Rechtssoziologie I Sachverhalt & Musterlösung

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Prof. Dr. Lukas Gschwend
Korrekturschema Rechtssoziologie I
Universität Zürich
FS 2012
Lösung
1. Erläutern Sie ausführlich die Bedeutung Eugen Ehrlichs und seines Werks für die Rechtssoziologie unter besonderer Berücksichtigung aktueller Bezüge.
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Eugen Ehrlich (1862–1922), nach 1896 Professor für römisches Recht in Czernowitz/Bukowina (multirechtskulturelles Umfeld, Spannungsfeld ABGB, römisches Recht, regionale Rechtsgewohnheiten)

1910: Seminar für lebendes Recht, Rechtstatsachenforschung (juristische Aufnahmen in Bauernhöfen und Fabriken), 1913: Lehrbuch
„Grundlegung zur Soziologie des Rechts“
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Grundlage des lebenden Rechts: Organisationsregelsysteme in sozialen Verbänden. Eugen Ehrlich erkennt eine Diskrepanz zwischen dem
Recht des Volks als lebendes Recht und soziale Realität und dem staatlichen Recht, welches die Wirklichkeit nur lückenhaft erfasst. Die sozialen Verbände schaffen Organisationsnormen, welche ergänzt durch gesellschaftliche Übung und Gepflogenheiten, soziale Herrschaftsverhältnisse, Eigentumsverhältnisse und vertraglich relevante Willenserklärungen als Tatsachen des sozialen Lebens das gesellschaftliche
Recht des Volkes bilden.
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Anerkennungstheorie, relative Bedeutungslosigkeit staatlichen Rechts, Rechtserzeugung durch soziale Verbände (ungleich Summe der Individuen) etc.
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soziologischer Positivismus contra Reine Rechtslehre (Hans Kelsen)
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Die Rechtssoziologie als einzig mögliche Wissenschaft vom Recht, die nicht bei den Worten stehen bleibt, sondern durch Induktion in Er-
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genetische Rechtssoziologie: Das Recht entstammt Rechtstatsachen wie Übung, Herrschaft, Besitz und Willenserklärung.

Ehrlich setzt verschiedene Grade der Normanerkennung voraus und unterscheidet drei Normenkomplexe: Im Vordergrund steht das in der
fahrung bringt, wie die dem Recht zugrunde liegenden sozialen Tatsachen mit diesem in Wechselwirkung stehen.
Gesellschaft selbständig entstandene Organisationsrecht der Verbände.

Sodann gibt es vom Juristenstand im Rahmen der Rechtsanwendung geschaffenes Juristenrecht. Es beinhaltet die Entscheidungsnormen
und Präjudizien, nach welchen Gerichte Konflikte beurteilen. Es beruht grundsätzlich auf staatlichem Recht. Diese Konflikte entstehen dort,
wo das lebende Recht keine ausreichend klaren Organisationsnormen zur Verfügung stellt, um Interessengegensätze auszugleichen. Juristen
sind daher Vermittler zwischen staatlichem, gesellschaftlichem und Juristenrecht. Sie haben die Normen des staatlichen Rechts im Einzelfall auf ihre Praktikabilität zu prüfen, das Recht fortzubilden und die Vorgaben des lebenden gesellschaftlichen Rechts umzusetzen.

Zum Dritten schafft der Staat Recht, welches staatliche Eingriffs- und Organisationsnormen enthält, die institutionell erzwingbar sind, von

Ehrlich betont, das staatliche Recht sei statisch, während die Verbandsordnungen sich in ständiger Bewegung befinden. Dieses gesellschaft-
der Gesellschaft aber nicht zwingend anerkannt werden und daher nicht a priori dem lebenden Recht zuzuordnen sind.
liche Recht überhole daher ständig das staatliche Recht.
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Unterschied law in action – paper rule
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Bezug zur historischen Rechtsschule
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Bedeutung der gesellschaftlichen Selbstregulierung.
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Anerkennungstheorie und soziologischer Rechtsbegriff
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Problem Panjurismus, Trennung Recht und Moral mittels opinio necessitatis
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Anerkennungstheorie und Rechtspluralismus im Zeitalter von Internationalisierung und Migration

Freirechtsschule: Kritik an der Begriffsjurisprudenz, richterlicher Umgang mit „Lücken im Recht“, soziologische Jurisprudenz.
2.
Charakterisieren Sie die rechtssoziologisch relevanten Grundzüge in den Werken von Emile Durkheim und Theodor Geiger.
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Emile Durkheim (1858 – 1917) wurde 1894 der erste Inhaber eines soziologischen Lehrstuhls in Frankreich (Universität von Bordeaux). 1902
Sorbonne Prof. für Erziehungswissenschaften.
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"Les règles de la méthode sociologique", 1893: Gesellschaft ist Wirklichkeit eigener Art, die weder psychologisch noch philosophisch erklärt
werden kann.
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Soziologische Tatbestände sind nach Durkheim festgelegte Arten sozialbezogenen Handelns, welche die Fähigkeiten besitzen, auf den Einzelnen einen äusseren Zwang auszuüben.
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Rechtspflichten und soziale Erwartungen
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Kausalität und Finalität individuellen Verhaltens

Theorie der sozialen Integration
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mechanische und organische Solidarität, kollektives Rechtsbewusstsein, Kooperation Gesellschaft und Individuum, Kontraktsgesellschaft,
Bezug zu H.S. Maine „From status to contract“ etc.

Durkheim erklärte den Vertrag nicht als normatives Ergebnis übereinstimmender Willenserklärungen über gegenseitige Rechte und Pflichten,
sondern sah darin ein soziologisches Phänomen der auf Integration zielenden sozialen Kommunikation.

Durkheim befasste sich intensiv mit dem Nachweis, dass der Rechtsvertrag nicht durch kontraktuelle Elemente, sondern durch sozialstrukturelle Voraussetzungen seine gesellschaftliche Bedeutung erhalte. Im Gegensatz zum englischen Rechtsphilosophen Herbert Spencer behauptete er, die Vertragsparteien würden sich beim Kontrahieren nicht durch utilitaristische Eigeninteressen leiten lassen. Nur gemeinsam mit
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anderen gesellschaftlich zwingenden Normen und mit entsprechenden Grenzen leiste der Vertrag seinen Beitrag zur Koordination zwischen
den verschiedenen Funktionsträger der Gesellschaft.
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Anomietheorie
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Suizidforschung, insbesondere anomischer Suizid als Folge fehlender sozialer Integration und organischer Solidarität
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1920er Jahren Uppsala-Schule Metaphysik radikal abgelehnt: Axel Hagerström, Anders Vilhelm Lundstedt wendet den Wertnihilismus auf die
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Der deutsche Soziologe und Jurist Theodor Geiger (1891 – 1952) emigrierte während der Naziherrschaft nach Schweden, wo er die Uppsala-
Jurisprudenz an. Recht erhalte einzig durch seine reale Funktion einen wissenschaftlichen Boden.
Schule kennen lernte.

Geiger entwickelt eine eigene erfahrungswissenschaftlich begründete Rechtslehre aus einer rechtssoziologischen Betrachtung. Er übernimmt
die Metaphysikfeindlichkeit der Uppsala-Schule. Metaphysisch beladene Termini wie Norm, Geltung, Pflicht, Rechtsanspruch reduziert er auf
die wahrnehmbare Wirklichkeit.

Er geht aus von der Gesellschaft als Ordnungsgefüge. Recht und Staat sind spezifische Ordnungserscheinungen. Von Gesellschaft spricht er,
wenn Menschen in ihrem Dasein aufeinander eingestellt und angewiesen sind (= soziale Interdependenz).

Dieses Zusammenleben bringt bestimmte Verhaltensmuster mit sich. Diese Verhaltensmuster entstehen Gemäss Geiger nicht als Reaktion auf
einen normativen Anspruch, sondern er erklärt ihre Entstehung mittels der aus der Zoologie stammenden Mneme-Theorie von Richard Semon,
der 1904 aufzeigte, dass Verhaltensweisen höher entwickelter Tiere im Sinne von Gebarens-Modellen durch Eindrücke im Gedächtnis entstehen. Eine Verhaltenserfahrung wird im Gehirn als Engrammkomplex gespeichert. Höher entwickelte Tiere und Menschen reagieren dann in
ähnlichen Situationen immer wieder nach dem memorierten Gebarensmodell. Die juristische Norm als solche ist für die Initialisierung oder
Vermeidung eines Verhaltens völlig irrelevant.

Verhaltensmuster entstehe normfrei.

Wenn diese Muster als Gebarensmodelle regelmässig befolgt werden, entsteht ein Brauch. Wenn dieser von der Gesellschaft als verbindlich

Die juristische Verbindlichkeit ergibt sich aus der Sanktionsbewehrung und ihrer Umsetzung. Verbindlichkeit lässt sich daher nicht als absolu-
anerkannt wird, wird der Brauch zur formalen Rechts-Norm.
ter Begriff formulieren. Eine Norm ist immer nur relativ verbindlich, denn eine empirisch begründete Rechtslehre interessiert sich nicht für die
theoretische Erzwingbarkeit, sondern für die tatsächliche Umsetzung der Sanktion bei Normverstoss.

Das Recht ist gemäss Geiger eine Sonderart sozialer Ordnung von hoher Verbindlichkeit. Es lässt sich nur in zivilisierten Gesellschaften von
Brauch und Sitte unterscheiden. Recht ist beim Staat monopolisiert. Dieser verfügt über einen Apparat zur Umsetzung des Rechts, was in einem besonderen Verfahren geschieht.

Eine juristische Norm verfügt daher über eine besonders grosse Wirkungschance. Eine juristische Norm ist nur dann wirksam, wenn sie ohne
Sanktion befolgt wird, oder wenn ihre Nichtbefolgung tatsächlich sanktioniert wird. Die Wirksamkeit wird dadurch zur messbaren Grösse.
Damit hat Geiger die Effektivitätsquote des Rechts in die Rechtssoziologie eingeführt.

Problem Wertnihilismus
3.
Erklären Sie Max Webers Theorie des sozialen Handelns.

Max Weber hat den Begriff der sozialen Handlung von einem Gesellschaftsverständnis abhängig gemacht, wonach die Gesellschaft eine
Vielzahl von Menschen verkörpert, die bei ihren Handlungen in irgendeiner Weise aufeinander Rücksicht nehmen. D. h., dass die Menschen
bei ihren Handlungen die Existenz und die potentielle Reaktion anderer Menschen berücksichtigen. Soziales Verhalten ist nicht nur interaktives Handeln, sondern es ist auch sinnbestimmtes Verhalten. Der subjektive Sinn wird auf die zu erwartenden Reaktionen hin ausgerichtet.
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Soziales Handeln ist gemäss "Wirtschaft und Gesellschaft", S. 1: "Verhalten, dessen vom Handelnden gemeinter Sinn auf das Verhalten
anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist."
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Soziales Handeln orientiert sich stets am vergangenen, gegenwärtigen oder künftig zu erwartenden Verhalten von Drittpersonen (Rache,
Verteidigung, Sympathiebezeugung, Höflichkeit, Erwartung einer Zuwendung, Treu und Glauben etc.). Dadurch wird soziales Handeln sinnhaft
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Regeln, nach welchen sich menschliches Handeln richtet?
o


Erfahrungsregeln (Kommt an, kommt nicht an, trial and error)
o
Psychologische Regelmässigkeiten (provoziertes Verhalten)
o
normative Regeln (Brauch, Sitte, Rechtsvorschrift)
Bestimmungsgründe:
o
1.
Zweckrational
o
2.
Wertrational
o
3.
Affektuell
o
4.
Traditional
Diese Idealtypen sind nur dann wissenschaftlich tauglich, wenn sie an eine gewisse Regelmässigkeit der sozialen Beziehungen anknüpfen
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können, sich also immer wieder wiederholen. Was bedingt nun die Regelmässigkeit der Wiederholung?
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Brauch, Sitte, Mode
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Recht produziert Regelmässigkeit
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wiederkehrende Interessenkonstellationen


Bezug der typisierten Bestimmungsgründe sozialen Handelns zu unterschiedlichen Kategorien sozialen Verhaltens und gesellschaftlicher
Entwicklung: Gemeinschaftshandeln ist für Weber bereits jedes sinnhaft aufeinander bezogene (also auch traditional oder affektuell orientiertes) Handeln zweier oder mehrerer Menschen. Gesellschaftliches Handeln, welches zur „Vergesellschaftung“ führt, liegt dagegen vor, wenn
dieses Handeln nicht nur sinnhaft aufeinander bezogen ist, sondern seine Orientierung auf der Existenz einer zweckrational im Hinblick auf
das zu erwartende Verhalten der Gesellschaftsmitglieder gesetzten Ordnung beruht.
4.
Was versteht man unter Rollentheorien und inwiefern lassen sich diese für die Rechtssoziologie fruchtbar machen?

Die soziale Rolle ist die Zusammenfassung äusserer und innerer Verhaltensmuster im Kontext ihrer Funktionalität.

Abgrenzung vom Status (fix, nicht dynamisch, weniger stark fremdbestimmt)

Soziale Rollen bezeichnen Ansprüche der Gesellschaft an die Träger von Positionen (Rollenverhalten). Sie bezeichnen auch Ansprüche an sein
Aussehen und seinen Charakter (Rollenattribute).

Menschen sind in der Gesellschaft stets Träger sozial geprägter Rollen.

Bündelung von Rollen

Komplexität der Rollenerwartung in der modernen, differenzierten Gesellschaft

Aneignung: Durch Beobachtung, Nachahmung und bewusstes Lernen wird der Mensch in Kindheit und Jugend, aber auch in späteren Lebensabschnitten hinsichtlich seines Rollen sozialisiert.
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Rollen beinhalten stets auch Wertvorstellungen und Normerwartungen. Wenn diese Normen aus innerem Antrieb eingehalten werden, so
wurde die Rolle internalisiert.
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Rollenverhalten gleich erwartungsgemässes, berechenbares soziales Verhalten
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Muss-Erwartung (sanktionsbewehrte Rechtserwartung), Soll-Erwartung (einfache Rechtserwartung), Kann-Erwartung (soziale Erwartung aus
Sitte, Moral, Tradition u.a.)
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Bsp. Rollenverletzung als Rechtsverletzung: Vernachlässigung von Elternpflichten, Veruntreuung etc.
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Rollenzuschreibung auch gegen den eigenen Willen: jur. Problem Ausgrenzung, Ungleichbehandlung, Diskriminierung
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Wandel der Rollenbilder – Wandel des Rechts (Bsp. Familienrecht)
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Rollenkonflikte – Interessenkoflikte – Rechtskonflikte (Bsp. Unvereinbarkeitksbestimmungen im Prozessrecht)

Gewaltenteilung im Staat als Rollenteilung
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Justizsoziologische Forschung: Glaubwürdiges Rollenspiel verschafft Parteien Vorteile vor Gericht.
5.
Welche gesellschaftlichen Aufgaben kommen dem Recht heute zu? Erläutern Sie zwei davon ausführlich
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Konfliktbereinigung

Verhaltenssteuerung
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Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft
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Gestaltung von Lebensbedingungen

Rechtspflege

alles gemäss § 6 bei Rehbinder, Rechtssoziologie, 7. Aufl.
6.
Im Staat X beschliesst das Parlament zum Schutz der Frauen vor Ausbeutung und Diskriminierung, jede Form von weiblicher Prostitution zu
verbieten. Sowohl die Anbieterin wie auch der Freier machen sich bei Zuwiderhandlung strafbar. Die Gerichte gelangen zur Überzeugung,
dieses Verbot sei verfassungskonform. Obschon es zu mehreren Verurteilungen kommt, stellen Beobachter auch drei Jahre nach Einführung
des Verbots fest, dass die Prostitution zwar weniger sichtbar geworden ist, aber nach wie vor - jedenfalls in den Städten - rege floriert.
o
Wie gehen Sie vor, um dieses Phänomen rechtssoziologisch zu untersuchen? (10%)
o
Wie erklären Sie möglichst differenziert die mangelhafte Wirksamkeit des Prostitutionsverbots? (15%)
o
Was raten Sie der Regierung, um ihr Ziel wirksam zu verwirklichen? (5%)
Zu a)
Ausführliche und begründete Darstellung einer methodologisch sinnvollen rechtssoziologischen Forschungsanordnung in Anwendung von Rehbinder § 4 Ziff. III.:

Untersuchungsgegenstand (Objekt, Fragestellung)

zu wählende Untersuchungsanordnung

zu wählende Untersuchungstechnik
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
quantitativ/qualitativ

zu beachtende Faktoren und Korrelationen

These
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Zu b)
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theoretische Verankerung zur Erklärung des Befundes (homo oeconomicus, Lerntheorien, Theorie sozialen Verhaltens gemäss Weber und
gemäss Pareto, Anerkennungstheorie gemäss Ehrlich, Rollentheorie, Theorien sozialer Ungleichheit, Systemtheorie, Konfliktthorie (Interessenkonflikt, Wertkonflikt)

Erklärungen aus der Effektivitätsforschung in Anlehnung an Rehbinder § 7
Zu c)


Folgerungen aus b)
Weitere Erklärungen, soweit sie plausibel und logisch stimmig begründet sind. Keine Punkte für Vermutungen, Annahmen, Behauptungen und
Werturteile
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