Stammler-Aufsatz, a. a. O., S. 347. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 346. 21 wollen.“47 Wenn also dem Recht als „Idee“ die Bedeutung abgesprochen wird, scheint sich eine Nähe zu Durkheims Kritik des juridischen Idealismus einzustellen.48 Aber Weber tendiert nun keineswegs zu einem schlichten Normrealismus als „Form“ des sozialen Lebens, vielmehr gilt: „Die Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine ‚Form‘ des sozialen Seins, wie immer das letztere begrifflich bestimmt werden möge, sondern eine sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit, eine Maxime […]“49 Und das heißt: Nur soweit die am Recht beteiligten Personen, „Richter“, „Anwälte“, „Gerichtsvollzieher“, „Polizisten“ und die „Rechtsgenossen“ sich an der Vorstellung vom Gelten-Sollen der „Regel“ orientieren, ist das soziale Sein durch ein rechtliches Sollen bestimmt. Da aber das Ausmaß der empirischen Geltung ungewiss ist, was nicht zuletzt die Implementationsforschung belegt und in Durkheims Normalitätsthese der Regelabweichung auch positiv gewendet ist,50 macht nach Weber die Rede von „Recht als Form des sozialen Lebens“ keinen Sinn. Und dies hat darin seinen Grund, dass es – entgegen dem panjuristischen51 Bild unterschiedliche Relevanzstufen52 der rechtlichen Geordnetheit des Handelns gibt, die zu einer differenzierten Einschätzung der kausalen Tragweite der empirischen Rechtsordnungen für die „Kulturtatsachen“ führt, so Webers Terminologie im Stammler-Aufsatz. Weber formuliert dies nicht ohne Ironie als eine Kritik des juristischen Weltbildes. So heißt es: „Der Fachjurist freilich ist begreiflicherweise geneigt, den Kulturmenschen im allgemeinen als potentiellen Prozeßführer zu betrachten, in demselben Sinn, wie etwa der Schuster ihn als potentiellen Schuhkäufer und der Skatspieler ihn als potentiellen ‚dritten Mann‘ ansieht.“53 47 48 49 50 51 52 53 Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 349. So vor allem in der Kritik von Gaston Richard, a. a. O. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 349. Emile Durkheim, Regeln der soziologischen Methode, Neuwied und Berlin 1961 (1895), S. 155 ff. Zur soziologischen Deutung siehe auch: Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, Opladen 1990, Kap. 1, S. 4-33. Dieser treffende Ausdruck stammt von Jean Carbonnier, Sociologie juridique, Paris 1972. Vgl. die ausbaufähige Formulierung im Stammler-Aufsatz, a. a. O., S. 352. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 352. 22 Was ist nun unter „Recht“ oder „Rechtsordnung“ im Zusammenhang der Stammler-Kritik zu verstehen? Im „normativen“ Sinne kann nur die „ideelle Normordnung“ gemeint sein, deren begriffliche Vernetzung genau dem „Ideal“ entsprechen müsste, das in Webers Rechtssoziologie durch die Postulate der gemeinrechtlichen Jurisprudenz als: „formal-rationalstes“ System des Rechts ausgewiesen wird. Verwandtschaft und Differenz zu Kelsens Grundidee der reinen Rechtslehre54 sind offenkundig. Empirisch farblos bzw. unzureichend bleibt dieser Begriff der „empirischen“ Rechtsordnung. Denn es kommt ja ausschließlich auf die Vorstellung von der Geltung im jeweiligen Handeln an, so dass Weber am Ende eine rein kognitivistische Vorstellung von der empirischen Rechtsordnung zu entwickeln scheint. Weber formuliert: „Das ‚empirische Sein‘ des Rechts als Maximebildenden ‚Wissens‘ konkreter Menschen nannten wir hier: die empirische ‚Rechtsordnung‘.“55 Nun: was hat Weber aus dieser polemischen Kritik dieses von ihm sogenannten „Geschichtsspiritualisten“ an positiver Deutung der Beziehung von juristischer und empirischer Betrachtungsweise entwickelt? „Wir haben also gesehen, daß die ‚Skatregel‘ als ‚Voraussetzung‘ in drei logisch ganz verschiedenen Funktionen bei der empirischen Erörterung eine Rolle spielen kann: klassifikatorisch und begriffskonstitutiv bei der Abgrenzung des Objekts, heuristisch bei seiner kausalen Erkenntnis und endlich als eine kausale Determinante des zu erkennenden Objekts selbst. Und wir haben ferner schon vorher uns überzeugt, in wie grundverschiedenem Sinne die Skatregel selbst Objekt des Erkennens werden kann: skatpolitisch, skatjuristisch, – in beiden Fällen als ‚ideelle‘ Norm, endlich empirisch, als faktisch wirkend und bewirkt. Daraus mag man vorläufig entnehmen, wie unbedingt nötig es ist, jeweils auf das sorgsamste festzustellen, in welchem Sinn man von der ‚Bedeutung‘ der ‚Regel‘ als ‚Voraussetzung‘ irgend welchen Erkennens spricht, wie vor allem die stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des Empirischen 54 55 Vgl. hierzu Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970. Siehe auch: Noberto Bobbio, Max Weber und Hans Kelsen, in: Manfred Rehbinder und KlausPeter Tieck (Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 109-126. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 350 (letzte Hervorh. W.G.). 23 mit dem Normativen auf das Maximum steigen muß, wenn man nicht sorgsam jede Zweideutigkeit des Ausdrucks vermeidet.“56 Diese Konfusion scheint Weber selbst zu befördern, wenn es so klingt, als gäbe es in der „Regel“ überhaupt einen gemeinsamen Gegenstand von juristischer und empirischer Betrachtungsweise.57 Wegen der grundlegenden Bedeutung der nachfolgenden Schlüsselpassage, sei sie hier vollständig wiedergegeben: „Ein bestimmter ‚Paragraph‘ des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann in verschiedenem Sinn Gegenstand des Nachdenkens werden. Zunächst rechtspolitisch: man kann von ethischen Prinzipien aus seine normative ‚Berechtigung‘, ferner von bestimmten ‚Kulturidealen‘ oder von politischen, – ‚machtpolitischen‘ oder ‚sozialpolitischen‘, – Postulaten aus seinen Wert oder Unwert für die Verwirklichung jener Ideen, oder vom ‚Klassen‘- oder persönlichen Interessenstandpunkt aus seinen ‚Nutzen‘ oder ‚Schaden‘ für jene Interessen diskutieren. Diese Art von direkt wertender Erörterung der ‚Regel‘ als solcher, die uns mutatis mutandis schon beim ‚Skat‘ begegnet ist, scheiden wir hier vorerst einmal gänzlich aus, da sie logisch keine prinzipiell neuen Probleme bietet. Dann bleibt zweierlei. Man kann bezüglich des gedachten Paragraphen nun noch fragen, einmal: was ‚bedeutet‘ er begrifflich? und ein andres Mal: was ‚wirkt‘ er empirisch? Daß die Beantwortung dieser beiden Fragen Voraussetzung einer fruchtbaren Erörterung der Frage des ethischen, politischen usw. Wertes des Paragraphen ist, ist eine Sache für sich: die Frage nach dem ‚Wert‘ ist deshalb natürlich doch eine durchaus selbständige, streng von diesen beiden letztgenannten zu scheidende. Sehen wir uns nun diese beiden Fragen auf ihr logisches Wesen hin an. In beiden Fällen ist grammatisches Subjekt des Fragesatzes: ‚er‘, d.h. der betreffende ‚Paragraph‘, – und doch handelt es sich beide Male um ganz und gar verschiedene Gegenstände, die sich hinter diesem ‚er‘ verstecken. In dem ersten Fall ist ‚er‘, der ‚Paragraph‘ nämlich, eine in Worte gefaßte Gedankenverbindung, die nun immer weiter als ein rein ideelles, vom juristischen Forscher destilliertes Objekt begrifflicher Analyse behandelt wird. Im zweiten ist ‚er‘ – der ‚Paragraph‘ zunächst einmal die empirische Tatsache, daß, wer eines von den ‚Bürgerliches Gesetzbuch‘ genannten Papierfaszikeln zur Hand nimmt, an einer bestimmten 56 57 Max Weber, ebd. S. 342f. So auch Fritz Loos, a.a.O., S. 96. 24 Stelle regelmäßig einen Ausdruck58 findet, durch den in seinem Bewußtsein nach den ‚Deutungs‘-Grundsätzen, die ihm empirisch anerzogen sind – mit mehr oder minder großer Klarheit und Eindeutigkeit – bestimmte Vorstellungen über die faktischen Konsequenzen, welche ein bestimmtes äußeres Verhalten nach sich ziehen könne, erweckt werden. Dieser Umstand hat nun weiter zur empirisch regelmäßigen – wenn auch keineswegs faktisch ausnahmslosen – Folge, daß gewisse psychische und physische ‚Zwangsinstrumente‘ demjenigen zur Seite stehen, der gewissen, üblicherweise ‚Richter‘ genannten, Personen in einer bestimmten Art die Meinung beizubringen weiß, daß jenes ‚äußere Verhalten‘ in einem konkreten Fall vorgelegen habe oder vorliege. Er hat zur ferneren Folge, daß jeder auch ohne diese Bemühung jener, ‚Richter‘ genannten Personen, mit einem starken Maß von Wahrscheinlichkeit auf ein bestimmtes Verhalten andrer ihm gegenüber ‚rechnen‘ kann, – daß er m.a.W. eine gewisse Chance hat, z.B. auf die faktisch ungestörte Verfügung über ein bestimmtes Objekt zählen zu können, und daß er nun auf Grund dieser Chance sich sein Leben gestalten kann und gestaltet. Das empirische ‚Gelten‘ des betreffenden ‚Paragraphen‘ bedeutet also im letzteren Fall eine Serie von komplizierten Kausalverknüpfungen in der Realität des empirisch-geschichtlichen Zusammenhangs, ein durch die Tatsache, daß ein bestimmtes Papier mit bestimmten ‚Schriftzeichen‘ bedeckt wurde, hervorgerufenes reales SichVerhalten von Menschen zueinander und zur außermenschlichen ‚Natur‘. Das ‚Gelten‘ eines Rechtssatzes in dem oben zuerst behandelten ‚idealen‘ Sinn bedeutet dagegen ein für das wissenschaftliche Gewissen desjenigen, der ‚juristische Wahrheit‘ will, verbindliches gedankliches Verhältnis von Begriffen zueinander: ein ‚Gelten-Sollen‘ bestimmter Gedankengänge für den juristischen Intellekt. Der Umstand andererseits, daß ein solches ideales ‚Gelten-Sollen‘ eines bestimmten ‚Rechtssatzes‘ aus bestimmten Wortverbindungen von solchen empirischen Personen, welche ‚juristische Wahrheit‘ wollen, faktisch ‚erschlossen‘ zu werden pflegt, ist seinerseits natürlich wieder keineswegs ohne empirische Konsequenzen, vielmehr von der allergrößten empirisch-historischen Bedeutsamkeit. Denn auch die Tatsache, daß es eine ‚Jurisprudenz‘ gibt und die empirisch-historisch gewordene Art der sie jeweils de facto beherrschenden ‚Denkgewohnheiten‘ ist von der erheblichsten praktisch-empirischen Tragweite für die faktische Gestaltung des 58 Emendation: Bei Weber heißt es „Aufdruck“. 25 Verhaltens der Menschen schon deshalb, weil in der empirischen Realität die ‚Richter‘ und andre ‚Beamte‘, welche dies Verhalten durch bestimmte physische und psychische Zwangsmittel zu beeinflussen in der Lage sind, ja eben dazu erzogen werden, ‚juristische Wahrheit‘ zu wollen und dieser ‚Maxime‘ – in faktisch sehr verschiedenem Umfang – nachleben. Daß unser ‚soziales Leben‘ empirisch ‚geregelt‘, d.h. hier: in ‚Regelmäßigkeiten‘, verläuft, in dem Sinne, daß z.B. alltäglich der Bäcker, der Metzger, der Zeitungsjunge sich einstellt usw. usw. – diese ‚empirische‘ Regelmäßigkeit ist von dem Umstand, daß eine ‚Rechtsordnung‘ empirisch, d.h. aber: als eine das Handeln von Menschen kausal mitbestimmende Vorstellung von etwas, das sein soll, als ‚Maxime‘ also, existent ist, natürlich auf das allerfundamentalste mit determiniert. Aber nicht nur jene empirischen Regelmäßigkeiten, sondern auch diese empirische ‚Existenz‘ des ‚Rechts‘ sind natürlich etwas absolut anderes als die juristische Idee seines ‚Gelten-Sollens‘. Das ‚empirische‘ Gelten kommt ja dem ‚juristischen Irrtum‘ eventuell in genau dem gleichen Maße zu wie der ‚juristischen Wahrheit‘, und die Frage nach dem, was in concreto ‚juristische Wahrheit‘ ist, d.h. gedanklich nach ‚wissenschaftlichen‘ Grundsätzen als solche ‚gelten‘ solle oder hätte ‚gelten‘ sollen, ist logisch gänzlich verschieden von der: was de facto empirisch in einem konkreten Fall oder in einer Vielheit von Fällen als kausale ‚Folge‘ des ‚Geltens‘ eines bestimmten ‚Paragraphen‘ eingetreten ist. Die ‚Rechtsregel‘ ist in dem einen Fall eine ideale gedanklich erschließbare Norm, im andren Fall ist sie eine empirisch, als mehr oder minder konsequent und häufig befolgt, feststellbare Maxime des Verhaltens konkreter Menschen. Eine ‚Rechtsordnung‘ gliedert sich in dem einen Fall in ein System von Gedanken und Begriffen, welches der wissenschaftliche Rechtsdogmatiker als Wertmaßstab benützt, um das faktische Verhalten gewisser Menschen: der ‚Richter‘, ‚Advokaten‘, ‚Delinquenten‘, ‚Staatsbürger‘ usw. daran, juristisch wertend, zu messen und als der idealen Norm entsprechend oder nicht entsprechend anzuerkennen oder zu verwerfen, – im andern Fall löst sie sich in einen Komplex von Maximen in den Köpfen bestimmter empirischer Menschen auf, welche deren faktisches Handeln und durch sie indirekt das anderer kausal beeinflussen.“59 59 Max Weber, Rudolf Stammlers „Überwindung“, a.a.O., S. 345-348. 26 Juristische und empirische Geltung einer Regel sind also aufs Schärfste geschieden, insbesondere ist bei der Rede von der Existenz einer Rechtsnorm höchste Vorsicht geboten: sie kann im Sinne des ideell Gelten-Sollenden gemeint sein, von dem wir hoffen, dass es für die in einer Rechtsgemeinschaft zu verbindlicher Auslegung Berufenen auch als „Recht“ erkannt werde, für ihr praktisches Handeln also empirisch wirksam wird und auch noch davon zu unterscheiden ist, inwieweit die Alltagsakteure in ihrem Handeln die Geltung der Norm unterstellen und sich in ihrem praktischen Handeln danach ausrichten. 5. Zur banalen Empirie der Regelanwendung Von welchen Banalitäten die Umsetzung eines ideal geltenden normativen Sinns in der Rechtsanwendungswirklichkeit abhängt, führt Weber im Anschluss an den Diskussionsbeitrag von H. Kantorowicz über „Rechtswissenschaft und Soziologie“ auf dem ersten deutschen Soziologentag aus: „Ob nun im einzelnen Fall sich diese Rechtssätze faktisch in einem Urteil, welches, wenn wir auf den Sinn des Rechtssatzes sehen, – also eine ganz andere Frage als die soziologische stellen – „richtig“ ist, realisieren, – nun, das hängt von einer Unmasse soziologischer Umstände und ganz konkreter Dinge ab. Gewiß auch davon unter Umständen, ob der Richter etwa einen sehr starken Frühschoppen hinter sich hat. Es hängt von der Art der Vorerziehung des Juristen ab, es hängt von tausend konkreten Verhältnissen ab, die, ob sozialer oder nicht sozialer Natur, jedenfalls reine Faktizitäten sind. Das „Gelten“ eines Rechtssatzes im soziologischen Sinn ist ein empirisches Wahrscheinlichkeitsexempel über Fakta, das Gelten im juristischen Sinn ist ein logisches Soll, und das sind zwei ganz verschiedene Dinge...“60 Kontingente Umstände aus der Lebenswelt des rechtsanwendenden Richters, der Frühschoppen, oder aber auch der „Vorerziehung“ des Richters. Dies verweist auf eine empirische Richtersoziologie, wie sie Weber selbst nie betrieben hat, allenfalls als 60 Max Weber, Diskussionsrede zu dem Vortrag von H. Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, abgedr. in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, hrsg. von Marianne Weber, 2. Aufl. 1988 (zuerst 1924), S. 476-483, hier S. 478. 27 Typologie der rechtskulturell bedingten Richtergestalten im angelsächsischen und kontinentalen Recht, nicht aber als eine Untersuchung der richterlichen Lebenswelten und ihrer „Vorerziehung“ d.h. doch wohl ihrer klassen- und schichtenbedingten allgemeinen Sozialisationserfahrungen und ihrer jeweils spezifischen fachlichen „Vorerziehung“, also ihrer „juristischen Sozialisation“. So sehr also die Wirklichkeit der Rechtsanwendung vom Normideal abzuweichen vermag, so wenig kann die empirische Erforschung des Rechts umgekehrt auf die rechtsdogmatische Betrachtung verzichten. Und dies gilt auch für die Erforschung der rechtsgeschichtlichen Wirklichkeit. Nicht nur werde das rechtshistorisch Bedeutsame durch rechtsdogmatische Fragen der Gegenwart mitbestimmt, sondern als heuristisches Prinzip leitet es auch die rechtshistorische Forschung. Weber führt eine für die Rechtsgeschichte wichtige Beobachtung ein: „Darum würde ich es für unberechtigt halten, etwa den Unterschied zu machen: das Recht, das nicht mehr gilt, nur als Faktum und nicht als ‚Norm’ zu betrachten und das Recht, das noch gilt, nicht als Faktum, sondern als Norm.“ 61 D.h. Rechtsgeschichte befasst sich mit der Geschichte normativer Geltung, also dem „Geltenwollen“ eines Rechtssatzes, der durch seine bloße Historizität nicht ins rein Faktische gewendet wird, während das gegenwärtig normativ geltende Recht sowohl im Hinblick auf seinen normativen Gehalt, wie seinen faktischen Geltungsbereich betrachtet werden kann. Die Scheidelinie von Faktizität und Normativität ist der von historisch gegenwärtigem oder vergangenem gegenüber „völlig heteronom“, wie Weber wohl sagen würde. 6. Verhältnis der verstehenden Soziologie zur Rechtsdogmatik 61 Max Weber, Diskussionsrede zu dem Vortrag von H. Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, a.a.O., S. 481. 28 In dem grundlegenden Beitrag über „Einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ kommt Weber in dem älteren Teil dieses von der Entstehungsgeschichte her umstrittenen Aufsatzes in einem eigenen Abschnitt auf das „Verhältnis zur Rechtsdogmatik“ zu sprechen. Hier hat ein Perspektivenwechsel stattgefunden: es geht nicht mehr um die Bedeutung der soziologischen Betrachtung für die Jurisprudenz, sondern um die Bedeutung der Jurisprudenz, insbesondere ihrer Begriffsbildungsleistungen für die entstehende, von Weber erstmals aus der Sphäre unerträglicher Dilettantenleistungen herausgehobenen „verstehenden Soziologie“. Das Postulat des „Verstehens“ ist zunächst der Grund, warum diese Art der Soziologie sich von Kollektivbegriffen lösen muss, weil sie nicht verstehbare Subjekte konstruiert: denn ein substanzhaft vorgestellter „Staat“ ist nur vermittels seiner Akteure „verstehbar“. Wie Weber gerade in seiner Dissertation gezeigt hatte, kann es gute juristische Gründe für die Annahme einer juristischen Persönlichkeit des Staates oder auch der Handlungs- und Zurechnungsfähigkeit von „Gesellschaftsformen“ geben. Um die Konstruktion normativer Zurechnung aber geht es der Soziologie nicht: „Die Soziologie hat es dagegen, soweit für sie das ‚Recht‘ als Objekt in Betracht kommt, nicht mit der Ermittelung des logisch richtigen ‚objektiven‘ Sinngehaltes von ‚Rechtssätzen‘ zu tun, sondern mit einem Handeln, als dessen Determinanten und Resultanten natürlich unter anderem auch Vorstellungen von Menschen über den ‚Sinn‘ und das ‚Gelten‘ bestimmter Rechtssätze eine bedeutsame Rolle spielen.“62 Diese Geltungsvorstellung kann nun Anknüpfungspunkt etwa der Wirtschaftsakteure darüber sein, ob sie berechtigte Erwartungen hegen können, dass ihr Vertragspartner seinem Handeln eine Geltungsvorstellung etwa des Vertragsrechts zugrunde legt und darüber hinaus erwartet, dass gegebenenfalls auch der beurteilende Richter eine solche Erwartung der Erwartungserwartung hegt und sie in Anwendung des idealiter logisch objektiv zu ermittelnden Normsinnes auch, in wie immer gearteter Abweichung von dieser Erwartung, verbindlich bestimmen und mit den Mitteln des jeweiligen rechtlichen „Erzwingungsstabes“ durchsetzen wird. Aus diesem Tatbestand aber folgt – so Weber – das Begriffsbildungsmonopol der Jurisprudenz für die „verstehende“ Soziologie, die eben auf die 62 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 4, 1913, S. 253-294, abgedr. in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 440. 29 Vorstellungen über die Geltung einer normativen Ordnung aus Gründen der kausalen Zurechnung des Handelns besondere Rücksicht zu nehmen habe: „Es ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie: daß sie für die Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den ‚typischen‘ Fällen zeigenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muss, um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen, Sinn unterzuschieben.“63 So mag man an die begrifflichen Unterscheidungen der römischrechtlichen „actiones“ oder an die Vertragstypen des Besonderen Schuldrechts denken, die eine Trennschärfe der rechtlichen Zurechnung begründen, auch wenn sie damit die von Weber oft so bezeichneten „flüssigen“ Übergänge des Handelns künstlich einfrieren. 7. Die Unterscheidung von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise und die Differenzierung der Geltungsarten In der als Manuskript überlieferten Analyse der Beziehung von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“, in dem das ursprüngliche Konzept des Weberschen Grundrissbeitrages zum Recht besonders präsent ist64, wird die Unterscheidung von rechtssoziologischer und rechtsdogmatischer Analyse des Rechts ausdrücklich von einer Objektdifferenz geschieden und auf eine solche der reinen „Betrachtungsweisen“ zurückgeführt: „Es liegt auf der Hand, daß beide Betrachtungsweisen sich gänzlich heterogene Probleme stellen und ihre ‚Objekte‘ direkt gar nicht in Berührung miteinander geraten können, daß die65 ideelle ‚Rechtsordnung‘ der Rechtstheorie direkt mit dem Kosmos des faktischen wirtschaftlichen Handelns nichts zu schaffen hat, da beide in verschiedenen Ebenen liegen: die eine in der des ideellen Geltensollens, die andere in der des realen Geschehens.“66 Beziehungen zwischen „Wirtschaft und Recht“, worum es Weber im Anschluss an die Stammler-Auseinandersetzung geht, betreffen nicht die Beziehungen der Wirtschaft zu einer ideellen 63 64 65 66 Max Weber, ebd. In dem Stoffverteilungsplan heißt es unter 4.a) „Wirtschaft und Recht (1. prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands)“. Es folgt: ‹ideell gelten sollend[e]›. S. 181. 30 normativen Ordnung, sondern zum faktischen Geltungsbereich des Rechts. Damit also unterscheidet Weber nicht nur – wie Jellinek an den er anknüpft – einen juristischen und einen soziologischen Staatsbegriff, sondern zergliedert den Begriff des Rechts selbst in einen juristischen und einen soziologischen, wie wir noch näher sehen werden. Weber geht darüber hinaus: Sämtliche Grundbegriffe der Rechtstheorie „Recht“, „Rechtsordnung“, „Rechtssatz“ weisen eine völlig unterschiedliche Bedeutung auf, je nachdem ob sie im Sinne normativer oder faktischer Geltung gemeint sind. Die empirischen Geltungsgründe, Fügsamkeitsmotive und objektive „Garantien“, wie es in dieser für „Wirtschaft und Gesellschaft“ bestimmten Passage heißt, lassen wir hier außer Acht. Das Trennungspostulat wird nirgends so konsequent entwickelt, wie es in dem Eröffnungssatz von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ formuliert ist: „Wenn von ‚Recht‘, ‚Rechtsordnung‘, ‚Rechtssatz‘ die Rede ist, so muss besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden.“67 Dies führt unter anderem zu dem später zu vertiefenden Ergebnis, dass die rechtsdogmatische Konstruktion eines wirtschaftlichen Sachverhalts rechtshistorisch und zwischen Rechtskulturen variierend sehr unterschiedlich ausfallen kann, ohne dass der Effekt auf die Wirtschaft, nämlich Berechenbarkeit des Handelns der Wirtschaftsakteure zu garantieren, hierdurch beeinflusst wäre. 67 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Auflage, Tübingen 1980, S. 181. 31 Zwischenergebnis Das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie lässt sich nunmehr wie folgt bestimmen: (1) Die Sphäre des ideellen Geltensollens ist von der des faktischen Geschehens grundlegend geschieden. (2) Rechtswissenschaft im normativen Sinne ist daher von einer empirischen Rechtssoziologie zu unterscheiden (Konfusionsverbot). (3) Nicht das einheitliche Objekt, sondern die jeweilige Betrachtungsweise konstituiert den „Gegenstand“ der normativen und der empirischen Betrachtungsweise, die besonders scharf geschieden werden müssen, wenn auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch in der Rede von „Recht“, „Rechtssatz“ oder „Rechtsordnung“ diese logische Differenz nicht sichtbar werden lässt. (4) Nur im Hinblick auf das Geltensollende ist der historische Sinn einer Rechtsnorm ebenso wie der positiv geltendende Norminhalt zu ermitteln, ohne dass er hierdurch in die Faktizität hineinreicht. Die faktische Geltung einer Norm lässt sich, in Bezug auf vergangene oder gegenwärtige Geltung, freilich nur im Hinblick auf einen normativen Geltungssinn überhaupt beurteilen. (5) Weil normative und kausale Sphäre völlig heterogen sind, kann es auch kein direktes kausales Wirken des ideellen Normgehalts in die faktische Geltungssphäre geben. (6) Die „Wirkung“ der Norm verläuft vielmehr über die Vorstellung der Akteure von der Geltung der Normen, gleichgültig worauf diese Fügsamkeitsmotive beruhen: auf der Anerkennung des jeweiligen Normgehaltes, einer allgemeinen Rechtstreue, oder der Furcht vor dem Einsatz des Erzwingungsstabes. Freilich sei die Wirkungschance der ideellen Rechtsnorm erhöht, soweit in einem gewissen Ausmaß die Norm um deswillen befolgt werde, weil sie geboten sei, also von einem Legitimitätseinverständnis getragen sei. (7) Hat die soziologische Betrachtung die Erklärung und das Verstehen menschlichen Handelns zum Gegenstand, dann liegt es nahe, dass ihre 32 Begriffsbildungsstrategie auf diejenigen Begriffe zurückgreift, die in den praktischen Handlungsorientierungen des Menschen faktisch in weitem Umfang wirksam sind. Dies trifft wegen seiner faktisches Handeln ordnenden Leistung, insbesondere in der okzidentalen Welt zu, deren Weltbild durch einen juristischen Rationalismus auch im Alltag geprägt sei. Daher macht die menschliches Handeln verstehen wollende Soziologie Begriffsanleihen in der Jurisprudenz, auch wenn sie – insbesondere für die zahlreichen aus innerjuristischen Gründen sinnvollen, weil für Zurechnungsfragen tauglichen Kollektivbegriffe – ihnen dann einen „eigenen“, eben empirisch möglichen Sinn unterschiebt. (8) Aus diesen Annahmen ergibt sich zugleich, dass die Soziologie für die Ermittlung des ideell geltenden Sinns einer Rechtsnorm oder einer Rechtsordnung als Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Dogmatik nichts beizutragen weiß. Eine Soziologisierung der Jurisprudenz, wie sie in Teilen der Freirechtsschule bzw. einer marxistisch angeleiteten Rechtslehre postuliert wird, ist nach Weber faktisch, wegen des logischen Hiatus von Sein und Sollen zum Scheitern verurteilt, zugleich aber, wie wir sehen werden, mit dem normativen Gehalt der okzidentalen Rechtskultur unvereinbar. (9) Dies bedeutet nicht, dass die Feststellung über die faktische Geltung einer normativen Ordnung rechtlich unerheblich wäre, etwa als das Recht auf Handelsgewohnheiten oder Sitten und Gebräuche verweist, also zum Bestandteil normativ, positiv geltenden Rechts macht, insoweit es faktisch gilt. Auch ist jede Feststellung über den Schwund der faktischen Rechtsgeltung von größtem Belang für die Frage, ob eine Rechtsidee noch als Handlungsorientierung fungiert, das Rechtssystem sich an die Faktizität anpassen soll, oder aber auf seiner Fortgeltung insistieren muss und hierfür geeignete Maßnahmen zu treffen hat, die sich wieder zweckrationalen Erwägungen aufschließen, nicht aber in ihrer Finalität von einer empirischen Disziplin aus zu entscheiden sind. (10) Nur unter Beachtung dieser Differenzierung macht die soziologische Betrachtung des Rechts nach Max Weber Sinn. Sie vermeidet die naturalistische Bestimmung der Norm- und Rechtsinhalte und gewinnt für die Soziologie die Begriffsbildungserfahrung der Jurisprudenz, der 33 sie ihrerseits die Grenzen ihrer Norm- und Rechtsgeltungsansprüche aufzeigt. 34 III. Über den Zusammenhang von Handeln, Ordnung und Recht. Rechtsphilosophische und soziologische Traditionen Wenn sich der Gegenstand der Soziologie auf eine einzige Formel bringen ließe, wäre das Bewusstsein der Krise oder einer „anomischen“ Situation der Disziplin weniger verbreitet. Und dennoch wird immer wieder der Versuch unternommen, eine Problemformel zu präsentieren, die zu vereinten Anstrengungen einlädt. Bislang hat das Problem sozialer Ordnung nur wenig von seiner theoretischen Integrationskraft eingebüßt, gerade weil es auch zwischen verschiedenen Perspektiven der Soziologie zu differenzieren verhieß. Die Karriere dieses Begriffs nachzuzeichnen, hieße, eine Inhaltsgeschichte der Soziologie zu liefern. Dennoch kann auf einen Vorblick nicht verzichtet werden, in dem das Vorverständnis der Ordnungsfrage so expliziert wird, dass es die vorgestellten Arbeiten zur problematischen Verbindung von Gesellschaftstheorie und Rechtssoziologie zu sortieren hilft. Dies ist umso aussichtsreicher, als auch Rechtsphilosophie und Rechtstheorie das Problem der Ordnung zu ihrem eigenen Traditionsbestand zählen.68 In der Rückwendung zu den zentralen Figuren der Rechtsphilosophie gelangt man nunmehr zu Autoren, die – aus dem Blickwinkel der Disziplingeschichte der Soziologie – zu ihren eigenen Vorläufern zählen. Die Frage nach der Formulierung des Ordnungsproblems führt also in die gemeinsame Geschichte der Disziplinen zurück, als sich die Soziologie noch nicht aus den Rechts- und Staatswissenschaften ausgegliedert hatte.69 Der kühne Vergleich einer soziologischen und rechtsphilosophischen Lektüre von: Aristoteles, Hobbes und Rousseau soll im Folgenden Gemeinsamkeiten und Differenzen der Perspektiven beleuchten. Zugleich entwickeln wir ein erstes 68 69 Dies wird z.B. in der Rechtsphilosophie von Ryffel überdeutlich; vgl. Hans Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, Neuwied und Berlin 1969. Diese Hypothese bildete den Hintergrund der auf Autoren und Paradigmen konzentrierten Analyse einer Wechselwirkung von Gesellschaftstheorie und Recht. Dies ist nicht mit einem soziologiehistorischen Anspruch zu verwechseln, in dem nicht nur weitere Autoren (z.B. Gabriel Tarde, René Worms u.v.a.), sondern auch die Ebene der Institutionen, z.B. das „Institut International de Sociologie“, stärker zu berücksichtigen wäre, als wir es im Schlusskapitel tun werden. 35 Grundraster, in das sich die Aufbereitung soziologischer Klassiker für eine allgemeine soziologische Theorie des Rechts einordnen lässt. 1. Recht als Entscheidung der Polisgemeinschaft darüber, was gerecht ist: Aristoteles Die rechtsphilosophische Leitfrage nach der Möglichkeit und den Bedingungen materialer Gerechtigkeit70 hat in der Geschichte der Rechtsphilosophie eine Ausgestaltung gefunden, in der die Deutung des Ordnungsproblems mit einer Konzeption des Handelns korrespondiert, aus deren Verbindung Rechtsbegriff und Rechtsfunktion hergeleitet werden. Aristoteles lässt die menschliche Gemeinschaft aus der teleologischen Bestimmung des Menschen als „zoon politikon“ hervorgehen. Familie, Haus und Dorf sind soziale Gemeinschaften, die nur innerhalb einer präexistenten umfassenden Gemeinschaft denkbar sind, deren Gemeinsamkeit in der Vernunft (logos) begründet ist. Die Zurechenbarkeit von Handlungen ist die Voraussetzung des Rechts. Zurechenbar sind Handlungen dann, wenn wir auch anders hätten handeln können. Die Zurechnung wird damit auf Kontingenz gestützt. Und Kontingenz liegt der Unterscheidung von Naturrecht und positivem Recht zugrunde: „Das für politische Gemeinschaften geltende Recht zerfällt in das natürliche und das gesetzliche. Natürlich ist jenes, das überall die gleiche Kraft besitzt, unabhängig davon, ob es anerkannt ist oder nicht. Gesetzlich ist jenes, dessen Inhalt ursprünglich so oder anders sein kann und erst durch positive Festsetzung so bestimmt wird.“71 Gerechtigkeit ist nur im Staat zu verwirklichen: „Die Gerechtigkeit (dikaiosyne) aber stammt erst vom Staate her, denn das Recht ist die Ordnung der staatlichen Gemeinschaft; das Recht (dike) aber ist die Entscheidung darüber, was gerecht ist.“72 Die soziologische Interpretation73 hat die Merkmale herausgearbeitet, unter denen die Polis der Ort ist, an dem Politik, Recht und Ethik zusammenfließen. Sie ist bei Aristoteles als Gemeinschaft derer konzipiert, die zur Teilnahme am 70 71 72 73 Vgl. insbes. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1962. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129 b. Aristoteles, Politik, 1253 a. Vgl. insbes. Richard Münch, Basale Soziologie. Soziologie der Politik, Opladen 1982, S. 29-38. 36 Gerichtsverfahren und der Gesetzgebung berechtigt sind. Und dies gilt nur für den, der zu vernunftgemäßem und tugendhaftem Handeln befähigt ist, also für die ethisch Qualifizierten.74 Tugend und Gerechtigkeit als einzige in sich selbst begründete Zwecke menschlichen Handelns fallen mit der Zweckbestimmung der polis zusammen, auf die der Mensch als zoon politikon eben deshalb angewiesen ist, weil ihm als Einzelnem die Verwirklichung von Tugend und Gerechtigkeit nicht möglich ist. Diese enge Verschlingung von Handeln, Recht und Ordnung hat ihre soziologischen Grenzen in der zunehmenden Eigenständigkeit komplexer sozialer Strukturen, die „richtige“ Entscheidungen weder im Medium des ethischen Diskurses noch durch die Auswahl der ethisch Qualifizierten rein automatisch hervorbringt.75 Das Modell einer ethischen Steuerung von Recht und Politik durch ein tugendhaftes und gerechtes Handeln scheitert also an den Komplexitätsschranken (Luhmann) bzw. dem zwangsläufigen Übergang von der „Lebenswelt“ in die Sphäre der „Systemwelt“ (Habermas ).76 In der rechtsphilosophischen Deutung von Hans Welzel hingegen wird die Preisgabe der „Idee eines ideellen Naturrechts“, und zwar aus: empirischen Gründen beklagt. Nicht der Mangel an empirischen Überlegungen – wie sie von soziologischer Seite moniert werden –, sondern die empirisch orientierte Relativierung der besten Verfassung, mit starkem Mittelstand und gemäßigter Herrschaftsform, ist der Kritikpunkt eines Rechtsphilosophen! Dafür wird die Aristotelische Zurechnungslehre in ihrer Bedeutung für die strafrechtliche Lehre von Schuld und Handlung gewürdigt,77 die bis zu Pufendorf hin die philosophische und strafrechtliche Handlungslehre78 bestimmt hat und in der Erfassung des Problems der Handlungskontingenz noch heute nachwirkt. 74 75 76 77 78 Hierauf verweist auch Joachim Ritter in dem Vortrag Das Naturrecht bei Aristoteles hin. Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt am Main 1969. So argumentiert Richard Münch, Basale Soziologie. Soziologie der Politik, a.a.O., S. 38 ff. Vgl. auch Jürgen Habermas, Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie, in: Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt am Main 1968; siehe auch unten Kap. 2, Zweiter Teil. Vgl. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 35-37. Vgl. auch die interessante Rezension zu Loening, Geschichte der strafrechtlichen Zurechnungslehre, Jena 1903, die in Victor Karadys Werkverzeichnis (Emile Durkheim, Textes, Bd. 3, Paris 1975, S. 520) Durkheim zugeschrieben wird, obwohl sie – nicht signiert – nach der Zuständigkeit in der Année sociologique auf Paul Fauconnet zurückgehen dürfte (vgl. L’Année sociologique 8, 1903, S. 477-479). 37 2. Krieg und Ordnung: Das Hobbessche Problem Wenn wir den ideengeschichtlichen Zeitraffer bei Thomas Hobbes anhalten, stoßen wir auf den Theorieproduzenten, der als Ahnvater des soziologischen Ordnungsproblems79 und gleichzeitig bleibender Bezugspunkt der rechtsphilosophischen Diskussion gilt. Unter rechtsphilosophischem Vorzeichen ist die eigentliche Tat des Thomas Hobbes der Nachweis, „daß die Hauptaufgabe des Rechts nicht ist, eine ideale, sondern eine wirkliche Ordnung zu schaffen.“80 Er suspendiert den Zweifel, der sich gegenüber der Geltungskraft des positiven Rechts, aus der Sphäre eines überpositiven Rechts, erhebt. Es ist der bloße Ordnungswert der rechtlichen Ordnung, der den Naturzustand des Chaos überwindet. Und damit unternimmt Hobbes eine naturrechtliche Begründung des positiven Rechts. Ihre empirische Ausrichtung ist die „bedeutendste Komplementärtheorie zum idealistischen Naturrecht“.81 Worin liegt nun die „empirische“ Ausrichtung von Hobbes? Es ist die Annahme einer Doppelnatur des Menschen, die zur Überwindung des Naturzustandes und der Herausbildung sozialer Ordnung führt: „Der Staat ist die Resultante aus den beiden Grundkräften des Menschen: aus dem Naturtrieb, der zum Krieg aller gegen alle führt, und aus der gegenseitigen Furcht, die aus jenem bellum omnium contra omnes entsteht.“82 Die Legitimität des Staates gründet in seiner Fähigkeit, Sicherheit und Schutz zu gewähren. Hieraus resultiert zugleich die Grenze der Gehorsamkeitspflicht: „The obligation of subjects to the sovereign, is understood to last as long, and 79 80 81 82 Die gilt nicht nur für Talcott Parsons, sondern etwa auch für Ferdinand Tönnies, der über Hobbes zur Differenzierung von Gesellschaft und Gemeinschaft gelangt ist; (vgl. hierzu: Werner Gephart, Soziologie im Aufbruch. Zur Wechselwirkung von Durkheim, Schäffle, Tönnies und Simmel, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1982, S. 1-25 (S. 6 ff.). Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 115. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 116. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 117. 38 no longer, than the power lasteth, by which he is able to protect them.”83 Damit fällt die Begründung von Rechtspflichten mit der Staatsfunktion zusammen. Erst die staatliche Positivierung erhebt Darstellungen über Gut und Böse in den Status von „Recht“. Das Recht bezieht sich auf Handlungen, deren Wertnatur – ursprünglich indifferent – aus dem Bezug auf Recht erwächst in der Form des voluntaristischen Befehls: Auctoritas non veritas facit legem. Soweit Hobbes in der ordnungsbegründenden Leistung des faktischen Rechts einen materialen Wert, die Rechtssicherheit, begründet, ist die einmalige Synthese von Positivität und Idealität gelungen. So die These von Hans Welzel. Eine Einschränkung ist nur in der Verabsolutierung eines einzigen Werts: der Sicherheit des Lebens zu sehen, worin freilich der Werthorizont des Menschen nicht ausgeschöpft ist. Ordnungsproblem, Handlungslehre und Recht sind also in der rechtsphilosophischen Deutung von Hobbes auf charakteristische Weise miteinander verbunden. Die soziologische Rekonstruktion für Zwecke der soziologischen Theoriebildung unterscheidet sich von dieser, exemplarisch herausgenommenen, rechtsphilosophischen84 Deutung in unzweideutiger Weise. Das berühmte Kapitel von Talcott Parsons über „Hobbes and the problem of order“ setzt freilich mit einem fundamentalen Irrtum ein: „Hobbes is almost entirely devoid of normative thinking. He sets up no ideal of what conduct should be, but merely investigates the ultimate conditions of social life.”85 Diese letzten Bedingungen des sozialen Lebens sind aus der Vielfalt der Leidenschaften hergeleitet: Der Mensch ist kein vernunftloses Wesen. Im Rahmen einer „utilitaristischen“ Theorie – im Sinne von Parsons – muss die Rationalität der Akteure unterstellt werden. Aus ihr sind jedoch keine Grenzen für die Verfolgung ihrer Leidenschaften abzuleiten. Gewalt und Betrug sind die notwendigen Konsequenzen dieser Ausstattung des Individuums. Der Naturzustand ist erbärmlich: So heißt es im Leviathan: 83 84 85 Thomas Hobbes, Leviathan. Or the Matter, Form and Power of a Commonwealth. Ecclesiastical and Civil. The English Works of Thomas Hobbes, ed. by William Molesworth, London 1839 (1651), chapt. 21, p. 208. Vgl. etwa Otfried Höffe (Hrsg.), Thomas Hobbes. Anthropologie und Staatsphilosophie, Freiburg 1981. Talcott Parsons, The Structure of Social Action, New York 1968 (1937), S. 89. Auch Schelsky ist der juristisch normative Hintergrund entgangen. Vgl. Helmut Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Idee, Berlin 1981 (1941). 39 „... no arts; no letters; no society; and which is worst of all, continual fear, and danger of violent death; and the life of man, solitary, poor, nasty, brutish, and short.”86 Gerade die individuelle Zweck-Mittel-Rationalität führt unter der Annahme knapper Güter zum hemmungslosen Kampf aller gegen alle. Da Macht das universelle Mittel zur Erlangung knapper Güter ist, wird die Erlangung und Erweiterung von Macht zum unmittelbaren Handlungsziel. Damit ist dann der kumulative Prozess des Aufbaus und der wechselseitigen Verstärkung von Macht in Gang gesetzt: „A purely utilitarian society is chaotic and unstable, because in the absence of limitations on the use of means, particularly force and fraud, it must, in the nature of the case, resolve itself into an unlimited struggle for power; and in the struggle for the immediate end, power, all prospect of attainment of the ultimate, of what Hobbes called the diverse passions, is irreparably lost.”87 Parsons ist fasziniert, wie viele andere,88 von der Radikalität des Ansatzes, der in seinem theoretischen System sowohl die allgemeinen Grenzen des utilitaristischen Ansatzes aufweist, wie die spezifische „Lösung“ des Ordnungsproblems von Hobbes diskreditiert: Der Utilitarismus führt entweder zu einer Begrenzung der möglichen Handlungsziele oder der Begrenzung des Handlungsspielraums durch konditionale Elemente der Handlungssituation. Die Hobbessche „Lösung“, das Machtproblem durch Steigerung von Macht zu lösen, muss nach der Einschätzung Parsons’ in höchstem Maße instabil bleiben, solange die Furcht vor Sanktionen nicht durch andere Motive der Handlungsorientierung ergänzt wird. Die von Parsons sogenannte „voluntaristische“ Handlungstheorie versteht sich – wie wir weiter sehen werden – als Lösung dieser Problematik. Ein wesentliches Element zur Umgehung des utilitaristischen Dilemmas ist hierbei der Aufbau einer gemeinsamen normativen Ordnung. Soweit die Hobbes- 86 87 88 Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., chapt. 13, p. 113. Talcott Parsons, The structure of social action, a.a.O., S. 93 f. Die Deutung von Carl Schmitt hebt gegenüber dieser rationalistischen Deutung die mythologischen Aspekte im Denken von Hobbes hervor, vgl. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Köln 1982 (1938). Zu einer neueren Deutung des symbolischen Gehalts vgl. die Studie von Reinhard Brandt, Das Titelblatt des Leviathan und Goyas El Gigante, in: Udo Bernbach und Klaus M. Kodalle (Hrsg.), Furcht und Freiheit, Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, Opladen 1982, S. 203-231. 40 Lektüre von Parsons, die gerade den juristisch-normativen Anteil im Denken von Hobbes gering schätzt.89 Die Diskrepanz zwischen der rechtsphilosophischen und der soziologischen Deutung ist danach offensichtlich. Betont die Lesart von Hans Welzel gerade die faktische Ordnungsleistung des beliebigen Rechts als eines für sich: materialen Wertes, so versucht Parsons gerade darzulegen, warum die Hobbessche Lösung nicht einmal faktische „Ordnung“ erzeugen kann. 3. Das Recht als Ausgeburt der kollektiven kommunikativen Vernunft der volonté générale: Jean Jacques Rousseau In der Deutung von Welzel knüpft Jean Jacques Rousseau unmittelbar an die Problemstellung von Hobbes an, Positivität und Idealität miteinander zu versöhnen. Die Grundfrage lautet: „Trouver une forme d’association qui défende et protège de toute la force commune la personne et les biens de chaque associe, et par laquelle chacun, s’unissant à tous, n’obéisse pourtant qu’à luimême, et reste aussi libre qu’auparavant.’ Tel est le problème fondamental dont le Contrat social donne la solution.“90 Rousseau durchbricht in seiner „Lösung“ des Problems die Konsensfiktionen der Anerkennungslehre von Hobbes, die im Unterwerfungsvertrag die Herrschaft auf Dauer stellt: Nur ein gemeinschaftliches Interesse stellt die Vermittlung von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Bindung her, während ein Sonderinteresse als volonté particulière keinen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erheben kann. Damit ist also zugleich ein Moment der inhaltlichen Richtigkeit eingeführt: „Ist ein Interesse in der Weise gemeinschaftlich“ – so die Deutung von Welzel –, „daß jeder einzelne, wenn er dafür eintritt, zugleich sein eigenes wahrnimmt, so ist es allein vermöge dieser gleichmäßigen Gemeinschaftlichkeit notwendig auch inhaltlich richtig, mag es auch von objektiv-transzendentalem Standpunkt materialer Richtigkeit aus kein wahres Interesse sein.“91 89 90 91 Vgl. hierzu die bezeichnenderweise von Ferdinand Tönnies erstmals edierte Studie von Thomas Hobbes: The Elements of Law. Natural and Politic, ed. by Ferdinand Tönnies, 1889, with a new Introduction by M.M. Goldsmith, London 1969. Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit politique, in: Du contrat social et autres oeuvres politiques, Paris 1975 [Garnier] (1762), chap. I, 6, S. 243. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 159. 41 Die Richtigkeit ist danach Folge, nicht Bedingung der Allgemeinheit seines Interesses: „Er wollte die von Hobbes ungelöste Antinomie zwischen Staatsmacht und Staatszweck, zwischen potentia absoluta und potentia ordinata überwinden, den wirklichen Staat so konstruieren, daß das Richtige gleichsam von selbst herausspringt, so daß ein idealer Maßstab – gleichgültig, ob im Sinne des alten Naturrechts oder im Sinne der kantischen regulativen Idee – überflüssig wird.“92 Damit also fällt im „Contrat social“, der ja den zumeist unterschlagenen Untertitel der „Principes du droit publique“ trägt, die theoretische Begründungslast der Konstruktion von Verfahren zu, in der die volonté générale von den volontés particulières geschieden wird. Unter dem Gesichtspunkt materialer Richtigkeit freilich muss die Frage, ob das so erzeugte allgemeine Interesse auch das „Richtige“ ist, offen bleiben. Es sei denn, der wirkliche Konsens verbürgt zugleich die materiale Wahrheit der normativ formulierten Geltungsansprüche. Diese Ambivalenz von „prozeduraler Rationalität“93 und durch den richtigen Gebrauch der Vernunft enstehender Rationalität wird uns in den konkurrierenden Sichtweisen von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas wiederbegegnen. Der rechtsphilosophischen Deutung soll nunmehr eine soziologisch orientierte Interpretation gegenübergestellt werden. Emile Durkheim hat in einer frühen Schrift eine prototypische soziologische Deutung der Philosophie Rousseaus geliefert.94 Ebenso wie Parsons an Hobbes die immanente Instabilität einer reinen Machtordnung demonstriert, interessiert Durkheim die Frage, inwiefern aus den Annahmen der Naturrechtslehre Rousseaus eine Ordnung plausibel wird, die aus der normativen Durchdringung des sozialen Lebens erwachsen soll. 92 93 94 Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 160. So die Formel von Klaus Eder. Prozedurale Rationalität. Moderne Rechtsentwicklung jenseits von formaler Rationalisierung, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 7, 1986, S.130. Sie legt einerseits den Grundstein seiner eigenen Norm- und Wertlehre und macht uns zugleich plausibel, aus welchen inneren Gründen Durkheim auch in Rousseau seinen „précurseur“ findet. In der Tradition der Kritischen Theorie – man vergleiche die Einleitung Adornos zu „Philosophie und Soziologie“ – ist dies eben keineswegs selbstverständlich. Das Pariser Exil hat freilich auf ironische Weise die emigrierten Vertreter der Kritischen Theorie mit den Resten der Durkheimschule in Verbindung gebracht. 42 Die Rousseau-Deutung von Durkheim akzentuiert drei Momente, die im Übrigen für die Entwicklung seines eigenen Ansatzes von grundlegender Bedeutung sind: (a) Der Naturzustand wird dadurch charakterisiert, dass Bedürfnisse und Mittel in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen: Abundanz und ein karges Bedürfnisniveau garantieren dieses harmonische Paradies, das nur von solitären Individuen bevölkert ist. Diese nicht-soziale Ursprungsnatur des Menschen ist nach Durkheim für die Widersprüche verantwortlich, die sich aus dem Rousseau’schen System ergeben. Dennoch wird die Umwandlung des Naturzustandes in den gesellschaftlichen Zustand aus einer Annahme plausibel, die den Kern der impliziten Persönlichkeitstheorie von Durkheim ausmachen wird: die Unordnung in der Bedürfnislage des Menschen, die eintritt, sobald die begrenzenden und wohlrespektierten Kräfte der äußeren Natur zur unmittelbaren Bedürnisbefriedigung nicht mehr ausreichen. Dann reagiert die „Natur“ des Menschen mit einer Anpassung der Intelligenz, die gleichzeitig neue Bedürfnisse weckt: „Or une fois l’équilibre rompu, c’en est fait; les désordres s’engendrent les uns les autres. Une fois que la borne naturelle est franchie, il n’est plus rien qui contienne la nature dévoyée. Les passions s’engendrent les unes les autres; elle stimulent l’intelligence, celle-ci vient leur offrir des objectifs nouveaux qui les excitent, les exaspèrent. “ 95 Erst aus dieser Situation der ungehemmten und durch die Intelligenz entfesselten Bedürfniskrisen entsteht ein Gefühl von gegenseitiger Abhängigkeit der Menschen untereinander. Auf diese Weise wird der Naturzustand auf „natürliche“ Weise verlassen. (b) Im Gegensatz zur Überzeugung eines Montesquieu bewirkt die zunehmende Interdependenz, als Folge einer rudimentären Arbeitsteilung, nicht automatisch auch die soziale Kohäsion: „L’harmonie naissait (selon Montesquieu, W.G.) du partage des fonctions et de la réciprocité des services. Les individus étaient directement liés les uns aux autres et la cohésion totale n’était qu’une résultante de toutes ces affinités particulières. “ 96 Das einigende Band resultiert vielmehr 95 96 Emile Durkheim, Le contrat social de Rousseau, nach einer Vorlesung Durkheims posthum von Xavier Léon veröffentlicht in: Revue de Métaphysique et de Morale 25, 1918, S. 1-23; S. 129-161; abgedr. in: Emile Durkheim, Montesquieu et Rousseau. Précurseurs de la sociologie, Paris 1966 (S. 134). Emile Durkheim, Le contrat social de Rousseau, a.a.O., S. 186. 43 aus der volonté générale, die ganz auffällige Parallelen zu Durkheims Lehre der conscience collective aufweist.97 Der Verlust der bedürfnisbegrenzenden äußeren Natur bedarf – so Durkheim – einer neuen Kraft, die sich über das Individuum setzt und ihm den gleichen Respekt wie die verlorene Natur einflößt: Dies kann nur die soziale Welt sein, die sich in der volonté générale zu einer moralischen Kraft verdichtet. (c) Aber die volonté générale bedarf ebenso wie der individuelle „Wille“ der Manifestation, um wirksam zu werden. Diese Rolle wird durch die Gesetzgebung erfüllt. Volonté générale und Normfindung sind dabei aufs Engste miteinander verschmolzen. Emile Durkheim führt aus: „Le seul moyen de remédier au mal ... est donc d’armer la loi d’une force réelle, supérieure à l’action de toute volonté particulière. “ 98 Damit sind zugleich nach Durkheim die immanenten Instabilitäten einer Ordnung bezeichnet, die aus der Generierung allgemein verbindlicher, zwanglos akzeptierter Normen allein nicht entstehen kann. „Mais une telle cohésion n’est possible que dans une cité médiocrement étendue où la société est partout présente, où tout le monde est placé dans des conditions d’existence à peu près semblables et vit de la même vie. Chaque individu tend davantage à suivre son sens propre; et par suite l’unité politique ne peut se maintenir que grâce à la constitution d’un gouvernment tellement fort qu’il est nécessité à se substituer à la volonté collective et à dégénérer en despotisme.“99 Eine nur geringe Systemgröße, die Omnipräsenz der sozialen Kräfte und die Gleichheit der Existenzbedingungen sind also die Voraussetzungen einer normativen Ordnung, in der das Gesetz mit dem Gemeinwillen zusammenfließt, ohne dass die Normkonformität durch Zwang garantiert sein müsste. Sobald diese idealen Bedingungen verlassen sind, schlüge die normative Ordnung in eine Machtordnung um, die den selbstzerstörerischen Mechanismus der Machtentfaltung eben so auslöst, wie er in der Lösung des Thomas Hobbes angelegt ist. Während in der rechtsphilosophischen Kritik von Welzel die allergrößten Zweifel in die gleichsam automatische Selbsterzeugung einer materialen Wertethik aus dem Geiste der volonté générale gesetzt werden, ist 97 98 99 Vgl. die Formulierung ebda., S. 181, mit derjenigen der Division du travail social, Paris, 1893. Emile Durkheim, Le contrat social des Rousseau, a.a.O., S. 150. Emile Durkheim, Le contrat social de Rousseau, a.a.O., S. 187. 44 dies nicht das Problem von Durkheim. Er moniert vielmehr, dass Rousseau die Integrationsfrage als Folgeproblem sozialer Differenzierung mit dem allzu naiven Denkmittel der Interdependenz lösen wolle.100 Was vor allem in der deutschen Rousseau-Kritik als Totalitarismusverdacht erscheint,101 liest sich bei Emile Durkheim dahin, dass Rousseau das Problem sozialer Differenzierung unterschätzt habe. Die rein normenorientierte Lösung der Ordnungsfrage führt also in ein normativistisches Dilemma, entweder den Tatbestand sozialer Differenzierung zu unterschätzen, oder das Abgleiten in eine reine Machtordnung hinter den Formeln eines Gemeinwillens voluntaristisch zu kaschieren. Aus unserer Lektüre von Aristoteles, Hobbes und Rousseau kristallisiert sich als die grundlegende Fragestellung zu einer Re-Lektüre auch der soziologischen Klassiker heraus: Wie ist eine soziale Ordnung denkbar, in der „Gesellschaft“ nicht allein durch fragwürdig gewordene gemeinsame Zwecke und auch nicht durch eine bloße, in sich selbstdestruktive Machtakkumulation zusammengehalten ist, aber auch der vermeintlichen Einheit rein normativer Ordnungen misstraut wird? In der Verschränkung von (rechts-)philosophischer und soziologischer Deutung der den Disziplinen gemeinsamen Theoriefiguren Aristoteles, Hobbes und Rousseau hat sich somit ein wechselbezüglicher Problemzusammenhang von Handeln, Ordnungsbildung und Rechtsvorstellung herausgeschält. Das teleologische Handlungsmodell102 des Aristoteles begünstigt eine Ordnungsvorstellung, die auf ein gemeinsames Gut bezogen ist. Dieser „teleologischen Ordnung“ entspricht ein Rechtsbegriff, der zwischen den 100 Dass Durkheims eigene Lösung der „Formes élémentaires de la vie religieuse“ Rousseaus, im Übrigen ja auch biographisch bedeutsamen, „religion civique“ nahe steht, ist eine andere Frage. Allerdings ist zu bezweifeln, ob die Eigenschaften der religion civique dazu angetan sind, die Folgeprobleme differenzierter Gesellschaften zu lösen: „Les dogmes de la religion civile doivent êtres simples, en petit nombre, énoncés avec précision, sans explications ni commentaires.“ (Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit politique, a.a.O., S. 325) 101 So vor allem die Deutung von Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. 2. erw. Auflage, Neuwied 1968. 102 Der Sprachgebrauch knüpft an Habermas und Münch an. Zur Handlungstheorie am klarsten: Jürgen Habermas, Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M, 1982; Richard Münch, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt am Main 1982; siehe weiter unten Zweiter Teil, Kap. 2 und 3. 45 ewigen Wahrheiten des natürlichen und des kontingent gesatzten Rechts unterscheidet. Das strategische Handlungsmodell des Hobbes führt zu einer Ordnungsidee, die durch den Aufbau von Macht geprägt ist. Das Rechtskonzept bleibt durch die Entwicklung der Machtordnung bestimmt und in seiner Stabilität begrenzt. Das normenregulierte Handlungsmodell von Rousseau hat eine Entsprechung im Aufbau einer normativen Ordnung, in der Individual- und Allgemeininteresse der Intention nach untereinander versöhnt sind. Recht und Ordnung verschmelzen zu einer Einheit, die das gesamte soziale Leben durchdringt. In einem ersten Rekonstruktionsschritt wollen wir diesen Zusammenhang schematisch festhalten: Schaubild (1): Der Zusammenhang von Handeln, Ordnungsbildung und Recht Handeln Aristoteles (Schütz) Hobbes (Parsons) Rousseau (Durkheim) teleologisches Handeln strategisches Handeln Normenreguliertes Handeln Ordnung Recht teleologische Ordnung Naturrecht und positives Recht Machtordnung durch Macht garantiertes Zwangrecht normative Ordnung 46 Wie aber stellt sich dieser Zusammenhang für Weber dar? Fragen zur Wiederholung der ersten Vorlesungseinheit 1. Gibt es Gründe, warum das Recht ein soziologisches „Stiefkind“ geblieben ist, d. h. aus einer ursprünglich zentralen Position der soziologischen Forschung an die Peripherie verdrängt wurde? 2. Wenn man Gesellschaft, wie bei Talcott Parsons, in vier primäre Subsysteme der Gesellschaft (Kultur, Gemeinschaft, Politik, Wirtschaft) differenziert, wo ist dann der Ort des Rechts? 3. In Webers Analyse von Recht ist die Unterscheidung von juristischer Betrachtungsweise grundlegend. 3.1. Was bedeutet diese Unterscheidung für die Frage der empirischen und der normativen Geltung eines Rechtssatzes? 3.2. Gibt es trotz der Trennung von normativer und empirischer Sphäre ein „Hineinwirken“ der Norm in die empirische Geltungssphäre? 3.3. Inwieweit spielt hierbei die Vorstellung der Akteure von der Geltung der Norm eine Rolle? (Faktische Kraft des Normativen) 3.4. Ist angesichts der Trennungsthese eine „Soziologisierung“ der Jurisprudenz möglich oder überhaupt wünschenswert? 3.5. Nennen Sie ein Beispiel für eine normative Positivierung faktisch geltender Bräuche und Usancen im Recht (Normative Kraft des Faktischen)! 4. Schildern Sie den Prozess der wechselseitigen Abstimmung von Erwartungen (als „Einverständnishandeln“) und zeigen Sie, welche Rolle hierbei der Bezug auf „normative Ordnungen“ einnimmt! 5. Charakterisieren sie das Ordnungsproblem bei Thomas Hobbes und zeigen Sie, wie Recht und Herrschaft den Ausweg aus dem Naturzustand weisen sollen. 47 Zweite Vorlesung Recht und soziologische Begriffsbildung. Die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Jurisprudenz „Es ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie: daß sie für die Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den ‚typischen‘ Fällen zeugenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muß, um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen Sinn unterzuschieben.“103 Zu den auffälligsten Tatbeständen in der Aneignung Max Webers gehört die Tatsache, dass ganz unterschiedliche Disziplinen sich seiner Erbschaft versichern wollen: Die Wissenschaftstheorie als Zweig der Philosophie sieht Weber als einen der ihren an,104 die Geschichtswissenschaft beginnt, Max Weber für sich zu reklamieren,105 während für die Soziologie nie infrage stand, daß ihr Gründervater Soziologe und sonst gar nichts ist, was in merkwürdigem Kontrast zu der Tatsache steht, dass Weber das Wort „Soziologie“ bis in seine letzten Lebensjahre in distanzierende Anführungszeichen setzt. In diesem Bild der disziplingeschichtlichen und systematischen Zurechnungen Max Webers wird freilich seine unbestreitbare fachgeschichtliche Herkunft aus der Jurisprudenz vernachlässigt. Angesichts der gewaltigen interpretatorischen Kraftakte, die auf das Werk Max Webers zielen,106 bleibt dieser Tatbestand in sich untersuchungswürdig. Ich 103 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 4, 1913, S. 253-294, abgedr. in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 440. 104 Dies lässt sich seit Alexander von Scheltings Arbeit verfolgen, vgl. Max Webers Wissenschaftslehre. Das logische Problem der historischen Kulturerkenntnis. Die Grenzen der Soziologie des Wissens, Tübingen 1934. 105 Vgl. insbesondere die Beiträge in Jürgen Kocka (Hrsg.), Max Weber, der Historiker, Göttingen 1986. [Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 73] 106 So einerseits die religionssoziologische Pointierung bei Friedrich H. Tenbruck andererseits die „anthropologische“ Deutung einer einzigen Problemstellung im Werk Max Webers bei Wilhelm Hennis (Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987). 48 möchte im Folgenden etwas Bescheideneres unternehmen: Zunächst ist – auch noch vor der vollständigen Veröffentlichung des Briefwechsels – aus allgemein zugänglichen Quellen zu zeigen, in welcher Weise sich Max Weber als Jurist verstanden hat (I); sodann lässt sich an ausgewählten Beispielen demonstrieren, inwieweit Webers juristische Herkunft in das soziologische Denken übergreift (II), um schließlich das Verhältnis zur Religionssoziologie anzusprechen (III). I. „Öde Juristerei“ und Lob des formal-rationalen Rechts. Ambivalenzen in Webers Verhältnis zur Jurisprudenz Max Weber hat vom Studium der Rechte über die juristische Promotion, das Assessorexamen bis zur Habilitation an der juristischen Fakultät eine glatte, wenn nicht glänzende Juristenkarriere durchlaufen.107 Dennoch ist sein Verhältnis zur Jurisprudenz nicht ungetrübt; es ist vielmehr außerordentlich zwiespältig. Über die Studienmotivation wissen wir nur wenig, wenn man von dem außerordentlichen Bildungsdrang absieht, der die Jugendbriefe durchzieht. Max Weber sen. war Jurist, und so lag die Jurisprudenz wohl näher als die noch unreife Nationalökonomie oder gar die brotlosen Künste der Philosophie; von Soziologie ganz zu schweigen, die es ja allenfalls dem Namen nach und als Schreckbild positivistisch-französischer Wissenschaften gab. Aus den Jugendbriefen108 geht nun hervor, zu welchen Seiten der Jurisprudenz sich Weber hingezogen fühlte. Das Strafrecht ist ihm zuwider und überdies von minderem intellektuellem Wert. Um die auf Tanzlustbarkeiten verschwendete Zeit zu charakterisieren – Weber zog den Paukboden dem Tanzboden vor – führt er aus: „Innerhalb dieses Zeitraumes kann man den allgemeinen Teil des Reichsstrafgesetzbuches ganz durcharbeiten und den besonderen wenigstens bis 107 Wichtige Hinweise finden sich in der Einleitung von Jürgen Deininger zu: Max Weber, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, hrsg. von Jürgen Deininger, Tübingen 1986 (1891). [MWG I/2]; vgl. auch den nach meinen Recherchen erschienenen Artikel von Realino Marra, Gli studi giuridici nella formazione di Max Weber (Heidelberg 1882 – Berlino 1892), in: Materiali per una storia della cultura giuridica 29, 1989, S. 355-404. Nunmehr auch: ders. Dalla communità al diritto moderno, La formazione giuridica di Max Weber 1882-1889, Turin 1992. 108 Vgl. Max Weber Jugendbriefe. Mit einer Einführung von Marianne Weber, Tübingen o.J. (1936), S. 214. 49 zu den gemeingefährlichen Verbrechen.“109 Es kann daher auch nicht verwundern, in Webers „kulturwissenschaftlichen“ oder „soziologischen“ Schriften kaum etwas von Strafe und Verbrechen zu lesen. Dies war übrigens bei Durkheim, der eben kein gelernter Jurist war, anders. Gleichwohl hat die eher oberflächliche Befassung mit dem Strafrecht gereicht, um – u.a. unter Bezug auf Gustav Radbruch110 – nicht nur den eigenen Handlungsbegriff zu formen, sondern auch die Bedeutung hypothetischer Kausalverläufe für das historische Zurechnungsurteil zu importieren.111 Weber entspricht vielmehr dem Bild des Zivilrechtlers, dessen Schulung in der gemeinrechtlichen Doktrin die Konturen des formal-rationalen Rechts liefert: „Systemglaube“, „Lückenlosigkeit“, „vollständige Subsumierbarkeit“ der Wirklichkeit unter rechtlich geformte Tatbestände usf.112; dieser „Idealtypus“ des Rechts ist so weit vom „wirklichen“ Recht entfernt, dass die Tatsachen des Rechts gar nicht erst in den Blick zu geraten scheinen. Dennoch ist Weber als Jurist kein eingefleischter Dogmatiker, sondern von Beginn an rechtshistorisch interessiert. Und dies gilt auch für seinen Zugang zum römischen Recht. So moniert Weber in einem Studienbrief an die Mutter, dass die Darstellung der „Institutionen“ durch den berühmten Lehrer des römischen Rechts Immanuel Bekker zwar gefällig sei, dafür aber wird das Kolleg über römische Rechtsgeschichte kritisiert: „Die römische Rechtsgeschichte dagegen, die er ganz mit dem anderen Kolleg zusammenhängend liest, gefällt mir, dem Puchta noch im Kopf sitzt, (...) deshalb weniger, weil es keine Geschichte ist, sondern in erster Linie eine Darstellung des ausgebildeten römischen Zivil- und Kriminalprozesses mit wenigen rechtsvergleichenden Intermezzos.“113 109 Brief an die Mutter vom 24. Januar 1888, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 289. 110 Die Briefe Radbruchs an Weber werden demnächst im Zuge der Briefedition das Verhältnis Radbruch – Weber ein Stück weiter erhellen. 111 Vgl. Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, abgedr. in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre a.a.O., S. 215-290, S. 268 ff. Diese juristische Pointe entgeht Tenbruck in seiner Diskussion des Meyer-Aufsatzes; vgl. Friedrich H. Tenbruck, Max Weber und Eduard Meyer, in: Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988, S. 337-379. 112 Vgl. die Aufzählung der Merkmale des formal-rationalen Rechts am Schluss des § 1 der sogenannten „Rechtssoziologie“ Max Webers. 113 Brief an die Mutter vom 2. Mai 1882, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 41. 50 Damit ist vom ersten Semester an eine Vorliebe für die geschichtliche Betrachtung des Rechts zu sehen. Zum besseren Verständnis dieser Orientierung ist daran zu erinnern, dass – wie Weber durch den Bezug auf Puchta andeutet – die gemeinrechtliche Praxis als Rechtsgeschichte angelegt war, während das historisch weiter zurückliegende römische Recht als dogmatisches System entwickelt wurde. Wenn man Webers weitere Studien hinzunimmt – neben der rechtshistorischen Prägung durch die Kollegien Theodor Mommsens hat Weber die LogikVorlesung von Kuno Fischer verfolgt – so nimmt es nicht wunder, dass Spannungen gegenüber einem Studium auftreten, dessen Abschluss auf die Rechtspraxis zielt. Weber greift eben von Beginn an über die pure Rechtsdogmatik hinaus, was ihn in die typischen Examensnöte versetzt. So gesteht Weber in einem weiteren Schreiben an die Mutter vom 17. Februar 1886 zu, dass er sich zur Examensvorbereitung mit einem Repetitorium hätte befassen sollen. Noch ein Jahr zuvor hatte er über einen Kameraden der Alemannen berichtet: „ ... er schwitzt hier im Repetitorium bei einem Assessor – ich glaube, daß ich dergleichen gerade so gut nicht mitmache.“114 Am Ende schwindet freilich dem cand. jur. Max Weber jun. der Mut: „... ich glaube mich mit außerordentlich vielen Sachen abgegeben zu haben, die dabei durchaus nicht in Betracht kommen und mit denen mich zu befassen ich gerade so gut bis nach dem Examen hätte aufschieben können.“115 Es ist vielleicht interessant, mit dieser Selbstkritik die Vorschläge Emile Durkheims zur Reform des juristischen Studiums zu vergleichen.116 Gegen eine allzu formale juristische Ausbildung wäre nach Durkheims Auffassung eigentlich die Soziologie zu empfehlen. Nur angesichts der mangelnden Reife dieser Disziplin – so Durkheim! – müsse diese Aufgabe von der Rechtsgeschichte erfüllt werden. So heißt es in einer Debatte mit Charles Gide: „ ... la seule manière de donner à la jeunesse l'éducation juridique qui convient, 114 Brief aus Göttingen vom 2. November 1885, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 185. 115 Brief vom 17. Februar 1886 an die Mutter, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 202. 116 Emile Durkheim, Contribution à un débat de l'Union pour la vérité. Sur la réforme des institutions judiciaires: l'enseignement du droit, in: Libres entretiens, 3e série, Bureau de l'Union pour la vérité 1907; abgedr. in: Emile Durkheim, Textes 1, hrsg. von Victor Karady, Paris 1975, S. 243-245. 51 c'est de lui donner le sens de ce qu'est l'évolution juridique: ce que peut bien faire un enseignement historique bien conçu. “117 Max Weber hat sich also, im Spiegel der Auffassung Durkheims, durchaus auf dem richtigen Wege befunden, zumal dieser behauptet hatte: „ ... histoire et sociologie sont deux disciplines étroitement parentes et destinées à se confondre de plus en plus.“118 Nur in der Examenssituation bedauert Weber, auf den wir zurückkommen wollen, die „außerordentlich vielen Sachen“, die er hätte aufschieben können: „Jetzt indessen werde ich die Sache eben so versuchen müssen, obwohl jeder Professor zugesteht, daß die Leute, welche sich haben ‚einpauken‘ lassen, selbst ohne vorher etwas getan zu haben, weit bessere Examenskandidaten sind als die strebsamsten Lichter der Studentenschaft.“119 In Professor Frensdorff hat Weber nun wenigstens einen Privatrepetitor, auch wenn ihn dieser nur in deutscher Rechtsgeschichte examiniert. Für Webers weiteren Weg ist nun entscheidend, dass er – nach gleichwohl bestandenem Examen – das Angebot, eine deutsch-rechtliche Dissertation zu schreiben, höflichst ablehnt. Die Begründung macht Webers Verhältnis zur Rechtsgeschichte nochmals deutlich: Es sei einfach mit der noch zu gewinnenden „juristischen Bildung“ unvereinbar, neben dem bildungsträchtigen Römischen Recht bzw. dem Pandektenrecht auch noch die „Masse politischen Materials“ im preußischen Landrecht ernsthaft zu betreiben.120 So wird Weber seine juristische Promotion mit einer Arbeit über die Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter bei Levin Goldschmidt bestreiten.121 Trotz dieses eindeutigen wissenschaftlichen Interesses zieht es Weber auch zur Praxis hin. In einem weiteren Brief an Frensdorff schildert er sein unübersehbares Vergnügen an der zivilistischen Arbeit: „Wenigstens merkt man bei der gegenwärtigen Tätigkeit bei den Zivilkammern doch wieder, was längst 117 Emile Durkheim, in: Textes 1, a.a.O., S. 244. 118 Ebd. 119 Brief vom 17. Februar 1886 an die Mutter, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 202. 120 Brief an Prof. Frensdorff vom 22. Januar 1887, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 216. 121 Vgl. Max Weber, Entwickelung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten, 1889. 52 nicht mehr der Fall gewesen ist, daß man nicht einer degenerierten Spezies eines Kanzlisten, sondern ein vielfach der Verwendung zugänglicher Jurist ist und bei einer juristischen Behörde und nicht in einer schlichten Schreiberstube gedrillt wird.“122 Diese Einschätzung trifft für die Arbeit in Strafsachen nicht zu, die er schlichtweg „öde“ findet, und denen er „nie erhebliches wissenschaftliches Interesse abzugewinnen“123 vermocht hat. Aus einem Brief an Hermann Baumgarten wissen wir, dass er sich um eine Stelle als Syndikus beworben hat. Vom Scheitern berichtet er mit großem Bedauern: „Ich habe eine ganz außerordentliche Sehnsucht nach einer praktischen Tätigkeit, und diese würde hier vielleicht befriedigt und damit erledigt worden sein.“124 Weber schlägt dennoch die wissenschaftliche Laufbahn ein, wobei seine Habilitation nicht ohne Schwierigkeiten verläuft, weil sein in der Promotion rechtshistorisch anvisiertes Fachgebiet, das Handelsrecht, an der Berliner Fakultät nach Einschätzung Goldschmidts übermäßig vertreten sei.125 Die Habilitationsschrift schließlich handelt über Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht.126 Als Privatdozent ist Weber dann verpflichtet, die für sich selbst als „unwissenschaftlich“ abgelehnten Repetitorien selbst abzuhalten, wonach seine anfangs empfundene pädagogische Berufung immer mehr zu schwinden scheint. Die Bewerbung auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie in Freiburg wird danach plausibel, zumal Weber in einem Brief an Hermann Baumgarten bekennt: „Ich meinerseits bin im Laufe der Zeit ungefähr zu einem Drittel Nationalökonom geworden.“127 Und an die Mutter schreibt er, seinen 122 Brief an Prof. Frensdorff vom 16. Juni 1887, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 247. 123 Brief an Prof. Frensdorff vom 22. Januar 1887, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 215. 124 Brief vom 3. Januar 1891, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 326. 125 Brief an Hermann Baumgarten vom 3. Januar 1891, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 326. 126 Vgl. Max Weber, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, hrsg. von Jürgen Deininger, Tübingen 1986 (1891), [MWG I/2]. 127 Vgl. den Brief vom 3. Januar 1891, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 327. 53 Hoffnungen auf eine Berufung nach Freiburg Ausdruck verleihend: „Leid täte es mir, wenn ich an die doch relativ öde Juristerei geschmiedet bliebe.“128 Webers Verhältnis zur Jurisprudenz ist also mehrfach gebrochen: Der juristische Formalismus stößt ihn ab, so sehr günstig in seiner sogenannten „Rechtssoziologie“ ein Lob der juristischen Dogmatik angestimmt wird. Zu den einzelnen Rechtsgebieten fühlt sich Weber in unterschiedlichem Maße hingezogen. Das öffentliche Recht, insbesondere Staatsrecht und Verfassungsrecht, steht hinter den zivilistischen Interessen zurück. Gleichwohl reicht die Befassung mit diesem Rechtsgebiet bis in die „Rechtssoziologie“ hinein, deren erster Paragraph ursprünglich „Privates und öffentliches Recht“129 überschrieben war; die soziologische Staatslehre ist ohne den über Georg Jellinek130 vermittelten Hintergrund der neueren öffentlich-rechtlichen Dogmatik undenkbar; aber auch die Staatslehre Labands ist an verschiedenen Stellen nachzuweisen. Im Übrigen aber verkörpert Weber das Bild eines klassischen Zivilrechtlers. Diese Zweifel an der Jurisprudenz als Wissenschaft haben sich jedoch nicht in einer methodologischen Kritik der zeitgenössischen Rechtswissenschaft entladen131, sondern sie scheinen eher den Wechsel in die Nationalökonomie mitzumotivieren. 128 Brief an die Mutter vom 26. Juli 1893, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 372. 129 Vgl. das in der Bayerischen Staatsbibliothek im Max-Weber-Depot befindliche Manuskript zur sogenannten „Rechtssoziologie“. 130 In dem von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker herausgegebenen Sammelband (Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988) sind die Beziehungen Webers zur juristischen Zunft ausgeklammert. 131 Insoweit sind Manfred Rehbinders Anmerkungen über methodologische Defizite im Rechtsdenken Max Webers nicht ganz abwegig. Vgl. Manfred Rehbinder, Max Weber und die Rechtswissenschaft, in: ders. und Klaus Peter Tieck (Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 127-149. 54 II. Zur Metamorphose juristischer Begriffe in soziologische Idealtypen Was bleibt aber von dieser disziplingeschichtlichen Herkunft Max Webers aus den Traditionen der deutschen Rechtswissenschaft übrig? Ist die juristische „Sozialisation“, wie man es im soziologischen Jargon ausdrücken würde, eine bloße Jugendsünde oder vielleicht eine dauerhafte Erbschaft, wenn nicht Hypothek und als solche gar das konstitutive Merkmal seiner Art von Soziologie? Die bisherige Weber-Forschung hat sich diese Frage eigenartiger Weise nicht gestellt. Wir wollen freilich die These weiter verfolgen, dass erst vor dem disziplingeschichtlichen Hintergrund der Jurisprudenz die Eigenart der Soziologie Max Webers überhaupt verständlich wird.132 Wir sind für diese Deutung nicht einmal auf hermeneutische Kunststücke angewiesen, sondern wir müssen nur Weber selbst beim Wort nehmen: So heißt es im „Kategorienaufsatz“ in einer Schlüsselpassage für das Werk Max Webers: „Es ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie: daß sie für die Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den ‚typischen‘ Fällen zeugenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muß, um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen Sinn unterzuschieben.“133 Dieses „unvermeidliche Schicksal“, wie Weber etwas pathetisch sagt, lässt sich in einer Reihe von Schlüsselbegriffen der Weberschen Soziologie nachweisen. Der idealtypische Aufbau der sozialen Welt ist in dem älteren Teil des Kategorienaufsatzes134 nämlich um rein juristisch geprägte Ordnungstypen 132 Vgl. auch die ausführliche Argumentation in: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1993, S. 419ff. 133 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 4, 1913, S. 253-294; abgedr. in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a.a.O., S. 440. 134 So heißt es in der Eingangsfußnote des Kategorienaufsatzes: „Der zweite Teil des Aufsatzes ist ein Fragment aus einer schon vor längerer Zeit geschriebenen Darlegung, welche der methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen, darunter eines Beitrags („Wirtschaft und Gesellschaft“) für ein demnächst erscheinendes Sammelwerk dienen 55 zentriert: „Zweckverein“ und „Anstalt“ als Prototypen des „Gesellschaftshandelns“ sowie „Tausch“ und „Verband“ als Grundfiguren des sogenannten „Einverständnishandelns“.135 Die definitorische Bestimmung des „Zweckvereins“ verwendet die rein juristischen Kategorien der „Satzung“, der „Vereinsorgane“, der „Vereinszwecke“ und des „Zweckvermögens“.136 In der „Soziologischen Kategorienlehre“ wird diese Linie fortgesetzt, auch wenn die juristischen Quellen der Begriffsbildung verdeckter sind als die unmittelbare Entlehnung von Merkmalskombinationen aus der Zivilrechtsdogmatik wie im Beispiel des Zweckvereins. „Brauch“, „Sitte“, „Konvention“ und „Recht“ und insbesondere die idealtypische Konstitution von Zurechnungsmustern für fremdes Handeln über die Rechtsfigur von „Stellvertretung“ und „Repräsentation“, dies sind dem juristischen Sprachgebrauch entlehnte Begriffe, um ihnen „dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen, Sinn unterzuschieben“.137 Bevor wir weiter der Frage nachgehen, wie sich denn diese Metamorphose von juristischer Dogmatik in soziologische Idealtypen vollziehen soll, ist darzulegen, worauf die Wahlverwandtschaft von juristischer und soziologischer Begriffsbildung eigentlich gründet. Steht die Philosophie der Soziologie nicht viel näher als die Jurisprudenz? Und ist nicht ebenso die Nationalökonomie näher an den Tatbeständen von „Wirtschaft und Gesellschaft“ als die „öde Juristerei“, wie Weber in seinen Jugendjahren formulierte? Schließlich sollte doch auch die Geschichtswissenschaft eine eigene Begrifflichkeit anbieten, der sich eine historisch orientierte, verstehende Soziologie bedienen könnte. Es gibt hierfür einen sachlichen Grund, der über die professionelle Sozialisation Max Webers als Jurist – wie wir sie angedeutet haben – hinausreicht. Der Grund liegt in der Ausdeutung der Handlungsproblematik. Im älteren Teil des Kategorienaufsatzes ist dieses Thema in überraschend „moderner“ Weise formuliert. So führt Weber zunächst aus, was er unter „Gemeinschaftshandeln“ verstanden wissen möchte: „Von ‚Gemeinschaftshandeln‘ wollen wir da sprechen, wo menschliches Handeln subjektiv sinnhaft auf das Verhalten sollte und von welcher andre Teile wohl anderweit gelegentlich publiziert werden.“ (Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, a.a.O., S. 427, Fn. 1). 135 Diese Logik ist näher entwickelt in: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a.a.O. 136 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, a.a.O., S. 447. 137 Ebd., S. 440. 56 anderer Menschen bezogen wird.“138 Ein wichtiger Unterfall dieses, am Verhalten anderer orientierten Handelns (das Weber später soziales Handeln nennt) „bildet insbesondere dessen sinnhafte Orientierung an den Erwartungen eines bestimmten Verhaltens anderer und den darnach für den Erfolg des eigenen Handelns (subjektiv) geschätzten Chancen.“139 Hieraus folgt dann die Analyse des Grunddilemmas sozialer Beziehungen, das Talcott Parsons die double contingency nennt. So heißt es bei Weber: „Aber: die Erwartungen eines bestimmten Verhaltens anderer Menschen können sich bei dem subjektiv rational Handelnden auch darauf gründen, daß er ein subjektiv sinnhaftes Verhalten von ihnen erwarten, also auch dessen Charakter aus bestimmten sinnhaften Beziehungen, mit einem verschieden großen Grade von Wahrscheinlichkeit, vorausberechnen zu können subjektiv glaubt.“140 Das an bloßen „Erwartungen“ orientierte Handeln ist Weber aber nur ein äußerst labiler Grenzfall. Soweit diese Erwartungen aber gehegt werden aufgrund von normativen Ordnungen sind stabile soziale Beziehungen möglich. Damit ist die Annahme einer rudimentären normativen Ordnung in die Analyse der Grundsituation menschlichen Handelns eingebaut. Und das heißt: „Recht“ ist ein zentraler soziologischer Grundtatbestand. Nur wenn die Akteure ihre Erwartungen und die Erwartungserwartungen kontrafaktisch stabil halten141, sind fortdauernde soziale Beziehungen und perennierende soziale Gebilde möglich. Diese Leistungen werden vom „Recht“ nicht nur durch die Bereitstellung eines Erzwingungsstabes erbracht, sondern durch die kognitive Vorstrukturierung von typischen Erwartungen und Erwartungserwartungen ermöglicht. Das Recht enthält also geronnene, kondensierte Erwartungsbilder oder „Typisierungen“, wie Alfred Schütz142 sie genannt hat. Wenn also die conditio humana durch das bei Weber formulierte Problem der Erwartungsbildung bestimmt ist und die Aufgabe der Soziologie darin besteht, die so bedingte Eigenart von Handeln zu verstehen und in ihrem Ablauf zu 138 139 140 141 Ebd., S. 441. Ebd. Ebd. Vgl. die Formulierungen von Niklas Luhmann, vor allem in: Rechtssoziologie, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1972. 142 Vgl. hierzu auch meine Deutung von Alfred Schütz, der paradoxerweise als gelernter Bankjurist das Recht aus seinen Analysen der Lebenswelt verbannt hat: Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a.a.O., S. 71-76. 57 erklären, dann besitzen die im Recht kondensierten Erwartungsbilder einen hervorragenden, methodologischen Stellenwert für die kognitive Strukturierung sozialer Handlungszusammenhänge. Aus dieser Analyse erklärt sich auch, dass Weber bei dieser juridischen Grundlegung der Soziologie mit der neukantianischen Scheidung von Tatsachen und Werturteilen gar nicht in Konflikt gerät.143 Denn die Verwendung rechtsdogmatischer Figuren für die Bildung soziologischer Idealtypen ist – wie wir sahen – auf deren kognitiven Aspekt beschränkt. Wo die juristische Konstruktion der sozialen Welt von deren Überkomplexität „entlastet“ – und sei es durch eine analoge „Parallelwertung in der Laiensphäre“ –, kann sie Anknüpfungspunkte für die soziologische Begriffsbildung liefern. Und je mehr bestimmte Rechtsvorstellungen in einer Rechtskultur auch faktisch gelten, umso mehr ist diese juridische Technik der soziologischen Begriffsbildung den tatsächlichen Abläufen sozialen Handelns auch „adäquat“. Nicht mehr und nicht weniger ist also mit Webers Diktum vom „unvermeidlichen Schicksal aller Soziologie“ gemeint.144 Läßt sich also das Werk Max Webers auf seine juristischen Fundamente reduzieren? Gibt es endlich das Passepartout, mit dem sich alle verborgenen Winkel des vielschichtigen Werkes aufschließen lassen? Diese Art des Reduktionismus erscheint mir ebenso einseitig wie die umstandslose Vereinnahmung Webers als Soziologe, Historiker, Nationalökonom oder: Politiker.145 Auch wird die Auswertung der noch unveröffentlichten nationalökonomischen Vorlesungen und des gedruckten „Grundrisses“ über die ökonomischen Hintergründe im Denken Webers wichtige Aufschlüsse geben. Und schließlich scheint das zentrale Thema der religionssoziologischen Schriften, das Verhältnis von „Ethik und Welt“, mit der juristischen Perspektive nur wenig gemein zu haben. Anstelle einer hier in toto gar nicht zu leistenden 143 Diese Differenz ist im Stammler-Aufsatz minutiös dargelegt; vgl. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, abgedr. in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a.a.O., S. 291-383. 144 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, a.a.O., S. 440. 145 Andererseits wäre es nicht weniger verfehlt, Webers Leidenschaft für Politik auszublenden. Hierzu nach wie vor unübertroffen: Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, 2. überarb. und erw. Aufl., Tübingen 1974. 58 disziplingeschichtlichen Verortung Max Webers146 wollen wir deshalb einen Blick auf seine religionssoziologische Optik werfen, die den juristischen Blickwinkel in charakteristischer Weise ergänzt. III. Das religionssoziologische Fundament einer juristisch inspirierten Sicht der sozialen Welt Insbesondere Webers Entdeckung der Eigenart des okzidentalen Rationalismus ist nicht – zumindest nicht unmittelbar – aus dem juristischen Denkansatz hervorgegangen, sondern einer, mit der Protestantismusstudie eingeleiteten, „Kehre“ zu verdanken.147 Und diese fragt nach dem Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus, ohne dass auf der einen oder der anderen Seite der Wechselwirkung das Recht als Indikator oder Kausalfaktor ins Spiel käme. Es wird zwar ein Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem „Geist des kapitalistischen Rechts“ nicht gerade ausgeschlossen. So heißt es in einer Fußnote am Ende der Protestantismusstudie: „Es wäre ein leichtes gewesen, darüber hinaus zu einer förmlichen ‚Konstruktion‘, die alles an der modernen Kultur ‚Charakteristische‘ aus dem protestantischen Rationalismus logisch deduzierte, fortzuschreiten.“148 Eine solche Deduktion hat Weber für das Recht auch gar nicht erst versucht. Denn bei aller Wahlverwandtschaft des englischen Puritanismus mit einem systematisch kodifizierten Recht149 hat sich in den Kernländern der 146 Dies ist, trotz des außerordentlich informativen Sammelbandes über Max Weber und seine Zeitgenossen (hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker. Göttingen 1988), ein Desiderat der Weber-Forschung. 147 Helwig Schmidt-Glintzer vertritt die Auffassung, dass für Weber der Gegensatz von Okzident und Orient lange vor der Ausarbeitung eines religionssoziologischen Programms selbstverständlich war. Vgl. den Hinweis auf die „Agrarverhältnisse im Altertum“ in der Einleitung zu: Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus: Schriften 1915-1920, hrsg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko, Tübingen 1989, [MWG I/19] S. 12 ff. 148 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Nach der überarbeiteten Fassung in den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, Bd.1, Tübingen 1920, Fn. 3 von S. 205, S. 206. 149 In der sogenannten „Rechtssoziologie“ heißt es: „Die englischen Puritaner haben ein solch systematisch kodifiziertes Recht ebenso wie die römischen Plebejer und das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts verlangt.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 471). 59 protestantischen Ethik ja ein ganz anderer Typus des Rechts durchgesetzt, der Weber – trotz aller verbalen Beschwörungen des Gegenteils – als schlichtweg defizitär gegenüber dem systematischen, formal rationalisierten Kontinentalrecht erscheint. Gleichwohl ist das Recht für die Charakterisierung des okzidentalen Rationalismus keineswegs belanglos. In der „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie gehört die Rechtslehre zu den Errungenschaften, die in den außerokzidentalen Wissenschaften nicht entwickelt wurden: „Für eine rationale Rechtslehre fehlen anderwärts trotz aller Ansätze in Indien (Mimamsa-Schule), trotz umfassender Kodifikationen besonders in Vorderasien und trotz aller indischen und sonstigen Rechtsbücher, die streng juristischen Schemata und Denkformen des römischen und des daran geschulten okzidentalen Rechts.“150 Aber nicht allein die Entwicklung der Rechtslehre als Wissenschaft, sondern ihre Implementation in die „Sozialordnung“ ist das für Weber Entscheidende. Denn der rationale privatwirtschaftliche Betrieb mit stehendem Kapital und zuverlässiger Kalkulation ist nur auf dem Boden eines berechenbaren Rechts und einer berechenbaren Verwaltung möglich. Dass aber dieser funktionale Zusammenhang151 auf bedeutende wirtschaftliche Interessen verweist, erklärt noch nicht, warum die auch in anderen Kulturen vorhandenen kapitalistischen Interessen ein solches Recht nicht geschaffen haben.152 Nach der „Vorbemerkung“ zu urteilen, sind die vergleichenden religionssoziologischen Studien also auch als Antwort auf die rechtshistorische Frage zu lesen, warum nur im Okzident ein formal-rationales Recht entstanden ist. „Recht“ würde danach also mit anderen Worten durch „Religion“ erklärt. Damit zeichnet sich übrigens eine Konvergenz mit Durkheims These vom religiösen Charakter der sozialen Institutionen ab, insbesondere vom religiösen 150 Max Weber, Vorbemerkung zu: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.1, Tübingen 1920, S. 2. 151 Vgl. die Formulierungen der Vorbemerkung zu: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.1, a.a.O., S. 11. 152 Daneben ist der strukturelle Zusammenhang bedeutsam: die Trennung von „Haushalt und Betrieb“ sowie die differenzierungstheoretisch deutbare Trennung verschiedener Sphären wird aufgrund bestimmter rechtsdogmatischer Figuren (Sonderung von Betriebsvermögen und privatem Vermögen, Inkompatibilitätsregeln etc.) erleichtert, wenn nicht erst ermöglicht. Richard Münch hat demgegenüber darauf hingewiesen, wie gerade im Rechtsbegriff Webers weniger Differenzierung als „Interpenetration“ herrscht (vgl. Richard Münch, Die Struktur der Moderne, Frankfurt am Main 1984, S. 380 ff.). 60 Ursprung des Rechts.153 Aber lassen sich „Recht und Religion“ wirklich in ein solches Determinationsverhältnis pressen? So wie sich ein trivialisierter Marx ökonomisieren ließ, müssten wir dann Weber und Durkheim einen idealistischen Reduktionismus der diversen Kulturformen auf eine einzige Basisstruktur, nämlich die Religion, vorwerfen. Mit Webers abstraktester Formel zur Erklärung des okzidentalen Rationalismus sind solche reduktionistischen Strategien jedenfalls nicht vereinbar. Es heißt ja in der Schlüsselpassage, dass es für den kulturgeschichtlichen Unterschied zur außerokzidentalen Welt allein darauf ankomme, „welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert wurden.“154 Sind nun „Recht“ und „Religion“ als solche „Sphären“ zu konstruieren, die sich durch unterschiedliche „Eigengesetzlichkeiten“ auszeichnen? Wir kehren damit über einen vermeintlichen Umweg zur Frage zurück, warum sich Weber neben „Recht“ als einem Grundmuster sozialer Handlungszusammenhänge – aus dem sich gar, wie wir sahen, die Kategorien des soziologischen Denkens herleiten – auf die Problematik der Religion überhaupt einlassen muss. Oder anders formuliert: Wodurch ist die „Eigengesetzlichkeit“ der religiösen Sphäre geprägt und wodurch unterscheidet sie sich von der ihr gegenüber fremden „Eigengesetzlichkeit“ des Rechts? In der „Einleitung“ in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen ist das Problem der Religionen so umschrieben: „Stets steckte dahinter eine Stellungnahme zu etwas, was an der realen Welt als spezifisch ‚sinnlos‘ empfunden wurde und also die Forderung: daß das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie sinnvoller ‚Kosmos‘ sei oder: werden könne und solle.“155 Dieses metaphysische Deutungsbedürfnis ist aber, wie Weber in der systematischen „Religionssoziologie“156 ausführt, erst das Ergebnis eines 153 Dieser religiöse Ursprung des Rechts ist näher entwickelt in: Emile Durkheim, Leçons de sociologie. Physique des moers et du droit, Paris 1969 (1950). Siehe hierzu auch die Hinweise bei Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, Opladen 1990, S. 144 ff. 154 Max Weber, „Vorbemerkung“, a.a.O., S. 12. 155 Max Weber, Einleitung, in den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, Bd.1, Tübingen 1920, S. 253. 156 Über die Zusammenhänge von Webers Grundrissbeitrag mit den vergleichenden religionssoziologischen Untersuchungen vgl. auch Wolfgang Schluchter, Max Webers Religionssoziologie. Eine werkgeschichtliche Rekonstruktion, in: Max Webers Sicht des antiken Christentums, Frankfurt am Main 1985, S. 525-560. 61 Entwicklungsprozesses, in dem sich die „rein“ religiöse Problematik von anderen Zweckbestimmungen ablöst: „Denn der ‚Sinn‘ des spezifischen religiösen Sichverhaltens wird, parallel mit jener Rationalisierung des Denkens, zunehmend weniger in rein äußeren Vorteilen des ökonomischen Alltags gesucht und insofern also das Ziel des religiösen Sichverhaltens ‚irrationalisiert‘, bis schließlich diese ‚außerweltlichen‘, d.h. zunächst: außerökonomischen Ziele als das dem religiösen Sichverhalten spezifische gelten.“157 Nach Weber setzt also erst die Ausdifferenzierung der Religion deren Eigengesetzlichkeit frei, während in Durkheims religionssoziologischem Universalismus der religiöse Ursprung aller Institutionen apriori feststeht. 157 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 259. 62 Exkurs Die Verschlingung von Recht und Religion in der Soziologie Emile Durkheims Seit den „Cours de science sociale“158 in Bordeaux war Emile Durkheim bemüht, die sozialen Tatsachen, die „faits sociaux“, in ihren objektiven Manifestationen zu erfassen. In der „science positive de la morale en Allemagne“ geschult, war der äußerlich erkennbare und objektivierbare Indikator der „vie sociale“ zunächst das Recht. Dies mag damit zu tun haben, dass in Bourdeaux noch unklar war, wo dieser „Cours de science sociale“ im Spektrum der Fakultäten zu plazieren sei. So könnte die verblüffende Dominanz des Rechts als Indikator der sozialen Strukturen von den Erwartungen der Rechtsstudenten mitgeprägt sein; Durkheims Studie zur Arbeitsteilung setzt diese Linie freilich fort.159 So gilt ja in der „Division du travail social“ das Recht als methodologischer Indikator für den Wandel der Integrationsformen von der „solidarité mécanique“ zur „solidarité organique“. Die Argumentation ist geläufig. Interessant ist jedenfalls, dass das Recht über die methodologische Funktion hinaus eine materiale Bedeutung erhält. Recht ist nämlich nicht nur Indikator, sondern auch heimlicher Integrator der durch den Prozess funktionaler Differenzierung erodierenden Gesellschaft, wie die Überlegungen zu den pathologischen Formen der Arbeitsteilung belegen.160 In den Regeln der soziologischen Methode (1895) schließlich hat sich Recht als soziologisches Paradigma verfestigt: das „fait social“ katexochen ist das von außen, mit Zwangsgewalt dem Individuum oktroyierte Recht, wie auch die Einzelbeispiele belegen.161 Überdies ist das soziologische Denken selbst normativ strukturiert, denn es geht Durkheim nicht um irgendwelche erkenntnislogischen Überlegungen, sondern um die, materiale Richtigkeit verbürgenden, Regeln der 158 Vgl. Emile Durkheim, Cours de science sociale. Leçon d'ouverture, in: Revue internationale de l'enseignement 15, 1888, S. 23-48. 159 Emile Durkheim, De la division du travail social, Paris 1973 (1893). 160 Vgl. insbesondere das erste Kapitel des dritten Buches der „Division“; siehe auch Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a.a.O. 161 So heißt es an zentraler Stelle: „ Quand je m'acquitte de ma tâche de frère, d'époux ou de citoyen, quand j'exécute les engagements que j'ai contractés, je remplis des devoirs qui sont définis, en dehors de moi, dans le droit et dans les moeurs. “ (Emile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, Paris 1895, S. 6) . 63 soziologischen Methode, die von den streitbaren Mitarbeitern an der „Année sociologique“ auch als Anweisungen, wenn nicht doktrinäre Zumutungen, gedeutet wurden. Das Recht als soziologisches Paradigma setzt sich schließlich in der „Année sociologique“ fort. So geraten zahllose Arbeiten aus der Rechtsgeschichte und Rechtsanthropologie in die Fänge der kritischen Rezensenten, die ja nichts weiter wollten, als einen Überblick über die soziologische Forschung zu liefern. Und dies geschah eben in den juristischen Schriften, auch wenn ihre Autoren nicht wussten, dass sie nach Durkheims Soziologieverständnis materiale Soziologie betrieben und sonst gar nichts. Auch wenn in dem Aufbau der „Année sociologique“ im Sinn einer „division du travail sociologique“ die „sociologie du droit“ ein Stück weit ausdifferenziert ist, so belegt die über das ganze Rezensionswerk verstreute Besprechung juristischer Arbeiten, wie weit Recht als soziologisches Paradigma, wie ich es nenne, reicht.162 Diese juridische Schicht im Werke Emile Durkheims wird durch eine zweite überlagert. Emile Durkheims Ruhm ist ja, bei aller Kritik im Einzelnen, in seiner Religionssoziologie begründet. Ohne den Exkurs mit werkgeschichtlichen Details zu überfrachten, lässt sich die Entwicklung im Denken Emile Durkheims im Wesentlichen so beschreiben: Die rechtssoziologische Optik wird kontinuierlich von der Religion überformt und von einer zeitweiligen Gleichrangigkeit bis zum soziologischen Primat des Religiösen fortentwickelt. Freilich wäre es allzu einfach, Religion erst in der ethnologischen Phase zu verorten. Vielmehr ist Religion von Beginn an im Durkheimschen Denken präsent. So ist es der Verlust der Religion, der zum Zerfall der „conscience collective“163 führt, und es sind die dogmatischen und strukturellen Differenzen der Religionen, die unterschiedliche Selbstmordraten von Protestanten, Katholiken und Juden im „Suicide“164 zu erklären vermögen. Schließlich fällt in einem bezeichnenden Brief an den abtrünnigen Gaston Richard die klassische Formel: „Rien de plus flou et de diffus comme la 162 Zum juridischen Ursprung der Soziologie Emile Durheims vgl. mit zahlreichen Belegen: Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a.a.O. 163 Emile Durkheim, De la division du travail social, a.a.O., S. 142 ff. 164 Vgl. Emile Durkheim, Le suicide. Etude de sociologie, Paris 1969 (1897). 64 réligiosité. Il est vrai que je la définis, mais les choses flous et diffuses se définissent.“165 Wie aber ist Religion definiert? Wenn die „faits religieux“ spezifische „faits sociaux“ sind, dann müssten sie ja durch die vom juridischen Denken geprägten Merkmale der Äußerlichkeit und des Zwangs definiert sein. Durkheim, der einen enormen Eifer in der „découpage de l'objet“ entfaltet, befasst sich um die Jahrhundertwende erstmals systematisch166 mit der „définition des phénomènes religieux“. Religiöse Phänomene unterscheiden sich demnach von den hier relevanten wissenssoziologischen Tatbeständen dadurch, dass der Inhalt der religiösen Vorstellungen obligatorisch ist, während die kollektiven Repräsentationen der Wissenschaft gerade den Zweifel zulassen. Dieser Definitionsversuch führt allerdings in enorme Schwierigkeiten, da nunmehr Recht, Moral und Religion ununterscheidbar miteinander verschlungen sind. Der komplexere Religionsbegriff der „Formes élémentaires de la vie religieuse“167 führt ein Stück weit aus diesem definitorischen Zirkel heraus. „Religion“ meint danach sowohl kollektive Vorstellungen wie Interaktionen und deren institutionelle Verkörperungen, nämlich religiöse Ideen, Rituale und die Religionsgemeinschaft. Auch wenn der Religionsbegriff damit von idealistischen Reduktionen auf die Ebene bloßer Repräsentationen befreit ist, bleibt das Problem, nach welchen Kriterien Ideen, Interaktionen und Gemeinschaften gerade als religiöse zu kennzeichnen sind. Durkheims Antwort ist bekannt, wenn auch vielfach ungenau verstanden: Überall wo das Profane und das Heilige aufeinanderstoßen, wo diese elementare Aufteilung der Welt in eine heilige, unberührbare Zone und in eine ungefährliche Sphäre des profanen Alltags thematisiert wird, herrscht „Religion“. Durkheims Religionsbegriff ist damit von naturalistischen Vorstellungen über den „Ort“ des Religiösen weitgehend frei, ganz ebenso wie Recht nicht als quasi räumlich ausdifferenziertes Phänomen zu fassen ist. Auch wenn die zirkuläre Bestimmung von Religion durch den normativen Zwang zum Glauben 165 Brief an Gaston Richard vom 11. Mai 1899, abgedr. in: Emile Durkheim, Textes 2, hrsg. von Victor Karady, Paris 1975, S. 9. 166 Emile Durkheim, De la définition des phénomènes religieux, in: L'Année sociologique 2, 1899, S. 1-28. 167 Emile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie, Paris 1912. 65 und die Definition des Rechts durch den heiligen Respekt vor unantastbaren Werten nicht überwunden ist, macht die Verschlingung von Recht und Religion den Reiz von Durkheims Analysen des sozialen Lebens aus. *** Zwischen der rechtlich-sozialen und der religiösen „Sphäre“ besteht in Webers „System“ ein fundamentaler Unterschied: „Recht“ ist auf die kognitive Abstimmung von Erwartungen und ihre verbindliche Durchsetzung in der Welt spezialisiert, während „Religion“, je weiter sie von urwüchsigen Formen entfernt ist, auf außerweltliche Ziele gerichtet ist, ohne hierdurch ihre sozialen Funktionen, d.h. innerweltlichen Konsequenzen, zu verlieren. In seinen vergleichenden religionssoziologischen Studien und der eher systematischen Abhandlung in „Wirtschaft und Gesellschaft“ ist Weber aber genau an diesen innerweltlichen Folgen der Religion interessiert. Und das heißt einerseits für die sozialen Voraussetzungen der Ausdifferenzierung einer religiösen Problemstellung und eines hierauf bezogenen Handelns sowie für die daran anschließende Konfiguration religiöser Spezialisten und Laien. Religiöse Praktiken und Typen der religiösen Gemeinschaft werden hierbei in ihrer Wechselwirkung mit den religiösen Ideen behandelt, womit Webers und Durkheims soziologischer Begriff von Religion als nahezu deckungsgleich erscheint.168 Zum anderen aber interessiert Weber bekanntlich die Frage, welche Konsequenzen sich aus der religiösen Orientierung an außerweltlichen Zielen für das Handeln in der Welt ergeben. Und das heißt nicht zuletzt, ob eine religiöse Prämie darauf gesetzt ist, die Welt zu fliehen oder aber sich die paradoxe Synthese einstellt, religiöser und insofern außerweltlicher Bedürfnisse 168 Bei Max Weber ist zu lesen: „Wirklich sicher aber wird diese abstrakte Vorstellung erst durch ein kontinuierlich einem und demselben Gott gewidmeten Tun, den ‚Kultus‘, und durch seine Verbindung mit einem kontinuierlichen Verband von Menschen, eine Dauergemeinschaft, für die er als Dauernder solche Bedeutung hat.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 250, Hervorhebung von W.G.); Bei Emile Durkheim heißt es: „Une religion est un système solidaire de croyances et de pratiques relatives à des choses sacrées, c'est à dire séparées, interdites, croyances et pratiques, qui unissent en une même communauté morale, appelée Eglise, tous ceux qui y adhèrent.“ (Emile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, a.a.O., S. 65, Hervorhebung von W.G.) 66 wegen die Welt nach Maßgabe ihrer „Eigengesetzlichkeiten“ und nicht nach dem Bild eines außerweltlichen Reiches aktiv zu gestalten. Hier geht es Weber offenkundig um die Beziehung von religiöser Ethik und „Welt“, das heißt: um die Regulierung des praktischen Handelns im profanen Alltag durch religiös bedingte, heilige Normen. Die innere Verwandtschaft von Recht und Religion ist damit sinnfällig. Insofern gibt es systematische Gründe für die mehrfach beobachteten strukturellen Parallelen von Webers Rechts- und Religionssoziologie169. In der rechtlichen und religiösen Entwicklung haben sich spezifische „Trägerfiguren“ herausgebildet, die außerordentliche Ähnlichkeiten aufweisen. Die Differenz von „heiligem“ Wissen bzw. juristischem Wissen zur „Gemeinde“ bzw. den Laien ist für beide Sphären in ihrer soziologischen Struktur bedeutsam. Systematisierung mit Konkretisierungsleistungen zu verbinden, sind gleichlaufende Probleme rechtlicher und religiöser Systeme. Die Auswirkung der Professionalisierung auf den Charakter der jeweiligen Ideensysteme u.s.f.; all dies sind außerordentlich verwandte Strukturmuster. Überdies aber findet eine vielfältige Wechselwirkung zwischen religiösen und rechtlichen Ideen statt, ein Austausch der Organisationsformen und sicher auch ein Machtkampf um den Primat der Lebensgestaltung. Diese faktische Konkurrenz der religiösen Mächte mit den rechtlichen bzw. politischen Ordnungen durchzieht das Werk Max Webers. Ihre Rekonstruktion überschreitet den begrenzten Anspruch dieser Arbeit.170 Wir wollten vielmehr auf das Problem aufmerksam machen, dass Recht und Religion zwei unterschiedlich eingestellte „soziologische Blicke“ voraussetzen, die im Werk Max Webers einander ergänzen. Die juristische Prägung Webers wirkt von der juristischen Dissertation und Habilitation noch in den artistischen Begriffskonstruktionen171 des Kategorienaufsatzes und der Kategorienlehre nach. Dieser juridische Anteil im Werk Max Webers stellt aber mehr als die 169 Vgl. etwa Hubert Treiber, Wahlverwandtschaften zwischen Webers Religions- und Rechtssoziologie, in: Stefan Breuer und Hubert Treiber (Hrsg.), Zur Rechtssoziologie Max Webers, Opladen 1984. 170 Sie ist Gegenstand von „Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne“, a.a.O., S. 522ff. 171 Dies geschieht, ohne in den von Marx perhorreszierten „Kultus“ der Begriffe zu verfallen (vgl. die beißende Kritik an der mysteriösen Begriffsbildung insbesondere der Juristen und Politiker, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin 1981, [MEW Bd. 3] S. 347). 67 bloße „Form“ dar, deren „Inhalt“ dann aus der Religionssoziologie geschöpft würde. Recht ist vielmehr auf die wechselseitige Abstimmung von unsicheren Erwartungen und deren verbindliche Durchsetzung eingestellt. Weil es hierfür der Zurechnung zu einem Subjekt bedarf, das für die Enttäuschung von Erwartungen verantwortlich gemacht wird, stiftet die juristische Kategorie der Handlung die Verbindung von kausal bewirkten äußeren Vorgängen mit einem handelnden Subjekt. Weber hat diese juristische Kategorie des Handelns, die im typisch juristischen Duktus das „Unterlassen“ einschließt, zum Grundbegriff seiner Soziologie erhoben.172 Der Handlungsbegriff bildet aber auch das Scharnier zur Religionssoziologie, denn dort beschäftigt sich Weber vornehmlich mit der Frage, welche Auswirkungen die Lösung der religiösen Problemstellung auf das Handeln173 besitzt: die Paradoxie von religiös bedingter innerweltlicher Askese und profanem Aktivismus ist die Zauberformel zur Deutung der Moderne, ein Handlungstypus oder auch Habitus – wie nicht erst Bourdieu sagt –, dem eine nicht nur juristische, sondern auch innerreligiös bedeutsame Lehre der „Rechtfertigung“ zugrundeliegt. Insofern fließen nicht nur bei Durkheim Recht und Religion ineinander, sondern auch Webers Analysen der okzidentalen Kultur sind von der Durchdringung „idealer“ Sphären geprägt, die nach Marxens Vorstellung nichts weiter sein sollten als pure „Illusionen“. *** Webers Diktum vom „unvermeidlichen Schicksal aller Soziologie“ ist insoweit zu relativieren bzw. zu ergänzen. Nicht nur Recht und Jurisprudenz liefern die Begriffe, Stichworte und Fragestellungen für die Soziologie, sondern neben Nationalökonomie und Philosophie ist Religion und das 172 Ich beschäftige mich im zweiten Kapitel mit der Frage, was die von Weber rezipierten Nationalökonomen, insbesondere Friedrich Gottl, Historiker und Philosophen zu Webers Handlungslehre beitragen. Wie noch in der Diskussion der methodologischen Fragen der Geschichtswissenschaft – so im Eduard-Meyer-Aufsatz – die juristische Perspektive durchschlägt (nämlich in der Berücksichtigung „hypothetischer Kausalverläufe“), ist besonders eindrucksvoll. 173 Wolfgang Schluchter hebt in diesem Sinne die Kategorie der Lebensführung im Werk Max Webers hervor; vgl. Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, 2. Bd., Frankfurt am Main 1989. 68 religionswissenschaftliche Paradigma für Max Webers eigenes Verständnis von Soziologie grundlegend. Überdies muss der behauptete Universalitätsanspruch bezweifelt werden, dass es sich hierbei um das „unvermeidliche Schicksal aller Soziologie“ handeln würde. Es gibt ja eine Reihe von soziologischen Perspektiven, die das Recht nahezu systematisch ausblenden. Freilich lässt sich zeigen, dass die Schwächen dieser Ansätze gerade darin beruhen, dass sie die eigentümliche Leistung von Recht für die Regulierung des sozialen Lebens verkennen. Zumindest für Weber war dieses „Schicksal“ nicht zuletzt unvermeidlich, wenn einem doch recht unsoliden Fach ein schärferes Profil gegeben werden sollte. Dass Webers Eifer bei der Formulierung soziologischer Kategorien hierbei nicht in einer schalen „Begriffssoziologie“ endete, hat man wohl auch dem Umstand zu verdanken, dass seine juristische Formation von Anfang an über die reine Dogmatik hinausgriff. 69 Fragen zur zweiten Vorlesungseinheit 1. Welchen Stellenwert nimmt die juristische Ausbildung im Werk Max Webers ein. 2. Eruieren sie Grunddaten der Biographie Max Webers mithilfe der Ihnen zugänglichen Recherchemittel! 3. Charakterisieren sie Max Webers Verhältnis zur Jurisprudenz seiner Zeit! 4. Wie erklärt es sich, dass es nach Weber „das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie“ sei, „daß sie für die Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den ‚typischen‘ Fällen zeugenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muß, um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen Sinn unterzuschieben.“ 5. Wenn „Recht“ und „Religion“ als Grundsphären moderner Gesellschaften gelten, wie gerade der Vergleich mit dem französischen Begründer der Soziologie Emile Durkheim zeigt, wie werden dann „Recht“ und „Religion“ voneinander geschieden? 70 Dritte Vorlesung Gesellschaft, Handeln, Recht und Ordnung. Juristischer und soziologischer Begriff des Rechts I. Zum Rechtsbegriff Max Webers Webers Rechtsbegriff ist vielschichtig. Je nach Betonung der Handlungs-, Norm-, Sanktions- oder Ordnungskomponente im Rechtsbegriff variiert auch die Nähe zum Konzept von Herrschaft. Wer in Webers sog. „Rechtssoziologie“ eine Bestimmung des Rechtsbegriffs erwartet, wird enttäuscht: Webers systematische „Rechtssoziologie“174 in der uns überlieferten Form setzt nämlich eigenartiger Weise mit einer zwar unter juristischen Gesichtspunkten zentralen Fragestellung ein, der Abgrenzung von öffentlichem und privatem Recht, um sich dann aber über den soziologischen Rechtsbegriff selbst auszuschweigen. Es gibt auch keinen Verweis auf die in den „Soziologischen Grundbegriffen“ vorgenommene Begriffsbestimmung.175 Andererseits setzt die Paginierung des Manuskripts der sog. „Rechtssoziologie“, eines veritablen „Collagenwerks“, mit der Seite 12 auf der maschinenschriftlichen Unterlage ein, auf der Weber seine handschriftlich verfassten Korrekturgebirge aufschichtete, so dass zu vermuten ist, dass ein erster, auf den soziologischen Rechtsbegriff gemünzter Teil herausgelöst wurde. Auch der ältere Teil des Kategorienaufsatzes, der ja aus der Konzeption für 174 175 Die textkritische Analyse der sog. „Rechtssoziologie“ wird zeigen, dass divergierende Schwerpunkte des überlieferten Textes, Universalgeschichte des Privatrechts einerseits und Rationalisierung des Rechts andererseits, auf einem Wandel des Weberschen Projekts beruhen: im „Stoffverteilungsplan“ zielt es, in der Beziehung von Wirtschaft und Recht, auf „Epochen der Entwicklung des heutigen Zustandes“ während es im „Werkplan“ als „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ ausgewiesen ist. Diese konzeptionelle Differenz mit weitreichenden Folgen für die Deutung der „Rechtssoziologie“ lässt sich auf der Ebene der Materialität des überlieferten Manuskriptes nachweisen (vgl. hierzu demnächst den Band „Recht“, MWG I/22-3). Vgl. die §§ 4, 5, 6 und 7 der Soziologischen Grundbegriffe, in: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, A.a.O.,S. 14-20. Dies bestätigt die nicht mehr bestreitbare Einsicht, dass die „Rechtssoziologie“ zu den Vorkriegsmanuskripten zählt, anders aber Johannes Winckelmann, Max Webers hinterlassenes Hauptwerk. 71 einen ursprünglich geplanten methodologischen Beitrag zum „Grundriß der Nationalökonomie“ hervorging,176 enthält keine explizite Definition von Recht als einem Begriff, auf dessen Entwicklung eine „verstehende Soziologie“ nicht verzichten könnte. Nur in einer Fußnote ist eine Definition von Recht versteckt.177 Dafür ist hier in der Sache das Problem der Erwartungsbildung und Stabilisierung außerordentlich klar umschrieben, so dass die bekannte systemtheoretische Definition von Luhmann178 eine ehrwürdige Quelle aufzuweisen hat. 1. Recht als Handeln Wo Weber freilich „Recht“ im Kategorien-Aufsatz umschreibt, nämlich in der Abgrenzung von juristischer und soziologischer Begriffsbildung, da scheint „Recht“ im soziologischen Sinne auf „Handeln“ reduziert. So lautet die zentrale Passage: „Die Soziologie hat es dagegen, soweit für sie das ‚Recht‘ als Objekt in Betracht kommt, nicht mit der Ermittlung des logisch richtigen ‚objektiven‘ Sinngehaltes von ‚Rechtssätzen‘ zu tun, sondern mit einem Handeln, als dessen Determinanten und Resultanten natürlich unter anderem auch Vorstellungen von Menschen über den ‚Sinn‘ und das ‚Gelten‘ bestimmter Rechtssätze eine bedeutsame Rolle spielen.“179 Recht ist also nichts weiter als eine bestimmte Art des Handelns. Dies würde zu Holmes berühmter Definition von „Recht“ als „principles of what the courts will do in fact“180 durchaus 176 177 178 179 180 So Max Weber in der ersten Fußnote zum Kategorienaufsatz, a. a. O., S. 427. Auf Seite 445 des Kategorienaufsatzes findet sich eine bemerkenswerte, bislang in der Deutung um das Verhältnis von „Kategorienaufsatz“ und „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ unbeachtete Formulierung: „Als ‚Recht’ gilt uns soziologisch eine in ihrer empirischen Geltung durch einen ‚Zwangsapparat’ (im bald zu erörternden Sinn), als Konvention eine nur durch ‚soziale Mißbilligung’ der zur ‚Rechts’- bzw. ‚Konventions’Gemeinschaft vergesellschafteten Gruppe garantierte Ordnung.“ Diese Formulierung setzt den Einbau der Garantienlehre in den Rechtsbegriff von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ voraus! Auch wenn Luhmann diesen Zusammenhang mit „alteuropäischer“ Theoriebildung geflissentlich übersieht. Vgl. insbes. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2 Bde. Reinbeck b. Hamburg,1972. S. hierzu Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1993, Zweiter Teil, Kap. 1, S. 97-127. Max Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, a. a. O., S. 440. Vgl. Oliver Holmes, The Path of the Law, in: Harvard Law Review 10, 1887, S. 457-478, hier S. 461. 72 passen, ebenso wie der einschränkende Nachsatz über die Vorstellungen, die zur Geltung des Rechts gebildet werden, in Emile Durkheim eine Stütze fände, der in einer vernichtenden Rezension über den abtrünnigen Gaston Richard die idealistische Reduktion des Rechts als „Idée du droit“ attackiert hatte.181 Insofern kommt in Webers handlungsbezogener Umschreibung des Rechts der „Realismusanspruch“ zur Geltung. Unklar bleiben die Akteure dieses rechtsbezogenen Handelns, sowie Strukturen und Organisationsformen der „Rechtsgemeinschaft“. 2. Recht als Norm oder Kritik des Rechts als „Form“ des sozialen Lebens Geht man in der Werkentwicklung noch einen Schritt weiter zurück, so ist im Stammler-Aufsatz182 eine auf die Norm bezogene, ebenso empirisch gemeinte Rechtsbetrachtung zu finden. Dies scheint Webers Rechtsauffassung in unmittelbare Nähe zu der von Durkheim seit der Einführungsvorlesung entwickelten These zu bringen, nach der Recht als Struktur des sozialen Lebens zu betrachten sei. Freilich ist dies gerade das Modell des Rechts, das von Weber aufs Schärfste, in hochgradig gereiztem Tonfall, kritisiert wird. Er führt aus, „daß es sinnlos ist, die Beziehung der Rechtsregel zum ‚Sozialen Leben‘ derart zu fassen, daß das Recht als die – oder eine – ‚Form‘ des ‚sozialen Lebens‘ aufgefaßt werden könnte […]“.183 Wie kommt Weber zu dieser Aussage, die direkt auf Durkheim gemünzt schiene, falls Weber diese Auffassung Durkheims zur Kenntnis genommen hätte?184 181 182 183 184 Vgl. Emile Durkheim, Richard G., Essai sur l’origine de l’idée de droit, in: Revue philosophique 35, 1893, S. 290-296. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 24, 1907, S. 94-151, abegdr. in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 291-359. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 349. Da sich unsere Interpretation Durkheims auf posthum bzw. sehr versteckt publizierte Arbeiten Durkheims (etwa in den Annalen der Universität von Bordeaux) stützt, ist eine Kenntnis dieser Schriften durch Weber objektiv unmöglich. Insoweit stellt sich das Problem der wechselseitigen Nichtzurkenntnisnahme von Durkheim und Weber nicht (vgl. aber zur Streitfrage Edward A. Tiryakian, A Problem for the Sociology of Knowledge: The Mutual Unawarness of Emile Durkheim and Max Weber, in: European Journal of Sociology 7, 1965, S. 330-336). 73 Sie hat zunächst damit zu tun, dass es Weber nicht passt, wie Stammler „die Möglichkeit einer selbständigen und eigenartigen sozialen Wissenschaft“185 an die Vorstellung des „sozialen Lebens“ koppelt. Er behauptet nämlich, die Wechselwirkungslehre Simmels z.B. führe zwangsläufig auf eine naturwissenschaftliche Betrachtung von einzelnen Menschen als Wirkverhältnis zurück. Es ist die Stammlersche „Lösung“ des Emergenzproblems, die Weber herausfordert, nämlich in der äußeren „Reguliertheit“ des sozialen Lebens eine die Einzelwesen verbindende „Form“ entdeckt zu haben. Webers Thema, das sich an der Rezension R. Stammlers entfaltet, ist auf der unmittelbar wahrnehmbaren Ebene die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit des „Regelbegriffs“, der die „stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des Empirischen mit dem Normativen auf das Maximum“186 steigen lässt. In der Stammler-Auseinandersetzung wird aber zugleich die handlungsförmige Bestimmung des Gegenstandsbereichs einer verstehenden Soziologie vorbereitet, wie sie im Kategorien-Aufsatz explizite Gestalt annimmt. Sie entzündet sich an Stammlers Bestimmung des „sozialen Lebens“, dessen formale Eigenart darin bestehe, dass es „geregeltes“ Zusammenleben sei. Eine die „Konfusion des Empirischen mit dem Normativen“ vermeidende Betrachtung stellt nach Weber nämlich zwei Bedeutungen von „Regel“ fest, die beide nicht dafür taugen, „Recht“ als „Form“ des sozialen Lebens zu betrachten. Einmal ist mit „Regel“ der gelten sollende Sinn einer Norm gemeint, eine Aufgabe, die im Skatspiel von der „Skatjurisprudenz“, im „Rechtsleben“ von der Rechtswissenschaft zur Ermittlung der „juristischen Wahrheit“ 187 erfüllt wird, die als ein „rein ideelles, vom juristischen Forscher destilliertes Objekt begrifflicher Analyse“188 behandelt wird. Das „Gelten“ der Regel in diesem Sinne ist das Ergebnis – so Weber – der gedanklichen Verbindung von „Begriffen“, ein „Gelten-Sollen“ für den juristischen Intellekt. Diesem „idealen“ Sinn der „Regel“ aber kommt keinerlei Bedeutung für die „empirische“ Geltung der Regel zu. So heißt es im Stammler-Aufsatz: „Die 185 186 187 188 Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung, 2. Aufl. Leipzig 1906, S. 109. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 343 (eigene Hervorh.). So die Formulierung im Stammler-Aufsatz, a. a. O., S. 347. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 346. 74 Rechtsregel, als ‚Idee‘ gefaßt, ist ja keine empirische Regelmäßigkeit oder ‚Geregeltheit‘, sondern eine Norm, die als ‚gelten sollend‘ gedacht werden kann, also ganz gewiß keine Form des Seienden, sondern ein Wertstandard, an dem das faktische Sein wertend gemessen wird, wenn wir ‚juristische Wahrheit‘ wollen.“189 Wenn also dem Recht als „Idee“ die Bedeutung abgesprochen wird, scheint sich eine Nähe zu Durkheims Kritik des juridischen Idealismus einzustellen.190 Aber Weber tendiert nun keineswegs zu einem schlichten Normrealismus als „Form“ des sozialen Lebens, vielmehr gilt: „Die Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine „Form“ des sozialen Seins, wie immer das letztere begrifflich bestimmt werden möge, sondern eine sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit, eine Maxime […]“.191 Und das heißt: Nur soweit die am Recht beteiligten Personen, „Richter“, „Anwälte“, „Gerichtsvollzieher“, „Polizisten“ und die „Rechtsgenossen“ sich an der Vorstellung vom Gelten-Sollen der „Regel“ orientieren, ist das soziale Sein durch ein rechtliches Sollen bestimmt. Da aber das Ausmaß der empirischen Geltung ungewiss ist, was nicht zuletzt die Implementationsforschung belegt und in Durkheims Normalitätsthese der Regelabweichung auch positiv gewendet ist,192 macht nach Weber die Rede von „Recht als Form des sozialen Lebens“ keinen Sinn. Und dies hat darin seinen Grund, dass es – entgegen dem panjuristischen193 Bild, das wir von Webers Auffassung der sozialen Wirklichkeit bisher gezeichnet haben, unterschiedliche Relevanzstufen194 der rechtlichen Geordnetheit des Handelns gibt, die zu einer differenzierten Einschätzung der kausalen Tragweite der empirischen Rechtsordnungen für die „Kulturtatsachen“ führt, so Webers Terminologie im Stammler-Aufsatz. Weber formuliert dies nicht ohne Ironie als eine Kritik des juristischen Weltbildes. So heißt es: „Der Fachjurist freilich ist begreiflicherweise geneigt, den Kulturmenschen im 189 190 191 192 193 194 Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 349. So vor allem in der Kritik von Gaston Richard, a. a. O. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 349. Emile Durkheim, Regeln der soziologischen Methode, Neuwied und Berlin 1961 (1895), S. 155 ff. Zur soziologischen Deutung siehe auch: Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, Opladen 1990, Kap. 1, S. 4-33. Dieser treffende Ausdruck stammt von Jean Carbonnier, Sociologie juridique, Paris 1972. Vgl. die ausbaufähige Formulierung im Stammler-Aufsatz, a. a. O., S. 352. 75 allgemeinen als potentiellen Prozeßführer zu betrachten, in demselben Sinn, wie etwa der Schuster ihn als potentiellen Schuhkäufer und der Skatspieler ihn als potentiellen ‚dritten Mann‘ ansieht.“195 Was ist nun unter „Recht“ oder „Rechtsordnung“ im Zusammenhang der Stammler-Kritik zu verstehen? Im „normativen“ Sinne kann nur die „ideelle Normordnung“ gemeint sein, deren begriffliche Vernetzung genau dem „Ideal“ entsprechen müsste, das in Webers Rechtssoziologie durch die Postulate der gemeinrechtlichen Jurisprudenz als: „formal-rationalstes“ System des Rechts ausgewiesen wird. Verwandtschaft und Differenz zu Kelsens Grundidee der reinen Rechtslehre196 sind offenkundig. Empirisch farblos bzw. unzureichend bleibt dieser Begriff der „empirischen“ Rechtsordnung. Denn es kommt ja ausschließlich auf die Vorstellung von der Geltung im jeweiligen Handeln an, so dass Weber am Ende eine rein kognitivistische Vorstellung von der empirischen Rechtsordnung zu entwickeln scheint. So heißt es ausdrücklich: „Das ‚empirische Sein’ des Rechts als Maxime-bildenden ‚Wissens’ konkreter Menschen nannten wir hier: die empirische ‚Rechtsordnung’.“197 3. Recht als Wissen Die Bestimmung von Recht durch Wissen mag im Kontext der Kritik einer unzureichenden „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung nahe gelegen haben – Webers berühmte Formel von der Wechselwirkung der „Ideen“ und „Interessen“ aus der „Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“198 ergäbe ja ein anderes Bild; als empirisch weitreichende Auszeichnung reicht diese kognitive Bestimmung des empirischen Sinns gewiss nicht, da ja gerade die paradoxe Frage besteht, wie „Recht“ als Wissen 195 196 197 198 Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 352. Vgl. hierzu Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970. Siehe auch: Noberto Bobbio, Max Weber und Hans Kelsen, in: Manfred Rehbinder und KlausPeter Tieck (Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 109-126. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 350 (letzte Hervorh. W.G.). Vgl. die berühmte Passage in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 91988, S. 252. 76 operieren soll, obwohl gerade ein immenses Nicht-Wissen über die „Rechtsordnung“, nunmehr im „normativen Sinne“, Voraussetzung ihres Funktionierens ist. Weber hat die positive Bedeutung bzw. die „PräventivWirkung des Nicht-Wissens“199 über Recht in den Zusammenhang der Auflösung eines vormals verbindlichen Alltagswissens gestellt, das sich gerade im Zuge der fortschreitenden Differenzierung und: Rationalisierung der Lebensbereiche entfaltet. Wie Wolfgang J. Mommsens klassische Studie über „Max Weber und die deutsche Politik“ einklagt, ist ein Verständnis Webers unter Vernachlässigung der Herrschaftsfrage unmöglich. Und diese spielt sich nicht in den Köpfen der Akteure als „Vorstellung“ von der Geltung einer Ordnung ab, sondern sie erfolgt vor dem Hintergrund einer unterschiedlichen Verteilung realer Machtmittel. Dementsprechend hatte Parsons das Zentrum der Rechtsanalyse Webers im politischen Sektor der Gesellschaft verortet.200 Wir wollen daher sehen, ob in die Bestimmung des „Substrats“ von Recht, an dem sich die „Epochen der Entwicklung ihres heutigen Zustandes“201 bzw. der Rationalisierungsprozess des Rechts vollziehen, das Problem von „Macht“ und „Herrschaft“ einfließt. Zu diesem Zwecke wollen wir einmal die in der Anordnung des „Grundrisses“ umstrittene Passage über den Zusammenhang von „Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung“ sowie die Formulierungen letzter Hand in den „Soziologischen Grundbegriffen“ betrachten. In dem Fragment „Die Wirtschaft und die Ordnungen“202 gerät gegenüber der Handlungsperspektive des Kategorienaufsatzes und der Normperspektive der Stammler-Kritik nunmehr die Sanktion ins Zentrum der Betrachtung. 199 200 201 202 So die prägnante Formel von Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968, [Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart; Band 350]. Vgl. u.a. Talcott Parsons, Law as an Intellectual stepchild, in: H.M. Johnson (Hrsg.), Social System and Legal Process, San Francisco 1977, S. 11-58. Zur Rekonstruktion von Parsons Rechtsbegriff vgl. Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, a. a. O., Zweiter Teil, Kap. 3, S. 179-270. So die konzeptionell zu unterscheidende, insbesondere im § 2 der Rechtssoziologie realisierte Formel des Stoffverteilungsplans von 1910! Das Manuskript ist von Webers Hand überschrieben als: „Die Wirtschaft und die Ordnungen“, was in der von Johannes Winckelmann besorgten Ausgabe fälschlich als die „Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen“ wiedergegeben ist. 77 4. Recht als Sanktionsapparat So können mannigfache Motive zur Geltung einer Ordnung beitragen; von „garantiertem“ Recht aber will Weber nur dort sprechen, „wo die Chance besteht, es werde gegebenenfalls ‚um ihrer selbst willen‘ Zwang, ‚Rechtzwang‘, eintreten“.203 Diese Formulierung ist sehr genau zu lesen, denn sie enthält nicht, wie Weber ja gemeinhin zugeschrieben wird, eine schlichte Bestimmung von Recht durch Macht, indem Recht an die Machtverhältnisse ausgeliefert sei. Vielmehr wird die Garantie der Rechtsordnung zur unbedingten, durch keinerlei utilitaristische Motive irritierbaren, von Opportunitätsgründen unabhängige: Rechtspflicht des Staates. Damit ist das „Zwangsmoment im Recht“204 von vornherein ethisch überhöht, ebenso wie die Befolgungsmotive ethische Dignität aufweisen, wenn sie nicht in Furcht vor negativen Folgen oder in Erwartung von Belohnungen bestehen. Hat man Parsons’ Utilitarismuskritik vor Augen, so findet sich diese in der Tat auch in Webers Konzeption des Rechts bestätigt, auf der Seite der interessenunabhängigen Befolgungsmotive der Rechtsgenossen, wie der Durchsetzungsmotive von Recht auf Seiten des Zwangsapparates, die „um ihrer selbst willen“ befolgt werden. Somit fließen normative Geltungsvorstellungen in den empirischen Begriff des Rechts als Sanktionsapparat mit ein, was in den „Soziologischen Grundbegriffen“ dann weiter systematisiert wird. Unter „Rechtsordnung“, im empirischen Sinne, wird also weder die auf „Recht“ bezogene normative Ordnung noch die Gesamtheit des Regelsystems verstanden, sondern: „Wir wollen vielmehr überall da von ‚Rechtsordnung‘ sprechen, wo die Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer, Zwangsmittel in Aussicht steht, die von einem Zwangsapparat, d. h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche sich zu diesem Behuf für den Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereithalten, wo also eine 203 204 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 182 (eigene Hervorh.). Zu Durkheims Sicht vgl. die Rezension von E. Neukamp, Das Zwangsmoment im Recht in entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung (Berlin 1898), in: L’Année sociologique 3, 1900, S. 324-325. 78 spezifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des ‚Rechtszwanges‘ existiert.“205 Eine mögliche Richtung der „Epochen der Entwicklung ihres heutigen Zustandes“, so die Formulierung des „Stoffverteilungsplanes, bzw. die „Rationalisierung“ des Rechts, könnte sich also aus der Entfaltung dieses „Zwangsapparates“ ergeben, der sich von der ungeschiedenen Gesamtheit der „Sippe“ bis zur Ausdifferenzierung eines „Erzwingungsstabes“ entwickelt, ein Prozess, der in engem Zusammenhang mit der Entfaltung des „Staates“ stehen muss. So ist das „staatlich“ garantierte Recht eine der letzten „Entwicklungsstufen“206 des Rechts: „Von ‚staatlichem‘, das heißt: staatlich garantiertem, Recht wollen wir da und insoweit sprechen, als die Garantie dafür: der Rechtszwang, durch die spezifischen, im Normalfall also: direkt physischen Zwangsmittel der politischen Gemeinschaft ausgeübt wird.“207 Das „Schicksal“ der Rechtsentwicklung ist von dort her eng mit dem Prozess der Monopolisierung legitimer Gewaltmittel im Staat verknüpft. 5. Recht als Interesse Unter dem Titel „Bedeutung und Grenzen des Rechtszwangs für die Wirtschaft“208 findet sich eine grundlegende Erörterung der wechselseitigen Beziehung von Recht und Wirtschaft, die sich als Kritik einer ökonomischen Rechtslehre lesen lässt.209 Wenn man nämlich fragt, was eigentlich durch eine Rechtsordnung garantiert sein soll, so lautet eine, insbesondere vom Marxismus vertretene Auffassung,210 dass ökonomische Interessen Objekt der Rechtsgarantie seien. Webers Antwort ist eindeutig: Mit Rudolf von Ihering, dem Weber im Unterschied zu 205 206 207 208 209 210 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 185. So an die ausdrückliche Formulierung Webers in: Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 183. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 183. Max Weber, abgedr. in: Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 195-198. Vgl. hierzu im theoriegeschichtlichen Kontext: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und ökonomische Analyse des Rechts, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 16, 1995, S. 156169. Siehe hierzu Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, a. a. O., Dritter Teil, Kap. 1. S. 275-320. 79 Durkheim211 positiv bewertet, wird dem „Interesse“ eine zentrale Rolle für das Rechtsverständnis eingeräumt. Aber die Vielfalt der Interessen lässt sich nicht auf irgendwie geartete „ökonomische“ Beziehungen, Begehren oder Vorzugslagen reduzieren: „Das Recht (immer im soziologischen Sinn) garantiert keineswegs nur ökonomische, sondern die allerverschiedensten Interessen, von den normalerweise elementarsten: Schutz rein persönlicher Sicherheit bis zu rein ideellen Gütern wie der eigenen ‚Ehre’ und derjenigen göttlicher Mächte. Es garantiert vor allem auch politische, kirchliche, familiäre oder andere Autoritätsstellungen […]“212 Ist die Rechtsordnung nicht der bloße Ausschuss ökonomischer Interessen, so kann – theoretisch – die Rechtsordnung völlig unverändert eine vollständige Veränderung der Wirtschaftsordnung überdauern, d.h. es mögen etwa privatkapitalistische Rechtsinstitute auch in einer sozialistischen Rechtsordnung fortbestehen. Eine direkte Korrespondenz von Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung wird auch in der umgekehrten Richtung aufgelöst: der gleiche wirtschaftliche Effekt ist mit unterschiedlichen juristischen Konstruktionen erreichbar.213 Es gibt also keine simple Eins-zu-Eins-Beziehung von Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung. Nun soll durch diese Einschränkung der wirtschaftlichen Bedingtheit der „Rechtsordnung“ keineswegs die Bedeutung ökonomischer Interessen geleugnet werden. Aber auch dieser zugestandene Einfluss der Wirtschaft, oder besser: des Wirtschaftens auf die Rechtsordnung ist nicht nur auf direktem Wege, sondern sehr vermittelt wirksam: „Natürlich steht die Rechtsgarantie in weitestem Umfang direkt im Dienst ökonomischer Interessen. Und soweit dies scheinbar oder wirklich nicht direkt der Fall ist, gehören ökonomische Interessen zu den allermächtigsten Beeinflussungsfaktoren der Rechtsbildung, da jede eine Rechtsordnung garantierende Gewalt irgendwie vom Einverständnishandeln der zugehörigen sozialen Gruppen in ihrer Existenz getragen wird und die soziale Gruppenbildung in hohem Maße durch Konstellationen materieller Interessen mitbedingt ist.“214 211 212 213 214 Durkheims negative Rechtssoziologie entzündete sich ja gerade an Iherings „Zweck im Recht“, siehe Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, a. a. O., Dritter Teil, Kap. 2, S. 321-418. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 196. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 196. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 196. 80 Weber leugnet also keineswegs die Kategorie des Interesses. Aber das Interesse transformiert sich nicht umstandslos in Rechtsformen. Das durch Zwang garantierte Recht besitzt umso höhere Geltungschancen, als es an der Vorstellung von der Geltung der Ordnung – also „Einverständnishandeln“215 im Sinne des Kategorien-Aufsatzes – orientiert ist. Der dem Einverständnishandeln zugrundeliegende „Rechtsglaube“ ist nicht atomistisch verteilt,216 sondern er wird durch Prozesse der Bildung von Gruppen vorgeformt und kanalisiert. Zu den „Trägerschichten“ der von Weber analysierten rechtlichen Entwicklung gehören also nicht nur die Vertreter unterschiedlicher „Typen des Rechtsdenkens“, sondern die Gruppierungen der am Recht interessierten Kreise: die „Rechtsgemeinschaft“. Wirtschaft und Recht sind „in ihrem prinzipiellen Verhältnis“ noch auf andere Weise miteinander verknüpft. Auch wenn es keine eindeutig notwendige Entsprechung von Rechtsform und Wirtschaftsform gibt, so ist mit der Entwicklung des Marktes ein ganz spezifischer Bedarf an Recht entstanden, nämlich nach einem für die Marktinteressenten berechenbaren Recht. Und weil die „Eigengesetzlichkeiten“217 des Marktes ihrerseits die Entwicklung der politischen Gewalten beeinflussen, gilt nach Weber die folgende Wechselwirkung von Wirtschaft und Recht: „Die universelle Herrschaft der Marktvergesellschaftung verlangt einerseits ein nach rationalen Regeln kalkulierbares Funktionieren des Rechts. Und andererseits begünstigt die Marktverbreiterung, die wir als charakteristische Tendenz jener kennenlernen werden, kraft der ihr immanenten Konsequenzen die Monopolisierung und Reglementierung aller „legitimen“ Zwangsgewalt durch eine universalistische 215 216 217 Als „Einverständnis“ definiert Max Weber im Kategorienaufsatz „den Tatbestand [], daß ein an Erwartungen des Verhaltens Anderer orientiertes Handeln um deswillen eine empirisch ‚geltende‘ Chance hat, diese Erwartungen erfüllt zu sehen, weil die Wahrscheinlichkeit objektiv besteht: daß diese anderen jene Erwartungen trotz des Fehlens einer Vereinbarung als sinnhaft ‚gültig‘ für ihr Verhalten praktisch behandeln werden“ (Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie,a.a.O., S. 279). Die Tatsache, dass der Begriff des „Einverständnishandelns“ – wie an weiteren Stellen von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ – im Weberschen Manuskript handschriftlich eingezogen ist (Mskr. S. 16), belegt die Anpassung einer älteren Textstufe an die Handlungsterminologie des Kategorienaufsatzes. Insofern neigt Weber auch nicht zu dem von Parsons diagnostizierten positivistischen Dilemma der „randomness of ends“ hin. Wir kommen auf die zentrale Bedeutung dieses Begriffs zurück. 81 Zwangsanstalt vermöge der Zersetzung aller partikulären, meist auf ökonomischen Monopolen ruhenden ständischen und anderen Zwangsgebilde.“218 Recht und Wirtschaft sind in ihrem prinzipiellen Verhältnis also vielfach verschlungen und insbesondere durch die vermittelnde Instanz der Herrschaftsordnung miteinander verzahnt. Dieser Zusammenhang wird in den letzten Formulierungen Webers zum Rechtsproblem, wie sie in den „Soziologischen Grundbegriffen“ zu Webers Grundrissbeitrag zu finden sind, weiter vertieft. Die „Soziologischen Grundbegriffe“ haben bei aller Bewunderung der nahezu klassischen Formulierungen auch viel Unverständnis ausgelöst. Sie sind vor allem dadurch für die Lektüre von „Wirtschaft und Gesellschaft“ in der bislang überlieferten Form so außerordentlich irreführend, weil Weber die bis zur Begriffssoziologie aufgetürmten Verschachtelungen in seinen materialen Studien der Vorkriegsmanuskripte gar nicht mehr einlösen konnte. Vielmehr liegt einigen der aus dem Nachlass herausgegebenen Manuskripten die im Kategorien-Aufsatz von 1913 entwickelte Terminologie zugrunde, dessen sorgsame Einarbeitung in eine ältere Textschicht sich insbesondere in der Edition von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ wird zeigen lassen. 6. Recht als „äußerer Zwang“ Die erste Überraschung liegt darin, dass „Recht“ – entgegen unserer Deutungshypothese – gar nicht als eine der definitionswürdigen „Kategorien“ im Paragraphenwerk der Kategorienlehre aufgenommen wird, obwohl eine Reihe der aufgenommenen Begriffe juristischen Ursprungs sind. Dies gilt für „soziales Handeln“ (§ 1), was sich z. B. bei Ihering als „soziale Handlung“ findet; es trifft auf die Idee „legitimer Ordnung“ (§ 5), „Verein“ und „Anstalt“ (§ 15), „Verwaltungsordnung“ und „Regulierungsordnung“ (§ 14) zu und ist besonders deutlich in dem Paragraphen über die „Zurechnung des Handelns. Vertretungsbeziehungen“ (§ 11). „Recht“ als eigenständiger Begriff wird der Kategorie „legitimer Ordnung“ subsumiert, an der das Handeln der Akteure 218 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 198. 82 ausgerichtet ist (§ 5). Ihre Legitimität kann „innerlich“, nämlich rein „affektuell“, „wertrational“ oder „religiös“ garantiert sein oder aber: „äußerlich“ (§ 6). Hiernach ergibt sich die Bestimmung von „Recht“ als einer äußerlich garantierten Ordnung. So heißt es: „Eine Ordnung soll heißen: […] Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance [des] (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen.“219 Die Qualität von Befolgungs- und Durchsetzungsmotiven ist hiernach unbeachtlich. Damit ist die im Stammler-Aufsatz vorgezeichnete Abkoppelung des Rechtsbegriffs von dem der „Regeln“ oder „Regelmäßigkeiten“ endgültig vollzogen. „Brauch“ und „Sitte“ werden nämlich in § 4 als Typen des Handelns, im Sinne der „Regelmäßigkeit der Einstellung sozialen Handelns“220, von den Typen legitimer Ordnung – also auch Recht – abgegrenzt, die nicht durch die bloße Faktizität der Übung („Brauch“), oder die Eingelebtheit („Sitte“) definierbar sind. Konstitutive Merkmale des Rechtsbegriffs sind nach § 6 der Kategorienlehre also einmal die äußerliche Garantie, sowie das Vorliegen eines Stabes zur Ausübung von Zwang. Max Weber nennt damit im Rechtsbegriff genau die Merkmale, die Emile Durkheim zur Kennzeichnung der faits sociaux verwendet hatte: nämlich Exteriorität und Zwang.221 Eine „Konvergenz“ von Weber und Durkheim zeichnet sich also nicht auf der Handlungsebene ab222, sondern: die von Weber verwendeten Definitionsmerkmale von „Recht“ als legitimer Ordnung entsprechen genau Durkheims Versuch, den Gegenstand der Soziologie zu umreißen. Damit wird bestätigt, dass Durkheim in den „Regeln“ noch einem juridisch geprägten Weltbild verhaftet bleibt, das Recht als elementare „Form des sozialen Lebens“ zu begreifen. Andererseits wird die gegenüber Weber 219 220 221 222 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 17. Weber verweist sowohl auf Rudolf von Iherings Der Zweck im Recht (Leipzig 1898) wie die Studie von Paul Oertmann, Rechtsordnung und Verkehrssitte, insbesondere nach bürgerlichem Recht, Leipzig 1914, sowie Ernst Weigelin, Sitte, Recht und Moral. Untersuchungen über das Wesen der Sitte, 1919. Vgl. Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, a. a. O., Dritter Teil, Kap. 2, S. 321-418. So die Parsons’sche These von: The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers. New York 1968 (1937/1949). 83 aufgerissene Diskrepanz umso größer: Während Durkheims Reich des Normativen ohne Grenzen ist223 – ohne eine eigene Herrschaftslehre zu entfalten – zieht Weber den Umkreis von Recht als einer äußerlich garantierten legitimen Ordnung enger, was zugleich der Eigengesetzlichkeit von Herrschaft Raum gibt.224 6. Recht als legitime Ordnung Aber wo bleibt die „Legitimität“ von Recht als normativer Ordnung, wenn ihre „Geltung“ auf der bloßen äußerlichen Garantie durch einen Zwangsapparat beruht? Im Anschluss an die Differenzierung einer „inneren“ Legitimitätsgarantie, nämlich „rein affektuell“, „wertrational“ oder „religiös“ und der äußeren Legitimitätsgarantie als „Recht“ und „Konvention“, deren Sanktionsmittel auf schierer „Mißbilligung“ beruhen, führt Weber unterschiedliche Gründe der Legitimitätszuschreibung ein. So heißt es in § 7 der Kategorienlehre, dass legitime Geltung einer Ordnung von den Handelnden zugeschrieben werden kann: a) kraft Tradition, b) kraft affektuellen, c) kraft wertrationalen Glaubens und schließlich d) kraft positiver Satzung, an deren Legalität geglaubt wird.225 Damit hat Weber die „Legitimitätsform des Legalitätsglaubens“ nicht nur in der Herrschaftssoziologie verwendet, sondern gerade auch für die „Rechtssoziologie“ ins Spiel gebracht, auch wenn Weber den Verweis in die „Herrschafts- und Rechtssoziologie“226 zumindest im überlieferten Manuskript zur Rechtssoziologie nicht mehr exekutiert hat. Auch wenn der Inhalt des „Legalitätsglaubens“ umstritten bleibt, hat Weber in der „Rechtssoziologie“ z.B. Gründe dargetan, warum die Krise des Naturrechts eine Art des Legitimitätsglaubens 223 224 225 226 fördern konnte, der – aus dem Geist des Zum Reich des Normativen vgl. auch Werner Gephart: The realm of normativity. Durkheim and Foucault, in: Cladis, Mark S., Durkheim and Foucault. Perspectives on Education and Punishment, Oxford 1999. Der kontrastive Vergleich schärft somit noch einmal die Wahrnehmung für das WeberSpezifische! Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 19. So heißt es: „Alles Nähere gehört (vorbehaltlich einiger noch weiter zu definierender Begriffe) in die Herrschafts- und Rechtssoziologie.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 19). 84 Rechtspositivismus heraus – den naturalistischen Fehlschluss von der formalen Rationalität prozedural korrekter Rechtsgewinnung auf die materiale Rationalität der Rechtsinhalte hervorbringen konnte.227 227 Vgl. Max Weber „Rechtssoziologie“, in: Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 502; zur Argumentation siehe unten. 85 Fragen zur Wiederholung der dritten Vorlesungseinheit 1. Hat Weber einen eindeutigen Begriff des „Rechts“ definiert? 2. Wenn Webers Bestimmung des Gegenstandsbereichs von „Soziologie“ auf die Deutung und Erklärung sozialen Handelns abstellt: was bedeutet dann die Bestimmung von Recht als „Handeln“? 3. Erläutern sie die Dimensionen des Rechts als - Recht als Wissen, - Recht als normative Ordnung, - Recht als Sanktionsapparat, - Recht als Interessenssphäre, - Recht als äußerer Zwang, - Recht als legitimer, innerer Zwang. 4. Gibt es einen die verschiedenen Aspekte des Rechtskonzeptes umfassenden Grundgedanken? 86 Vierte Vorlesung Dimensionen des „rationalen“ Rechts Im Rechtsbegriff Max Webers sind also unterschiedliche Momente akzentuiert: Im Kategorienaufsatz steht der Aspekt des Handelns im Vordergrund. Recht kann danach funktional228 gedeutet werden als ein Mechanismus zur Stabilisierung von Erwartungserwartungen, wenn sich die Akteure an der Vorstellung von der „Geltung“ der Ordnung zu denen auch „Recht“ gehört, orientieren. In der Stammler-Kritik hingegen war gerade der „Ordnungsbegriff“ problematisiert, von der Weber in „Wirtschaft und Gesellschaft“ schließlich einschränkend meint, dass sie im „Verdruß über die angerichtete Verwirrung in der Form leider etwas scharf“ geraten war.229 So stand die Unterscheidung von naturalistischer Regelmäßigkeit und normativer Regelordnung im Vordergrund, die in der soziologischen Kategorienlehre wieder aufgegriffen wird. In Webers Fragment über die „Wirtschaft und die Ordnungen“ wird dann der Zwangsapparat, bzw. der später so bezeichnete „Erzwingungsstab“ konstitutiv.230 Damit wird auf der grundbegrifflichen Ebene die Verschlingung von Rechts- und Herrschaftssoziologie eingeleitet, soweit nämlich Recht durch legitimen „Zwang“ und „Herrschaft“ durch die Legitimität einer Rechtlichkeit 228 Eine „funktionale Betrachtung“ wird von Weber ja auch keineswegs abgelehnt, freilich auf heuristische Zwecke eingegrenzt: „Für eine deutende Soziologie kann eine solche Ausdrucksweise (funktionalistische, W.G.): 1. praktischen Veranschaulichungs- und provisorischen Orientierungszwecken dienen (und in dieser Funktion höchst nützlich und nötig – aber freilich auch, bei Ueberschätzung ihres Erkenntniswerts und falschem Begriffsrealismus: höchst nachteilig – sein). Und 2.: Sie allein kann uns unter Umständen dasjenige soziale Handeln herausfinden helfen, dessen deutendes Verstehen für die Erklärung eines Zusammenhangs w i c h t i g ist.“ (Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 7). 229 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 17. 230 So heißt es: „Uns soll für den Begriff ‚Recht’ (der für andere Zwecke ganz anders abgegrenzt werden mag) die Existenz eines Erzwingungs-Stabes entscheidend sein.“ (Wirt- schaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 18). 87 bestimmt wird. Talcott Parsons liegt also insofern mit seiner Deutung richtig, Webers Rechtsverständnis im Funktionsfeld von „polity“ zu verorten. Wie freilich die Wechselwirkungen von „Recht und Herrschaft“ zu präzisieren sind, bleibt offen. Im Verhältnis zur „Wirtschaft“ hatte Weber ein differenziertes Modell komplexer Wechselwirkungen entworfen, dessen Grundidee auch auf die vielfältigen und z.T. diffusen Beziehungen von „Recht“ und „Herrschaft“ anzuwenden ist. Auf der Grundlage dieser vielschichtigen Bedeutungen von Webers Rechtsbegriff wollen wir der Frage nachgehen, wodurch sich nun die „Rationalität“ des Rechts auszeichnet. 1. Begriff und Problem des okzidentalen Rationalismus Am Ende des Kategorienaufsatzes fragt Weber, nachdem die Zunahme der normativen Ordnungen als Indikator für den „Fortschritt der gesellschaftlichen Differenzierung und Rationalisierung“231 hervorgehoben wird: „Was bedeutet nun aber die Rationalisierung der Ordnungen einer Gemeinschaft praktisch?“232 Es ist ein Gemeinplatz der Weber-Deutung, dass der Begriff der „Rationalisierung“ vielschichtig sei. Weber gesteht dies am Ende der Protestantismusstudie233 ja freimütig zu: der „asketische Rationalismus“ müsse mit dem „humanistischen Rationalismus“, dem „philosophischen und wissenschaftlichen Empirismus“ in Verbindung gebracht werden. In der „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie wird ebenso konstatiert: „Nun kann unter diesem Wort höchst Verschiedenes 231 So die explizite Formulierung Max Webers, Über einige Kategorie der verstehenden Soziologie, a.a.O., S. 473. 232 233 Vgl. einmal die Veröffentlichung im Jafféschen „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ 20, 1904, S. 1-54 sowie 21, 1905, S. 1-109; siehe zum anderen: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus in der von Weber überarbeiteten Fassung der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 17-206 (insbes. S. 204 ff.) 88 verstanden werden ...“234, was sich in Webers Schriften auch dadurch bestätigt, dass er den im Okzident üblichen Sprachgebrauch einer auf die ratio gestützten philosophischen Schule, wie sie z.B. im cartesianischen „Rationalismus“ firmiert, gerade n i c h t meint. Die enormen Rezeptionsschwellen, die in Frankreich Weber gegenüber bestehen,235 haben neben der nur schwer übersetzbaren Handlungsproblematik236 nicht zuletzt mit Webers These der okzidentalen Rationalisierung zu tun, die im Umfeld eines eindeutigen philosophiegeschichtlichen Sprachgebrauchs auf schieres Unverständnis stoßen muss. Nun sind auch Webers eigene Ausführungen bei allem Ringen um begriffliche Schärfe vielleicht auch deshalb nur wenig konsistent, weil Weber mit dem „Rationalitätskonzept“ die Möglichkeiten fachhistorischer Zurechnung überschritten hat. Es gibt sicher gerade in der nationalökonomischen Tradition ein klassisches Problem des rationalen Handelns; insofern wird dieser disziplinäre Hintergrund im Begriff der „Rationalität“, insbes. der „Zweck-Mittel-Rationalität“ mitgeführt. In der Historie, auch der „Volkswirtschaft“237, wird eher an eine Epoche des Rationalismus, etwa die Renaissance,238 gedacht. Und in der Jurisprudenz, bei der sich Weber gedanklich und begrifflich so ausgiebig bedient, ist nicht ersichtlich, inwiefern „Rationalität“ selbst eine juristisch-begriffliche Tradition haben sollte. Es handelt sich daher wohl um eine eigenständige Ausdeutung eines vielschichtigen Begriffs, der vielleicht deshalb zum tabuartigen Angelpunkt einer das gesamte Werk umfassenden Deutung erkoren wurde. Bei aller vernunftintendierten Klarheit bleibt die Idee des „Rationalismus“ eigentümlich 234 235 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, a.a.O., S. 11. Vgl. hierzu Werner Gephart, Die wechselseitige Rezeptionsverspätung von Max Weber in Frankreich und Emile Durkheim in Deutschland (Vortrag in der Werner Reimers Stiftung 1982); erscheint demn. in: Werner Gephart Soziologie im Aufbruch. Studien zur Wechselwirkung von deutscher und französischer Sozialwissenschaft um die Jahrhundertwende. 236 Vgl. Max Weber, Economie et société, insbes. Les catégories de la sociologie, S. 1-59. 237 Vgl. die Kritik Lujo Brentanos an der Protestantismusthese. 238 Siehe die bei Weber zitierte Arbeit von Boronski, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, S. 205, Fn. 1. 89 opak.239 Sie wird restlos dunkel, wo sich Weber, der aller Geschichtsphilosophie abhold schien, zu einer Weltdeutung seherischen Gepräges aufschwingt, in der die Rationalität, alle Sphären des Handelns überstrahlend, zugleich ihr Geschick eines tragischen Widerspruchs von formaler und materialer Rationalität hervorbringt. Diese Philosophie einer rationalistischen Tragödie der Moderne, wie sie in der „Vorbemerkung“ der „Zwischenbetrachtung“ sowie dem Abschnitt über „Ethik und Welt“ in Webers systematischer Religionssoziologie mit unterschiedlichen Akzenten variiert wird, steht den materialen Studien Webers gegenüber, in denen die mitunter unscharfe Idee der „Rationalität“ deutlichere Konturen erhält. Die sog. „Rechtssoziologie“ Max Webers gehört zu den Arbeiten, in denen die Forschungsidee der „Rationalisierung“ präzise Gestalt annimmt. Wir stellen daher vorerst die weitergehende Frage Max Webers zurück, wonach sich der Unterschied der Kulturkreise danach ergäbe: „... welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert wurden.“240 Was heißt also zunächst „Rationalisierung“ des Rechts? 2. Zur Rationalität der juristischen Sphäre In der „Vorbemerkung“ zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie wird die „rationale Struktur des Rechts“241 zu den Voraussetzungen der „Sozialordnung“242 gerechnet, unter denen der „moderne“ okzidentale Kapitalismus entstehen konnte. So ist zu lesen: "Denn der moderne rationale Betriebskapitalismus bedarf, wie der berechenbaren technischen Arbeitsmittel, 239 Masahiro Noguchi hat jüngst in seiner unveröffentlichten Dissertation Kampf und Kultur. Max Webers Theorie der Politik aus der Sicht seiner Kultursoziologie (Bonn 2003) dieses als „Multiperspektivität“ zu retten versucht 240 . Max Weber, Vorbemerkung, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1, a.a.O., S. 12. 241 Max Weber, Vorbemerkung der Gesammelten Aufsätze der Religionssoziologie, a.a.O., S. 11. 242 Max Weber, Vorbemerkung, a.a.O., S. 10. 90 so auch des berechenbaren Rechts und der Verwaltung nach formalen Regeln, ohne welche zwar Abenteurer- und spekulativer Händlerkapitalismus und alle möglichen Arten von politisch bedingtem Kapitalismus, aber kein rationaler privatwirtschaflticher Betrieb mit stehendem Kapital und sicherer Kalkulation möglich ist.“243 Weber behauptet also eine spezifische Funktionalität des „rationalen Rechts“ für die Entwicklung des okzidentalen Kapitalismus – und dieses entgegen der oben zitierten These einer relativen Unabhängigkeit von Rechtsform und Wirtschaftsform, wie sie in dem Fragment über „Wirtschaft und Recht“ entwickelt wurde. In der „Vorbemerkung“ heißt es insoweit unmissverständlich weiter: „Ein solches Recht und eine solche Verwaltung nun stellte der Wirtschaftsführung in dieser rechtstechnischen und formalistischen Vollendung nur der Okzident zur Verfügung.“244 Die Rechtsentwicklung erhält damit einen strategischen Stellenwert in der Erklärungsstruktur des „okzidentalen Rationalismus“. Zwei Fragen schließen sich an: 1. Worin besteht die Eigenart der „rechtstechnischen und formalistischen Vollendung“ des Rechts und die Eignung der hieraus entwickelten Rechtsinstitute und 2. woher kommt es, dass dieses Recht nur im Okzident entwickelt wurde? Eine Antwort auf diese Fragen findet sich in den vergleichenden religionssoziologischen Studien nur in Ansätzen, zumal die Rechtsentwicklung „quer“ zu Webers Protestantismusthese steht. Wir werden zwar sehen, wie Weber – im Anschluss an Georg Jellinek – die Bedeutung protestantischer Strömungen für die Deklaration der Menschenrechte durchaus herausstellt; die Eigenarten des „rationalen Rechts“ aber haben ihre Wurzeln vor allem im römischen Recht und den verschiedenen Rezeptionsschüben, so dass das Grundschema der „Protestantischen Ethik“ auf den „Geist des rationalen Rechts“ gerade n i c h t zu passen scheint. Daher ist das Modell der Erklärung des okzidentalen Rationalismus auch von der Protestantismusthese abzukoppeln.245 In der Konzentration auf die Bedeutung des Rechts für das komplexe Syndrom des okzidentalen Rationalismus müssten also auch die Grenzen dieser universalen Geschichtsdeutung des Okzidents sichtbar werden. 243 Max Weber, Vorbemerkung, a.a.O., S. 11. 244 Max Weber, Vorbemerkung, a.a.O., S. 11. 245 So in aller Klarheit Masahiro Noguchi, Kampf und Kultur, a.a.O. 91 Eine Antwort auf die Frage nach Eigenart und Herkunft des „rationalen Rechts“ im Okzident erhofft man sich daher aus Webers „Rechtssoziologie“. Dieser von Marianne Weber und Melchior Palyi erstmals und dann von Johannes Winckelmann mehrfach edierte Text aus dem Nachlass Max Webers kann hierauf jedoch nur eingeschränkt Auskunft geben. Dies ergibt sich aus der Eigenart von Webers Schriften, die nur als ein mit anderen Beiträgen abgestimmter Teil des von Weber koordinierten „Grundrisses der Sozialökonomie“ zu verstehen ist. Dieser Tatbestand ist leider in der Edition von „Wirtschaft und Gesellschaft“ immer wieder verdeckt worden, obwohl die Einbindung in das Gesamtwerk – wie wir sehen werden – von allergrößter Bedeutung gerade für die Beantwortung unserer Frage ist. Aus den Briefen Webers an den Verleger Siebeck geht nämlich hervor, dass nicht nur der Artikel über die „Logik der Sozialwissenschaften“ aus dem Handbuch auszulagern ist,246 sondern auch eine Liste der Mitarbeiter am Handbuch endlich fertiggestellt ist, in der auch ein Professor G.A. Leist aus Gießen aufgeführt ist, der „Die Rechtsordnung der capitalistischen Wirtschaft“ übernommen habe.247 Allein dieser Sachverhalt würde erklären, aus welchem Grunde in der „Rechtssoziologie“ vergeblich nach den spezifischen Rechtsinstituten des okzidentalen Kapitalismus gesucht wird. Und Weber schreibt dies auch ausdrücklich in der „Rechtssoziologie“ in einem Satz, der in der bisherigen Überlieferung zu völlig falschen Schlussfolgerungen anleitet. So ist in der von Johannes Winckelmann besorgten Ausgabe zu lesen: „Wie die heutigen, für den modernen Kapitalisten unentbehrlichen Rechtsinstitutionen sich entwickelt haben, wird an anderer Stelle erörtert.“248 Ein unbefangener Leser muss entweder annehmen, dass Weber darin auf einen anderen Paragraphen innerhalb der „Rechtssoziologie“, oder auf eine andere Passage seines Grundrissbeitrages verweist. In dem Karl Loewenstein vermachten und nunmehr in der Bayrischen 246 Brief vom 1. Mai 1910; hieraus wurde dann der Kategorien-Aufsatz „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“, dessen zweiter Teil eben auf diesem älteren Manuskript beruht. 247 Brief vom 27. Februar 1910. 248 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5.Aufl. Tübingen 1972, S. 408. 92 Staatsbibliothek im Max-Weber-Depot aufbewahrten Manuskript heißt die Stelle freilich folgendermaßen: „Wie die heutigen, für den heutigen Kapitalisten unentbehrlichen Rechtsinstitutionen sich entwickelt haben, wird an anderer Stelle erörtert (G. Leist im Buch II dieses Werkes).“249 Der in Winckelmanns Edition unkenntliche Verweis macht nunmehr verständlich, warum Weber diese Thematik in seiner „Rechtssoziologie“ ausgeklammert hat, um nämlich die vereinbarte Arbeitsaufteilung nicht zu verletzen. Und so ist es schließlich auch in der IV. Abteilung des „Grundrisses der Sozialökonomik“ zum Abdruck des Beitrages von Leist unter dem nunmehrigen Titel: „Die moderne Privatrechtsordnung und der Kapitalismus“250 gekommen. Eine direkte Antwort auf die in der Vorbemerkung formulierte Frage nach der Herkunft der „für den heutigen Kapitalisten unentbehrlichen Rechtsinstitutionen“ ist nach Webers eigenem Bekunden in der „Rechtssoziologie“ also gerade n i c h t zu finden. Gleichwohl ist die sog. „Rechtssoziologie“ – ein entsprechender Titel lässt sich weder im Stoffverteilungsplan noch in den Briefen mit dem Verleger nachweisen – von der Rhetorik des Rationalismus durchdrungen – in der spätesten Fassung jedenfalls, nicht in der ursprünglichen.251 Am Ende des § 1, der als „Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete“ überschrieben ist, entfaltet Weber ein Tableau unterschiedlicher Formen der Rationalität des Rechts, was für den Zivilrechtler Weber heißt: „vor allem natürlich: des ökonomisch relevanten Rechts (des heutigen ‚Privatrechts’)“.252 „Rationales Recht“ ist ein mehrdimensionaler Begriff, „je nachdem, welche Richtungen der Rationalisierung die Entfaltung des Rechtsdenkens einschlägt.“253 Webers Intention geht dahin, seinen komparativen Absichten 249 So auf der im Typoskript mit 11 paginierten Seite zu § 2 der „Rechtssoziologie“. 250 Vgl. Grundriß der Sozialökonomik, IV. Abteilung, Spezifische Elemente der modernen kapitlistischen Wirtschaft, 1. Teil Tübingen 1925, S. 27-48 (bearbeitet von Hans Nipperdey). 251 Vgl. hierzu ausführlich bei Werner Gephart. Das Collagenwerk. Zur so genannten „Rechtssoziologie“ Max Webers, in: Zeitschrift des Pax-Plank-Instituts für Rechtsgeschichte („Rg“) 3, 2003 (September 2003), Vgl. auch weiter unten. 252 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 395. 253 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 395. 93 entsprechend den Spielraum rationalen Rechts logisch so weit als möglich zu fassen. Hierbei unterscheidet Weber zwei Grundoperationen von Rechtsschöpfung und Rechtsfindung: Einmal die Denkmanipulation von Generalisierung vs. Konkretisierung254, sowie die Operation von Systematisierung vs. Analytik.255 „Generalisierung“ bedeutet, von der konkreten Entscheidung her gedacht, die Ausweitung der im Einzelfall maßgeblichen Gründe auf andere Fallgestaltungen und dies kann logisch nur dadurch geschehen, dass die entscheidungsrelevanten Aspekte herauspräpariert werden und insofern die Komplexität der juristischen Argumente reduziert wird. Generalisieren heißt also: „ ... Reduktion der für die Entscheidung des Einzelfalls maßgebenden Gründe auf ein oder mehrere ‚Prinzipien’: diese sind die ‚Rechtssätze’“.256 Diese Operation setzt nun voraus, dass aus der unendlichen Fülle der Wirklichkeit der rechtlich relevante Tatbestand durch Analyse herauspräpariert wird, was wiederum durch Vergleich mit anderen und im Hinblick auf andere Fälle geschieht. Generalisierung und Konkretisierung werden also als gegenläufige Prozesse verstanden, die sich im Medium der Kasuistik entfalten. Insofern ist also jedes Recht – und das ist gegenüber einer Weber-Kritik zu betonen, die ein vermeintlich naives rechtstheoretisches Verständnis moniert – Fall r e c h t. Freilich sind die rechtstechnischen Mittel der Kasuistik verschieden: Reduktion auf Prinzipien und schließlich logisch kompatible Rechtssätze stehen dem „bloßen parataktischen und anschaulichen Assoziieren“ gegenüber. Insofern wird also schon auf der Ebene fallbezogener Operationen die Weiche für die Bildung juristischer Konstruktionen gestellt, die zur mehr oder minder dichten „Synthese“ von Rechtsverhältnissen führen kann, ohne dass diese, für die Praxis befriedigende Zusammenfassung rechtlich relevanter Merkmale in einem Rechtsinstitut, auch dem höchsten Grad möglicher Begriffsanalyse entsprechen würde. Es ist umgekehrt denkbar, dass von der juristischen Begriffsbildung her plausible Konstruktionen gerade ihres 254 Weber spricht von „Kasuistik“. Vgl. im Übrigen auch die aufschlussreiche Rekonstruktion bei Richard Münch, Die Struktur der Moderne, a.a.O., S. 380 ff. 255 256 Weber knüpft an Iherings Unterscheidungen der „Fundamental-Operationen der juristischen Technik“ an in: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, II, 2, S. 334-388. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 395. 94 konstruktiven Charakters halber, in der Praxis fruchtlos bleiben. Zerlegung der Wirklichkeit nach analytischen Merkmalen geht einher mit Einordnung dieser Kategorien in ein umfassendes System. Systematisierung bedeutet: „ ... die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, dass sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: dass alle denkbaren Tatbestände unter eine seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der rechtlichen Garantie entbehre.“257 Der von Weber skizzierte Möglichkeitsraum rationalen Rechts ist also in sich durch Gegensätze und Widersprüche gekennzeichnet, die – wie wir meinen – nur in Webers Ideal eines rationalen Rechts miteinander vermittelt sind.258 Denn ebenso wie rationale Wissenschaft des Okzidents durch die Synthese von Theoriebildung und rationalem Experiment gekennzeichnet ist,259 ließe sich das rationale Recht des Okzidents als eine Vermittlung der gegenläufigen Pole von Generalisierung und Konkretisierung, Systematisierung und Analytik konstituieren. Dies lässt sich in der folgenden Weise veranschaulichen: Schaubild 1: Der Möglichkeitsraum des rationalen Rechts Systematisierung Systembildung 257 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 396. 258 Insofern geht die schematische Separierung von „Prinzip“, „reflexivem Prinzip“ bei Schluchter m.E. gerade an dem Sinn der widersprüchlichen Anforderungen der Rechtsfindung vorbei. Vgl. Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979, insbes. Kap. 5, Typen des Rechts und Typen der Herrschaft, S. 122 ff. 259 Diese mehrfach in Webers Analyse des okzidentalen Rationalismus auftauchende Denkfigur hat vor allem Richard Münch dazu angeregt, auch in Webers Sicht der okzidentalen Rationalisierung vor allem Prozesse der: Interpenetration zu entdecken. 95 Analytik Konkretisierung Generalisierung Kasuistik Obwohl in dieser idealtypischen Vereinfachung, d.h. „analytischen“ Begriffszerlegung, das kontinentale Recht eher auf der Achse von „Systembildung“ und das „englische“ Recht eher auf der Achse der Kasuistik repräsentiert ist, lässt sich unserer Deutung nach aber auch ein Fallrecht ohne Elemente der Systembildung und ein Kodifikationsrecht ohne fallrechtliche Elemente gar nicht denken. Webers Sicht liegt also keineswegs eine naive rechtstheoretische Vorstellung zugrunde, sondern ein Bild des rationalen Rechts, das in sich durch Widersprüche und: Gegensätze gekennzeichnet ist. Wie verhält sich nun dieses Bild des „rationalen Rechts“ zu der Gegenüberstellung formaler und materialer Rationalität/Irrationalität des Rechts? So schreibt Weber: „Mit all diesen Gegensätzen teils zusammenhängend, teils sie kreuzend aber gehen die Verschiedenheiten der rechtstechnischen Mittel [einher], mit welchen die Rechtspraxis im gegebenen Fall zu arbeiten hat.“260 Hierbei ergäben sich folgende „einfachste“ Fälle: Vom formal-rationalen Recht ausgehend ist das formal irrationale Recht durch die Verwendung irrationaler Beweismittel und irrationaler Techniken der Rechtsschöpfung gebildet, während das material rationale Recht durch den Anspruch einer höheren Legitimität der Rechtssätze gekennzeichnet ist, das material irrationale Recht an konkreten Wertungen des Einzelfalls, nicht aber generellen Normen orientiert ist. Es ergibt sich also aus der Kombination der Dimensionen rational-irrational und formal-material die folgende Kreuztabellierung, in die gleichzeitig die zuvor entwickelten Merkmale des rationalen Rechts eingeschrieben sind: 260 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 396. 96 Schaubild 2: Formale und materiale Rationalität/Irrationalität des Rechts irrational rational Systematisierung Generalisierung formal Konkretisierung I IV II III Analytik material Das formal/irrationale Recht ist durch kulturelle, insbes. religiöse Mittel der Rechtsfindung, wie Orakel, prophetische Rechtsschöpfung und deren Surrogate gekennzeichnet. Das formal rationale Recht hingegen ist durch die eigenen Gesetzmäßigkeiten von „Recht“ geprägt, d.h. die Anknüpfung an generelle Tatbestandsmerkmale, die eher die Richtung der Systematisierung oder der fallbezogenen Konkretisierung einnehmen und hierbei entweder an anschauliche äußere oder im Wege der Analytik gewonnene abstrakte Merkmale anknüpfen. Dieser, jeweils unterschiedlich akzentuierten, gleichwohl funktional äquivalenten Logik der Rechtsfindung steht jede an ethischen Imperativen oder politischen Maximen ausgerichtete überpositive 97 Rechtsauffassung fundamental entgegen; so insbesondere im Naturrecht.261 Auch wenn das Naturrecht somit aus dem formal-rationalen Rechtsraum ausgeschlossen ist, lässt sich sehr wohl argumentieren, dass erst die Spannung von Naturrecht und positivem Recht die Eigendynamik der okzidentalen Rechtskultur freisetzt, während dieses Spannungselement gerade den außerokzidentalen Rechtskulturen abgeht. Im Ergebnis wäre also ein außerrationales Element für die formale Rationalisierung verantwortlich, wie wir noch näher sehen werden.262 Wir erhalten damit ein Universalbild des Rechts, das sich unter Verwendung der Parsons’schen Funktionslogik, bei strenger Beachtung der von Weber verwendeten Kategorien, in der folgenden Weise lesen lässt:263 Schaubild 3: Das universale Bild des Rechts 261 Vgl. insgesamt zu dieser Deutung: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 396, 397. 262 Dieses Argument wird bei Nasahiro Noguchi, Kampf und Kultur, a.a.O., deutlich gemacht. 263 Der Deutung von Wolfgang Schluchter, der eine Klassifikation in „offenbartes“, „gesatztes“, „traditionales“ und „erschlossenes“ Recht vornimmt (vgl. Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, a.a.O., S. 131), können wir uns wegen der allzu großen Simplifikation nicht anschließen. 98 L I irrational formal Orakelhafte und religiöse prophetische Rechtsfindung material Einzelfall-orientierte Wertung A rational Überpositive Dignität politisch-ethischer Maxime G Das Schema zeigt einmal, mit welchen „Sphären“ des Handelns der jeweilige Typ des Rechts vornehmlich verknüpft ist: Das formal-irrationale entspricht einer Präponderanz des religiös-kulturellen Systems, das material-rationale Recht ist – wie das „revolutionäre Naturrecht“ veranschaulicht – vor allem der Logik von Politik verhaftet, und das von Weber so bezeichnete material irrationale Recht repräsentiert die fallweise „Anpassung“ des Rechts an die jeweiligen Gegebenheiten, sei es im Interesse konkreter kapitalistischer Interessen oder hiergegen gerichteter Wertungsinteressen des „Sozialismus“, den Weber typologisch insoweit mit der „Kadijustiz“ auf eine Stufe stellt. Aber lässt sich diese Typologie auch evolutionstheoretisch lesen? Und wie verhält sich hierzu die Idee einer Entwicklung des Rechts als Prozess der „Rationalisierung“? Lässt sich die Rechtsgeschichte in eine Folge von Rechtskulturen übersetzen? Aber muss man hierfür nicht Recht überhaupt als einen kulturellen Tatbestand deuten können? 99 Fragen zur vierten Vorlesungseinheit 1. Kennzeichnen Sie einige Aspekte dessen, was Max Weber „okzidentalen Rationalismus“ nennt. 2. Inwiefern diagnostiziert Weber eine Tragödie des okzidentalen Rationalismus, wenn die verschiedenen Sphären miteinander in Widerspruch geraten (persönliche, unpersönliche Ordnungen usf.) 3. In der Gesellschaftstheorie hat es Versuche gegeben, den okzidentalen „Rationalismus“ mithilfe der Differenzierungslehre zu deuten. a. Was besagt die soziologische Differenzierungstheorie? b. Gibt es Verwandtschaften zur Gewaltenteilungslehre und ggfs. welche? 4. Wie bestimmt Weber die Kriterien bzw. die Dimensionen der rechtlichen Sphäre? 5. Legen Sie die Konsequenzen der Weberschen Auffassung dar, dass Recht sowohl in formaler wie materialer Hinsicht „rational“, bzw. „irrational“ sein kann und erläutern Sie die sich hieraus ergebende Typologie der Rechtskulturen. 100 Fünfte Vorlesung Recht und Kultur Kulturelle Aspekte des Rechts in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts Ebenso wie der Nationalökonom Weber mit der historischen Schule in Verbindung stand, so sind auch Webers juristische Wurzeln in der historischen Rechtsschule zu suchen. Es lohnt sich daher, sie zunächst am Beispiel der beherrschenden Figur v. Savignys klar zu machen, wie der kulturelle Faktor in der Analyse des Rechts Beachtung findet. 1. Volksgeist, Rechtskultur und Juristenrecht: Friedrich Karl von Savigny (1779-1861) Es ist ein verbreitetes Missverständnis, v. Savigny einen holistischen Volksbegriff anzulasten, der auch noch biologisch konnotiert sei. Recht erscheint v. Savigny zwar als Teil der Gesamtkultur und darin ist er Schüler Herders. Aber „Kultur“ ist für von Savigny geistiges Erbe und Tradition, die auf literarische Überlieferung („Litterärgeschichte“) eingeengt wird. Rechtsgeschichte heißt für ihn: Aktualisierung dieser kulturellen Tradition. Diese findet sich gerade nicht im Leben des Volkes, sondern in der Geschichte der juristischen Bildung und des juristischen Unterrichts. Wenn v. Savigny dem Kodifikationsplan Thibauts, das organische Wachsen aus dem „Volksgeist“ entgegenstellt, so meint er damit als soziales Substrat die Träger einer juristischen Kultur, die im römischen Recht wurzelt und in einer künstlichen Wiederschöpfung durch Rechtswissenschaft und Praxis aktualisiert werden soll: „Bey steigender Cultur nämlich sondern sich alle Thätigkeiten des Volkes immer mehr, und was sonst gemeinschaftlich betrieben wurde, fällt jetzt einzelnen Ständen anheim. Als ein solcher abgesonderter Stand erscheinen 101 nunmehr auch die Juristen.“264 Diese „Sonderung“ ist nichts anderes als funktionale Differenzierung und Auflösung eines Gemeinschaftssubjektes, so dass Franz Wieacker m. E. zu Recht hervorgehoben hat, dass der Volksbegriff somit zu einem idealen Kulturbegriff erhoben wird, der erst durch eine geistige und kulturelle Elite repräsentiert wird.265 Der Juristenstand ist privilegierter Hüter der Rechtskultur, auch wenn es eine untergründige Verbindung zur allgemeinen Kultur gibt. Nicht anders als die später so genannte juristische „Profession“, die bei Weber als Träger rechtlicher Rationalisierung gefeiert wird. Die Orientierung von Savignys am römischen Recht garantiert zugleich einen universalistischen Zug, der über eine national-partikulare Rechtskultur hinausweist: Gerade durch die, wie v. Savigny formuliert: „organische Aufnahme des römischen Rechts ist der gesunde Parallelgang von Cultur und Recht erhalten geblieben; denn die ganze Cultur der modernen Völker ist international geblieben.“266 Savigny geht insofern von einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur aus. Auch Weber spürt in seiner Analyse der rationalen Rechtskulturen einer gemeinsamen okzidentalen Wurzel nach, der gegenüber die rein nationalen Differenzen zurücktreten. Während sich bei Savigny die Rezeptionsgeschichte des römischen Rechts in einem juristischen Auslegungsakt verdichtet267 bleibt für Weber die Rezeption der römischen Rechtskultur jedoch das Ergebnis von Ideen, Interessen und deren je spezifischen Trägern. 264 Friedrich Karl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Hildesheim 1967 [Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Heidelberg 1840], S. 12. 265 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 21967. 266 Friedrich Karl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, a. a. O. 267 Dieser wird über „organische Rechtsverhältnisse“ mit dem Hinweis auf „Institutionen“ nicht näher an die Wirklichkeit herangeführt, sondern es werden, von der Wirklichkeit abgezogene, Abstraktionen als solche legitimiert. 102 2. Vom idealisierten Volksgeist zum Juristenmonopol der Begriffsjurisprudenz: Georg Friedrich Puchta (1798-1846) Welche Autorität Puchta für Weber darstellt, wird aus einem Brief des Rechtsstudenten an die Mutter ersichtlich, in dem Weber das Kolleg des Ernst Immanuel Bekker (1817-1916) über römische Rechtsgeschichte kritisiert, weil ihm (Weber) „Puchta noch im Kopf sitzt“268 und daher eine ungeschichtliche Darstellung des römischen Rechts missfalle. Dabei ist es gerade Puchta, der – seinerseits Savigny beeinflussend – den Begriffsformalismus in pyramidischen Ableitungen zur Hochblüte gebracht hat. Die Kulturgeschichte des Rechts lässt einer „Unschuldsperiode“ eine Periode der „Mannigfaltigkeit“ nachfolgen, die schließlich in einer höheren Einheit der Periode der „Wissenschaftlichkeit“ zusammenfließt. Damit wird wiederum der Rechtswissenschaft das Monopol in der Auslegung des Volkslebens zugesprochen. Dieses wird aber nicht in irgend einem wirklichkeitswissenschaftlichen Sinne untersucht, sondern: allein durch die Deduktion von Rechtssätzen aus allgemeinen Begriffen soll der verborgene Gehalt der nationalen Rechtskultur extrapoliert werden, der weder im realen „Volksgeist“ noch in den Gesetzen manifestiert worden ist.269 Damit wird die Rechtswissenschaft als „Product der wissenschaftlichen Deduction“ zur privilegierten Rechtsquelle der Pandektistik. Unter rechtshistorischem Vorzeichen, von dem sich auch der junge Weber täuschen lässt, wird die kulturelle Autonomie des Rechts postuliert, dessen Begriff, Konstruktionen und Sätze der Alltagskultur vollständig entrückt werden, um ihnen eine Eigengesetzlichkeit zuzuschreiben, von der auch Webers These der formalen Rationalisierung des Rechts gezeichnet bleibt.270 268 Brief an die Mutter vom 2. Mai 1882, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, Tübingen o. J. (1936) 269 Georg Friedrich Puchta, Cursus der Institutionen, Bd. I, Leipzig 1841, S. 460-463 (§ 101). 270 Wie lebendig die Diskussion um die Volksgeistlehre gerade zur Zeit der Abfassung der Weberschen „Rechtssoziologie“ war, geht auch aus dem Diskussionsbeitrag von Hermann 103 3. Von der Poesie im Recht. Ein kulturwissenschaftliches Vermächtnis der Analyse des Rechts? Jacob Grimm (1785-1863) Während von Savigny ausgehend über Puchta der Bezug zur Kultur eines Volkes zunehmend verdünnt wird und es akrobatischer Hilfskonstruktionen bedarf, um diese Konstruktionsjurisprudenz an das Kulturleben zurückzubinden, geht es dem Adlatus und späteren Freund Savignys, Jacob Grimm271, weniger um die Erkenntnis des richtigen Rechts als um den Ort des Rechts in der Gesamtkultur. So ist die sinnliche, anschauliche Seite des Rechts für Grimm von besonderem Reiz. Ihn interessiert dabei nicht primär der formale Aspekt der Rechtsbekräftigung, sondern die zugrundeliegende geschichtliche Bedeutung, die in die kulturellen Traditionen einer Rechtsgemeinschaft zurückweist.272 So ist in dem Bändchen „Von der Poesie im Recht“ die Rechtsform als Quelle einer bedeutungsbezogenen Kulturanalyse aufgetan. So heißt es im dortigen §10 – soweit bleibt der aus juristischem Hause stammende Germanist und Märchensammler durchaus in der Form juristisch –: „Es ist eine unbefriedigende ansicht, welche in solchen symbolen blosze leere erfindung zum behuf der gerichtlichen form und feierlichkeit erblickt. im gegentheil hat jedes derselben gewisz seine dunkle, heilige und historische bedeutung; mangelte diese, so würde der allgemeine glaube daran und seine herkömmliche verständlichkeit fehlen.“273 U. Kantorowicz hervor, der auf die Arbeiten von Meinecke, v. Moeller, Dittmanns und Loenings verweist. (Vgl. Volksgeist und historische Rechtsschule, S. 295-325). 271 Über die Beziehung von Savigny und Grimm vgl. den auch wissenschaftsgeschichtlich unvermuteten Artikel von Erich Rothacker, Savigny, Grimm, Ranke. Ein Beitrag zur Frage nach dem Zusammenhang der Historischen Schule, in: Historische Zeitschrift 128, 1923, S. 415-445 (insbes. S. 429 ff.). 272 Zu einer Würdigung von „Jacob Grimm als Jurist“ vgl. den gleichnamigen Artikel von Gerhard Dilcher, in: JUS 1985, S. 931-936. 273 Jakob Grimm, Von der Poesie im Recht, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 2, 1816, S. 25-99; wieder abgedr. Darmstadt 1963, S. 48. 104 Max Weber hingegen ist für diese Art einer Bedeutungsanalyse der juristischen Kulturinhalte und ihrer Formen als in der Pandektenwissenschaft geschulter Jurist nicht weiter interessiert. In der dem Verleger Siebeck in einem Postskriptum angekündigten „Soziologie der Culturinhalte“ firmieren Kunst, Literatur, Weltanschauung, aber nicht das Recht. Und so konstatiert Weber in der Rechtssoziologie zwar einen Prozess der Desymbolisierung des modernen Rechts, ohne sich hierbei aber auf seine jeweiligen Symbolgehalte als „Kulturinhalt“ einzulassen. Inwieweit Weber gleichwohl eine kultursoziologische Perspektive zum Recht, und zwar gerade eine der vergleichenden Kultursoziologie pflegt, werden wir im Weiteren freilich sehen. Wenn Weber nicht nur in der Religionssoziologie, sondern auch in der kultursoziologischen Betrachtung des Rechts das Zusammenspiel von „Ideen“ und „Interessen“ thematisiert, muss eine weitere zentrale Figur der juristischen Welt des 19. Jahrhunderts, nämlich Rudolf von Ihering, eine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 4. Kultur und Interesse. Von der Konstruktions- zur Interessenjurisprudenz: Rudolf von Ihering (1818-1892)274 Nicht nur aus ironischer Distanz – wie sie in „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ zutage tritt – hat Ihering das paradoxe Verhältnis beschrieben, in dem sich „Naturrecht“ und „rechtshistorische Schule“ zur kulturellen Wirklichkeit befand. So war das historischer Kontingenz enthobene „Naturrecht“ nur eine Idealisierung der vorhandenen Zustände, während die historische Schule in Gestalt des römischen Rechts eine Universalität entdeckte, die – wie Ihering im „Geist des römischen Rechts“ ausführt – etwas „Berauschendes für die Juristen“275 hatte. 274 Als zeitgenössische Würdigung nach wie vor lesenswert der Nachruf von Adolf Merkl in: Jherings Jahrbücher 32, 1893, S. 6-40, der ihn vor allem als „Gestalt des realistischen Denkers“ zeichnet. 275 Rudolf von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Erster Theil, Leipzig 18733, S. 10. 105 Den Weg zu einer eigentlichen Rechtsgeschichte, bzw. „Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts“ wird erst in seiner posthum herausgegebenen Schrift – jenseits von konsekutiver Dogmengeschichte und idealistischer Nachkonstruktion der Idee des römischen Rechts276 – in seiner methodologischen Schwierigkeit sichtbar. Ihering meint hierzu, die Prämissen der rechtshistorischen Schule hinter sich lassen zu müssen, nämlich das „dumpfe Werden“ der Volksgeistlehre v. Savignys. In der für Ihering typischen Prägnanz ist zu lesen: „Das Recht ist kein Ausfluß des naiv im dunklen Drang schaffenden Rechtsgefühls, jenes mystischen Vorgangs, welcher dem Rechtshistoriker jede weitere Untersuchung abschneiden und ersparen würde, sondern es ist das Werk menschlicher Absicht und Berechnung, die auf jeder Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung das Angemessene zu treffen bestrebt war.“277 Weder Volksgeist noch „Kultur“ ist das Movens der Geschichte, nach der berühmten „Kehre“ Rudolf von Iherings. In der Schrift „Geist des römischen Rechts“ geht die Untersuchung noch von der (Kultur-) „Bedeutung des römischen Rechts für die moderne Welt“ aus, und bleibt auf die Frage gerichtet, wie das römische Recht ein „Culturelement der modernen Welt“ sei. Und „Römischer Geist“ sei es, der dort zur spezifischen „Cultur des Rechts“ der römischen Welt prädestiniere und der auf vielfache Weist auch mit der Religion verschlungen sei. Im ersten Brief der anonym verfassten „Vertraulichen Briefe über die heutige Jurisprudenz“ – später in der Spottschrift „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ aufgenommen – werden die Studien über den „Geist“ der 276 Zum systematischen Anliegen Jherings vgl. Helmut Coing, Der juristische Systembegriff bei Rudolf von Ihering, in: Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1969, S. 149-171. 277 Rudolf von Ihering, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Victor Ehrenberg, Leipzig 1894, S. 28. Diese rationale Interpretation der Rechtsentwicklung kommt auch in Durkheims Lektüre von Iherings deutlich zum Ausdruck (vgl. Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne (zuerst 1887), in: Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale, Paris 1975, S. 267-343, S. 286 ff.; vgl. hierzu auch Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 326 ff.). 106 Rechte, einschließlich des selbst verfassten „Geist des römischen Rechts“ wie ein spiritualistischer Unfug karikiert, als deren Ursprung Ihering interessanterweise Montesquieus „sur l’esprit des lois“ ansieht.278 So geht Iherings Wandlung von der Konstruktions- zu der nach ihm benannten Interessenjurisprudenz mit dem Wechsel von einer kulturbezogenen Analyse des Rechts zu einer nur aus dem Interesse hervorspringenden, soziologistischen Reduktion des Rechts einher. Iherings Blick auf das Recht bewegt sich also zwischen den Polen einer kulturbezogenen und einer zweck- und interessenorientierten Rechtsanalyse, ohne dass in seinem System eine Vermittlung stattgefunden hätte. Bei Weber werden wir sehen, wie Iherings Kulturbegriff des römischen Rechts in der Dimension der Analytik wiederkehrt und wie Zweck und Interesse bei Webers Frage nach den Trägern rechtlicher Rationalisierung aufgenommen wird. 5. Kulturbedürfnis und Rechtsideal. Vom Recht der Wilden zum modernen Recht in der Schule Josef Kohlers (1849-1919) Während Weber der ethnologischen Jurisprudenz wie auch ethnologischer Religionswissenschaft eher skeptisch gegenüberstand – was übrigens ein weiteres Mosaiksteinchen in dem Weber-Durkheim Puzzle ausmacht – hat Josef Kohler ein juristisches Universalbild der Welt erarbeiten wollen, das vom ägyptischen Patentrecht über Shakespeares Rechtsbild, das Recht der Bantuneger bis zum islamischen Recht reichen sollte.279 Seine Studien erfolgen nicht im Namen der Soziologie und auch nicht als Rechtsgeschichte, sondern sie werden in zahllosen Artikeln der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft zu Gehör gebracht. Universalhistorisch und 278 Rudolf von Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum, Leipzig 190910, S. 3; dort heißt es allerdings fälschlich: „Sur l’esprit des lois“. 279 Vgl. als Sicht auf diesen umfassenden Anspruch Kohlers den Beitrag von Wolfgang Gast, Historischer Optimismus. Die juristische Weltsicht Josef Kohlers, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 85, 1986, S. 1-10. 107 interkulturell ist der ungeheure Anspruch der Kohlerschen Unternehmung, die ihn insoweit mit Weber verbindet. In der Encyclopädie der Rechtswissenschaften hat Kohler in einem Artikel über „Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte“ „Recht als Kulturerscheinung“ in sehr allgemeiner Weise gewürdigt. Nach der Zerstörung des Naturrechts durch Savigny sieht Kohler es als die tiefe Erkenntnis der vergleichenden Rechtswissenschaft an, den jeweiligen kulturellen Wert auch der entlegensten Rechte anerkannt zu haben, ebenso wie die vergleichende Religionswissenschaft sich weigerte, die religiösen Verrichtungen der „Primitiven“ nunmehr als bloße Verirrungen abzutun. Das Recht wird damit aber nicht einfach kontigent: „Wenn auch das Recht ein ständig Wechselndes und sich Entwickelndes ist, so ist es doch nichts Äußerliches und Zufälliges.“280 Es ruht „mit seinem innigsten Gefaser in den Wurzeln der Volksseele und entspricht dem kulturentwickelnden Drange, der das Volk durchzieht, das Volk, seien es alle Mitglieder, seien es einige hervorragende, weitschauenden Geister.“281 Darin soll nunmehr also die Rationalität der Rechtskultur bestehen, dass sie sich in Entsprechung zur Entwicklung der Gesellschaft entfaltet. Von dort her ergebe sich auch der Wertmaßstab, mit dem das Recht zu messen sei. So heißt es: „... es (das Recht, W. G.) ist zu schätzen nach der Art und Weise, wie es der Kultur und dem Kulturbedürfnis des Volkes nachkommt; aus Kultur und Kulturbedürfnis entnehmen wir das Ideal, dem das Recht einer bestimmten Zeit möglichst genügen soll.“282 Die Kulturbedeutung des Rechts ist also mit Wertansprüchen durchsetzt, die nicht nur die Selektion und Kombination des Forschungsgegenstandes begründen, sondern die so konzipierte vergleichende Rechtswissenschaft bleibt der Suche nach dem richtigen Recht verpflichtet, das sich aus der Adäquanz von Kulturentwicklung und Rechtsinhalt ergeben soll. Dieses kulturrelativ „richtige“ Recht ruht auf den Grundlagen einer Kultur und ist damit zugleich 280 Josef Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte, in: Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, hrsg. von Josef Kohler, Band. 1, Leipzig; Berlin 61904, S. 1-69, hier S. 6. 281 Ebd. 282 Ebd. 108 nach Kohler ein Element, das die alte Kultur zerstört und eine künftige mithervorbringt. Weder soziologische Reduktion noch kulturalistische Verengung auf die Binnenkultur des Rechts, sondern die Erfassung des Rechts im Kosmos der übrigen Kulturformen scheint das Unterfangen Josef Kohlers aufs Engste an eine kultursoziologische Analyse des Rechts heranzuführen. Gleichwohl bleibt das Ergebnis enttäuschend: trotz einer immensen Fülle an aufbereitetem rechtsethnologischen Material gelangt Kohler über die Differenzierung von Natur-, Kultur- und Halbkulturvölkern nicht hinaus. In einer Rezension von Kohlers „Studien aus dem Strafrecht“ aus der Feder Emile Durkheims, werden die Grenzen seiner rechtsethnologischen Versuche sichtbar, auch wenn Durkheim dessen Wertlehre eher verwandt war283. So kritisiert Durkheim den Mangel an soziologischer Erklärungskraft, wenn Kohler die zunehmende Strafverschärfung der italienischen Statuten auf den zunehmenden Einfluss der römischen Rechtskultur zurückführt, während tatsächlich die Verfassung der Gesellschaft und das heißt: ihre staatliche Organisation für die Strafverschärfung verantwortlich sei: „Pour que le droit pénal soit rigoureux, il faut, semble-t-il, que la société ait atteint un certain degré de concentration et d’organisation, que l’organe gouvernemental soit constitué.“284 Morphologische Strukturanalyse des sozialen Lebens gegen die Annahme der Eigengesetzlichkeiten von Kultur, dies markiert die Differenz von Durkheim zu Kohler. Aber geht Webers „Rechtssoziologie“ in dem universalgeschichtlich konzipierten Unternehmen einer komparativen Analyse der Rechtskulturen im Sinne der ethnologisch inspirierten Rechtsvergleichung tatsächlich auf? Wenn wir von den Befangenheiten des von Kohler für die Deutsche Kolonialverwaltung entwickelten und mehrfach eingesetzten Fragebogens285 zur 283 Siehe hierzu unten. 284 Emile Durkheim, Rez. zu Josef Kohler, Studien aus dem Strafrecht. Das Strafrecht der italienischen Statuten vom 12.-16. Jahrhundert, Mannheim 1895-1897, in: L'Année sociologique 1, 1898, S. 351-353, hier S. 352-353. 285 Vgl. die Nachweise in der Josef Kohler-Biographie, bearbeitet von Arthur Kohler, Berlin 1931, S. 14, Fn. 4. 109 Analyse primitiver Rechtskulturen286 einmal absehen, so leidet die Kohlersche Betrachtung von Recht als Kulturerscheinung vor allem daran, dass Methodik, Sachgehalt und theoretische Konzeptualisierung einer Kulturanalyse des Rechts völlig im Dunkeln verbleiben.287 6. Ethnos und Recht. Zur ethnologischen Jurisprudenz von Albert Hermann Post Während Kohlers neuhegelianischer Idealismus sich einer rechtskulturellen Fortschrittsidee verpflichtet sieht, der z. B. in der juristischen Auslegungspraxis des von ihm systematisch entwickelten Immaterialgüterrechts nachzuspüren ist und ausschließlich die objektive Auslegungsmethode für statthaft hält, zeugt dies nach Post von der Unreife rechtsvergleichender Ethnologie. Die Aufgabe der Rechtsethnologen sei ganz nüchtern zu definieren: hier ginge es nicht um „Kultur“ und ihre Ideale288, sondern wer sich z. B. sittlich über primitive Rechtsformen entrüstet, „verwirrt“ – wie Post in seiner „Einleitung in die ethnologische Jurisprudenz“ schreibt – „nur den Kausalzusammenhang der 286 Vgl. den von Josef Rechtsverhältnisse der Kohler entwickelten „Fragebogen sogenannten Naturvölker, zur Erforschung der namentlich in den deutschen Kolonialländern“ in: Zeitschrift für die vergleichende Rechtswissenschaft 12, 1897, S. 426 ff. Die Frage nach der Haftung für den Sklaven (Frage Nr. 28) ist offenkundig dem Römischen Recht unmittelbar oder aber der germanischen Rechtsentwicklung nachgeformt: „Wird die Blutrache durch Komposition (Wergeld) abgelöst?“ (Nr. 60). 287 Auch wenn Kohler in der Kulturwissenschaft bis ins Goethe-Jahrbuch vorgedrungen war mit seiner Analyse von „Fausts Pakt mit Mephistopheles in juristischer Betrachtung“, in: Goethe-Jahrbuch 24, 1903, S. 119-131. 288 Gleichwohl lobt Kohler in seinem Nachruf auf Albert Hermann Post „die Verbindung des Rechts mit dem gesamten Kulturstande einer Nation, die wichtigen Parallelen, welche die gleichartigen Kulturentwicklungen zweier Völker mit sich bringt, die Relativität der Rechtsanschauungen, die sociale Natur des Ethos, die unbewusste Gestaltung des Rechts in den socialen Menschheitskreisen – alles dies waren Probleme, die Post in hervorragendem Masse beschäftigten“ (Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 17, 1897, S. 455). 110 ethnischen Erscheinungen, dem der Ethnologe mit dem kalten Auge der Anatomen nachzuspüren berufen ist.“289 Dieser positivistische Blick ist nun auf die elementaren Formen des Rechtslebens gerichtet, auf solche, welche „nicht eine Spezialität bestimmter Völker oder Volksgruppen ist“290, sondern als ein „Gemeingut der Menschheit“ angesehen werden kann. Dies ist zugleich die Prämisse seiner komparativen Methode, dass die verschiedenen Rechtskulturen nicht „Solitärprodukte bestimmter Volksgruppen“291sind, da die – neukantianisch gesprochen – „historischen Individuen“ einer Kausalanalyse unzugänglich seien. Eine individualistische Methode wird von Post im Übrigen radikal zurückgewiesen. Falls das „Rechtsbewusstsein“ aus den individuellen Strebungen und Bewusstseinsformen hervorginge – argumentiert Post – dann müsste doch das „Rechtsbewußtsein der auf gleicher Bildungsstufe stehenden Franzosen, Deutschen, Russen, Chinesen identisch sein.“292 Dies ist nach Post nur soweit der Fall, als die Rechtsform sich mit der ihr zugrundeliegenden sozialen Organisation deckt. Damit ist die Forschungsidee eines individuelle Kulturen prägenden, idealistisch konzipierten „Volksgeistes“ bei Post aufgegeben. Stattdessen ist die soziale Organisation wie ein unergründlicher Ozean, aus dessen Tiefen – wie Post in metaphorischer Rede anmerkt – „allerhand Bilder hervorsteigen“, die immer bewusstes Leben nur selten erreichen und zugleich die objektiven Formen des sozialen Lebens prägen. Diese aber lägen im positiven Recht zutage293, so dass die wissenschaftliche, ethnologische Jurisprudenz sich ohne Umschweife an die komparative Analyse der positiven Tatsachen des Rechts begeben könne, um diese dann mit ihrer sozialen Organisation zu verknüpfen. 289 Albert Hermann Post, Einleitung in das Studium der ethnologischen Jurisprudenz, Oldenburg 1886, S. 53. 290 Ebd., S. 27. 291 Ebd., S. 26. 292 Ebd., S. 20. 293 Ebd., S. 22. 111 Die komparative Methode dient damit der kausalen Zurechnung überall da, wo die Abfolge im Nacheinander, wie in den vermeintlich vorhistorischen Gesellschaften, undurchführbar sei.294 Die universelle Verbreitung der Leviratsehe liefert Post das Beispiel für den Zusammenhang von sozialer Organisation und Rechtsform, die nach Post in Grundformen der Gesellschaftsverfassung zu finden sei. Der bei Kohler theoretisch völlig unzureichend reflektierte Zusammenhang von „allgemeiner Kultur“ und „Rechtsleben“ löst sich nun – bei Albert Hermann Post – in eine kausal interpretierte Beziehung von überkultureller Sozialstruktur und Rechtsform auf. Die vergleichende Methode dient nicht dazu, die rechtskulturelle Vielfalt herauszupräparieren, sondern ihre Verfasstheit in der gemeinsamen condition humaine zu erweisen. Wenn Albert Hermann Post heute, trotz einer eindrucksvollen Wirkungsgeschichte zu Ende des 19. Jahrhundert hierzulande nahezu vergessen ist, so sind die Gründe hierfür offenkundig. Emergenzargumentation, Kritik der deduktiven Methode auf komparativ-kollektivistischer Basis, all dies erinnert mehr an Durkheim und die Equipe der Année sociologique als an die Tradition der historischen Schule in Deutschland. Und in der Tat beschließt Emile Durkheim seinen intellektuellen Reisebericht aus Deutschland, der ihm bekanntlich den Lehrstuhl nach Bordeaux eingetragen hat, mit einer ausführlichen Darstellung des Werks von Albert Hermann Post.295 Dass es sich hierbei um eine „gefährliche Wahlverwandtschaft“ handelt, wird in Durkheims Kritik an Post deutlich. Er klagt methodisch die kausale Analyse gegenüber bloßer Deskription ein und postuliert die Analyse der longue durée gegenüber der kurzatmigen Deutung von bloßen Intervallen.296 Aber all dies ist ja – unserer Auffassung nach – bei Post durchaus bemerkt, wie aus unserer obigen Rekonstruktion hervorgeht. Im Übrigen unterliegt Durkheim dem gleichen Zirkel einer Verschlingung von Recht und Sozialstruktur, indem das soziale Leben vermittels seiner geronnenen Formen erfasst werden, sie zur 294 Ebd., S. 25. 295 Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in: Revue philosophique 24, 1887, S. 33-58, 113-142, 275-284; abgedr. in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale, a. a. O., S. 267-343 (S. 331 ff). 296 Ebd., S. 340 f. 112 Sozialstruktur verdichtet mit ihrem juristischen Ausdruck zusammenfallen soll. Wenn Durkheim allerdings belehrend moniert: „Car pour établir avec quelque rigueur un rapport de causalité, il faut pouvoir observer dans des circonstances différentes les phénomènes entre lesquels il est présumé; il faut pouvoir établir des comparaisons méthodiques.“297 In dem Anspruch methodisch kontrollierter Vergleichung ist Post freilich in der Aufnahme relevanter Daten einen ganzen Schritt weitergegangen als Durkheim, in dem er einen systematischen Fragebogen über die Rechtsgewohnheiten der afrikanischen Naturvölker entwarf. Dass Durkheim freilich die Nähe zu Post durchaus bewusst war, lässt sich daran ersehen, dass das einzige Exemplar der „Division du travail social“, das einem deutschen Sozialwissenschaftler unseres Wissens dediziert wurde, dem bei uns vergessenen Albert Hermann Post persönlich gewidmet ist: „avec les compliments de l’auteur ...“ Kann man dafür Webers Rechtssoziologie als eine komparative Analyse von Recht verstehen, die der Mischung aus Hegelianismus und purer Sammelleidenschaft für die Vielfalt der Rechtsphänomene eines Josef Kohler, der Gleichsetzung von Kultur und Volksgeist der juristischen Romatik entgeht, den soziologischen Reduktionismus eines Albert Herrmann Post bzw. Durkheim unterläuft und gleichwohl ohne Verzicht auf die Vielfalt der ideographisch zu ermittelnden empirischen Rechtserscheinungen an systematischer Erkenntnis über das Recht interessiert bleibt? Wir haben hier nicht den Raum, näher zu entwickeln, was Weber mit der Betrachtung des Rechts als „Kultur“ im Sinne seiner „Kulturwissenschaft“ meint.298 Nur so viel: „Kultur“ ist ein „Wertbegriff“ – wie Weber vermerkt299 – der aus der empirischen Wirklichkeit die wertrelevanten Phänomene 297 Ebd. 298 Vgl. hierzu näher demnächst: Werner Gephart, Recht als Kultur. Sphären der Moderne Bd. 2; vgl. auch: Handeln und Kultur, a.a.O. Einleitung und Schluss 299 Vgl. Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 175. 113 herausfiltert und damit als Forschungsgegenstand konstituiert.300 In welchem Wertverhältnis zu „Kulturen“ verdichtete Wertbündel dann stehen, liegt aber außerhalb der kulturwissenschaftlichen Forschung. Dies ist ja gerade die „Kultur“ der kulturwissenschaftlichen Forschungskultur, diese Frage nicht erörtern zu wollen. So heißt es in der Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie: „Welches Wertverhältnis zwischen den hier vergleichend behandelten Kulturen besteht, wird hier mit keinem Wort erörtert.“301 Aber trifft dieses Pathos der Wertungsaskese auch auf die Beobachtung der Rechtskulturen zu? Insbesondere wenn es im Hinblick auf seine rationalen Dimensionen hin, wie oben ausgeführt, nun näher analysiert wird. 300 Zum Konzept des methodologischen Rationalismus vgl. jetzt auch Chih Cheng Jeng, Die Grundlegung des methodologischen Rationalismus im Werk Max Webers, Dissertation Bonn 2003. 301 Max Weber, „Vorbemerkung“ zu: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1, a. a. O., S. 14. 114 Fragen zur fünften Vorlesung In welcher Weise greifen die Rechtswissenschaften im 19. Jahrhundert die kulturelle Dimension des Rechts auf: 1. Der privilegierte Hüter der Rechtskultur (v. Savigny)? 2. Das Deutungsmonopol der Begriffsjurisprudenz (Puchta)? 3. Symbol und Rechtsglaube in der juristischen Romantik (Jacob Grimm)? 4. Interesse statt Kultur (von Ihering)? 5. Kultur und Kulturbedürfnis des Volkes (Kohler)? 6. Morphologie statt „Kultur“ (A. Post)? 115 Sechste Vorlesung Die Rationalisierung des Rechts als Entfaltung der Eigengesetzlichkeiten des Rechts In § 8 der „Rechtssoziologie“ scheint Weber eine Antwort auf die Frage nach der Entwicklung des Rechts zu geben, die eine evolutionstheoretische Lektüre der Typologie des Rechts erlaubt. So heißt es: „Die allgemeine Entwicklung des Rechts und des Rechtsgangs führt, in ‚theoretische Entwicklungsstufen‘ gegliedert, von der charismatischen Rechtsoffenbarung durch ‚Rechtspropheten‘ zur empirischen Rechtsschöpfung durch Rechtshonoratioren (Kautelar- und Präjudizienrechtsschöpfung), weiter zur Rechtsoktroyierung durch weltliches imperium und theokratische Gewalten und endlich zur systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen, auf Grund literarischer und formal logischer Schulung sich vollziehenden ‚Rechtspflege‘ durch Rechtsgebildete (Fachjuristen).“302 Diese Passage gibt genau die vier Typen des Rechts wieder, die wir zuvor kennen gelernt haben : 302 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 504. 116 Schaubild (1): Die Stufen der Rechtsentwicklung L I irrational rational Orakelhafte und religiös prophetische Rechtsfindung formal material A Einzelfall-orientierte überpositive Diginität Wertung politisch-ethischer Maxime G Was soll nun heißen, dass es sich hierbei um „theoretische Entwicklungsstufen“ handeln solle? Im evolutionistischen Sinne würde dies zweierlei bedeuten: einmal ist eine „höhere“ Stufe der Entwicklung nur nach dem Durchlaufen der entwicklungslogisch „vorhergehenden“ erreichbar. Zum anderen wäre eine Umkehr der Entwicklung im Sinne einer „Regression“ ausgeschlossen. Nach all dem Pathos, mit dem Weber die „Irrationalität“ der Geschichte beschwört, wäre es in der Tat völlig unverständlich, wenn Webers These des langfristigen und regional privilegierten Prozesses der okzidentalen „Rationalisierung“ nunmehr doch nach „logischen Gesetzmäßigkeiten“ in der Art der unilinearen Evolutionstheorie verlaufen würde. So kann Webers nachfolgende Einschränkung auch nicht überraschen, aus der sich implizit – ex negativo – ergibt, was nach Webers Auffassung eine vollständige Evolutionstheorie zu beinhalten hätte. Webers Formulierung lautet: „Daß die hier theoretisch konstruierten Rationalitätsstufen in der historischen Realität weder überall gerade in der Reihenfolge des Rationalitätsgrades aufeinander gefolgt, noch auch nur überall selbst im Okzident, alle vorhanden gewesen sind oder auch nur heute sind, daß ferner die Gründe für die Art und den Grad der Rationalisierung des Rechts historisch – wie schon unsere kurze Skizze zeigte – völlig verschieden geartet waren, dies alles soll hier ad hoc ignoriert werden, 117 wo es nur auf die Feststellung der allgemeinsten Entwicklungszüge ankommen kann.“303 Nun ist in der Tat schwer einsehbar, wozu allgemeine „Entwicklungszüge“ taugen sollen, wenn sie historisch „falsch“ sind, wieso also der Denkökonomie zuliebe ein „Opfer des Intellekts“304 erbracht werden sollte. Nehmen wir nur die eklatantesten „Unstimmigkeiten“: Weder das englische Recht noch das – insofern – vergleichbare altrömische Zivilrecht haben in Webers Sicht jemals die „zweite Stufe“ rechtlicher Rationalisierung überschritten; weder dem englischen noch dem älteren römischen Recht wurde die evolutionäre Wohltat der politisch oder theokratisch bedingten systematischen Kodifikation zuteil; während allerdings das römische Recht durchaus eine wissenschaftliche Durchbildung erfuhr (Stufe 4), blieb ja gerade das englische Recht den Sportelinteressen eines zünftig geschlossenen Honoratiorenbetriebs der Rechtspflege verhaftet, der eine wissenschaftliche Durchdringung des Rechtsstoffes verhinderte. In umgekehrter Richtung ist auch ein Rechtssystem der Stufe vier kaum denkbar, ohne Züge der Rechtsprophetie zu reservieren, sei es in dem Glauben an die prophetische Vernunft des rational planenden Gesetzgebers, der die Zukunft zu steuern vermag oder etwa die charismatischen Gnaden des „Richters“, der trotz aller vermeintlichen Geschlossenheit des Systems die Lücken nicht nur durch Tradition, sondern auch schöpferisch gestaltend zu schließen hat. Webers eigene historische Darstellung der Rechtsentwicklung ist also die schlagkräftigste Widerlegung eines unilinearen und unumkehrbaren Stufenmodells. Welchen Weg hat Weber also in seiner Deutung der Rechtsentwicklung eingeschlagen? Hierbei lassen sich unterschiedliche Erklärungsstrategien unterscheiden: 303 Ebd., S. 505. 304 Hier ist ein „evolutionstheoretisches Opfer“ gemeint, während Weber diese Metapher für den Intellektuellen reserviert, der trotz aller Anstrengungen der religiösen „Entzauberung“ in die Arme der „Kirche“ zurückkehrt. 118 1. Duale Entwicklungschemata Weber versucht einmal, langfristige Prozesse in einem dualen Entwicklungsschema zu beschreiben. a. Vom Symbol zur Abstraktion Hierzu gehört die Annahme einer Entwicklung vom konkret anschaulichen zum abstrakten Rechtsdenken als eines Prozesses der De-Symbolisierung. So heißt es: „Das Haften an diesen äußerlichen Merkmalen: z.B. dass ein bestimmtes Wort gesprochen, eine Unterschrift gegeben, eine bestimmte, ein-für allemal in ihrer Bedeutung feststehende symbolische Handlung vorgenommen ist, bedeutet die strengste Art des Rechtsformalismus.“305 Im Zuge der „Rationalisierung“ wird dieser „irrationale“ Formalismus abgelöst. Eine Richtung, in der dieser Symbolismus abgestreift wird, ist die von Weber sogenannte „gesinnungsethische Rationalisierung“306. Dieser Begriff ist trotz der ethischen Anklänge in einem ethisch neutralen Sinne derart gemeint, dass rechtlich relevantes Handeln, angesichts der Vielfalt von Zwecken und Erwartungen auch an Erwartungssicherheit, über äußere Merkmale nicht mehr steuerbar ist, sondern gerade an „innere“ Motivlagen anknüpfen muss. Die Berücksichtigung subjektiver Tatbestands- und Rechtfertigungsmomente, sowie die Subjektivierung von „Schuld“ auch im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte, bestätigt diese Tendenz, während die zunehmende Bedeutung der Gefährdungsdelikte – auch im Umweltstrafrecht – eine gegenläufige Tendenz bezeichnet, die man unter Verwendung der ihrerseits juristisch geprägten Unterscheidung von „Gesinnungs-“ und „Verantwortungsethik“307 in Gesinnungsund Verantwortungsdelikte differenzieren könnte. 305 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 396. 306 Ebd., S. 506. 307 Vgl. hierzu allgemein Wolfgang Schluchter, Wertfreiheit und Verantwortungsethik. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei Max Weber, Tübingen 1971. 119 b. Von Status zu Kontrakt oder vom „Statuskontrakt“ zum „Zweckkontrakt“ Eine weitere Tendenz ist die von Weber so bezeichnete Entwicklung vom „Statuskontrakt“ zum „Zweckkontrakt“. Die berühmte duale Entwicklungsformel von Sir Henry Sumner Maine „From Status to Contract“308 wird auf raffinierte Weise unterlaufen, indem der vertragliche Charakter statusbegründender bzw. statusverändernder Akte, vornehmlich im Familienrecht, auch für das traditionale, vorrationale Recht betont wird.309 Die Vorherrschaft des „Zweckkontraktes“ setzt eine weitere Entwicklung voraus, nämlich die Ablösung der formgebundenen Kontraktformeln und Schemata in der „Vertragsfreiheit“, die sowohl die in den Grenzen des dispositiven Rechts verlaufende inhaltliche Gestaltungsfreiheit, wie die „freie“ Wahl des Vertragpartners meint.310 Dass Weber hierbei die non-kontraktuellen Momente des Vertrages hervorhebt, wie sie in Durkheims Studie zur Arbeitsteilung dargelegt311 und von Parsons als Grundstein der Konvergenzhypothese rezipiert wurden,312 dies belegt nochmals die Herkunft aus den Selbstverständlichkeiten des juristischen Denkens. So heißt es zur Begründung typenmäßiger Vertragsformen und der Geltung des dispositiven Rechts: „ ... die Parteien denken in aller Regel nicht daran, alle möglicherweise relevanten Punkte wirklich ausdrücklich zu regeln, und es entspricht auch reiner Bequemlichkeit, sich an erprobte und vor allem bekannte Typen halten zu können. Ohne solche wäre ein moderner Rechtsverkehr kaum möglich.“313 Kauf, Miete, Pacht, Dienst- und Werkvertrag sind solche „Typen“ schuldrechtlicher Verträge, die in der 308 Henri Sumner Maine, Ancient Law 1861. 309 „Dieser tiefgreifenden Wandlung des allgemeinen Charakters der freien Vereinbarung entsprechend wollen wir jene urwüchsigen Kontrakttypen als ‚Status‘-Kontrakte, dagegen die dem Güterverkehr, also der Marktgemeinschaft, spezifischen als ‚Zweck‘-Kontrakte bezeichnen.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 401). 310 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 398 ff. 311 Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 2. 312 Vgl. oben Zweiter Teil, Kap. 3. 313 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 409 (eigene Hervorh.). 120 Rechtswirklichkeit aufgrund der zur inhaltlichen Gestaltung legitimierenden „Ermächtigungsnorm“ der Vertragsfreiheit modifiziert werden.314 c. Die Unterscheidung von Öffentlichem Recht und Privatrecht oder: Die Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete Eher bleibt Weber in den juristischen Kategorien der Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht befangen, die Durkheim ja gerade soziologisch „überwinden“ wollte. Allein auch diese klassische „Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete“ – so ist der erste Paragraph der „Rechtssoziologie“ überschrieben315 wird von Weber mitnichten etwa evolutionär gedeutet. Vielmehr wird ihre Verschlingung mit der Unterscheidung von objektivem und subjektivem Recht entfaltet. Die Entdeckung der subjektiv-öffentlichen Rechte – wie sie Weber aus den mehrfach zitierten Arbeiten Georg Jellineks vertraut war – schließt die Gleichsetzung von öffentlichem mit dem objektiven und dem Privatrecht mit den subjektiven Rechten aus.316 Soziologisch ist an Webers implizit geführter Diskussion der juristischen „Theorien“ zur Abgrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht der Bezug auf das Phänomen des Staates entscheidend. Während die Unterscheidung ja weniger für Theoriespiele als vielmehr für die Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit von juristisch praktischer Bedeutung für die Wahl des Rechtsweges ist, mag der soziologische Sinn ja ein durchaus anderer sein. In diesem Falle aber ist es gerade umgekehrt. Denn trotz aller Beteuerungen der Unabhängigkeit des juristisch-normativen vom empirisch-faktischen Denken, gibt Weber hier 314 Zur rechtstheoretischen Unterscheidung „gebietender“, „verbietender“ und „erlaubender“ Rechtssätze s. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 398. 315 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 387. 316 Heute geht der Begriff des subjektiven-öffentlichen Rechts weiter, als er von Weber bezeichnet wurde. So heißt es noch: „Denn die subjektiven öffentlichen Recht des Einzelnen gelten dem juristischen Sinne nach in Wahrheit als subjektive Zuständigkeiten des Einzelnen für bestimmt begrenzte Zwecke als Organe der Staatsanstalt zu handeln.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 387). 121 durchaus zu, dass die juristische Unterscheidung eine soziologische Differenzierung aufgreifen würde: „Das öffentliche Recht einfach, der soziologischen Scheidung entsprechend, als den Inbegriff der Normen für das, seinem von der Rechtsordnung zu unterstellenden Sinne nach, staatsanstaltsbezogene, d.h.: dem Bestande, der Ausdehnung und der dirketen Durchführung der jeweiligen, kraft Satzung oder einverständismäßig geltenden, Zweck der Staatsanstalt als solcher dienenden Handeln zu definieren, das Privatrecht aber als den Inbegriff der Normen für das, seinem von der Rechtsordnung unterstellten Sinne nach, nicht anstaltsbezogene, sondern nur von der Staatsanstalt durch Normen geregelte Handeln anzusehen, scheint durch den unformalen Charakter dieser Scheidung technisch erschwert.“317 Gleichwohl hält das Kriterium Webers kritischer Prüfung stand, weil einmal auch das öffentliche Recht subjektive Rechte kennt und andererseits die Theorie der Über- bzw. Gleichordnung deshalb nicht greift, weil nicht nur Private einander im rechtlichen Sinne gleich geordnet sind, sondern dies auch für Verfassungsorgane, Kommunen usf. gelten kann, obwohl der Charakter ihrer Rechtsbeziehungen öffentlich-rechtlicher Natur ist. So bleibt nur der sinnhafte Bezug auf das „staatsanstaltsbezogene“ Handeln als Kriterium der Differenzierung übrig. Weber vermeidet es also, die dualen Unterscheidungen von Status und Kontrakt, objektivem und subjektivem Recht, Privatrecht und öffentlichem Recht in eine entwicklungslogische Folge zu bringen. Allerdings sieht Weber die Entwicklung des Differenzierungsvermögens als einen wichtigen evolutionären Schritt an: Dies läßt sich im Umkehrschluss aus einer Formulierung über das „Weistum“ entnehmen, das die zuvor genannten Unterscheidungen eben n i c h t kennt: „Auch das Weistum scheidet zunächst weder objektives von subjektivem Recht, noch Rechtssatzung von Urteil, noch öffentliches von privatem Recht, noch sogar Verwaltungsanordnungen von normativer Regel.“318 In der Sprache der Differenzierungstheorie lässt sich also aus Webers Tendenzanalyse kein duales Entwicklungsschema ablesen, sondern eine Entwicklung zu einer internen komplexen Binnendifferenzierung. 317 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 387. 318 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 450. 122 Das gleiche gilt für die vermeintliche Tendenz einer Wandlung der Rechtsformen vom Partikularismus zum Universalismus. Talcott Parsons hatte unter Bezug auf Weber in der Ausbildung eines universalistischen Rechtssystems die entscheidende evolutionäre Universalie, sowie das Zentrum der Entwicklung von „Gemeinschaft“ im System moderner Gesellschaften gesehen.319 Webers Sicht hingegen ist differenzierter. Zwar versteht Weber den Prozess der „Rationalisierung“ des Rechts auch als eine Entwicklung zum „Universalismus“, wie sich leicht aus der Favorisierung genereller Tatbestandsmerkmale im Typus des formal-rationalen Rechts ergibt. „Ständische“ und „lokale“ Rechtspartikularitäten, wie Weber mit Blick auf das islamische Recht sagt,320 stehen der Universalisierung zum „modernen“ Recht entgegen. Dieses wird freilich, trotz universalistischer Tendenzen, von „gesinnungsethischen“ und „berufstypischen“ Partikularitäten unterlaufen.321 Dies liegt einmal in der Zunahme beruflicher Differenzierung begründet, die ja auch Durkheim zur Postulierung einer professionellen Sondermoral animierte,322 sowie an den Erwartungen der Rechtsinteressenten an einer antiformalen, dem partikularen Einzelfall angepassten Rechtsfindung, dessen rechtstheoretsiche Reflexion zu den von Weber konstatierten Bewegungen einer: Selbstauflösung des rechtlichen Rationalismus gehört.323 Wir werden hierauf zurückkommen. d. Vom Partikularismus zum Universalismus ? Es gilt also auch für die vielfach evolutionär gedeutete, in den pattern variables zur „Alternative“ stilisierte, Gegenüberstellung von Partikularismus und 319 Vgl. oben Zweiter Teil, Kap. 3. 320 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 476; vgl. auch: Patricia Crone, Max Weber, das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des Islams, Frankfurt a.M., 1987, S. 294 ff. 321 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 504 ff. 322 Vgl. Emile Durkheim, Leçons de sociologie, physique des moeurs et du droit, a.a.O., insbes. S. 45; siehe auch oben Teil C, Kap. 2. 323 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 512. 123 Universalismus, dass sie nicht als schlichte Abfolge von einem historischen „Zustand“ in einen anderen zu betrachten sind, sondern als Dimensionen zur Charakterisierung von „Recht“, auch des: modernen. Diese lassen sich, in Verknüpfung mit Webers Unterscheidung formaler und materialer Aspekte der rechtlichen Rationalisierung, in der folgenden Weise aufschlüsseln: Schaubild (2): Partikularismus und Universalismus als Dimensionen des modernen Rechts324 L I Rechtspropheten Rechtsgebildete Fachjuristen I IV Rechtshonoratioren Politische und Rechtsherrscher theokratische II III A G Wir können hiernach als ein erstes Fazit festhalten: Die dualen Differenzierungen von öffentlichem und privatem, objektivem und subjektivem Recht, partikularem und universalistischem Recht sind nicht entwicklungslogisch deutbar. Ihre heuristische Fruchtbarkeit beginnt dort, wo subjektive Rechte im öffentlichen Recht gesucht und öffentlich-rechtliche Elemente im Privatrecht, partikulare Tendenzen im universalistischen Recht aufgedeckt werden. Liegt darin der Verzicht auf jede Art gerichteter Entwicklung? 324 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Werner Gephart auf dem Züricher Soziologentag mit dem Thema: „Die Geburt des juridischen Universalismus aus partikularen Rechtskulturen in Durkheims und Webers Theorien des modernen Rechts“. 124 2. „Rationalisierung“ als Konstellationsanalyse Der antimetaphysische Grundton von Webers methodologischen Schriften hat die Weber-Deutung davon abgehalten, die Rationalisierungsthese als das zu sehen, was sie ist: eine riskante Hypothese empirisch historischer Entwicklung, die nicht frei von metaphysischen Beimischungen ist. Wenn die Gestalt des „okzidentalen Rationalismus“ nach einer Schlüsselstelle der „Vorbemerkung“ dadurch bestimmt sein soll, „welche Sphären und in welche Richtung sie rationalisiert wurden“,325 dann liegt dieser Aussage die Prämisse zugrunde, dass die jeweiligen „Sphären“ durch „Eigengesetzlichkeiten“ bestimmt sind. Der Prozess der Rationalisierung lässt sich als Entfaltung der unterschiedlichen Eigengesetzlichkeiten differenter Sphären deuten. Die „Rechtssoziologie“ ist von dieser Sichtweise nicht ausgenommen. So heißt es im Schlusskapitel der „Rechtssoziologie“ auf die Bemerkung hin, dass einem Laien niemals verständlich sein könne, warum es keinen „Diebstahl“ elektrischen Stroms nach den allgemeinen Eigentumsdelikten geben könne: „Es ist also keineswegs eine spezifische Torheit der modernen Jurisprudenz, welche zu diesen Konflikten führt, sondern in weitem Umfang die ganz unvermeidliche Folge der Disparatheit logischer Eigengesetzlichkeiten jedes formalen Rechtsdenkens überhaupt ...“326 Weber konstruiert also unterschiedliche Sphären, wie Recht, Wirtschaft, Staat, Ästhetik, Liebe usf., denen er eine jeweils typische „Eigengesetzlichkeit“ unterstellt, die dann mit anderen „Fremdgesetzlichkeiten“ untereinander in Konflikt geraten. In den Kommentierungen zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie ist die Welt durch Spannungen zwischen den verschiedenen „Sphären“ gekennzeichnet: Jede in der „rationalisierten Gesellschaft“ vorkommende Sondersphäre tritt umso mehr in Widerspruch zu der von Weber sogenannten Brüderlichkeitsethik, je „rationaler“ die Sphäre ausgestaltet ist. Politik, Ökonomie und Wissenschaft sind mit einer personal 325 Max Weber, „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen der Wissenschaftslehre, Bd. 1, a.a.O., S. 12. 326 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 506 (letzte Hervorh. W.G.). 125 orientierten Ethik unvereinbar, wenn der entscheidende Rationalitätszug dieser Sphären gerade darin liegt, durch unpersönliche Merkmale bestimmt zu sein: nämlich durch die entpersönlichten Beziehungen bürokratischer Herrschaft in der Politik, durch Geld und Markt als die „unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können“327 in der Sphäre der Wirtschaft, sowie objektiver Wahrheit in der wissenschaftlichen Sphäre. Die Lösung von personalen Rücksichtnahmen erscheint gleichzeitig als die Voraussetzung, unter der die jeweilige „Eigengesetzlichkeit“ in die Richtung der Rationalisierung freigesetzt wird. So ermöglicht die Verwendung von „Geld“ die Abstimmung ökonomischer Interessen, unabhängig von komplementären Tauschleistungen; der Einsatz von Macht oder die Androhung mit Gewalt als dem letzten Durchsetzungsmittel von „Macht“ ist nur dann steigerungsfähig, wenn die Personalität des Machtunterworfenen negiert wird; ebenso nimmt eine Wissenschaft, die an reiner Wahrheitssuche orientiert ist, keine Rücksichten auf die Folgen, die diese Erkenntnisse für personale Werte zeitigen können. Eine De-Personalisierung der sozialen Beziehungen wird damit zum Wendepunkt des Rationalismus. „Handeln“ und nicht der „Mensch“ ist die subtile Antwort der Humanwissenschaften, insbesondere der Jurisprudenz gewesen. Aber es ist wohl an dieser Schaltstelle vor allem, dass wir die Bedeutung des Rechts für die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus ansetzen müssen. So ist „Recht“ nur soweit „rationalisiert“, als es unpersönlich ist, und nur in dieser Funktion auch für die „Fremdgesetzlichkeiten“ anderer Sphären „rational“. Der in das Recht „eingebaute“ Widerspruch von formaler und materialer Rationalität, den wir bei der Entfaltung des Möglichkeitsraumes rationalen Rechts kennengelernt haben, würde somit genau diese ambivalente Rolle des modernen Rechts – nämlich Rechtsformen der Unpersönlichkeit bereitzustellen – wiederspiegeln, seine technische Leistungsfähigkeit zwangsläufig nur auf Kosten materialer Wertwidersprüche realisieren zu können. 327 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 382. 126 Und dieser Widerspruch wird dadurch radikalisiert, dass sich Weber dann auch noch das Ideal der gemeinrechtlichen Jurisprudenz zum Fluchtpunkt der „Entfaltung der Eigengesetzlichkeit des Rechts“ auswählt, dem nunmehr unschwer die „materialen“ Rationalitätsansprüche des sozialistischen Rechts und anderer gesinnungsethischer, d.h. personaler Sublimierungen des Rechts entgegengestellt werden. Die unverhohlene Kritik eines sozialistischen, nach materialen Wertgesichtspunkten naturrechtlicher Art ausgerichteten „Rechts“ oder gar die Annahme der Auflösung des Rechts bzw. seiner Ersetzung durch kommunikatives Handeln, scheint somit auf einem ganz spezifischen Weltbild zu beruhen, in dem das Prädikat der Rationalität nicht nur den außerokzidentalen Kulturen, sondern auch allen Weber gegenüber heterodoxen Strömungen des abendländischen Denkens abgesprochen wird. Nun ist zu prüfen, ob es nicht eine Deutungsmöglichkeit gibt, die den Prozessen interner Rationalisierung, externen Entwicklungsbedingungen und dem kulturvergleichenden Anspruch Webers gleichermaßen Rechnung trägt, ohne hierbei in den orientierungslosen Historismus oder die geschichtsmetaphysische Überfrachtung eines Grundzugs der Moderne zu verfallen. 3. Die Bedeutung der „innerjuristischen Verhältnisse“ für die Richtungen der rechtlichen Rationalisierung Am Ende von § 3 der „Rechtssoziologie“ führt Weber seine analytische Prozedur einer universalen Rationalitätsgeschichte des Rechts so ein: „Wir werden sehen, daß ein Recht in verschiedener Art, und keineswegs notwendig in der Richtung seiner juristischen Qualitäten rationalisiert werden kann. Die Richtung, in welcher diese formalen Qualitäten sich entwickeln, ist aber bedingt direkt durch sozusagen ‚innerjuristische‘ Verhältnisse: die Eigenart der Personenkreise, welche auf die Art der Rechtsgestaltung berufsmäßig Einfluß 127 zu nehmen in der Lage sind, und erst indirekt durch die allgemeinen ökonomischen und sozialen Bedingungen.“328 Weber unterscheidet also „direkte“ und „indirekte“ Einflussfaktoren der Rationalisierung des Rechts, wobei die unmittelbaren aus den Eigentümlichkeiten der Rechtssphäre, also den „Eigengesetzlichkeiten“ des Rechts fließen, die durch mittelbare „ökonomische“ und „soziale“ Bedingungen, also „Fremdgesetzlichkeiten“ gebrochen werden. Die allererste Voraussetzung auf dem Wege zur Rationalisierung des Rechts ist hierbei die „Abstreifung“ der Magie, von wo aus sich unterschiedliche Pfade der Rationalisierung verzweigen. Ebenso wie die Rationalisierung der religiösen Sphäre die Befreiung vom magischen Denken voraussetzt,329 ist die Überwindung eines vergleichbaren irrationalen Formalismus im Recht notwendige Bedingung der rechtlichen Rationalisierung. Sie ist nämlich insoweit noch nicht durch „innerjuristische“ Qualitäten bestimmt, sondern durch religiöse Faktoren, die ihrerseits noch im Vorfeld des Prozesses der religiösen Rationalisierung liegen. So schreibt Weber mit Blick auf die rechtliche Entwicklung: „Erst mit dem Zurücktreten der Bedeutung der Magie gewinnt die Tradition den Charakter, welchen sie z.B. im Mittelalter vielfach an sich trug: das Bestehen einer als Recht geltenden Übung kann Gegenstand eines ‚Beweises‘ durch die Parteien werden, ganz wie ‚Tatsachen‘.“ Gibt es also „sachlogische Gründe“ für die Rationalisierung des Rechts, die nicht von der Art der Rechtsinhalte abhängt, sondern aus eigenen, soziologischen Konstellationen der Struktur des Rechtssystems fließt? a. Rationalisierung durch Diskurs? 328 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 455 f. 329 Im „Resultat“ zur Konfuzianismusstudie heißt es: „Für die Stufe der Rationalisierung, welche eine Religion repräsentiert, gibt es vor allem zwei, übrigens miteinander in vielfacher innerer Beziehung stehende Maßstäbe. Einmal der Grad, in welchem sie die Magie abgestreift hat ...“ (Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, abgedr. in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, a.a.O., S. 512). 128 So geht es Weber um den Nachweis, dass auch das traditionale Recht, dessen Geltung Weber in den „Soziologischen Grundbegriffen“ an den Glauben in die Legitimität des immer schon Gewesenen geknüpft hatte,330 durchaus „rationale“ Züge aufweist. Weber entlarvt nämlich einerseits das sog. „Gewohnheitsrecht“, das die romantische Rechtsschule vor allem der Kodifikationsidee entgegensetzte, als einen „sehr modernen Begriff“, der in seinen Voraussetzungen faktischer gemeinsamer Übung (1.), gemeinsamen Legitimitätsglaubens (2.) und Rationalität (3.) erst das Resultat juristischer Konstruktionsarbeit ist.331 Sobald das Recht aus den Händen magischer und anderer „irrationaler“ Gewalten in den Umkreis irgendwie gearteter rudimentärer „Rechtspflege“ gerät, setzt andererseits eine eigenlogische „Rationalisierung“ der Tradition ein: „Ein gewisses Maß von Stabilität und Stereotypisierung zu Normen tritt immerhin ganz unvermeidlich ein, sobald die Entscheidung Gegenstand irgendeiner Diskussion wird oder rationale Gründe dafür gesucht oder vorausgesetzt werden, also mit jeder Abschwächung des ursprünglichen rein irrationalen Orakelcharakters.“332 Es ist also Max Weber, der hier eine spezifische Form der Rationalisierung durch „Diskurs“333, d.h. 330 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 19. 331 Wenn Weber meint, dass „der heftige Kampf der Rechtssoziologen (Lambert, Ehrlich) gegen ihn (den Begriff des ‚Gewohnheitsrechts‘, W.G.) m.E. durchaus unbegründet“ sei, so liegt dem gerade die Absicht zugrunde, eine „Vermischung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 441) zu vermeiden! Hieraus ein Zurückbleiben hinter dem zeitgenössischen Stand der „Rechtssoziologie“ herzuleiten, wie es Rehbinder tut, praktiziert die von Weber perhorreszierte Konfusion des faktisch und normativ Geltenden. Denn die Faktizität der „Gewohnheit“ wird nur dadurch „Recht“, dass ihr diese Qualität juristisch zugeschrieben wird. Interessant ist die parallele Deutung Lamberts durch Emile Durkheim, woraus ersichtlich ist, dass Durkheim auch dem Zivilrecht nicht ganz so fern stand. Vgl. Emile Durkheim, Rez. zu Edouard Lambert, La fonction du droit civil comparé, Paris 1903, in: L'Année sociologique 7, 1904, S. 374-379. 332 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 445 f. (eigene Hervorh.). 333 Die Theorie des kommunikativen Handelns fände in dieser versteckten Passage Webers also eine Stütze. 129 nämlich Diskussion mit rationalen Gründen, behauptet, die aus der Eigengesetzlichkeit des Vortragens, Antwortens und der Kritik mit „Gründen“ hervorgeht. b. Rationalisierung durch Tradition? Hieraus entsteht zugleich eine scheinbar paradoxe Form der Rationalisierung durch Tradition, wenn der Diskurs seine eigentümliche Bindungskraft entfaltet: „Denn offenbar ist es für einen Richter, dem eine bestimmte Maxime einmal bewußt und erkennbar als Entscheidungsnorm gedient hat, sehr erschwert, oft fast unmöglich, in anderen gleichartigen Fällen die in jenem Fall gewählte Zwangsgarantie zu versagen, ohne sich dem Verdacht der Befangenheit auszusetzen.“334 So stellt allein der subjektive „Glaube“, bereits geltende Normen „anzuwenden“, einen Schritt in die Richtung einer „für jede dem prophetischen Zeitalter entwachsene Rechtsfindung“335 dar. Diese „Tradition“ ist also „modern“, oder die „Moderne“ enthält durchaus „Traditionales“.336 c. Rationalisierung und die Vielfalt der Gefühlskulturen Ein scharfer Gegensatz wird hingegen zwischen den gefühlsmäßigen Qualitäten vorrationalen „Rechts“ und den „rationalen“ Qualitäten des modernen Rechts auf-gerichtet. Impliziter Diskussionsgegner ist für Weber wiederum die romantische Rechtsschule, zu der Weber – wie wir sehen werden – auch den französischen Zeitgenossen Durkheim hätte zählen müssen. So führt Weber über die Bedeutung des Rechtsgefühls aus, das im Zentrum von Durkheims emotiver Straftheorie steht: „Aber die Beobachtung lehrt, wie außerordentlich labil ‚das Rechtsgefühl‘ funktioniert, soweit ihm nicht das feste Pragma einer äußeren oder inneren Interessenlage die Bahn weist.“337 Das Rechtsgefühl lässt 334 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 445. 335 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 445. 336 Dies gilt es zu betonen, wenn allzu große Gräben zwischen „Tradition“ und „Moderne“ aufgerissen werden. 337 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 445. 130 sich aber noch weniger im Sinne einer die Kollektivität markierenden Identität ausdeuten; Weber erteilt vielmehr eine glatte Absage an die Vertreter jeder Volks- und Rechtsgeistlehren: „ ... Gerade die Besonderheiten ‚nationaler‘ Rechtsentwicklungen dagegen lassen sich aus einer Verschiedenheit des Funktionierens ‚gefühlsmäßiger‘ Quellen, soviel bisher bekannt, nirgends ableiten. Stark emotional, ist gerade das ‚Gefühl‘ sehr wenig geeignet, stabil sich behauptende Normen zu stützen, sondern vielmehr eine der Quellen irrationaler Rechtsfindung.“338 Webers Stoßrichtung ist also eine doppelte und für das Verständnis der „Rechtssoziologie“ Webers zentral. Die Differenzen „nationaler Rechtskulturen“339 sind nicht aus diffusen emotiven und traditional sedimentierten Faktoren einer Gefühlskultur herleitbar, sondern aus anderen Konstellationen. Zum anderen müssen wir festhalten, dass, obgleich – wie Weber behauptet – beliebige Aspekte der Welt „rationalisierbar“ sind, die „Gefühle“ hiervon ausgenommen sind. „Rationalisierung“ des Rechts heißt somit immer auch, gefühlsmäßgige Bande zu „überwinden“. c. Juridische Innovation durch Charisma Dies gilt allerdings nicht für die Neuschöpfung von Normen, solange das Prinzip der „Positivität“, d.h. der beliebigen Satzbarkeit des Rechts als Legitimitätsgrund noch keine Geltung besitzt. Die universalistische Rechtsschöpfung ist nämlich durch spezifische emotive Qualitäten, den Glauben an die außeralltäglichen Fähigkeiten des Rechtsschöpfers geprägt, die in den Epochen des traditionalen Rechts allein für Rechtsänderungen maßgeblich ist: „Dies aber kann nur geschehen auf dem hierfür ausschließlich möglichen Wege einer neuen charismatischen Offenbarung.“340 Der aus Webers Herrschaftssoziologie prominente Begriff des Charisma findet sich nun auch in Webers Rechtssoziologie. Einen religionsgeschichtlichen Tatbestand bezeichnend, scheint der Begriff auch aus dem theologischen Vokabular entnommen. Wie jedoch die von Weber in Bezug genommene Quelle, das 338 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 445. 339 Dieser Begriff ist im Zuge der Wiederentdeckung von „Kultur“ in der allgemeinen Soziologie auch bei „Rechtssoziologen“ en vogue. 340 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 446. 131 Kirchenrecht von Sohm341 belegt, stammt der Begriff aus dem juristischen, nämlich kirchenrechtlichen Kontext, auf den die Idee charismatischer Rechtsschöpfung nunmehr zurückgewendet ist. Der „Tradition“ gegenüber ist das „Charisma“ revolutionären Charakters. So heißt es: „Die Rechtsoffenbarung in diesen Formen ist das urwüchsige revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die Mutter aller ‚Satzung‘ von Recht.“342 Das Recht offenbart sich also durch tatsächliche oder vermeintliche Ein-gebung, wenn die traditionalen Normen für die Ordnung neuer Problemlagen nicht mehr hinreichen. „Normaler Träger dieser primitiven Form einer Anpassung von Ordnungen an neu entstandene Situationen ist der Zauberer oder der Priester eines Orakelgottes oder ein Prophet.“343 Das Problem der entsprechenden Herrschaftsform, nämlich die „Veralltäglichung des Charisma“,344 stellt sich hier nicht, weil die Rechtsprophetie funktional auf „Normwandel“ programmiert erscheint. Wir sollten an dieser Stelle die naheliegende Parallele zu Durkheim nicht übersehen. „Rationalen“ Normwandel gibt es im Modell der „groupments professionals“ durch die Selektion und Implementation situations- und berufsadäquater Normen,345 während andererseits gerade aus der Abweichung von Normen, nämlich dem „Verbrechen“, die Vorboten einer neuen revolutionären Moral hervorgehen.346 341 Vgl. Rudolph Sohm, Kirchenrecht, Bd. 1, Leipzig 1892. 342 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 446. 343 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 446 (eigene Hervorh.). 344 Vgl. insbesondere Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 142-148. 345 Vgl. hierzu oben unsere Auseinandersetzung mit Durkheims Idee der Normgenerierung, Dritter Teil, Kap. 2. 346 Der methodologische Sinn der Normalitätsthese ist bei Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a.a.O., Kap. 1 entwickelt. 132 In gleicher Weise wie sich die Normdevianz der Planbarkeit des Normgebers entzieht, zeitigt die charismatische Rechtsschöpfung im Sinne Webers letztlich: irrationale Konsequenzen. Denn nur die Formen, in denen neues Recht bei den charismatischen und magischen Gewalten gesucht wird, ist „rational“, dem steht der „irrationale Charakter der Entscheidungsmittel gegenüber“,347 und dieser antirationale Effekt reicht bis in die Moderne hinein, jedenfalls in Webers Sicht des englischen Rechts. Denn: „Lediglich durch das Fehlen rationaler Begründung unterschied sich das echte Orakel vom englischen Präjudiz.“348 Trotz gegenteiliger Behauptungen Webers bleibt dies die Einschätzung des englischen Rechts; der Streit der Interpreten über Webers Sicht des englischen Rechts hat also in Webers ambivalenter Haltung seinen Grund. Entscheidend für den Weg ins „rationale“ Recht ist also die Abstreifung von Magie, eine elementare Rationalisierung durch Diskurs und die charismatische Öffnung des Charisma bis zur Verwandlung des Rechtspropheten und Rechtspriesters in einen auf das Recht spezialisierten Fachkundigen. So ist Webers resümierende Feststellung eindeutig: „Ein formell irgendwie entwickeltes ‚Recht‘ dagegen, als Komplex bewußter Entscheidungsmaximen, hat es ohne die maßgebliche Mitwirkung geschulter Rechtskundiger nie und nirgends gegeben.“349 Die Bahnen, in denen sich die Rationalisierung des Rechts fortbewegt, hängt Webers bereits zitierter Hypothese nach aber von der inneren Ordnung der juristischen Verhältnisse ab, und das heißt: von den jeweiligen Trägern der rechtlichen Rationalisierung. 4. Träger der rechtlichen Rationalisierung 347 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 447. 348 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 450. 349 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 455 (eigene Hervorh.). 133 Anwaltsschulung und Universitätsbildung sind unterschiedliche Träger der Rechtsentwicklung, aus deren Einfluss sich unterschiedliche Tendenzen rechtlicher Rationalisierung ableiten lassen. a. Die Rationalisierungschancen der handwerksmäßigen Spezialisierung der Anwälte Die Eigentümlichkeiten des englischen Rechts lassen sich aus der Eigenart des Standes erklären, der die Rechtspflege verwaltet. Es ist schon die „handwerksmäßige Spezialisierung“ der Anwälte, die den „systematischen Überblick über die Gesamtheit des Rechtsstoffes“350 hindert. Erst recht mit der Monopolisierung des Rechtsunterrichts in den „Inns of court“351 unter Ausschaltung der universitären Lehre wird ein zünftiger, durch ein „Noviziat“ initiierter „esprit de corps“ herangezüchtet, der vor allem die eigenen Interessen im Auge hat und rein „empirisch praktisch“ ausgerichtet ist. Diese Praxis ist aber an handfesten, greifbaren, an typisch wiederkehrenden Einzelbedürfnissen und nicht an systematischer Rechtsbildung ausgerichtet. Das Rechtsdenken schließt – so Weber – vom Einzelnen auf das Einzelne und nicht auf das Allgemeine. Und so ist Webers Fazit zum englischen Recht im Sinne seiner Idee des formal rationalen Rechts vernichtend: „Aus den ihr immanenten Entwicklungsmotiven geht ein rational systematisiertes Recht, [oder] auch nur in begrenztem Sinn eine Rationalisierung des Rechts überhaupt, nicht hervor.“352 350 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 457. 351 Die Common Law-Lehrer schlossen sich im 14. Jahrhundert zu den bekannten Londoner Advokateninnungen („Inns of Court“): Inner Temple, Middle Temple, Lincoln’s Inn und Gray’s Inn zusammen. Gemeinsam mit den „inns of chancery“ suchten sie gegen die Universitäten einen eigenen juristischen Ausbildungsgang zu etablieren, der allerdings nach Erreichen des Monopols wieder verfiel. Die Inns waren seither Zünfte der ausschließlich vor Gericht verhandelnden „Barristers“ (at law), während die den Verkehr mit den Parteien und die Prozessvorbereitungen besorgenden „Solicitors“ ihre eigene Ausbildung und Organisation hatten. 352 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 457. 134 Die in Webers Augen bestehenden Defizite des anschaulichen, nicht an generellen Tatbestandsmerkmalen, sondern wie die Kautelarjurisprudenz der römischen „actiones“353 an feste Klageschemata, die „writs“, anknüpfenden juristischen Orientierungen waren zudem über Sportelinteressen der Anwaltschaft an zünftiger „Schließung“ der Rechtskenntnisse bedingt. Und weil sich der Richterstand aus den Reihen der plädierenden Anwälte354, der barristers, rekrutiert, wurde diese Orientierung durch keine Gegenkraft konterkariert. Überdies verschafft die „Unabhängigkeit“ nicht nur des Richters, sondern auch des Barrister von der Klientel, die nur über den dazwischen geschalteten Sollicitor überhaupt mit dem Publikum verkehrt, eine weitere strukturelle Barriere für den Zugang zum Recht.355 Der Traditionalismus des Betriebspraktikers wie die Eigeninteressen der Anwaltschaft standen also einer systematischen Rationalisierung des Rechts entgegen. Nun hätte diese Eigengesetzlichkeit sozialer Interessen sich ja auch auf dem Kontinent entfalten können. Eine zünftige Rechtsentwicklung war hier jedoch einfach deshalb ausgeschlossen, weil aufgrund der Dezentralisation der Rechtspflege eine machtvolle Zunft erst gar nicht entstehen konnte. b. Die Universitätsausbildung als Ort des „rationalen“ Rechts Die „moderne rationale juristische Universitätsbildung“ stellt den Gegentyp dar. Ihr ist die Tendenz zur Abstraktion, Systematisierung und logischen Sinndeutung eigen, die freilich eine andere Art der „Irrationalität“ in sich birgt: 353 Im römischen Recht sowohl die prozessualrechtliche Klagemöglichkeit wie – ausdrücklich seit Celsus, D. 44, 7, 51 – der materiell-rechtliche Klageanspruch. 354 Der Advokaten, also einer Anwaltschaft, die in England bereits am Ende des 13. Jahrhunderts zunftmäßig organisiert ist. Zur Zeit Eduard I. (1272-1307) erschienen nebeneinander der Stand der attornati (attorneys) als gewerbsmäßiger Konsulenten (die heutigen solicitors) und der Stand der advocati (pleaders) als der die Partei vor Gericht vertretenden Rechtskundigen (die heutigen barristers). 355 Dieses Argument ist Weber gegenüber zu ergänzen. 135 „Ihr rational-systematischer Charakter kann das Rechtsdenken zu einer weitgehenden Emanzipation von den Alltagsbedürfnissen der Rechtsinteressenten führen und ebenso ihr geringer Anschaulichkeitscharakter.“356 Dieser negative Effekt wird jedoch ausgeglichen, wenn die Schulung des Rechtsdenkens „mit der empirischen Rechtslehre kombiniert“357 wird, was die Deutung nochmals bestätigt, dass Webers Idealbild des rationalen Rechts nicht durch die einseitige Steigerung von Systematik oder Analytik, Konkretion oder Generalisierung, sondern eben durch die „Kombination“ der verschiedenen Aspekte rationalen Rechts bestimmt wird!358 Wenn die Kontrolle durch die Interessenten entfällt – oder um einen neueren Ausdruck zu verwenden – die „Responsivität der Dogmatik“ verloren geht, setzt sich das von Weber eindeutig perhorrreszierte359 Potenzial der falsch verstandenen Rationalisierung frei: „Die Gewalt der entfesselten rein logischen Bedürfnisse der Rechtslehre und der durch sie beherrschten Rechtspraxis kann die Konsequenz haben, dass Interessentenbedürfnisse als treibende Kraft für die Gestaltung des Rechts weitgehend geradezu ausgeschaltet werden.“360 Weber spielt als Beispiel auf die Vorschrift des § 571 BGB an, die programmatisch überschrieben ist, „Kauf bricht nicht Miete“, um den Bruch mit der Tradition kundzutun, die dem Mieter im Falle des Eigentümerwechsels schutzlos ließ. c. Priesterschulen Neben der zünftigen, durch Anwälte monopolisierten empirischen Rechtslehre und der universitären Rechtslehre analysiert Weber die Priesterschulen als 356 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 459. 357 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 459 (eigene Hervorh.). 358 Hierauf hat Richard Münch zu Recht insistiert; siehe auch oben Zweiter Teil, Kap. 3, Abschn. 4. 359 Dies muss gegenüber Ansichten betont werden, die Weber jede Art von soziologisch orientierter Jurisprudenz bestreiten wollen, so z.B. Manfred Rehbinder, Max Weber und die Rechtswissenschaft, in: ders.(Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 127-149. 360 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 459. 136 Träger der rechtlichen Rationalisierung. Dies kann durchaus zu einem gelehrten Umgang mit Rechtsproblemen führen, der freilich eher in einer „Gelehrtenkasuistik“ als einer systematischen Durchdringung des Rechtsstoffes mündet. Und dieser Effekt gilt ganz unabhängig vom Inhalt der jeweiligen religiösen Ethik.361 Das islamische Recht, das auf die Veden gestützte hinduistische Recht und die talmudische Jurisprudenz sind insoweit vergleichbar. Je stärker aber der Lehr- und Schulcharakter ausgeprägt ist, umso lebensferner sind die Ansätze ihrer Systematik: „Die hinduistische Rechtsgelehrsamkeit war daher sehr stark rein schulmäßig-theoretisch und systematisierend, in den Händen von Philosophen und Theoretikern liegend und trug die typischen Züge eines sakral gebundenen theoretischen und systematischen, aber sehr wenig an der Hand der Praxis sich entwickelnden Rechtsdenkens in besonders hohem Maße an sich ...“362 Diese Art der priesterlichen Systematisierung konnte durchaus weiter gehen als dies in Rechtsbüchern, etwa dem „Sachsenspiegel“, aufgezeichnete Recht. Ihre Grenzen ergeben sich aus der Bindung an die Anforderungen der jeweiligen religiösen Sphäre: „Aber die Systematik ist keine juristische, sondern eine solche nach Ständen oder nach praktischen Lebensproblemen. Denn diese Rechtsbücher sind, da ihnen das Recht im Dienst heiliger Zwecke steht, Kompendien nicht nur des Rechts, sondern zugleich auch des Rituals, der Ethik und unter Umständen der gesellschaftlichen Konvention und Höflichkeitslehre.“363 Wir können insoweit resümieren: Während die zünftig regulierte empirische Rechtslehre ihren partikularen Eigeninteressen zu Lasten systematischer Rechtsbildung verhaftet bleibt, die Universitätslehre durchaus systematischen Bedürfnissen der Intellektuellen Rechnung trägt, was auf Kosten der Praxisnähe geht, wird in den Priesterschulen sowohl Systematik wie Kasuistik gepflegt, nur 361 Weber leitet also keineswegs die Entwicklung des rationalen Rechts schlichtweg aus dem Charakter der religiösen Ethik ab. Gleichwohl kommt der „Eigengesetzlichkeit“ der religiösen Entwicklung eine eigene Rolle im Prozess der rechtlichen Rationalisierung zu. 362 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 461. 363 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 461. 137 an einem für die Rationalisierung des Rechts sozusagen falschen Objekt, nämlich dem Priesterbetrieb. Insofern ist eben die Ausdifferenzierung von Recht aus religiösen Zusammenhängen die Voraussetzung der Entfaltung rechtlicher Eigengesetzlichkeiten, wie wir später noch sehen werden. d. Honoratiorenjustiz Die Trägerschichten der Honoratioren ist dort wirksam, wo der priesterlichsakrale Einfluss zurückgeht und die Rechtspraxis noch nicht das Ausmaß erreicht hat, wie es städtischen Verkehrsbedürfnissen entspricht.364 Unterliegen auch die Rechtshonoratioren, wenn sie Träger der Rechtsentwicklung sind, ebensolchen Rationalitätsschranken, wie die zünftig anwaltliche Rechtspraxis, das Recht der gebildeten Universitätslehre oder das Kompendienrecht der Priesterschulen. Weber schreibt ein Gutteil der Rezeption des römischen Rechts den italienischen Notaren zu, die „schnell ein rationales Recht“ für wachsende Verkehrsbedürfnisse zur Hand haben wollten, ohne in Widerspruch zur Universitätslehre zu geraten, aber auch ohne eigene Motive für die Entwicklung eines zünftig vermittelten nationalen Rechts zu entwickeln, weil dies aus politischen Gründen noch gar nicht in Sicht war. So wurde von den Rechtshonoratioren ein entscheidender Beitrag zur Rezeption eines „Weltrechts“ geschaffen, das seine Fernwirkung entfaltete als das „Weltreich“ längst untergegangen war. Wo die Grenzen der Rationalisierungsfähigkeit dieser Trägerschicht liegen, lässt sich am mittelalterlichen Rechtsbücherrecht zeigen. Hier sind es nicht – oder weniger – städtische Verkehrsbedürfnisse, als: ländlich grundherrliche Rechtsbeziehungen, die den Charakter des von Schöffen oder Beamten365 geprägten Rechts bestimmten. Die in „Rechtsbüchern“ aufgeführten „Traditionen“ konnten sich allerdings gegenüber der Universitätslehre nicht behaupten. So waren diese Aufzeichnungen einer Honoratiorenjustiz zwar 364 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 461 ff. 365 Gemeint sind die „Ministerialen“. 138 durchaus entwickelt, aber ohne spezifische juristische ratio: „Formal war das empirische Rechtsbücherrecht des Mittelalters ziemlich entwickelt, systematisch und kasuistisch aber von geringer Rationalität, wenig an abstrakter Sinndeutung und Rechtslogik und statt dessen stark an anschaulichen Unterscheidungsmitteln orientiert.“366 Wiederum anders war die Bedeutung der Rechtshonoratioren im antiken römischen Recht. Wir erinnern uns, dass Durkheim auf die Frage, wie denn der Rechtsunterricht soziologisch zu befruchten sei, lakonisch geantwortet hatte, man möge römische Rechtsgeschichte betreiben. Wir wissen, dass Weber dies nicht erst in seiner Habilitationsarbeit über die römische Agrargeschichte getan hat, sondern seit den Vorlesungen bei Professor Bekker sich intensiv damit befasst hat.367 Aber führt dies bei Weber zu einer besonderen soziologisch inspirierten Sicht des römischen Rechts? Gelingt es vor allem, einen Zusammenhang zwischen Trägerschicht und der Eigenart des römischen Rechts plausibel zu machen? Im Unterschied zu der von Weber so qualifizierten „Kadijustiz“ der attischen Volksgerichte brachte die amtliche Prozessleitung ein hohes Maß eigengesetzlicher Rationalität ins Spiel. Trotz zahlreicher Parallelen zum englischen Recht aber fehlte der zünftig geschlossene Anwaltsstand, so dass das Schema der Prozessinstruktionen die Entwicklung von Rechtsbegriffen förderte, unter die eine Partei ihre Klagebegehren zu fassen hatte. Insoweit lag die Rechtsentwicklung also in den Händen der „Kautelarjurisprudenz“, „d.h. also der Tätigkeit von Rechtskonsulenten, welche die Vertragsschemata für die Parteien entwarfen, ebenso aber die Magistrate im „consilium“, dessen Zuziehung für jeden römischen Beamten typisch war, als Sachverständige bei der Herstellung ihrer Edikte und Klageschemata ...“368 366 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 462. 367 Siehe oben. 368 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 465. 139 Hieraus resultiert der spezifische bei von Ihering bereits charakterisierte „Geist des römischen Rechts“, nämlich sein „analytischer“369 Charakter, d.h.: „ ... die Zersetzung der plastischen Tatbestandkomplexe des Alltagslebens in lauter juristisch eindeutig qualifizierte Elementarakte ...“370 Gegenüber der Begriffsbildung im englischen Recht dominiert die Suche nach juristisch adäquaten Lösungen,371 die abstrakte Rechtsbegriffe hervorbringt, auch wenn etwa der vermeintlich römisch-rechtliche Eigentumsbegriff ins Reich der Legende verwiesen wird. So ist Webers Einschätzung ohnehin dadurch geprägt, den Mythos des vollkommenen römischen Rechts zu begrenzen, ebenso wie sich Weber vor Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches gegen den Mythos eines „deutschen“ Rechts verwahrt hatte.372 Gerade die Merkmale, die Weber einem vollständig rationalisierten Recht zuschreibt, Abstraktion und insbesondere Systematik, sind dem frühen römischen Recht abzusprechen. Vor allem fehlte es am Einfluss der durch Priesterschulen bewirkten Systematisierung, weil die Priesterschaft trotz ihrer formal bedeutenden Stellung politisch machtlos war. Trotz sakralrechtlicher Grundlage, die wir bei Durkheim im Anschluss an Fustel de Coulange kennen gelernt hatten, ist nach Weber die Beziehung zwischen Recht und Religion in Rom eher so gestaltet, dass die religiösen Dinge juristischer Behandlung unterliegen und nicht umgekehrt. Impulse einer Systematisierung gingen vielmehr von den politischen Gewalten aus, in der Kaiserzeit und unter dem Einfluss der byzantinischen Bürokratie. Freilich ging dies wiederum auf Kosten der formalen Strenge, während die 369 Vgl. Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Theil, 3. Aufl. Göttingen 1877, §§ 48-55, insbes. S. 176 ff. 370 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 466. 371 So heißt es: „ ... bei den Römern werden ökonomisch (äußerlich) verschiedene und neue Tatbestände einem ihnen adaequaten Rechtsbegriff unterstellt.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 467). Dies stimmt mit Luhmanns Formel „richtiger“ Dogmatik überein. 372 Vgl. hierzu den aufschlussreichen Artikel. Max Weber, „Römisches“ und „deutsches“ Recht, in: Die Christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände 9, 1895, S. 521-525. 140 Rechtskonsulentenliteratur nicht aus Konkurrenz gegenüber einem systematischen Universitätsrecht entstand, sondern in Verbindung mit einem gelehrten Recht der Praxis stand. Von dort her sind wiederum die Abstraktionsleistungen durch die Bedürfnisse der Praxis bestimmt. Die rechtstheoretisch hoch abstrakten Begriffe, wie das „Rechtsgeschäft“, der „Anspruch“, die „Verfügung“ fehlen daher dem antiken römischen Recht durchaus, weil diese eher den Denkbedürfnissen der Universitätslehre entsprechen. Die Systematisierungsleistungen des römischen Rechts, insbesondere der Pandekten373schreibt Weber der Eigenart der Staatsentwicklung zu: „Der rein weltliche und zunehmend bürokratische spätrömische Staat war es, welcher aus dem immerhin höchst präzisen römischen Rechtsdenken der Respondenten und ihrer Schüler jene in der Welt einzigartige Sammlung der ‚Pandekten‘ auslas und systematisch durch eigene Rechtsschöpfungen ergänzte, die dann noch nach Jahrhunderten das Material für das Rechtsdenken der mittelalterlichen Universitätsbildung darbot.“374 Das systematische juristische Studium, wie es durch die kaiserliche Verwaltung als Folge ihrer „Rationalisierung und Bürokratisierung“ bedingt war, ging also über die Theoriebedürfnisse der republikanischen Rechtshonoratiorenschicht hinaus. Weber unterscheidet somit i n n e r h a l b der römischen Rechtsentwicklung verschiedene Rationalitätsstufen, die ökonomisch nicht erklärbar sind – obwohl der städtische Charakter des Rechtsstoffes vor allem privatrechtliche Entwicklungen begünstigte –; sondern es sind die Eigentümlichkeiten rationalen Rechts, die aus der Trägerschicht der Rechtshonoratioren – dank den Anforderungen der Prozessin-struktionen – in die Richtung analytischer 373 Pandekten sind Umfangreiche Auszüge aus den klassischen römischen Juristenschriften, welche Justinian im Rahmen seines Gesetzgebungswerkes sammeln und aufzeichnen ließ (530-533n.Chr.). Sie bilden - neben Institutionen, Konstitutionen (Codex) und Novellen den wichtigsten Bestandteil der später als Corpus iuris civilis bezeichneten justinianischen Kodifikation. 374 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 466. 141 Begriffsbildung lenkt und unter dem Einfluss bürokratischer Rationalisierung einen zunehmend systematischen Charakter annimmt. Am Beispiel des römischen Rechts375 lässt sich somit demonstrieren, dass die jeweiligen Interessen einer Trägerschicht zwar für die Ausbildung bestimmter Dimensionen rationalen Rechts förderlich oder hinderlich sind, dass die Auswirkungen auf die Eigenarten des Rechtssystems aber nicht nur von diesen „innerjuristischen Verhältnissen“ abhängen, sondern dem Zusammenspiel mit den Eigengesetzlichkeiten anderer Sphären unterliegen. Fragen zur sechsten Vorlesung 1. Es lassen sich unterschiedliche Erklärungsstrategien für den Wandel zum modernen, rationalen Recht bei Weber unterscheiden. 375 Ein Lob auf Webers Sicht des Römischen Rechts wird zuletzt angestimmt bei: Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbildung, Jurisprudenz und Rechtsliteratur. Erster Abschnitt, München 1988; vgl. hierzu die Besprechung von Dieter Simon, 100 Jahre römische Rechtsgeschichte, in: Rechtshistorisches Journal 8, 1989, S. 94-100. 142 a. Benennen sie die dualen Entwicklungsschemata (Status/Kontrakt etc.) und erläutern Sie den jeweiligen Grundgedanken. b. Schildern sie den Grundgedanken der Deutung der rechtlichen Rationalisierung als „Entfaltung der Eigengesetzlichkeit“! 2. Wenn hierbei die „innerjuristischen Verhältnisse“ ausschlaggebend sind, wie entsteht denn aus der inneren Logik der rechtlichen Sphäre das „Neue“ (Rationalisierung durch „Diskurs“, durch „Tradition“, durch Gefühlskulturen (?), durch Charisma)? 3. Inwiefern sind die Träger der Rechtsentwicklung für die „Richtung“ der Rechtsentwicklung entscheidend? Worin bestehen die spezifischen Rationalisierungschancen bzw. Hemmnisse a. der anwaltsmäßigen, handwerklichen Schulung? b. der Universitätsausbildung? c. der Priesterschulen? d. der Honoratiorenjustiz? 143 Siebte Vorlesung Recht und Religion in der Entwicklung des Rechts In Webers Bild der okzidentalen Moderne spielt die religiöse Ethik bekanntlich eine herausragende Rolle. Gilt dies auch für die Entwicklung des okzidentalen Rechts, dessen einzigartigen Charakter Weber ständig herauskehrt?376 Ist sie unter den „außerjuristischen Verhältnissen“ das entscheidende Moment? Wir haben gesehen, wie die inneren Eigengesetzlichkeiten des Rechts durch „innerjuristische“ Strukturen befördert werden, die Weber als Trägerschichten bezeichnet. Webers umfassendste Formel zu den Ursprüngen des okzidentalen Rationalismus hatten wir in der Antwort auf die Frage identifiziert: „Welche Sphären und in welche Richtung sie rationalisiert wurden.“377 Für die Analyse des Rechts ist hierbei noch offen, inwieweit religiöse Faktoren die Weichen in Richtung der „Rationalität“ mitgestellt haben. 1. Sakrales und Profanes im Römischen Recht In der sog. „systematischen Religionssoziologie“378 führt Weber – mit Blick auf die „Rechtssoziologie“ – als einen der maßgeblichen Gründe für den 376 Die Arbeit von Hubert Treiber bleibt u.E. zu sehr auf strukturelle Parallelen zwischen Rechts- und Religionssoziologie fixiert (vgl. Hubert Treiber, „Wahlverwandtschaften zwischen Webers Religions- und Rechtssoziologie“, in: Stefan Breuer und Hubert Treiber (Hrsg.), Zur Rechtssoziologie Max Webers, a.a.O., S. 6-68). 377 Max Weber, „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, Bd. 1, a.a.O., S. 12. 378 Sie wurde als Kap. V des zweiten Teils im ersten Halbband von Webers posthum veröffentlichten Grundrissbeitrag noch vor der „Rechtssoziologie“ plaziert (vgl. Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 245-381). Die Überschrift „Religionssoziologie 144 fundamentalen Unterschied asiatischer und okzidentaler Erlösungsreligiosität gerade die Eigenart des römischen Rechts auf: „Von praktischen Momenten kommt in Betracht“ – so Weber –, „dasß, aus noch zu erörternden Gründen, der römische Okzident allein auf der gesamten Erde ein rationales Recht entwickelt hatte und behielt.“379 Aber was hat die Ausbildung eines rationalen Rechts mit der Beziehung von religiöser Ethik und Welt, Gotteskonzeption und Lösung der Theodizeefrage zu tun, die über die Richtung der religiösen Rationalisierung entscheidet? Webers Antwort unterstellt, dass unter der Herrschaft des „rationalen Rechts“ auch die Beziehung von profaner und heiliger Welt als ein Rechtsverhältnis begriffen wird. So fährt Weber fort: „Die Beziehung zu Gott wurde in spezifischem Maß eine Art von rechtlich definierbarem Untertanenverhältnis, die Frage der Erlösung entschied sich in einer Art von Rechtsverfahren, wie dies ja noch bei Anselm von Lauterburg charakteristisch entwickelt ist.“380 Wenn aber die Beziehung des Menschen zu Gott als ein „Rechtsverhältnis“ begriffen wird, bedarf dann die Sündenhaftigkeit und Verderbtheit der menschlichen Handlungen nicht einer entsprechenden „Rechtfertigung“? Bevor wir auf diesen Zusammenhang von protestantischer Ethik und juristischem Hintergrund der theologisch zentralen Frage der „Rechtfertigung“ insistieren, bleibt das Problem der Beziehung von sakralem und profanem Recht in Rom bestehen. Wir hatten bei der Analyse unterschiedlicher Träger der Rationalisierung gesehen, dass nicht die Priesterschulen, sondern die weltliche Honoratiorenschicht das rationale Recht als ein säkularisiertes „jus“ beförderten, obwohl die rituellen Pflichten einen ungeheuren Raum im römischen Leben einnahmen. In der „Rechtssoziologie“, in der Weber ja sogar eine juristische Überformung des religiösen Alltags im Sinne einer „rein formalistischen und juristischen Behandlung religiöser (Typen religiöser Vergemeinschaftung)“ ist eher „untypisch“ für Weber, der gewiss keine Regionalsoziologien propagieren wollte. Vgl. jetzt: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften. Herausgegeben von Hans G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit Petra Schilm und unter Mitwirkung von Jutta Niemeier. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2001. 379 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 335 (eigene Hervorh.). 380 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 335. 145 Dinge“381 annimmt, ist dies das Ergebnis der „Unterwerfung der priesterlichen unter die profane Gewalt“382. Der Konflikt von „Recht“ und „Religion“ ist hier also politisch, nach dem Machtverhältnis theokratischer und profaner Herrschaft entschieden. 2. Rechtspartikularismus in Indien In Indien ist das Verhältnis gerade umgekehrt: die herrschende Priesterschaft, die Brahmanen, reglementieren das gesamte Leben ritualistisch, während die profane Rechtsbildung auf die Entwicklung von Partikularrechten der einzelnen Berufsstände begrenzt ist. Weil diese Rechtsgebiete aber nicht einer Priesterlehre oder irgendeiner, in Indien so hoch entwickelten intellektuellen Durchdringung unterlagen, fehlten jegliche Ansätze einer rechtlichen Rationalisierung.383 Diese Konsequenz ergibt sich allein aus der „Eigengesetzlichkeit“ der Trägerschichten, die wir oben entwickelt haben. In der systematischen Indienstudie384 hingegen kommen weitere, innerreligiöse Erklärungsmomente hinzu, die den entstehenden Polymorphismus der diversen Ethiken und das Fehlen eines jeden universalistischen Rechts verständlich machen. Die intellektuell geniale Lösung des Theodizeeproblems in der Karmalehre, eine höchst „rationale“ Lösung der spezifischen Problemstellung der religiösen Sphäre, hat nämlich höchst irrationale Konsequenzen für die übrigen Lebensbereiche: „Denn da nicht nur die Kastengliederung der Welt, 381 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 464. 382 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 472, wobei wiederum auf die „Religionssoziologie“ verwiesen wird, in der die „Eigentümlichkeiten der römischen Götterwelt“ behandelt sind, wo sich andererseits der Verweis auf die „Rechtssoziologie“ findet. Also auch bei Weber eine Verschlingung von „Recht“ und „Religion“? 383 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 473. 384 Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hindusimus und Buddhismus, zuerst als Artikelfolge im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, abgedr. in: Gesammlte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 2, a.a.O. 146 sondern ebenso die Abstufung göttlicher, menschlicher, tierischer Wesen aller Rangstufen von der Karmalehre aus dem Prinzip der Vergeltung vorgetaner Werke abgeleitet wurde, so war für sie das Nebeneinanderbestehen von ständischen Ethiken, die untereinander nicht nur verschieden, sondern geradezu einander schroff widerstreitend waren, gar kein Problem. Es konnte – im Prinzip – ein Berufs-Dharma für Prostituierte, Räuber und Diebe ganz ebenso geben wie für Brahmanen und Könige.“385 Im Unterschied zum klassischen Konfuzianismus waren die Menschen eben nicht gleich, sondern sie hatten allenfalls gleiche Chancen, im Rad der Wiedergeburt einen besseren oder auch: schlechteren Platz zu erlangen. Absolute „Sünden“ oder Normverstöße kann es gar nicht geben, sondern nur die Verletzung partikularer Ritualpflichten. Für die Entwicklung irgendeiner Art von übergeordneter normativer Ordnung – wie sie im Okzident vom Naturrecht entwickelt wurde – ist hier kein Raum.386 Weder „Rechte“ noch „Pflichten“, „Staat“, „Untertan“ oder „Staatsbürger“ sind in dieser religiösen Ethik denkbar, nur das ständische „Dharma“ reguliert das – wie Weber es nennt: „hinduistische soziale System“.387 Hieraus aber resultiert nach Weber, „daß der Stellung des Fürsten und der Politik in eigentümlich penetranter Art ihre Eigengesetzlichkeit gewahrt bleibt.“388 Dies aber führt nicht zur Entfaltung „rationaler“ Politik, sondern zum „nackten Macchiavellismus“.389 Am Beispiel Indiens wird somit sichtbar, wie weit die Folgen einer religiösen Ethik reichen, der jede universalistische Tendenz fehlt. Es sind keine Impulse für die Ausbildung abstrakter ethischer und das heißt eben auch: juristischer Kategorien vorhanden. Die Politik ist in keinster Weise ethisch-rechtlich temperiert und die Ökonomie leidet gewiss nicht an mangelndem Gewinnstreben, aber – im Vergleich mit der okzidentalen Entwicklung – fehlt es am methodisch-rationalen Erwerbsstreben. Ohne einen rechtlich konstruierten und ethisch reglementierten „Staat“ ist aber auch die für das 385 Max Weber, Hinduismus und Buddhismus, a.a.O., S. 142. 386 Max Weber, Hinduismus und Buddhismus, a.a.O., S. 145. 387 So die Überschrift des ersten Kapitels der Indienstudie. Der Begriff des „sozialen Systems“ ist also durchaus bei Max Weber zu finden. 388 Max Weber, Hinduismus und Buddhismus, a.a.O., S. 144. 389 Vgl. hierzu jetzt auch die Ausführungen von Mashiro Noguchi, Kampf und Kultur, a.a.O. 147 Wirtschaftsleben erforderliche Rechtsgarantie nur unvollkommen.390 Die in der Karmalehre religiös legitimierte und sozial-strukturell durch die Kastenordnung bedingte „Dharma-Lehre“ hat also keinerlei Ansätze für eine rechtliche Rationalisierung des indischen Lebens geboten. 3. Die mangelnde Spannung von positivem Recht und Naturrecht in China In China hingegen scheint die alleinherrschende Schicht der Literatenbürokratie einer rechtlichen Rationalisierung eher günstig zu sein. Denn die Impulse zu einer Systematisierung des Rechtsstoffes gehen ja gerade von einer bürokratischen Trägerschicht aus. Gleichwohl hat es – wie Weber in der „Rechtssoziologie“ bemerkt391–eine rationalistische Tendenz im chinesischen „Recht“ nicht gegeben. Eine Antwort findet sich – wie zum „indischen“ Recht – in den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“, der Studie über „Konfuzianismus und Taoismus“. Die Fragestellung ist dort unzweideutig auch auf die Eigenart des Rechts bezogen: „Aber warum blieb diese Verwaltung und Justiz so ... irrational? – dies ist die entscheidende Frage.“392 Dabei bestreitet Weber keineswegs, dass es einen eigenen, konfuzianischen „Rationalismus“ gegeben habe. Nur habe dieser n i c h t zu einer Rationalisierung der Ordnungen dieser Welt durch aktive Gestaltung geführt, sondern zu einer Anpassung an die ewigen, übergöttlichen Ordnungen, das Tao, und an die sozialen Erfordernisse, die sich aus der kosmischen Harmonie ergeben. Eine „Rationalisierung“ fand auch in dem Sinne statt, als die Gefühlskultur von allen orgiastischen und asketischen Zügen befreit wurde, die der Ausbildung des Gentleman-Ideals wohltemperierter Selbst- 390 Die Indienstudie ist u.E., ex negativo, der stärkste Beleg für die Interpenetrationsthese von Richard Münch! 391 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 475 f. 392 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, a.a.O., S. 394. 148 vervollkommnung entgegengestanden hätten.393 Ein rationales „Recht“ hat dieser konfuzianische Rationalismus der Weltanpassung nicht hervorgebracht. Einmal waren die Grundzüge der Sozialstruktur einer solchen Entwicklung nicht günstig. Die Macht der Sippen war ungebrochen und fand ihren politischen Ausdruck in der Selbstverwaltung der Dörfer, während die Stadt394 – in Ermangelung eines rechtlichen Korporationsbegriffs395– nicht zum Träger einer autonomen Rechtsentwicklung werden konnte, wie dies für die okzidentale Stadt galt. So fehlten trotz verschiedener Ansätze zu einer gesinnungsethischen Sublimierung des Strafrechts,396 Vorstellungen über „Freiheitsrechte“ im politischen Sinn oder in der Richtung einer naturrechtlich individualistischen Erwerbsethik.397 Die an klassischen Texten geschulte Bildung der Literati, deren Qualifikation getestet wurde,398 verirrte sich aber nicht in die Verschriftlichung der rechtlichen Belange des Alltags. Überdies wäre aufgrund der Eigentümlichkeiten der chinesischen Schrift399 der Alltag für die Massen kein Stück weit „lesbarer“ geworden. An den Eigentümlichkeiten der monopolisierten Bildung der Literati mag es auch liegen, dass – wie Weber erwähnt –sich ein eigener Anwaltsstand n i c h t herausbildete.400 Vielmehr galt eine vollständige Mischung von Verwaltung und Rechtsfindung, so dass es an 393 Vgl. Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 530 unter Hinweis auf Ludwig Klages zur Charakterisierung des Gegenbildes der Selbstkontrolle im Puritanismus. 394 Vgl. hierzu Sybille van der Sprenkel, Die politische Ordnung Chinas auf lokaler Ebene: Dörfer und Städte, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, Frankfurt am Main 1983, S. 91-113. 395 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 381. 396 Hier nennt Weber die Studien von Josef Kohler, die Emile Durkheim in der Année sociologique so eifrig rezensiert hat. 397 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 436. 398 Vgl. zum Stand der Literati: Peter Weber-Schäfer, Die konfuzianischen Literaten und die Grundwerte des Konfuzianismus, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 202-228. 399 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 412 f. 400 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 393. 149 einem die Rationalisierung des Rechts im Sinne der Entwicklung „innerjuristischer Qualitäten“ fördernden Juristenstandes vollständig fehlte.401 Dies aber führte zu einer für die patrimoniale Staatsstruktur402 typischen Differen-zierung der Herrschaft der Tradition einerseits und ungehemmter Willkür andererseits, was vor allem dem gewerblichen Kapitalismus403 hinderlich ist. Dass es ein kalkulierbares Recht gibt, auch ohne Systematisierung, zeigt das englische Beispiel. Nur dass es dort eine spezifische Trägerschicht der Rechtspflege gab, die kapitalistischen Interessen entgegenkam. Nur wenn diese mit einem „Beamtenrationalismus“ zusammentreffen, entsteht ein vollständig formal rationalisiertes Recht, sagt Weber in der Chinastudie.404 Aus dem Fehlen beider Momente ergibt sich bereits die Unwahrscheinlichkeit der Entwicklung rationaler Rechtsformen. Die praktische Sozialethik aber blieb, der herrschenden Sozialstruktur entsprechend, dem Muster organischer Pietätsbeziehungen verhaftet, wie sie in den fünf natürlichen Pflichtenkreisen des Konfuzianismus festgelegt waren. Aus diesen organischen Sozialbeziehungen aber konnte eine unpersönliche Geschäfts- und Rechtsethik nicht hervorgehen, wie überhaupt jede „Verpflichtung gegenüber ‚sachlichen‘ Gemeinschaften“405 undenkbar ist. Der Unterschied zur okzidentalen Entwicklung besteht in der Hemmung des rationalen Betriebskapitalismus, wofür Weber zunächst „das Fehlen des formal garantierten Rechts und einer rationalen Verwaltung und Rechtspflege“406 verantwortlich macht, die ihrerseits aber mächtige kapitalistische Erwerbs- und nicht Beuteinteressen voraussetzt. 401 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 392. 402 Vgl. hierzu jetzt Siegfried Hermes, Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft. Max Webers verstehende historische Soziologie am Beispiel des Patrimonialismus, a.a.O. 403 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 391. 404 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 438. 405 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 494. 406 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 494. 150 Entscheidend aber für die Rationalisierung von Recht und Wirtschaft ist die Überwindung personalistischer Beziehungen, für die es in China nach Webers Analysen keinerlei religiöse Impulse gab. Die Rationalisierung der Wissenschaften verlief in die Richtung des magischen, durch Chronomanten und Geomanten geprägten Weltbildes, in dem für eine philosophische, theologische oder auch: juristische Logik kein Raum war.407 Und dies bestätigt die von Weber behauptete Paradoxie der konfuzianischen Ethik auch fürs Recht: Gerade das Pragma der Weltanpassung führt nicht zu einer Anpassung der Welt an ihre „Eigengesetzlichkeiten“, sondern der unistische Einklang mit der Welt setzt das dynamische Element einer Spannung zwischen „heiligem und profanem Recht“ sowie einer Spannung von Naturrecht und materialer Gerechtigkeit außer Kraft, die Weber in der okzidentalen Entwicklung für ausschlaggebend hält.408 4. „Rationale“ und „irrationale“ Momente des islamischen Rechts Im Unterschied zur konfuzianischen Ethik wird die Haltung des Islams als eine Verbindung von Weltanpassung und Welteroberung charakterisiert.409 Ergeben sich hieraus Konsequenzen für die Einschätzung seines Rechts? Webers Theorie von der prägenden Kraft der Träger rechtlicher Rationalisierung macht die Tatsache zu schaffen, dass das „islamische heilige Recht“ durchweg Juristenrecht ist.410 Trotz zahlreicher Parallelen mit der Stellung des Juristen im antiken Rom ist ihm aber – im Unterschied zur legitimen 407 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 481. 408 Zum chinesischen Recht mit Blick auf Webers China-Studie vgl. Karl Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 134-173. 409 Vgl. Wolfgang Schluchters „Einleitung“ zu Max Webers Sicht des Islam, Frankfurt am Main 1987, S. 11-124. 410 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 475. 151 „interpretatio“ – die selbständige Interpretation der heiligen Schriften und der Interpretation untersagt. Hierin sieht Weber nun das stärkste Hindernis für die Entwicklung rationalen Rechts, nämlich die „Unmöglichkeit einer systematischen Rechtsschöpfung zum Zweck der inneren und äußeren Vereinheitlichung des Rechts.“411 Darüber hinaus steht die Begrenzung der personalen Geltung auf die Rechtsgenossen des Islam einer Universalisierung entgegen: „Die Folge war der Fortbestand der Rechtspartikularität in allen ihren Formen: sowohl als ständische für die verschiedenen geduldeten und teils positiv, teils negativ privilegierten Konfessionen, wie als Orts- oder Berufsgebrauch nach dem Satz: Willkür bricht Landrecht ...“412 Weber vermisst also neben der „Veränderbarkeit“ im Sinne der „Positivität“ des Rechts ihre personale Einschränkung und schließlich die „logische Systematisierung des Rechts in formalen juristischen Begriffen“.413 Patricia Crone hat in ihrer Kritik Webers ein ganz anderes Bild des islamischen Rechts gezeichnet:414 So seien alle Personen als „gleich juristische Einheiten“ aufgefasst,415 obwohl im gleichen Atemzug erwähnt wird, dass hiervon Sklaven, Frauen und (nicht-muslimische) Araber ausgenommen sind. Auch alle Gegenstände würden in ähnlicher Weise als gleiche juristische „Einheiten“ aufgefasst, was unserem Begriff der „Sache“ entsprechen würde. Die Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz sei voll entwickelt und der dominante Vertragstyp seien die Zweck- und nicht die Statuskontrakte. Allein die Eventual- und Versprechungsverträge seien aus Gründen des Schutzes der Rechtsinteressenten vor riskanten Unternehmungen ausgeschlossen.416 Und im 411 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 475. 412 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 476 (eigene Hervorh.). 413 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 476. 414 Vgl. Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des Islams, a.a.O., S. 294- 333. 415 Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus, a.a.O., S. 305. 416 Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus, a.a.O., S. 305. 152 Übrigen fehlten eine Reihe von Einrichtungen halt deshalb, weil niemand daran gedacht habe, sie zu entwickeln. Auf diese Weise wird „erklärt“, dass es kein Schadensersatzrecht, keine „Körperschaften“ und „juristische Personen“ gibt.417 Die Schlussfolgerung von Crone lautet überraschenderweise: „Im Weberschen Sinne ist das islamische Recht also rational ...“418 Freilich könnte die Distanz zu dem von Weber als „formal-rational“ definierten Recht kaum schärfer ausfallen. Denn es fehlen ja auch die Rechtsvorstellungen, die nicht nur für den kapitalistischen Erwerb und Verkehr nötig sind, sondern auch die juristisch begrifflichen Voraussetzungen des säkularisierten Staates als einer vom religiösen Leben abgetrennten „Anstalt“. Hierfür sind dann u.E. aber die innerreligiösen Motive verantwortlich, die den Islam als eine auf Eroberung der Welt zielende Religion der Weltanpassung kennzeichnet, die den „Eigengesetzlichkeiten“ dieser Welt keinerlei legitime Geltung zuschreiben kann. Und insofern bleibt das „Recht“ eben religiös-traditional überformt, was eine „Systematisierung“ keineswegs ausschließt, vielleicht aber der „analytischen“ Dimension und der Idee der „Konkretisierung“ einer den sachlichen Regelungsproblemen adäquaten Rechtsdogmatik zuwiderläuft.419 So bleibt es bei Webers Verdikt: „Der Islam kennt der Theorie nach so gut wie kein Gebiet des Rechtslebens, auf welchem nicht Ansprüche heiliger Normen der Entwicklung profanen Rechts den Weg versperrten.“420 417 Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus, a.a.O., S. 306. 418 Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus, a.a.O., S. 306. 419 Der Grund für Crones Abwertung der Weberschen Analyse liegt einfach darin, dass sie den idealtypischen Charakter des formal-rationalen Rechts nicht akzeptiert und im Übrigen Webers Vorstellung einer Kombination der verschiedenen Rationalitätsdimensionen verkennt. Für die tendenziöse Rezeption ist die folgende Stelle ein eindeutiger Beleg. Sie behauptet: „Darüber hinaus ist die Idee eines lückenlosen Systems soziologisch sinnlos“ (Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus, a.a.O., S. 302). Weber hingegen hatte nur von dem Postulat der Lückenlosigkeit gesprochen, was gerade den soziologisch relevanten Unterschied ausmacht. 420 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 474. 153 5. Gesetzesreligion und Religionsgesetz im Judentum Webers Charakterisierung des jüdischen Rechts verdient in diesem Zusammenhang eine besondere Aufmerksamkeit. Einmal steht die latente Kritik an Webers Protestantismusthese im Raum, nach der die Rolle des Judentums für die Entstehung des Kapitalismus unterschätzt sei; sodann ist in der jüdischen wie in keiner anderen Religion eine Prämie auf die Gesetzmäßigkeit des Handelns gelegt, so dass der Typus eines religiös legitimierten Rechts und – wie wir sehen werden – eines rechtlich geprägten Religionsverständnisses in einmaliger Weise zusammenfallen.421 In der „Rechtssoziologie“ betont Weber die Schranken, die der talmudischen Ju-risprudenz in die Richtung der Rationalisierung gesetzt sind: „Formell zeigte die eigentliche talmudische Jurisprudenz jene typischen Eigenschaften heiliger Rechte, deren merkliches Hervortreten hier aus der starken Schulmäßigkeit und der – gerade in der Zeit der Entstehung der Mischna-Kommentare – relativ, im Gegensatz zu früheren sowohl wie späteren Epochen, gelockerten Beziehung zur Gerichtspraxis folgen mußte: ein erhebliches Überwiegen rein theoretisch konstruierter, praktisch unlebendiger Kasuistik, welche bei den engen Schranken rein rationaler Konstruktion doch nicht zu einer eigentlichen Systematik sich fortbilden konnte.“422 Sind es also Defizite in der Dimension der systematischen und im Übrigen analytischen Rationalisierung des Rechts, so ist der mangelnde Bezug zu den Rechtsinstituten des Kapitalismus nicht mehr verwunderlich: „Das genuin jüdische Recht als solches, gerade auch das Obligationenrecht, ist schon seinem formalen Charakter nach, trotz einer freieren Entwicklung der rechtsgeschäftlichen Typen, doch keineswegs ein 421 Vgl. aus der Sicht des prospektiven Herausgebers der Judentumsstudie Eckart Otto, Max Webers Studien des antiken Judentums, Tübingen 2002; zu den Thesen in „Gesellschaftstheorie und Recht“ in den Grundzügen zustimmend: Otto, ebd. S. 131 ff. 422 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 478 f. 154 besonders geeigneter Nährboden für solche Institute gewesen, wie sie der moderne Kapitalismus braucht.“423 Diese negative Einschätzung steht freilich in einem gewissen Gegensatz zu der von Weber im ersten Weltkrieg verfassten Artikelfolge über das antike Judentum,424 die um einen posthumen Nachsatz über die „Pharisäer“425 zu ergänzen ist. Weber zeichnet hier nämlich das faszinierende Bild einer Kultur, in der sich Recht und Religion gegenseitig durchdringen, ohne zwangsläufig in Konfusion und rationalitätshemmender Entdifferenzierung zu enden. Am Anfang war nämlich kein Unrecht, sondern die Verbindung Jahwes zu dem von ihm „voluntaristisch“ erwählten Volke beruhte auf einem gegenseitigen Bunde, durch den die Juden als: politisch und religiöser Verband konstituiert wurden. Da der Inhalt dieses Vertrages, des „berith“, die Einhaltung bestimmter Pflichten vorsah, ergibt sich die außergewöhnliche Doppelgarantie der Normen: „Alle Verletzungen der heiligen Satzungen waren also nicht nur Verstöße gegen Ordnungen, die er garantiert, wie dies andere Götter auch tun, sondern Verletzungen der feierlichsten Vertragsverpflichtungen gegen ihn selbst.“426 Der Gott der Juden war also weder ein Lokal- noch ein Funktionsgott, sondern ein durch Vertrag gebundener Gott eines Personenverbandes, des Bundesheeres. Auch wenn dieser, in den verschiedenen Varianten des Dekalogs formulierte Inhalt später sakrosankt wurde, bestand die ursprüngliche Vorstellung in einer geradezu modern anmutenden Idee der „Positivitä“ des Rechts. So heißt es in der Studie zum antiken Judentum: „Nein, durch positive berith mit ihm war dies positive Recht für Israel geschaffen; es war nicht immer dagewesen und es 423 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 479. 424 Als Aufsatzfolge im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1917 und 1918 erschienen; im Folgenden zitiert nach: Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 3, Tübingen 8. Aufl. 1988 (1921). 425 Abgedr. in: Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 401-442. 426 Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 140. 155 konnte sein, dass es durch neue Offenbarung und neue berith mit dem Gott wieder geändert wurde.“427 Insofern barg also gerade das altjüdische Recht ein Modell der Veränderbarkeit, und zwar gerade des „heiligen“ Rechts. Der berithGedanke wurde noch dadurch verschärft, dass er – in negativer Weise – in den sog. kulturellen Dialog, als Verbot mit anderen einen „Bund“ zu schließen (Ex. 34,15), aufgenommen wurde.428 Jahwe ist also nicht nur ein Verbandsgott, sondern universeller Rechtsschöpfer. Dies stand im größten Gegensatz zu anderen, religiös geprägten Rechtsordnungen: „Das Recht war nicht ein ewiges Tao oder Dharma, sondern eine positive göttliche Satzung, über deren Innehaltung Jahwe eiferte.“429 Rechtssatzung und Rechtskontrolle fallen also zusammen. Hieraus erklärt sich auch, warum das Auslegungsmonopol nicht delegiert wird. So wird in Deut 4,2 ein radikales Auslegungsverbot formuliert, das sich bis in den Talmud fortsetzt.430 Dieser rechtliche Bindungscharakter hat weitreichende Folgen für die Beziehung des Volkes Israel zu Jahwe. Er befördert nämlich die religiöse Rationalisierung in einer ganz bestimmten Richtung. In den Resultaten zur Hinduismusstudie hatte Weber zwei Kriterien der religiösen Rationalisierung angegeben: den Grad der Systematisierung und die Abstufung der Magie. Wenn Jahwe die Einhaltung der Gebote fordert, dann sind Opfer und andere Mittel des Gotteszwanges vollständig entwertet. Was Jahwe also erwartet, ist Gehorsam wie einem Kriegsführer431 gegenüber, der zugleich der oberste Gerichtsherr ist. Wenn Wohl und Wehe des Volkes also von diesem Gehorsam abhängig sind, dann müssen den im Bund begründeten Pflichten, denen Gehorsamsansprüche Jahwes korrespondieren, auch 427 Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 141 f. (eigene Hervorh.). 428 So heißt es ebd.: „Hüte dich, einen Bund mit den Bewohnern des Landes zu schließen.“ 429 Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 142. 430 So wird in Schabbat 63 a die Rückkehr zum „Wortsinn“ postuliert, als Grenze der „Auslegung“ eine juristisch bekannte Figur, die hier freilich in einen narrativen Kontext eingebettet ist. Das gleiche gilt für die weitreichende Auslegungsmaxime der Interpretation aus dem Gesamtzusammenhang, die wiederum kasuistisch expliziert wird (vgl. Sanhedrin 86 a). 431 Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 146. 156 verständliche und befolgbare Befehle entsprechen.432 Allein hieraus erklärt sich daher die ungeheure Bedeutung, die der Feststellung der rechtlichen Gebote im Judentum beikommt. Wer diese für das religiöse Heil zentrale Rechtsfunktion wahrnahm, hat von den Jahwepriestern433 über die Leviten zu den Propheten, Pharisäern und Rabbinern geschwankt. Ihre Folge war zunächst ein antimagischer Zug der Religion: „So drängte der in den genuin jahwistischen Kreise lebendige Gedanke der ‚berith‘ alle Erforschung göttlichen Willens in die Bahn einer mindestens relativ rationalen Fragestellung und rationalen Mittel ihrer Beantwortung.“434 Das Prinzip der solidarischen Haftung des Volkes für die Verfehlungen des Einzelnen steigerte diesen rationalen Zug nur weiter, obwohl die Konsequenzen in höchster Weise irrationaler Art waren. Rechts- und Ritualkenntnis wurden somit zum religiös bedingten Gebot des Verhaltens eines jeden Einzelnen. Hieraus meinte Parsons – wie wir oben sahen435– die unvollständige Ausbildung eines eigenen Juristenstandes herleiten zu können. Wenn andererseits die Sanktionen Jahwes, der nicht nur ein eifersüchtiger, sondern rächender und zürnender Gott ist, das gesamte Volk treffen, auch wenn nur Einzelne gefehlt haben, verschärft sich die Theodizeeproblematik, die ja für Weber der Bezugspunkt einer intellektuellen Rationalisierung ist.436 So war die Frage unausweichlich, was denn dem Einzelnen die Erfüllung der Gebote Jahwes nützte, wenn das Tun anderer ihn dennoch schuldlos in Unheil verstrickte. Die Antwort war nicht eindeutig. Noch in der priesterlichen Redaktion steht die Versicherung von Gottes Gnade und Barmherzigkeit neben der Vorstellung einer bis ins dritte und vierte Glied durchschlagenden Rache. Die juristische 432 So wird Jahwe ausdrücklich von Weber als „Herrscher“ (im Sinne der „Herrschaftssoziologie“) bezeichnet; Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 328. 433 So heißt es: „Damit aber steigerte sich die Notwendigkeit, Ritual und rechtskundige Jahwepriester zur Erforschung des Willens des Gottes und der zu sühnenden Verfehlungen angehen zu können.“ (Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 177). 434 Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 179. 435 Vgl. oben Zweiter Teil, Kap. 3. 436 Vgl. etwa die Passage in der „Systematischen Religionssoziologie“, in: Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 314 ff. 157 Umformulierung der Verheißungen Jahwes für eine bessere politische Zukunft in „bedingte Zusagen für den Fall des Wohlverhaltens“ entsprachen sicher mehr den Interessen einer allumfassenden priesterlichen Seelsorge, während die Gnadenhoffnungen eher dem politischen Feld entstammten. Auch von dieser „Zwiespältigkeit“ wurde der Glaube an einen Gott der „gerechten Vergeltung“ nicht erschüttert. Eine weitere Steigerung der religiös bedingten Ritual- und Gesetzesethik tritt paradoxerweise durch den Typus eines religiösen Mittlers auf, der im höchsten Maße irrational erscheint: den Propheten. Er liefert nämlich der „Theologisierung des Rechts“ und der hiermit einhergehenden „Rationalisierung der religiösen Ethik“ das gesinnungsethische Fundament. Denn erst in der von Weber ausdrücklich als rational ausgezeichneten expressiven Prophetie, die der asketischen Prophetie in den asiatischen Religionen entgegengestellt wird,437 gelingt nach Weber der systematische Bezug auf die Regulierung des Verhaltens, die über die äußerliche Erfüllung der Gebote Jahwes und der interpretierenden Thoralehrer hinausgeht. So sind die Worte der Propheten des Unheils eine einzige Folge von Fluchreden gegen die Gesetzlosigkeit,438 die sich von den priesterlichen Hütern der Gesetzestreue dadurch unterscheidet, dass sie im Unterschied zu den Thoralehrern kein Amtscharisma beanspruchen, sondern über ein persönliches Charisma verfügen. Gegen „Ritualismus“ setzen die Propheten „massive ethische 439 Werkgerechtigkeit“. Die Prophetie ist dadurch eben nicht als Weltflucht gekennzeichnet, sondern sie hat eindeutig innerweltliche Züge, die sogar in die Richtung der individuellen Verantwortung gehen, wenn nach Hesekiel (Hes. 18,4) nur derjenige sterben 437 Vgl. Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 298 ff. 438 Vgl. z.B. Habakuk 1,4: „Darum ist das Gesetz ohne Kraft und das Recht setzt sich gar nicht mehr durch. Die Bösen umstellen den Gerechten und so wird das Recht verdreht.“ (vgl. auch Micha 3,1-4; 6,9 ff.). 439 Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 298. 158 soll, der sündigt.440 Eine außerordentliche Prämie, im Solidarhaftgedanken wegen der Unberechenbarkeit der Folgen noch erschwert, lag also auf dem rechten innerweltlichen Verhalten: „Auf das sittlich richtige Handeln, und zwar das Handeln gemäß der Alltagssittlichkeit, kam für das besondere, Israel in Aussicht gestellte Heil alles an.“441 Insofern betont also gerade Weber – entgegen der Kritik Günter Stembergers442– die Elemente innerwelticher Selbstkontrolle, die gerade von den Propheten auf einen systematischen Punkt bezogen werden, die Verletzung der Gerechtigkeit.443 Dieser Bezug ist so eng, dass im Zuge der antimagischen Tendenz nicht Wunder und Zauberwirkung den wahren vom falschen Propheten scheidet, sondern die Anerkennung der Allmacht des Gesetzes. Warum diese methodisch-rationale Selbstkontrolle gerade des religiös „tief“ empfindenden Juden letztlich doch nicht mit der innerweltlichen Askese des Protestanten konkurrieren konnte, ergibt sich nach Weber aus dem partikularistischen Geltungsanspruch dieser religiös bedingten Alltagsethik, d.h.: der Trennung von Binnen- und Außenmoral. Im Innenverhältnis aber galt, dass die Propheten des innerweltlichen Unheils sich jedweder mystischen Innewerdung mit dem Göttlichen entzogen und daher mit der Autorität des Propheten auf der Achtung der Pflichten und Gebote Jahwes insistierten. Dieser „rationale“ Charakter der Prophetie tritt daher als ein „Verstärker“ der vorhandenen Tendenzen auf, die durch „die Geistesarbeit der 440 Dies bedeutet eine Einschränkung der Solidarhaft und ist um ein ethisches „Aufrechnungsverbot“ ergänzt. 441 Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 311. 442 Vgl. Günter Stemberger, Das rabbinische Judentum in der Darstellung Max Webers, in: Max Webers Studie über das antike Judentum. Interpretation und Kritik, hrsg. von Wolfgang Schluchter, Frankfurt am Main 1981, S. 185-200 (S. 198). 443 So heißt es bei Weber: „Es (Israel, W.G.) zieht sich seinen Grimm zu vor allem durch Verletzung der ‚Gerechtigkeit‘, das hieß aber: der ihm eigentümlichen sozialen Institutionen.“ (Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 316). 159 israelitischen Rechtsprechung und Weisheitslehre“444 vorgezeichnet ist. Es sind also Propheten der bestehenden normativen Ordnung, nicht die Rufer nach der neuen Ordnung: „Vollends anomistische Konsequenzen des ekstatischen Gottesbesitzes wurden scharf abgelehnt. Ein Lügenprophet ist nach Jeremia jeder, der das Gesetz Jahwes mißachtet und das Volk nicht zu ihm hinzuführen trachtet.“445 In diesem sehr konkreten Sinne könnte man auch Durkheim einen soziologischen Propheten des Gesetzes nennen,446 dem gerade „anomistische Konsequenzen“ ein Greuel sind. Nur hat Durkheim der im antiken Judentum unlösbaren Theodizeefrage mit der paradoxen Folge, dass schließlich der Eintritt des prophezeiten Unheils als Indikator des Erwähltseins galt, in der „Normalitätsthese“447 eine ganz andere Wendung gegeben. Der Normbruch ist eine individuelle Verfehlung, aber gleichzeitig eine funktionale Notwendigkeit des sozialen Lebens. Aber kehren wir zu der von Weber betonten Aufteilung der normativen Sphäre in eine Binnen- und Außenwelt zurück! Weber geht es hierbei nicht um die für traditionale Ordnungen banale Feststellung, dass zwischen den Normen, die den Sippengenossen binden, und den ethischen Außenbeziehungen überhaupt geschieden wird. Dies war ja nicht zuletzt im Recht der Römer auch der Fall. Und es geht Weber auch nicht um die Richtung der gesonderten Außenmoral, die im Zinsverbot nach innen und der Erlaubnis des Zinsnehmens nach außen, ja gerade für die Entwicklung des rationalen Kapitalismus hätte förderlich sein können. Gegen diese Argumentation spricht einmal die Tatsache, dass auch im Binnenverhältnis der gläubigen Juden untereinander das Zinsverbot praktisch umgangen wird, nämlich durch die juristische Konstruktion eines solidarischen 444 Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 318. 445 Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 330 (eigene Hervorh.); der Unterschied zur levitischen Thora-Lehre liegt in der Entwicklung eines glaubensmäßigen unbedingten Vertrauens, das gegenüber der „legalistischen“ Innehaltung einzelner Vorschriften Vorrang besitzt (vgl. Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 333 ff.). 446 Dies sagen wir – im Unterschied zum eher metaphorischen Gebrauch bei Terry N., Prophets and Patrons, 1973. 447 Vgl. Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, a.a.O., S. 141 ff.; siehe auch: Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a.a.O., S. 4 ff. 160 Partnerschaftsvertrages zwischen Bank und Sparer, der die „Zinsen“ formell als „Gewinnbeteiligung“ deklariert.448 Außerdem ist das Bild zu einfach wenn nicht tendenziös, wonach die Trennung von Binnen- und Außenmoral sozusagen einen ethischen Freiraum nach außen schaffen würde. Für Webers Argument der Entstehung des rationalen Kapitalismus aus einer Wirtschaftsethik war ja auch nicht die Entfesselung hemmungsloser Erwerbstriebe entscheidend, sondern im Gegenteil die Verheißung einer religiösen Prämie auf eine „ethische“ Gestaltung der ökonomischen Außenbeziehungen. Hieran aber fehlte es nach Weber449 trotz aller Ansätze, das wirtschaftliche Wohlergehen auch als Anzeichen religiöser Bewährung zu betrachten.450 Dies musste erst recht geschehen, nachdem die „urwüchsige“ Differenzierung von Binnen- und Außenmoral mit der Situation des Pariavolkes in der Diaspora auf Dauer zusammenfiel. Die Erschwerung der Kommensalität durch Speiseverbote und Schlachtrituale und der Ausschluss des Konnubium führten zwar zu einer Festigung nicht nur der Binnenmoral, sondern auch der Binnensolidarität – wie gerade Durkheim am Beispiel der geringen Selbstmordrate von Juden zeigte – aber das Geflecht aus religiösen Geboten, Ritualvorschriften und Rechtsregeln blieb dem Einfluss ihrer religiösautoritativen Interpreten,451 den Rabbinern, unterworfen. Diese aber ließen – auch auf Grund des Verbots, gegen Entgelt zu lehren – keine Ansätze für eine systematische Rechtsbildung oder eine fortdauernde Anpassung an die 448 Diese „Umgehung“ des Zinsverbots ist bei Günter Stemberger, Das rabbinische Judentum in der Darstellung Max Webers, a.a.O., S. 194 ff., wiedergegeben. 449 Siehe Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 359. 450 Dies betont vor allem Stemberger, Das rabbinische Judentum in der Darstellung Max Webers, a.a.O.; doch gehen die Widerlegungsversuche insgesamt an Weber vorbei. Auch wenn im Talmud strikte Rechtlichkeit gegenüber dem Nichtjuden gefordert wird, erwächst hieraus noch nicht die umgekehrte Folge ethischer Sonderpflichten bis zur utilitaristischen Umdeutung als: „honesty is the best policy“. 451 So charakterisiert sie Weber im Nachtrag „Die Pharisäer“, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 3, a.a.O., S. 431. 161 Ordnungen452 dieser Welt erkennen. Hierfür freilich macht Weber nicht nur das innerreligiös bedingte Auslegungsverbot verantwortlich, was ja eine intensive Bindung an das Gesetz zur Folge hat, sondern die technische Eigenart der Gesetzesinterpretation der Rabbiner wird aus ihrer kleinbürgerlich stadtsässigen Lage erklärt,453 der ein ethisch-praktischer Rationalismus näher liegt als ein theoretischer, die „ratio“ mehr gilt als die Bildung systematisch tauglicher Begriffbildung. Webers Studie zum antiken Judentum ist also nicht nur der religionsgeschichtlichen Frage gewidmet, warum aus der jüdischen Religion der entscheidende Impuls zur Entstehung des rationalen Kapitalismus nicht hervorging, sondern sie ist ebenso als rechtshistorische Studie zu lesen, warum die Antriebe zu einer rationalen Entwicklung des Rechts so schwach blieben, obwohl der einzigartige Charakter der jüdischen Religion gerade darin besteht, dass die Beachtung des Gesetzes nicht nur oberstes Rechtsgebot, sondern allererste religiöse Pflicht ist. 6. Kanonisches Recht als Ausgangspunkt der okzidentalen Rationalisierung des Rechts Der Beitrag des Christentums zur Rationalisierung des Rechts wird hingegen außerordentlich hoch veranschlagt. In den Traditionen der antiken Philosophen und des römischen Rechts entstand ein eigenes, rational geschaffenes Kirchenrecht: „In ungleich stärkerem Maße als irgendeine andere religiöse Gemeinschaft hat ... die okzidentale Kirche den Weg der Rechtschöpfung durch rationale Satzung beschritten.“454 Hierfür war einmal der Anstaltscharakter der Kirche selbst verantwortlich und ihre bürokratische Struktur, die eine besondere Nähe zum rationalen Recht auf452 Weil der berith-Gedanke sich von der „historisch bedingten Form des politischen Verbandes“ in ein „theologisches Konstruktionsmittel“ (Max Weber, ... a.a.O., S. 356 f.) verwandelte, müsste u.E. das ursprüngliche Moment der positiven Satzung verloren gehen. 453 Max Weber, Die Pharisäer, a.a.O., S. 432. 454 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 480. 162 weist, wie noch genauer zu erläutern ist. Es kamen aber Gründe der christlichen Ethik hinzu, die den zu wahrenden Bestand an ethischen Normen auf ein Minimum begrenzte, was Weber auf die im Unterschied zum Judentum bestehende „eschatologische Weltabgewandtheit“ zurückführt. Die normative Unterbestimmtheit der Alltagsethik schafft somit, in der christlichen Ethik, auch Entwicklungsräume für die Entfaltung neuer Normen. Aus diesen Sonderumständen wird Weber das kanonische Recht zum Führer zur Rationalität des profanen Rechts. Die „Kirchen“ sind die ersten „Anstalten“ im Rechtssinn. Im Prozessrecht schließlich wird die Verhandlungsmaxime vor dem Hintergrund der religiösen Vorstellung objektiver Wahrheit ersetzt.455 Nicht zuletzt stammt der für Webers eigene Theorie der Herrschaft so zentrale Begriff des „Charisma“ nicht aus dem religiösen Sprachgebrauch, sondern der juristischen Terminologie des Kirchenrechts.456 Wie jedoch die von Weber in Bezug genommene Quelle, das Kirchenrecht von Sohm457 belegt, stammt der Begriff aus dem juristischen, nämlich kirchenrechtlichen Kontext, auf den die Idee charismatischer Rechtsschöpfung nunmehr zurückgewendet ist. Der „Tradition“ gegenüber ist das „Charisma“ revolutionären Charakters. So heißt es: „Die Rechtsoffenbarung in diesen Formen ist das urwüchsige revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die Mutter aller ‚Satzung‘ von Recht.“458 7. Die unbedeutende Rolle der protestantischen Ethik für die Genese des okzidentalen Rechts Webers Auskunft über die Bedeutung der protestantischen Ethik für die Entwicklung rationalen Rechts bleibt in der „Rechtssoziologie“ eigentümlich blass. 455 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 481. 456 Zur Rechtsvorstellung im Christentum vgl. im Übrigen J. Duncan, M. Derrett, Recht und Religion im neuen Testament, in: Max Webers Sicht des antiken Christentums, hrsg. von Wolfgang Schluchter, Frankfurt am Main 1985, S. 317-362. 457 Vgl. Rudolph Sohm, Kirchenrecht, Bd. 1, Leipzig 1892. 458 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 446. 163 Es ist nur der fiktive Endpunkt einer Entwicklung des Rechts, der selbst nicht mehr ausgezeichnet wird. Nur die Trägerschicht ist klar umrissen: „ ... so pflegen die bürgerlichen Schichten im allgemeinen am stärksten an rationaler Rechtspraxis, und dadurch auch an einem systematisierten, eindeutigen, zweckrational geschaffenen formalen Recht interessiert zu sein, welches Traditionsgebundenheit und Willkür gleichermaßen ausschließt und also subjektives Recht nur aus objektiven Normen hervorgehen läßt.“459 Wo aber finden sich die Beispiele für dieses im spezifischen Sinne „bürgerliche“ Recht: „Die englischen Puritaner haben ein solches systematisch kodifiziertes Recht ebenso wie die römischen Plebejer und das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts verlangt.“460 Dass Weber diesen Gedanken über den möglichen Zusammenhang von puritanischer Ethik und Rechtsentwicklung nicht weiter ausführt, ist angesichts der offenkundig schwierigen Beweisführung nicht weiter verwunderlich. Denn gerade im Einflussbereich der protestantischen Ethik ist ein systematisch und analytisch, konkretes wie abstraktes rationales Recht n i c h t ausgebildet worden. Man könnte diesen Tatbestand mit weitreichenden Folgen gegen die Gültigkeit der Protestantismusthese selbst anführen, obwohl Weber selbst die Reduzierung des sozialen Lebens auf „eine Formel“ lieber den Dilettanten überlassen möchte. So schreibt Weber zum Ende der Protestantismusthese: „Es wäre ein Leichtes gewesen, darüber hinaus zu einer förmlichen ‚Konstruktion‘, die alles an der modernen Kultur ‚Charakteristische‘ aus dem protestantischen Rationalismus logisch deduzierte, fortzuschreiten.“461 Ohne jeden Verdacht des Dilettantismus, im Geiste fachwissenschaftlicher Arbeit verfasst, war Weber freilich eine Studie über den Zusammenhang von protestantischer Ethik und Recht durchaus bekannt, die Webers genereller Protestantismusthese zumindest 459 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 472. 460 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 472. 461 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, a.a.O., S. 206, Fn. 3 von S. 205. 164 zeitlich voranging: Die Schrift von Georg Jellinek über die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.462 Gegen die erbitterte Kritik der französischen Rechtslehrer, die zum weiteren juristischen Umfeld der Durkheim-Schule gehören, z.B. Duguit und HauRiou,463 hält Jellinek an der eindeutigen These fest, dass der rechtsgeschichtliche Ursprung der „Déclaration des droits de l'homme“ nicht dem Einfluss Rousseaus und überhaupt romanischem Rechtsdenken entspreche, sondern von einem germanischen Ursprung,464 in der Magna Charta über die Strömungen der Reformation, in den Verfassungsbestrebungen des independistischen und puritanischen Neuen England realisiert worden sei.465 Trotz aller Verwandtschaft mit Webers Argumentationsweise466 muss freilich beachtet werden, dass Jellinek in die innerreligiöse Thematik n i c h t eindringt.467 Denn die These von der fundamentalen Bedeutung der Religionsfreiheit, die sich im Übrigen in der Virginia Bill of Rights erst ganz am Ende findet, ließe sich umstandslos aus den „Interessen“ der Kolonisten herleiten, ihr Motiv der Auswanderung nunmehr auch rechtlich abzusichern. Auch der religionsgeschichtliche Zusammenhang von „Individualismus“ und Menschenrechten468 bleibt unbefriedigend ebenso wie die Vorstellung einer 462 Die erste Auflage datiert aus dem Jahre 1895, die zweite (1903) bezieht die vehemente Kritik, namentlich aus Frankreich mit ein, während in der von Walther Jellinek posthum herausgebrachten Ausgabe die von Georg Jellinek für eine weitere Auflage vorbereiteten Änderungen eingearbeitet wurden, vgl. Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. 3. Aufl., München und Leipzig 1919. 463 Es ist nicht auszuschließen, dass durch diese Kontroverse die Rezeption der weitergreifenden Protestantismusthese Webers in Frankreich bereits negativ vorbelastet war. 464 Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 72 ff. 465 Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 64 ff. 466 So ist allein die Art, aus religiösen Ursprüngen außerreligiöse Konsequenzen abzuleiten, für Webers vergleichende religionssoziologische Studien maßgeblich. 467 So werden von Jellinek die verschiedenen, bei Weber sorgfältig geschiedenen, protestantischen Strömungen nicht weiter differenziert. 468 Vgl. Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 43. 165 religiös bedingten Temperierung der Staatsmacht. Allerdings wird bei Jellinek der religiöse Ursprung des Vereinigungscharakters und seiner rechtlichen Garantien ganz ebenso wie die voluntaristische Note der Soziallehre deutlich. Dabei hätte Jellinek eine noch engere Verbindung zwischen der Religionsfreiheit der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 und dem Inhalt der protestantischen Religionen ziehen können. So heißt es ja in Section 16: „That religion, or the duty which we owe to our Creator, and the manner of discharging it, can be directed only by reason and conviction, not by force or violence ...“ Die von Parsons so bezeichneten „volontarian associations“ haben also in den religiös bedingten Motiven der Sektenbildung – auch diesen Zusammenhang erwähnt Jellinek469– ihren Grund. Ebenso eindeutig ist das Resultat der Studie Jellineks: „Die Idee, unveräußerliche, angeborene, geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs.“470 In gleicher Weise behauptet Weber, dass der Geist des Kapitalismus nicht ökonomischen Ursprungs, sondern auch auf religiösen Gründen beruhe! Freilich ist die bei Weber formulierte Argumentation eine völlig andere,471 nämlich die Ausbildung einer methodisch-rationalen Lebensführung, die als Folge der religiösen Prämierung innerweltlichen H a n d e l n s auftritt.472 Allerdings 469 So heißt es: „Die Vereinsfreiheit tritt zuerst in der Form der Sektenbildung auf.“ (Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 61). 470 Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 57 (eigene Hervorh. ). 471 Auf eine Analyse der Beziehungen Webers und Jellineks an dieser Stelle muss verzichtet werden. Die auf Jellinek gehaltene Totenrede, die Verwandtschaften von Real- und Idealtypus, der Staatsbegriff der Drei-Elementenlehre, die Übernahme der Idee subjektivöffentlicher Rechte wären vor dem Hintergrund des vorhandenen Briefmaterials zu deuten. Der verdienstvolle Sammelband über „Max Weber und die Zeitgenossen“, hrsg. von Wolfgang J. Schluchter und Wolfgang Schwentker, a.a.O., hat die Beziehungen Webers zu zeitgenössischen Juristen nicht berücksichtigt. 472 Dass Jellinek andererseits der asketische Zug dieser protestantischen Bewegung nicht entgangen ist, zeigt sich an der folgenden Passage: „Was man bisher für eine Frucht der Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe. 166 liegt u.E. gerade im Handlungsbezug die tiefere Beziehung von protestantischer Ethik und dem Geist der Menschenrechte: Sie sind nämlich einmal – wie Jellinek betont – negative Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, eine allgemeine Handlungsfreiheit voraussetzend, zum anderen aber auch die Rechte zur aktiven Beherrschung des ökonomischen, sozialen und politischen Lebens. Dieser unterschiedliche Akzent ist bis in die Formulierungen der „Déclaration des droits de l'homme“ und der „Virginia Bill of Rights“ zu verspüren, selbst dort, wo Jellimek noch die vermeintliche Identität der Bestimmungen sieht: So wird in dem berühmten 17. Artikel im säkularisierten Pathos der kultischen Revolutionssprache das Eigentum als „heilige“ Institution473 deklariert – auch dies lässt sich bei Durkheim finden – während in der „Virginia Bill of Rights“ ausdrücklich der Vorgang des Erwerbens und Verfügens über Eigentum („aquiring and possessing of property“) als ein unverzichtbares Handlungsrecht postuliert wird. 8. Die ambivalente Rationalität des englischen Rechts Aber lässt sich darüber hinaus aus der inneren Logik der protestantischen Ethik irgend eine Tendenz zur systematischen Durchdringung des Rechtsstoffes über den von uns skizzierten Konnex zum Handlungsthema hinaus feststellen? In England jedenfalls ist ein solcher Effekt, wie Weber in seiner ambivalenten Charakterisierung des englischen Rechts474 als einerseits relativ rationales und Ihr erster Apostel ist nicht Lafayette, sondern jener Roger Williams, der, von gewaltigem, tief religiösem Enthusiasmus getrieben, in die Einöde auszieht, um ein Reich der Glaubensfreiheit zu gründen ...“ (Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 57). Erstaunlich bleibt, dass Jellinek, trotz der engen Bekanntschaft mit Weber, in den der Protestantismusstudie Webers nachfolgenden Auflagen diesen Zusammenhang gar nicht erwähnt! 473 So heißt es: „La propriété étant un droit inviolable et sacré, nul ne peut en être privé ... “ (eigene Hervorh.). 474 Vgl. im Übrigen über den Zusammenhang von protestantischer Ethik und Recht in England die Studie von David Little, Religion, Order and Law. A Study in Prerevolutionary England, Oxford 1969. 167 andererseits rationalisierungsunfähiges „case law“ immer wieder betont, gerade n i c h t eingetreten. Dieser Tatbestand ließe sich als ein von Weber gar nicht bemerkter Widerspruch monieren, mit Konsequenzen für den Geltungsanspruch der Protestantismusthese. Es zeigt aber andererseits die Grenzen der Verschlingung von Recht und Religion. Unsere Rekonstruktion der Wechselwirkung von rechtlicher und religiöser Rationalisierung konnte soweit unseren Interpretationsansatz weiter verstärken: Selbst in den scheinbar weltabgewandten Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ nimmt die Betrachtung des Rechts einen ganz zentralen Raum ein. Dies gilt für die Indien- und Chinastudie und in besonderem Maße für Webers Arbeit zum antiken Judentum, die sowohl unter religionsgeschichtlichem wie aber ebenso unter rechtsgeschichtlichem Blickwinkel zu lesen ist. Aus den „innerjuristischen Verhältnissen“, nach denen sich die Richtung der recht-lichen Rationalisierung ergibt, ist schon durch die jeweiligen Trägerfiguren der juristischen „Offenbarung“ und ihrer „Propheten“ auf eine außerrechtliche Sphäre, die Religion verwiesen. Es gibt aber eine ebenso enge Verbindung zur Sphäre der Politik, ohne deren Einfluss die Rationalisierungen des Rechts im Sinne dogmatischer Verfeinerungen gar nicht wirksam würden, das heißt die politischen Mächte, von denen nach Weber die Systematisierung des Rechts als Durchsetzung einer verbindlichen Rechtsordnung ausgeht.475 475 Vgl. insbes. § 6 der sog. „Rechtssoziologie“, Wirtschaft und Gesellschaft a.a.O., S. 482 ff. ; vgl. auch Werner Gephart, Juridische Grundlagen der Herrschaftslehre Max Webers, in: Edith Hanke und Wolfgang J. Mommsen (HG.) Max Webers Herrschaftslehre, Tübingen 2001, S. 73-98. 168 Fragen zur siebten Vorlesung 1. Unter den außerjuristischen Verhältnissen kommt der Religion als Bestimmungsgrund des Rechts eine besondere Bedeutung zu: a. Stellen Sie das Grundargument der Protestantismusthese Webers dar! b. Lässt sich aus diesem Deutungsansatz die Rolle des römischen Rechts für den Prozess der okzidentalen Rationalisierung erklären? 2. Wenn Weber einen fundamentalen Zusammenhang zwischen den Weltreligionen, dem von ihnen jeweils geprägten „Weltverhältnis“ behauptet, dann müssten die jeweiligen Weltreligionen auch auf das im Recht verdichtete Weltverhältnis/verständnis haben. a. Schildern Sie die Konsequenzen einer „weltflüchtigen“ Askese, wie sie in der indischen Religiosität dominiert, in Verbindung mit der partikularistischen Idee der „dharmas“ für die Chancen einer rechtlichen „Rationalisierung“. b. Aus welchen Gründen ist trotz einer erheblichen „Rationalität“ und Zentralisation der Herrschaft in China eine Rationalisierung des Rechts ausgeblieben? – Berücksichtigen Sie hierbei sowohl das Qualifikationssystem der „Literati“, und das unistische Modell von Welt und Ordnung. c. Wie kommt es nach Weber, dass trotz eines die Rationalisierung des islamischen Rechts begünstigenden Faktors, nämlich der Entwicklung eines eigenen Juristenstandes der vier Rechtsschulen, eine „Rationalisierung“ des Rechts gleichwohl nicht eingetreten ist? d. Wie ist es zu erklären, dass im jüdischen Recht trotz einer gegenseitigen Durchdringung von Recht und Religion, in dem das Verhältnis zu Gott in der „Berith-Vorstellung“ juristischer Natur ist und das Verhältnis zum „Gesetz“ religiös bestimmt ist, gleichwohl – so Weber – der Rationalisierungseffekt ausgeblieben ist? e. Auch wenn der „protestantischen Ethik“ nicht die zentrale Rolle zufällt, wie für die Entstehung der „kapitalistischen Kultur“, was sind gleichwohl benennbare Effekt für die Rechtsentwicklung? 169 Schluss Die Gefährdungen der rationalen Rechtskultur Materiale Gerechtigkeit statt formaler Rationalität? Manfred Rehbinder hat den Kreis der Weber-Exegeten dadurch irritiert, dass seiner „Rechtssoziologie“ ein hoffnungsloses Zurückbleiben hinter der zeitgenössischen Rechtstheorie und Rechtssoziologie vorgehalten wurde. Nimmt man den Gewährsmann dieser Einschätzung Rehbinders zu Hilfe, nämlich den auch von Weber als „Rechtssoziologen“ erwähnten Eugen Ehrlich, dann wird das Missverstehen nachvollziehbar. So resümiert Ehrlich seine Grundlegung der Soziologie des Rechts dahin, „ der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst.“476 Von einem solchen rechtssoziologischen Reduktionismus freilich, setzt sich Weber in doppelter Hinsicht ab: Einmal werden sowohl „Gesetzgebung“, „Jurisprudenz“ und „Rechtsprechung“ eine eigene Bedeutung für die Entwicklung einer Rechtskultur zugestanden, während andererseits Gesellschaft weder auf Klassen- und Interessen reduziert wird, sondern gerade die eigene Macht religiöser Kulturinhalte in Konkurrenz zu den rechtlichen tritt und auch als Motor der juristischen Kulturinhalte betrachtet werden kann. Noch provozierender musste einer sich rechtssoziologisch aufgeklärt wähnenden Jurisprudenz Webers Festhalten am Ideal einer Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz477erscheinen, das auch noch sozialistische Aufweichungen einer Wertungsjurisprudenz schärfstens abwies. Freilich hat 476 Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, unverä. Neudruck d. ersten Aufl. 1913, München,Leipzig 1929, Vorrede. 477 Vgl. auch den von unserer Interpretation abweichenden Deutungsversuch von Bernhard K. Quensel und Hubert Treiber, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode. Zur logischen Struktur von Max Webers Idealtypik, in: Rechtstheorie 33 (2002), S. 91-124. 170 sich nicht nur nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus, sondern auch nach dem Scheitern des sozialistischen Weltexperiments, der Sinn für das Formale im Recht und auch die Idee des ethischen und rechtlichen Universalismus in spürbarer Weise wiederbelebt. Damit gewinnt der abschließende Paragraph von Webers Analyse der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ – nach der Formel des Werkplans von 1914 – als vergleichender Kultursoziologie des Rechts eine neue Aufmerksamkeit. 1. Zunächst ist der Irrtum auszuräumen, Weber sähe das moderne Recht – wie dies Parsons vor allem meint – durch eindeutig universalistische Tendenzen gekennzeichnet. Zwar liegt das Defizit außerokzidentaler Rechtsordnungen in partikularistischen Hemmnissen der Rechtsentwicklung begründet; aber auch innerhalb der okzidentalen Rechtskultur sind partikularistische Strömungen zu verzeichnen. Webers sehr viel komplexere Auffassung lässt sich am ehesten dadurch charakterisieren, dass in Parallele zur Unterscheidung formaler und materialer Rationalität bzw. Irrationalität Weber zwischen formalem und materialem Universalismus bzw. formalem und materialem Partikularismus unterscheidet. Hiernach weisen etwa die Menschenrechte einen materialen Anspruch universaler Geltung aus, während das Vertragsrecht – wie Weber immer wieder betont – eben den nur formell universal „freien“ Kontrakt garantiert. Andererseits gibt es im modernen Recht Tendenzen der personalen Geltungsbeschränkung in dem nur für Kaufleute geltenden Handelsrecht, das sich als insoweit nur formal partikularistisch charakterisieren lässt. Materiale Beschränkungen universaler Rechtsgeltung im Professionsrecht oder lokalen Partikularitäten sind im modernen Staat zurückgetreten ebenso wie die Anknüpfung an den sozialen Stand im Sinne eines ständisch gebundenen Partikularismus. Was Weber aber im modernen Recht vor allem irritiert, ist die antiformale Ausrichtung an klassenorientierter, vermeintlicher „materialer 171 Gerechtigkeit“ statt „formaler Rationalität“, wie es im sozialistischen Rechtsverständnis gefordert wird.478 2. Den Kern moderner Rechtskultur sieht Weber von mehreren Seiten her bedroht: Die an Berechenbarkeit des Rechts ausgerichteten Interessen, nämlich die Gütermarktinteressenten, tragen eine eigentümliche gesinnungsethische Komponente in das formal-rationale Recht hinein, nämlich sog. Vertrauenstatbestände zu juridifizieren, die ihrer persönlichen Natur nach weniger formal tatbestandlich zu fassen sind. Die Zunahme der bona fides Regeln – man denke auch nur an §157 und §242 BGB – stellt nach Weber eine Aufweichung der formalen Qualitäten rationalen Rechts dar. Noch prinzipieller aber sind innerjuristische Rationalität und die Erwartungen der Rechtsinteressen letztlich unvereinbar. Die vielbeklagte Lebensfremdheit der Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz ist Weber zufolge nicht zufällig, „sondern in weitem Umfang die unvermeidliche Folge der Disparatheit logischer Eigengesetzlichkeiten jedes formalen Rechtsdenkens überhaupt gegenüber den auf ökonomischen Effekt abzweckenden und auf ökonomisch qualifizierte Erwartungen abgestellte Vereinbarungen und rechtlich relevante Handlungen der Interessenten.“479 Dies klingt nach uneingeschränktem Lob der Dogmatik, benennt aber am Ende nur den tragischen Konflikt zwischen Juristenrecht und populärem Rechtsempfinden. Weber nimmt dabei ja durchaus zur Kenntnis, dass etwa das Postulat der Lückenhaftigkeit des Rechts als bloßes Ideal entlarvt wird. Es gehört vielmehr zur „Entzauberung“ des Rechts in der Folge des allgemeineren Prozesses der „sich selbst überschlagenden wissenschaftlichen Rationalisierung“480, dass auch das Postulat, der bloß rechtsatzanwendenden 478 Vgl. die ausführliche Diskussion bei Werner Gephart, From Particularism to Universalism. Particularistic Features in the Normative Orders of Modern Societies (Vortrag Krakau 1992). 479 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 506. 480 Ebd., S. 509. 172 Tätigkeit des Juristen durchschaut wird. Nur hängt es wieder von der spezifischen innerjuristischen Interessenlage einer sich rein rechtstheoretisch gerierenden Kritik ab, in wessen Namen Lücken gefüllt oder wem die Legitimation der Rechtsschöpfung zugeschrieben wird. Je „freier“ die Rechtsschöpfung wird, umso größer wird der Bedarf nach neuer Bindung, sei es in einem Rückfall in ein überpositives Recht oder in der Illusion eines quasi „natürlichen“ Rechts des Interessensausgleichs. „Rechtsprophetie“ und „Rechtserkenntnis“ überpositiver Normen aber würde die Rechtsentwicklung auf vormoderne Rechtsstufen zurückwerfen. So verschlingen sich die Idee juristischen Fachmenschentums mit der These der unauflösbaren Eigengesetzlichkeit rationalen Rechts. Weber formuliert: „Jedenfalls aber wird die juristische Präzision der Arbeit, wie sie sich in den Urteilsgründen ausspricht, ziemlich stark herabgesetzt werden, wenn soziologische und ökonomische oder ethische Räsonnements an die Stelle juristischer Begriffe treten.“481 Analytik und Systembildung, fallbezogene Konkretisierung und juristisch konstruktive Begriffsbildung bleiben also die Fluchtpunkte rechtlicher Rationalisierung. Sie liefern von jeher das Profil der Rechtskritik.482 Weber sieht dabei den Konflikt zwischen formaler Legalität und materialer Gerechtigkeit als unvermeidlich an, wenn er von den „Konsequenzen des unaustragbaren Gegensatzes zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege“483 spricht. Eigentümlicherweise versteht es Weber nicht, den Eigenwert formaler Rechtsstaatlichkeit auf einen normativen Begriff zu bringen. Und das Unrecht, das im Namen materialer „Gerechtigkeit“ gesprochen wird, sei es in der nationalsozialistischer Missachtung des Rechts als Limitierung charismatischer – prinzipiell rechtsfeindlicher – Herrschaft oder aber der „sozialistischen Gerechtigkeit“ wird nur dem Risiko formaler „Irrationalität“ ausgesetzt, die aber zugleich eine „materiale“ darstellt. 481 Ebd., S. 512. 482 Zu einem interessanten Versuch, den Begriff des Rechts von der Stoßrichtung der Rechtskritik herzuleiten vgl. Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, München 2001. 483 Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O, S. 511. 173 Ein solcher Kern okzidentaler Rechtskultur in dem gekennzeichneten Sinne formaler Rechtsrationalität steht im Hintergrund von Webers vergleichender Kultursoziologie des Rechts. Diese Errungenschaft heißt es gegen eine „soziologische Rechtswissenschaft“484 im Sinne Eugen Ehrlichs und seiner Nachfolger zu verteidigen, die das Problem juristischer Wertbegründung verkennen, und gegen eine rechtstheoretische Desillusionierung des Automatenmodells, die anstelle der Idee der Rechtsanwendung die Illusion von schöpferisch freier Rechtsfindung485 setzt oder zu traditionaler Rechtsprophetie – aus durchsichtigen Standesinteressen heraus – zurückkehrt. Weber ist seinerseits prophetisch in der Voraussage, dass die zunehmende „Verrechtlichung“ – Weber spricht anschaulich von dem „an technischem Gehalt ständig anschwellenden“ Recht – nicht nur eine zunehmende Unkenntnis für Laien produziere, sondern gleichzeitig die zunehmende Wertung der formalen Qualitäten des modernen Rechts „als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats“ als sein „unvermeidliches Schicksal“486 erzeuge. Diese Prognose lässt sich, wie wir sehen werden, auf Habermas’ Theorie des Rechts anwenden, die von einer Kolonisierungsthese in ein Lob der formalen Prinzipien des Rechtsstaates im Gewande einer prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit umgeschlagen ist. Aber wie lässt sich das unstillbare Bedürfnis des Laien nach Verstehen des Rechts befriedigen, das durch die von Weber eher karikatural als „Volksjustiz“ bezeichnete Rechtspflege der Geschworenen nur unzureichend zu befriedigen ist? Sollten wir den ungeheuren Aufschwung von TV-Gerichtsserien nur als Ausdruck von Medienkonkurrenz erklären und als 484 Die Rechtswissenschaft werde ihrer Aufgabe nur dann ganz gerecht, „wenn sie eine Morphologie der menschlichen Gesellschaft gibt, und die Kräfte, die in der Gesellschaft wirken auf ihr Wesen und ihr Maß untersucht. So wird die Jurisprudenz zur Rechtswissenschaft, zur Lehre vom Recht als gesellschaftlicher Erscheinung...“ (Eugen Ehrlich, Soziologie und Jurisprudenz, Czernowitz 1906, S. 19). 485 Zu Webers Auseinandersetzung mit der Freirechtsschule vgl. im Detail den Band „Recht“ (MWG I/22-3). 486 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 513. 174 ohnehin gescheiterten Versuch juristischer Volksaufklärung belächeln oder verbirgt sich hinter dieser „anschwellenden“ Bilderflut zum Recht etwas viel Ernsteres: die Spannung von formaler und materialer Rationalisierung als Medienillusion zu überwinden? Lässt sich Webers Rechtssoziologie am Ende in wenigen Sätzen resümieren? Wie hat man die Spannung zwischen einem dualistischen Entwicklungsschema, da einer früheren Werkidee verpflichtet war mit dem komplexen Modell des Rationalisierungsmodells zusammenzusehen und wo liegen hierbei die von Weber so scharf betonten Wertakzente, also die „Kulturbedeutung des modernen Rechts“?487 Die „Einheit“ der Rechtssoziologie lässt sich m.E. als eine historisch-vergleichende Kultursoziologie des Rechts in universalhistorischer Perspektive bestimmen, die es gestattet zu begreifen, welche Wertigkeit die normative Ordnung des Rechts, jenseits der bloßen Garantie sozialer Ordnung, besitzt. Und dies gerade auch im Blick auf eine normative Idee des formal-rationalen Rechts, für die Weber in großer Klarheit und Entschiedenheit einsteht.488 487 Vgl. hierzu Werner Gephart, Das Collagenwerk. Zur sogenannten „Rechtssoziologie“ Max Webers, in: RG 3/2003 (Septemberheft der Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte). 488 Hierhin gehört auch die biographische Frage von Webers persönlichem Verhältnis zum Recht, unabhängig von seiner juristischen Sozialisation und einer temperamentsmäßig bedingten Streitlust. Ich meine Webers Empörung bei Rechtsverletzungen, wie sie gerade im Familienrecht des Wilhelminischen Reiches auftraten. 175 BIBLIOGRAPHIE ZUR MAX WEBER-VORLESUNG (EINE AUSWAHL) I. Max Webers Werk 1. Gesammelte Aufsätze Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 91988. (UTB; 1488) Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie II. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 71988. (UTB; 1489) Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 81988. (UTB; 1490) Gesammelte Politische Schriften. Herausgegeben von Johannes Winckelmann. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 51988. (UTB; 1491) Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Herausgegeben von Johannes Winckelmann. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 71988. (UTB; 1492) Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 21988. (UTB; 1493) Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 21988. (UTB; 1494) Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Fünfte, revidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1985. 2. Max Weber Gesamtausgabe [MWG] (Erschienene Bände) [MWG I/2] Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staatsund Privatrecht. 1891. Herausgegeben von Jürgen Deininger. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1986, (Studienausgabe 1988). 176 [MWG I/3.1] Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. 1892. Herausgegeben von Martin Riesebrodt. 1. Halbband. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1984. [MWG I/3.2] Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. 1892. Herausgegeben von Martin Riesebrodt. 2. Halbband. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1984. [MWG I/4.1] Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892-1899. Herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff. 1. Halbband. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1993. [MWG I/4.2] Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892-1899. Herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff. 2. Halbband. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1993. [MWG I/5.1] Börsenwesen. Schriften und Reden 1893-1898. Herausgegeben von Knut Borchardt in Zusammenarbeit mit Cornelia Meyer-Stoll. 1. Halbband. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2000. [MWG I/5.2] Börsenwesen. Schriften und Reden 1893-1898. Herausgegeben von Knut Borchardt in Zusammenarbeit mit Cornelia Meyer-Stoll. 2. Halbband. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2000. [MWG I/8] Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. Schriften und Reden 19001912. Herausgegeben von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Peter Kurth und Birgitt Morgenbrod. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1998, (Studienausgabe 1999). [MWG I/10] Zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 19051912. Herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Dittmar Dahlmann. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1989, (Studienausgabe 1996). [MWG I/11] Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. Schriften und Reden 1908-1912. Herausgegeben von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Sabine Frommer. Tübingen: J. C. B. 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[MWG I/20] Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. Schriften 1916-1920. Herausgegeben von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Golzio. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1996, (Studienausgabe 1998). [MWG I/22-2] Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften. Herausgegeben von Hans G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit Petra Schilm und unter Mitwirkung von Jutta Niemeier. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2001. [MWG I/22-5] Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilband 5: Die Stadt. Herausgegeben von Wilfried Nippel. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1999. [MWG II/5] Briefe 1906-1908. Herausgegeben von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1990. [MWG II/6] Briefe 1909-1910. Herausgegeben von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1994. 178 [MWG II/7.1] Weber, Max: Briefe 1911-1912. 1. Halbband. Herausgegeben von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1998. [MWG II/7.2] Weber, Max: Briefe 1911-1912. 2. Halbband. Herausgegeben von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1998. 179 II. Exemplarische Sekundärliteratur 1. Einführung Käsler, Dirk: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt am Main; New York: Campus 1995. Weiß, Johannes: Max Webers Grundlegung der Soziologie. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. München; London, New York; Paris: K. G. Saur 2 1992. 2. Gesamtdarstellung Alexander, Jeffrey C.: Theoretical Logic in Sociology. Volume Three: The Classical Attempt at Theoretical Synthesis: Max Weber. Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1983. Bendix, Reinhard: Max Weber – Das Werk. Darstellung, Analyse, Ergebnisse. Mit einem Vorwort von René König. München: R. Piper 1964. Schöllgen, Gregor: Max Weber. München: C. H. Beck 1998. (BsR 544) 3. Biographie Fügen, Hans Norbert: Max Weber. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 41995. Weber, Marianne: Max Weber. Ein Lebensbild. Mit einer Einleitung von Günther Roth. München; Zürich: R. Piper 1989. Treiber, Hubert/Karol Sauerland (Hrsg.): Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Gesellschaft“ eines „Weltdorfes“: 1850-1950. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995. 4. Weltreligionen Lehmann, Hartmut: Max Webers „Protestantische Ethik“. Beiträge aus der Sicht eines Historikers. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. Schluchter, Wolfgang: Religion und Lebensführung. Band 1: Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1991. (stw 961) 180 Schluchter, Wolfgang: Religion und Lebensführung. Band 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. (stw 962) Schluchter, Wolfgang (Hrsg.): Max Webers Studie über das antike Judentum. Interpretation und Kritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1981. (stw 340) Schluchter, Wolfgang (Hrsg.): Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus. Interpretation und Kritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1983. (stw 402) Schluchter, Wolfgang (Hrsg.): Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus. Interpretation und Kritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1984. (stw 473) Schluchter, Wolfgang (Hrsg.): Max Webers Sicht des antiken Christentums. Interpretation und Kritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1985. (stw 548) Schluchter, Wolfgang (Hrsg.): Max Webers Sicht des Islams. Interpretation und Kritik. 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Rehbinder, Manfred/Hans-Peter Tieck (Hrsg.): Max Weber als Rechtssoziologe. Berlin: Duncker & Humblot 1987. [Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Band 63] 8. Musik Braun, Christoph: Max Weber „Musiksoziologie“. Laaber: Laaber 1992. 9. Methodologie Henrich, Dieter: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1952. Wagner, Gerhard/Heinz Zipprian (Hrsg.): Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1994. (stw 1118) 10. Rationalismus Schluchter, Wolfgang: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. (stw 1347) Schluchter, Wolfgang: Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1980. (stw 322) Sprondel, Walter M./Constans Seyfarth (Hrsg.): Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns. 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