Scriptum Vorbereitung des kardiovaskulären Risikopatienten auf Operation und Narkose Das ist Herr Mustermann. Er soll elektiv an einem infrarenalen Bauchaortenaneurysma operiert werden. Wenn dies nicht geschieht und das Aneurysma mit der Zeit an Größe zunimmt, wird die Gefahr immer größer, dass das Aneurysma eines Tages platzt. Wenn die Patienten dann nicht gleich an der intraabdominalen Blutung versterben, kommen sie zu uns mit mehr einer oder minder ausgeprägtem intraabdominalen Blutung in den Schockraum und müssen dann schnellstens operativ versorgt werden. Die perioperative Mortalität beträgt unter diesen Notfallbedingungen laut Lehrbüchern 50% - aus eigener Erfahrung allerdings gefühlsmäßig eher an die 100%. Die Patienten versterben weniger intraoperativ – Motto: „Vom Tisch kriegen wir sie schon noch“ - sondern später, nach technisch erfolgreicher Operation – Entfernung des eingerissenen Aortenstücks und Überbrückung des Defekts mit einer Gefäßprothese - an den Organversagen, ausgelöst durch das Schockereignis oder an sekundären Komplikationen wie erneuten Blutungen, Gefäßverschlüssen oder Infektionen. Deshalb empfiehlt es sich, ab einer gewissen Größe, ein abdominales Aortenaneurysma elektiv zu operieren, bevor diese desolate Situation eintritt. Im Vergleich zur Notfallsituation eines rupturierten Aortenaneurysmas beträgt die perioperative Mortalität bei elektiven Eingriffen lehrbuchgemäß etwa 5%. Unsere Gefäßchirurgen gehen noch weiter und sagen mir, die Mortalität sollte bei der elektiven Operation nicht kleiner als 1% sein. Ansonsten wäre es besser, gar nicht erst mit solchen Operationen anzufangen. An der Operation sind aber nicht nur wir Anästhesisten beteiligt. Wir sorgen zwar dafür, dass die Patienten nichts mitkriegen und dabei auch noch am Leben bleiben. Als Chirurgen wollen Sie aber sicher, dass Ihre Operation zu einem erfolgreichen Ergebnis führt. Wenn Sie Internist sind, bitten wir Sie womöglich um Rat, für wie gut Sie die kardiopulmonale Belastungsfähigkeit des Patienten einschätzen und ob der Zustand des Patienten durch medikamentöse Therapie noch gebessert werden kann. Als Hausarzt wissen Sie schließlich am besten und am längsten über den Krankheitszustand Ihres Patienten Bescheid und von uns allen hat er Ihnen gegenüber wahrscheinlich das größte Vertrauen, sodass Sie ihn am besten beraten können, wenn es um die Entscheidungsfindung für oder gegen die Operation geht. Genauso besitzen sie mehr Detailinformationen über den Patienten, die für die Entscheidungsfindung über das Ob, wie und das Ausmaß der Operation und die Zeit danach von wesentlicher Bedeutung sein können. Sie glauben gar nicht, wie oft ich kurz vor operativen Eingriffen relativ formlos in der Hausarztpraxis des Patienten anrufe und immer wieder staune, wie schnell ich da wichtige Auskünfte über für die OP wesentliche Vorbefunde in mündlicher und schriftlicher Form(Fax an die Station im Klinkum) erhalte. So hatte ich heute, an dem Tag da ich das schreibe, um ca. 7.30 Uhr von einer 93-jährigen Patientin erfahren, die am Vorabend mit pertrochantärer Schenkelhalsfraktur eingeliefert worden war, sie nach unserer Frühbesprechung besucht, im Eiltempo über die bevorstehende Narkose für die Femurnagelung aufgeklärt(„… damit Sie wieder aufstehen können“), von ihr den Namen des behandelnden Hausarzts erfahren, Befunde über aortokoronaren Bypass, Vorhofflimmern, Hb- und Creatininwerte erhoben, dies im Anästhesiebogen für meine Kolleginnen und Kollegen im OP zusammengefasst, gebeten, den Hausarzt nach zusätzlichen Befunden zu fragen, anschließend die nächtse 90-jährige mit Schenkelhalsfraktur besucht und vorbereitet, danach um 10.15 Uhr selbst beim Hausarzt angerufen(nur ein einziges mal belegt) und zügig mündlich und per Fax erfahren, dass die letzte kardiologische Untersuchung bei ihm im Juni war, der Bypass nach wie vor Okay sei und die Patientin gegen das Amlodipin, das sie trotzdem nimmt, eigentlich allergisch sei(Oedeme). Nach Korrektur der Gerinnungssituation(Marcumar bei Vorhofflimmern) wurde die Patientin später am Tag dann mit diesen Informationen versehen operiert mit dem Ziel, baldmöglichst wieder auf die Beine zu kommen (versorgt sich selbst, ohne Rollator) und zu verhindern, dass längeres Liegen zu einer lebensgefährlichen Pneumonie führt. -1- Wenn wir nun gemeinsam die Operation an der Hauptschlagader von Herrn Mustermann planen, aber auch grundsätzlich bei anderen Operationen, kommen drei Fragenkomplexe auf uns zu, vgl. Tab. 1: Grundsätzliche Fragen für alle beteiligten Fachrichtungen Anästhesie, Chirurgie, Innere Medizin, Allgemeinmedizin Wie hoch sind die Belastungen der Operation für den Körper des Patienten? Information über OP Abklemmen und Wiedereröffnen der Aorta abdominalis Welche kardiopulmonalen Risikofaktoren hat der Patient, die seine Belastungsfähigkeit einschränken? Anamnese Normale Anamnese, spezielle Risikoindizes (Statische Analyse) KlinischApparativWie können wir einschätzen, wie gut Anamnese und nichtinvasivInvasiv der Patient körperlich den Funktions(Dynamische Analyse) kardiopulmonalen Belastungen der untersuchungen Operation begegnen kann? Tabelle 1. Fragen an alle an der Operation beteiligen Fachrichtungen. Das heißt, der präoperative Evaluations- und Planungsprozess beginnt zuerst ganz unabhängig vom einzelnen Patienten mit den allgemeinen Risiken und Eigenschaften der geplanten Operation und wird dann zunehmend individueller auf den einzelnen Patienten zugeschnitten: Er wird je nach seinen Vorerkrankungen in ein „Kästchen“ gesteckt, das das operative Risiko aller Patienten repräsentiert, die dieselben Vorerkrankungen haben wie er und deren Eigenschaften wir alle im Medizinstudium gelernt haben. Zuletzt ist es bei risikoreicheren Eingriffen oft noch wünschenswert, abzuschätzen, in welchem Ausmaß der individuelle Organismus genau dieses Patienten auf mögliche Stresssituationen während der Abbildung 1: Individualisierung der präoperativen Evaluation geplanten Operations reagieren kann und wo die Grenzen seiner Reaktionsfähigkeit sind(vgl. dazu Abb. 1). Davon abhängig sind dann Die OP-Vorbereitung des Patienten selbst Oder sportlich gesehen, wie bringen wir den Patienten ausreichend in Form, damit er die anstehenden Strapazen besser durchhalten kann? Das tun wir durch: - Verbesserung der vorbestehenden medikamentösen Einstellung, auch über die geplante Operation hinaus, falls sie unabhängig von der geplanten Operation noch nicht optimal ist. -2- - Perioperative Anpassung der medikamentösen Therapie an die Erfordernisse der Operation, sowohl indem wir einige bisher verordnete Medikamente absetzen(z. B. Insulin bei Phasen der Nüchternheit) und möglicherweise einige neu ansetzen(z. B. Benzodiazepine zur Sedierung). Weiter müssen wir uns fragen: Von welcher vorbestehenden körperlichen Form können wir ausgehen? - Das heißt möglicherweise: - Zusätzliche präoperative Funktionsuntersuchungen Wie sollte der Patient geistig auf die Operation eingestellt werden? - Durch eine realistische Aufklärung, eventuell auch der Angehörigen, was von der geplanten Operation erwartet werden kann und was nicht. Manchen sehr ängstlichen Patienten muss manchmal Mut gemacht werden, sich einer Operation unter gut geplanten Bedingungen zu unterziehen, wenn bei deren Verzögerung irgendwann in der näheren Zukunft eine Notoperation unter schlechteren Bedingungen zu erwarten ist(Z. B. notfallmäßige Darmoperation unter Nacht und Nebel und antikoagulativer Medikation bei Dünndarmileus und schon länger vorher bekanntem Darmtumor). Häufiger ist es dagegen nötig, überzogen positive Erwartungen zu dämpfen, vor allem bei Verwandten älterer Patienten(„Von seinem geistigen Zustand her b e s s e r als wie vor dem Unfall wird Ihr Opa durch die Operation sicher nicht, aber er hat dann weniger Schmerzen und die Chance, wieder gesund zu werden.“ - Dies mag sehr salopp klingen, ein solcher oder ähnlich klingender Hinweis ist aber leider gelegentlich notwendig). Die Planung und das Ausmaß der perioperativen Überwachungsmaßnahmen - Wie viele physiologische Parameter müssen wir überwachen? - Wie engmaschig muss unsere Überwachung sein(z. B. Blutdruck alle 5 min oder mit jedem einzelnen Pulschlag), oder banaler: - Wieviele Meßschläuche und -sonden müssen wir schieben? Die Planung der therapeutische Maßnahmen nach der Operation - Schmerztherapie(Systemisch und/oder Regionalanästhesie) Postoperative Überwachung(Aufwachraum oder Intensivstation) Nachbeatmung(„Sanfteres“ Aufwachen auf der Intensivstation durch Nachbeatmung) Simples „Aufpassen“ in OP, Aufwachraum, Intensivstation, Normalstation (Das ist politisch nicht ganz korrekt. Natürlich behandeln wir alle unsere Patienten gleich gut. Aber je nach Vorerkrankungen und Operation sind einige doch gleicher.) Die Einbindung in den operativen Gesamtbetrieb und Schadensbegrenzung unserer eigenen Maßnahmen Um nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel zu machen, müssen wir uns fragen: Gehört unser Patient zu einer - Hochrisikogruppe, wo wir alle medizinischen Resourcen einsetzen müssen, - aber auch deren materielle und immaterielle Kosten und - deren Komplikationen in Kauf nehmen müssen oder gehört er - zu einer Gruppe mit niedrigerem Risiko, bei der zu viel medizinischer Aufwand eher Schaden als Nutzen bringt - durch die Komplikationen nicht notwendiger Maßnahmen - durch Verzögerung der Operation - durch fehlende Konzentration auf stärker gefährdete Patienten und deren Probleme -3- Das Vorgehen dazu im Einzelnen: 1. Wie hoch sind die Belastungen der Operation für den Körper des Patienten? Die Höhe des Risikos, perioperativ Schaden zu erleiden in Abhängigkeit von der Art des Eingriffs an sich, ganz unabhängig vom Gesundheitszustand des betroffenen Patienten, sollte bekannt sein. Tabelle 2 gibt für 298 772 in etwa 200 US-Hospitälern zwischen 2005 und 2007 operierte Patienten das Risiko für Herzinfarkt und Herztod an, bezogen auf die Art des Eingriffs, diese je nach Mortalität eingeteilt in geringes, mittleres und hohes Risiko(Quelle: Datenbank des National Surgical Quality Improvement Program (NSQIP) des American College of Surgeons(ACS) - ca. 3% aller US-Kliniken){Glance, 2012 #18}. Risiko für Herzinfarkt und Herztod nach Art der Operation innerhalb von 30 Tagen nach dem Eingriff – 298 772 Patienten 2005 - 2007 Niedriges Risiko < 1% Mittleres Risiko 1-5% Hohes Risiko > 5% Oberflächliche Eingriffe(z. B. Abdominale Chirurgie(z. B. Aorten- und größere Wundversorgung) Splenektomie, Hiatushernie, Gefäßchirurgie Cholezystektomie) Brust Arteria Carotis(vorher symptomatisch) Offene Gefäßchirurgie der proximalen unteren Extremität, Amputation, Thrombektomie Zahn-Mund-Kiefer Periphere Gefäßchirurgie Größere Pankreaschirurgie Endokrines System(z. B. Schilddrüse) Aorten-Aneurysmen endovaskulär Leberresektion und Gallengangschirurgie Augen-Operationen Hals und Kopf Oesophagusresektion Plastische Chirurgie Orthopädie(größere Operationen: Wirbelsäule, Hüfte) Darmperforation Carotis-Chirurgie(vorher symptomlos) Thorax, Niere, Lebertransplantation Nebennierenresektion Gynäkologie(kleinere Eingriffe) Urologie und Gynäkologie(größere Eingriffe) Zystektomie Orthopädie(kleinere Eingriffe, z. B. Meniskus) Nierentransplantation Peumonektomie Urologie(kleinere Eingriffe, z. Thoraxchirurgie(kleinere B. Transurethrale Resektion Eingriffe) der Prostata) Lungen- oder Lebertransplantation Tabelle 2: Risiko für Herzinfarkt und Herztod nach Art des operativen Eingriffs. Einteilung in die Gruppen korrigiert für Schweregrad der Begleiterkrankungen und Notfall/Nicht Notfall-OP. Nach Glanz et al, The Surgical Mortality Probability Model - Derivation and Validation of a Simple Risk Prediction Rule for Noncardiac Surgery, Ann Surg. 2012{Glance, 2012 #18}. In dieser Tabelle modifiziert, wie in den ESC-Guidelines 2014{Kristensen, 2014 #15} widergegeben. -4- Weiter sollten wir über den technischen Ablauf der Operation Bescheid und wissen, in welchen Phasen besondere Schwierigkeiten auftreten können und was für Schwierigkeiten das sind. Fragen können hier im Einzelnen sein: Kann es bei der Operation kurzfristig zu erheblichen und raschen Blutverlusten kommen, die das Herz kurzfristig kompensieren muss, bis wir mit unserer Infusionstherapie nachgekommen sind? - Welche Blutersatzmittel müssen wir für einen solchen Fall, in welcher Menge und wie schnell bereit halten? Ist postoperativ mit starken Schmerzen zu rechnen, wie etwa nach Längslaparotomien oder Thorakotomien, wo es nicht nur darum geht, die subjektiv empfundenen Schmerzen zu dämpfen, sondern auch die vegetative Stressreaktion mit erhöhter Belastung für Herz und Kreislauf durch hohe Herzfrequenz und hohen Blutdruck. Sind spezifische Komplikationen möglich, wie etwa der Übertritt von Blasenspülflüssigkeit bei der transurethralen Resektion der Prostata über dabei eröffnete Venen ins Gefäßsystem? - Um elektrische Blutstillung zu ermöglichen ist diese Spülflüssigkeit nicht leitend, damit ganz anders zusammengesetzt als wie das Blutplasma und kann beim beim Eintritt ins Gefäßsystem zu erheblichen Elektrolytstörungen führen. Bei der vorgesehenen Aortenoperation von Herrn Mustermann wird die Aorta oberhalb des Aneurysmas abgeklemmt um dieses resezieren und stattdessen eine Gefäßprothese einzetzen zu können. Da die untere Körperhälfte damit von der Durchblutung ausgeschaltet ist, führt das Abklemmen zu einem erheblichen Anstieg des peripheren Gefäßwiderstands und des arteriellen Blutdrucks in der oberen Körperhälfte, und damit zu einer erheblichen kardialen Belastung. Dem können wir begegnen, indem wir die Narkose vertiefen – die Vasodilatation durch volatile Anästhetika und und die Erniedrigung des Sympathotonus durch Opiate führt zur Verminderung des peripheren Widerstands in der oberen Körperhälfte und damit auch zur Verminderung der kardialen Belastung. Wenn dies nicht ausreicht, können wir auch noch spezifische, aber kurzwirkende Vasodilatantien, wie Nitroglyzerin geben. Kurzwirkend deshalb, weil nach erfolgreichem Einsetzen der Aortenprothese die Aortenklemme gelöst, die Gefäßstrombahn in der unteren Körperhälfte wieder freigegeben wird, das einströmende Blut dort auf dilatierte Gefäße stößt, metabolisch bedingt durch das lange Abklemmen, und es zu einem schlagartigen Abfall von peripherem Widerstand und Perfusionsdruck kommt, den das Herz wiederum kompensieren muss, dieses Mal aber in der anderen Richtung. Dazu haben wir vorher vasodilatative Maßnahmen zurückgenommen, das heißt eine etwaige Nitroglyzerininfusion abgestellt und die Narkosetiefe vermindert. Meistens kann das Herz dann eine erste Eröffnung des Strombetts in der unteren Körperhälfte gut verkraften. Durch die Perfusion werden aber auch kleine Blutungen aus Lecks der Prothesennähte sichtbar. Dann muss wieder abgeklemmt und das erste Leck übernäht werden. Beim erneuten Öffnen blutet dann das nächste Leck weiter unten. Es muss wieder abgeklemmt und dieses Leck ebenfalls übernäht werden und so weiter und so fort. Erfahrungsgemäß werden die Wechselbäder eines mehrmaligem Auf- und Zumachens der Aorta vom Herz zunehmend schlechter verkraftet, die Pumpfunktion nimmt ab, damit auch das Herzzeitvolumen und der periphere Perfusionsdruck. Um diesen in aureichender Höhe zu halten ist dann kurz- bis mittelfristig die Infusion von Vasokonstringentien, in der Regel Noradrenalin, nötig bis sich das Herz wieder erholen kann. Falls dies allein nicht ausreicht, käme auch noch die zusätzliche Infusion von positiv inotropen Substanzen wie Dobutamin in Frage. Die Operateure tragen dazu bei, dass sich das Herz langsam an den verminderten peripheren Widerstand anpassen kann, indem sie die Aortenklemme nicht sofort ganz, sondern zuerst nur über einen Teil des Gefäßquerschnitts öffnen und dies auch kommunizieren(„Aorta ist jetzt zu 50% auf“ - - „…ist jetzt zu 2/3 auf“ - „…ist jetzt ganz auf“). Wenn sich die Kreislaufsituation stabilisiert hat, kann dann noch vor Narkoseausleitung auch die weitere Schmerztherapie – die Operation erfolgt über eine große Längslaparotomie – mittels des vor Narkosebeginn gelegten Periduralkatheters beginnen. 2. Wie hoch ist das operative Risiko auf Grund der Vorerkrankungen und der Begleitumstände der geplanten Operation? Hilfreich ist hier oft eine Einteilung der Patienten nach allgemein nachvollziehbaren klinischdiagnostischen und anamnestischen Kriterien in einzelne Gruppen mit ansteigendem Operationsrisiko, die Gruppenzuordnung gegenüber dem Operationsrisiko wenn möglich auch noch statistisch validiert. Solche Einteilungen nützen der Kommunikation im klinischen Betrieb. Außerdem können sie einem selbst helfen, wenn man sich bei der Einschätzung nicht sicher ist. Sie haben wahrscheinlich schon Score-Systeme kennengelernt, bei denen für einzelne klinische oder anamnestische Beobachtungen Punkte vergeben werden – Beispiele dafür finden Sie weiter -5- unten reichlich –, das Ergebnis der Addition der vergebenen Punkte dann die Aufnahme in eine bestimmte Risikogruppe oder eine bestimmte Diagnose nahelegt. Auch ohne Punktsystem ist natürlich klar, dass jemand mit drei Herzinfarkten, Hypertonus, Diabetes mellitus, einem Kreatininwert von 2,9 und zwei Schlaganfällen ein bei weitem höheres Operationsrisiko hat als wie die meisten von Ihnen. Dazu braucht man keine komplizierten Score-Systeme. Aber so etwas kann sehr hilfreich sein im Zwischenbereich, wenn Sie sich nicht sicher sind, wie Sie den betreffenden Patienten jetzt einschätzen sollen, oder auch bei Diagnosestellungen, die auf einem komplizierten Zusammentreffen einzelner Symptome beruhen. Wenn Sie das medizinische Geschäft aber länger betreiben, werden Sie feststellen, dass Sie zumindest in denen Ihnen vertrauten Bereichen nicht länger einzelne Punktwerte zusammensuchen und mühsam selbst oder vom Computer addieren lassen müssen, sondern beim bloßen Patientenkontakt ihr Kopf schon intuitiv und submental diese Berechnungen durchführt und Ihnen automatisch die richtige Einordnung oder Diagnose bewusst wird. Ein altes und sehr einfach zu handhabendes Beispiel dafür ist die päoperative Risikoabschätzung der American Society of Anesthesiologists(ASA), Tab. 3. Ich bringe sie hier nicht, weil ich selbst Anästhesist bin, sondern weil diese Einteilung vielfach verbreitet ist, oft in Publikationen erwähnt wird(„wir haben 205 Patientinnen und Patienten der ASA-Klassen I und II in unsere Untersuchung eingeschlossen …“) und auch öfters in die nachfolgenden Risikoscores eingebunden ist. 1941 hatte die American Society of Anesthesiologists(ASA) drei ihrer Mitglieder beauftragt, eine statistisch abgestützte und allgemein anwendbare Klassifikation für das perioperative Operationsrisiko zu entwickeln. Nach einigen Vorarbeiten erklärten Sie dieses Unterfangen als unmöglich. Am besten sei es, den Patienten auf Grund des vorbestehenden gesundheitlichen Status einzuschätzen. Die Formulierung der Kriterien für die Einteilung in fünf Klassen aufsteigenden operativen Risikos wurde in folgenden den Jahren leicht modifiziert. In Tab. 3 sehen Sie den auch jetzt noch aktuellen Stand von 1962. Präoperative Risikoabschätzung ASA Klassifikation 1962 (American Society of Anesthesiologists) - Subjektive Einschätzung des Anästhesisten - Reale Mortalität*) I Normaler, sonst gesunder Patient (0,08%) II Patient mit leichter Allgemeinerkrankung (0,27%) III Patient mit schwerer Allgemeinerkrankung und Leistungseinschränkung (1,8%) IV Patient mit schwerer, lebensbedrohlicher Allgemeinerkankung (7,8%) V Moribunder Patient, Tod innerhalb von 24 Stunden mit oder ohne Operation zu erwarten (9,4%) Tabelle 3: Präoperative Risikoabschätzung, Klassifikation I-V nach der American Society of Anesthesiologists(ASA). *) Vacanti CJ et al, 1970, 68 388 Patienten retrospektiv{Vacanti, 1970 #117}. Erstaunlich ist, dass der moribunde Patient, dem vorausgesagt wird, dass er innerhalb von 24 Stunden sowieso sterben wird, in retrospektiven Erhebungen eine weit geringere Mortalität aufweist. Das mag darin liegen, dass wir Narkoseärztinnen und -ärzte grundsätzlich alle sehr pessimistische Charaktere sind, oder aber, dass wir dank der glorreichen Leistungen unserer eigenen Zunft und der unserer Freunde, der Chirurgen, auch noch den Letzten dem Sensenmann entreißen können. Ich tendiere eher zu letzterer Überzeugung. -6- Kardiologen denken natürlich viel differenzierter als wie wir grobschlächtige Anästhesisten und teilen eine größere Anzahl klinisch und anamnestisch gut und auch objektiver faßbarerer Merkmale in Gruppen ein, je nachdem ob das Vorhandensein des einzelnen Merkmals ein hohes, mittleres oder geringes Risiko voraussagt, perioperativ schweren Schaden an Herz und Kreislauf zu erleiden. Eine gute Einteilung ist zum Beispiel die der Association of Canadian Cardiologists(ACC) und der American Heart Association(AHA) für „Klinische Prädiktoren eines erhöhten perioperativen kardiovaskulären Riskos(Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz und Tod) aus dem Jahr 2002{Eagle, 2002 #13}(vgl. Tab. 4) in wesentliche(„major“), mittelgradige(„intermediate“) und geringfügige(„minor“) Prädiktoren. Zur Vereinfachung des präoperativen Vorgehens habe ich dieser Graduierung die anästhesiologischen Ratschläge Absetzen, Abklären und Anästhesieren zugeordnet. Klinische Prädiktoren eines erhöhten perioperativen kardiovaskulären Risikos (Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz, Tod) nach ACC/AHA 2002{Eagle, 2002 #13} Wesentliche („major") Prädiktoren Instabile Koronarsyndrome Akuter (7 Tage) oder kürzlich abgelaufener Myokardinfarkt (innerhalb 7-30 Tage) mit Hinweis auf ein ausgeprägtes Ischämierisiko auf der Basis klinischer Symptome oder nicht-invasiver kardialer Untersuchungsergebnisse Instabile oder schwere Angina pectoris (CCS-Klassifizierung III oder IV) Absetzen Dekompensierte Herzinsuffizienz Relevante Arrhythmien Hochgradiger av-Block Symptomatische ventrikuläre Arrhythmien bei vorbestehender Herzerkrankung Supraventrikuläre Arrhythmien mit unkontrollierter ventrikulärer Überleitung Schwere Klappenerkrankung Mittelschwere („intermediate")Prädiktoren Mäßiggradige Angina pectoris (CCS-Klassifizierung I oder II) Anamnestisch oder EKG-gesicherter alter Myokardinfarkt Kompensierte oder frühere Herzinsuffizienz Diabetes mellitus Niereninsuffizienz -7- Abklären Geringfügige („minor") Prädiktoren Fortgeschrittenes Alter 65 Jahre) Pathologisches EKG (LVH, LSB, ST-T-Anomalien) Fehlender Sinusrhythmus (z.B. Vorhofflimmern) Geringe körperliche Belastbarkeit (z.B. Unfähigkeit, einen Treppenabsatz mit Einkaufstasche zu steigen) Anästhesieren Anamnese eines zerebralen Insults Unkontrollierte Hypertonie Tabelle 4: Prädiktoren eines erhöhten kardiovaskulären Risikos. AHA: American Heart Association. CCS: Canadian Cardiovascular Society. LVH: Linksventrikuläre Hypertrophie. LSB: Linkschenkelblock. Unter der Rubrik „Wesentliche, major, Prädiktoren“ ist von wichtigster Bedeutung das erste Wort „instabil“. Deshalb ist es auch groß und fett geschrieben. Das sind Situationen, die in kürzester Zeit aus einer bereits höchstgradigen Einschränkung der kardialen Funktion, die peripheren Organe und sich selbst mit Sauerstoff zu versorgen, in einen Zustand umschlagen können, die mit dem Leben nicht mehr vereinbar sind, so bei - Zunahme der Ischämie unter instabiler, schwerer Angina pectoris und Myokardinfarkt und damit weiter fortschreitendem Kontraktilitätsverlust des Myokards oder plötzlichem Auftreten hochgradiger Arrhythmien wie Kammerflimmern. - Mechanischem Versagen durch Einschränkung der globalen Myokardfunktion und Kammergeometrie(Dilatation) bei dekompensierter Herzinsuffizienz oder schweren Klappenerkrankungen - Rhythmusstörungen, die die Kreislaufleistung so einschränken, dass keine adäquate Sauerstoffversorgung der peripheren Organe aber auch des Herzens selbst mehr aufrecht erhalten werden kann, entweder, wenn das Herz zu langsam schlägt, so bei hochgradigem AV-Block oder sonstiger hochgradiger Bradykardie oder wenn es zu schnell(ventrikuläre, supraventrikuläre Arrhythmien mit schneller Überleitung) oder zu inkoordiniert(Kammerflimmern) schlägt mit minimaler Auswurfleistung. Die Devise heißt hier: Absetzen und zuerst Therapie der kardialen Funktionsstörung. Eine Operation sollte erst dann stattfinden, wenn der Therapieerfolg ausreichend gesichert ist. Für einen akuten Myokardinfarkt heißt dies zum Beispiel{Priebe, 2007 #14}: „Als HochRisikopatienten gelten zunächst einmal diejenigen, deren Infarkt innerhalb der letzten 30 Tage abgelaufen ist. Da nach durchgemachtem Infarkt üblicherweise 4 - 6 Wochen vergehen, bis die körperliche Belastbarkeit wiederhergestellt ist, besteht für diesen Zeitraum eine relative Kontraindikation für jeglichen chirurgischen Eingriff. Danach ist jedoch nicht primär das Zeitintervall nach stattgehabtem Infarkt entscheidend, sondern das Ausmaß der „kardialen Reserve".“(H. J. Priebe, Anästhesiologie, 2007) Das heißt, nach dieser Akutphase sollte die Funktion und Reizleitungsfähigkeit des Herzens erneut „vermessen“ werden und die Indikation zu und das Vorgehen bei operativen Eingriffen sich an diesen Messergebnissen orientieren. -8- An dieser Stelle scheint es mir passend, beim Thema Herzinfarkt noch Folgendes einzuschieben, was vielleicht das Wichtigste in diesem Script und an der dazugehörigen Lehrveranstaltung ist. Deshalb handle ich es auch an einer Prüfungsfrage ab, auf die Sie vielleicht stoßen werden: Perioperative Herzinfarkte ereignen sich am häufigsten a) Präoperativ, während des belastenden Wartens auf die Operation. b) Intraoperativ, in der Phase, in der maximaler Operationsstress herrscht. c) Postoperativ, in der Zeit, in der der Organismus die unmittelbaren Folgen des Eingriffs(Schmerz, Volumenverschiebungen u. a.) verarbeiten muss. d) In der Rekonvaleszenzzeit nach Entlassung aus der Klinik, in der keine medizinischprofessionelle Überwachung mehr vorliegt. e) Sind zwischen prä-, intra-, postoperativer Phase und Rekonvaleszenzzeit gleich verteilt. Richtige Antwort: c) Hintergrund der Frage ist die Tatsache, dass die Tage, in denen ein postoperativer Herzinfarkt am häufigsten auftritt(3. - 5. postoperativer Tage#Goldman 1984), genau die Tage sind, an denen Sie später vielleicht einmal Patienten von der Wach- oder Intensivstation auf Ihre Normalstation zurückbekommen, da „sie keine Intensivtherapie mehr brauchen“. Die Problematik des postoperativen Verlaufs ist damit aber noch nicht ganz gegessen. Gerade solche Patienten sollten aufmerksam beobachtet werden und Sie sollten die Tatsache der Häufung postoperativer Infarkte in diesem Zeitraum im Hinterkopf haben; insbesondere, wenn sich der Zustand der Patienten kurzfristig verschlechtert hat. Als mögliche Ursache solcher Infarkte wird spekuliert, dass die in diesen Tagen stattfindende Resorption von Wundödemen zu einer erhöhten Volumenbelastung des gesamten und des Herzkreislaufs kommt, damit zu einer höheren Strömungsgeschwindigkeit in den Herzkranzgefäßen und Erhöhung der Scherkräfte an der Venenwand, sodass vorbestehende atheromatöse Plaques eher abreißen und zur Verstopfung der Koronarien führen können. Jedenfalls seien bei der Autopsie von derart verstorbenen Patienten, ähnlich wie auch bei sonst an Herzinfarkt verstorbenen Patienten, embolisierende Plaques in den Koronarien vorgefunden worden(Eine noch spekulativere Vorstellung stammt von mir, nämlich dass auf einer Normalstation natürlich viel mehr Patienten mit einem geringeren Personalschlüssel betreut werden müssen und deshalb die Überwachungsdichte für den einzelnen Patienten zwangsläufig viel weniger dicht ist, als auf einer Intensivtherapiestation). Soweit zu instabilen Situationen, in denen eine zusätzliche Herz-Kreislaufbelastung tunlichst vermieden werden sollte, bevor keine adäquate Therapie erfolgt ist. Natürlich gibt es auch Situationen mit vitaler Indikation – akute Blutungen, wie ein rupturiertes Aortenaneurysma oder ein Polytrauma(schwerste kardiale Vorerkrankungen verhindern aber meistens, sich in eine Situation zu begeben, in der man ein Polytrauma erleiden kann), nur leicht protrahiert Ileus, die Ischämie proximaler Gefäße(Aortenbifurkation oder im Mesenterialbereich), das Ausschalten des Herdes bei schwerer Sepsis, Schenkelhalsfrakturen, Wirbelsäulenoperationen bei akut drohender Querschnitslähmung. Die Vorbereitungszeit beträgt hier oft nur einige Minuten bis wenige Stunden. (Da stehn'se dann da, mit der Verapamilspritze in der einen Hand und dem Laryngoskop in der anderen. Und mit dem Greifschwanz halten Sie noch die Noadrenalinspritze 1:100 bereit …) Bei anderen Symptomatiken – als „mittelschwere“ und „geringfügige“ Prädiktoren für kardiovaskuläre Komplikationen eingeschätzt – besteht in der Regel noch eine ausreichende Vorbereitungszeit. Bei einigen dieser Symptomatiken – eingestuft als „mittelschwer“, oder „Abklären“ sollte das Ausmaß der Vorerkrankung eingeschätzt und mögliche spezifische Maßnahmen für die Vorbereitung der Operation, für den Ablauf der Operation selbst und danach eingeplant werden. -9- - So etwa bei Anamnese kardialer Ischämien eine Kreislaufsteuerung, die einen zu hohen Sauerstoffbedarf des Myokards auf der einen Seite einschränkt(Blutdruck und Herzfrequenz nicht zu hoch), aber auf der anderen Seite eine ausreichende Koronardurchblutung gewährleistet(arterieller Mitteldruck, bzw. systolischer und vor allem diastolischer Blutdruck nicht zu niedrig). - Bei höhergradiger Herzinsuffizienz eine Vermeidung von intra- und postoperativer Flüssigkeitsüberladung, im Extremfall vielleicht eher positiv inotrop wirksame Medikamente, wie Dobutamin. Letzteres ist aber wohl schon eher ein Fall für eine postoperative Wachstation. - Bei Diabetes mellitus Absetzen blutzuckersenkender Medikamente in Phasen der Nüchternheit, stattdessen Senken eines erhöhten Blutzuckerwerts durch IV-Injektion von Insulin. - Bei Niereninsuffizienz Anpassen der Dosis von Medikamenten, die über die Niere ausgeschieden werden, Zurückhaltung bei potentiell nierentoxischen Medikamenten, Anpassen der Infusionsmenge an die quantitative Ausscheidungsfähigkeit der Niere bei höhergradiger Niereninsuffizienz, bei noch schwererer Niereninsuffizienz Achtung auf den Elektrolythaushalt, gegebenenfalls Planung einer perioperativen Dialyse. - Um nur einige Beispiel zu nennen. Einige Befunde dagegen, die auf den ersten Blick mit Komplikationen behaftet sein können, erweisen sich dennoch als geringfügigere Risikofaktoren für eine perioperative Schädigung. - Hohes Alter a l l e i n muss nicht unbedingt ein hohes Operationsrisiko bedingen. Im Gegenteil, es entsteht der Eindruck, dass Leute, die ein sehr hohes Alter, z. B. an die oder über 90 erreicht haben, sehr gesund sein müssen. Denn sonst wären sie wahrscheinlich schon früher gestorben. Allerdings finden Sie in vielen gründlich validierten Einschätzungssystemen für ein erhöhtes Operationsrisiko durchaus Alter als Risikofaktor angegeben, wahrscheinlich deshalb, weil Patienten über 65 wohl vermehrt Begleiterkrankungen aufweisen, die potentiell lebensbedrohlich werden können und an deren Komplikationen sie dann auch versterben. Übrig bleiben 90jährige ganz ohne oder ohne eine allzu schwere Ausprägung wesentlicher Begleiterkrankungen, die sterben, wenn sie den City-Marathon laufen und überfahren werden, weil sie ihre Starbrille vergessen haben. Aber Spass beiseite, eine Analyse der offziellen nationalen Bevölkerungsstatistik der Verstorbenen in England zwischen 2001-2010 gibt im Vergleich zu den 80-84jährigen bei den über 100jährigen als Todesursache vermehrt „Altersschwäche“(28 versus 1%) und Pneumonie(18 versus 6%)an und weniger Karzinome(4 versus 25%) oder ischämische Herzerkrankung(9 versus 19%){Evans, 2014 #10}. - Leichtere EKG-Abnormalitäten oder fehlender Sinusrhythmus(meistens Vorhofflimmern) bei stabilem Kreislauf weisen zwar ein leicht erhöhtes perioperatives Risiko auf: Außer einer Anpassung der antikoagulativen Einstellung oder deren Beachtung bei Vorhofflimmern ist führt dies aber in der Regel zu keiner Veränderung des perioperativen Vorgehens. - Nun, die Fähigkeiten, Treppen mit Einkaufstüten zu steigen ist ein ganz gutes Maß für die kardiale Belastungsfähigkeit. Zudem sagt es auch aus, dass die Leute rollatorunabhängig mobil sind, sich allein versorgen und meistens ohne allzu ausgefeilte Hör- und Sehhilfen mit den Leuten in Kontakt treten können, bei denen sie einkaufen. Allerdings ist damit noch nicht gesagt, ob in den Einkaufstüten zwei Säcke mit Kartoffeln stecken oder die Teebeutel für den Samstagsnachmittags-Tee. - Nach Schlaganfall bemühen wir uns besonders, während der Narkose einen optimalen zerebralen Perfusionsdruck aufrecht zu erhalten(„besonders“, weil wir das eigentlich bei jedem Patienten tun). Ganz logisch ist das nicht, weil die meisten Hirnschäden durch - 10 - Schlaganfall embolisch bedingt sind. Aber wahrscheinlich können wir damit einer marginal versorgten Zone um die Infarktnarbe noch etwas Gutes tun. - „Unkontrollierte Hypertonie“ ist ein vielschichtiger Begriff. Wenn jemand mit 160/90 mmHg in die Narkoseinleitung kommt(Bluthochdruck von der European Society of Cardiology, ESC definiert ab 140/90 mmHg{Mancia, 2013 #11}), würde ich mit keine Sorgen machen, wohl aber wenn dieselbe Person mit 260/130 kommt … . - 11 - Risikoeinschätzung mit statistisch validierten Scores Ein aus der Auswertung eines Kollektivs von 2893 Patienten gewonnenes, an 1422 Patienten weiter validiertes, viel zitiertes und vor allem klinisch einfach zu erhebendes Punkteschema zur Staffelung des perioperativen Riskos ist der Kardiale Risikoindex nach Lee 1999{Lee, 1999 #12} (Im Original „Revised Cardiax Risc Index, RCRI“ als einfachere und verbesserte Version eines früheren „Cardiac Risc Index“ von Goldman 1977) Für jeden vorhandenen der folgenden 6 Befunde wird dabei je 1 Punkt vergeben: - Koronare Herzkrankheit Myokardinfarkt oder positiver Belastungstest in der Anamnese; pathologische Q-Zacke im EKG; bestehende pektanginöse Beschwerden; Verwendung von sublingualem Nitroglyzerin; frühere interventionelle oder chirurgische koronare Revaskularisierung nur dann, wenn die oben aufgeführten Faktoren vorliegen - Herzinsuffizienz Herzinsuffizienz, Lungenödem oder paroxysmale nächtliche Dyspnoen in der Anamnese; auskultatorisch beidseitige Rasselgeräusche oder S3-Gallop; röntgenologische Hinweise auf Herzinsuffizienz - Zerebrovaskuläre Erkrankung Anamnese von transienten ischämischen Attacken (TIA) oder Insult - Insulinpflichtiger Diabetes mellitus - Präoperative Serumkreatininkonzentration > 152 pmol/L (2,0 mg/dL) - Chirurgischer Hoch-Risiko-Eingriff Intraperitoneale, intrathorakale oder suprainguinale vaskuläre Eingriffe Je nach erreichtem Punktwert können die Patienten für die Häufigkeit des Auftretens wesentlicher kardialer Komplikationen in der perioperativen Phase(Myokardinfarkt, Lungenödem, Kammerflimmern oder primärer Herzstillstand, kompletter Herzblock) den folgenden Klassen zugeordnet werden: Risiko-Klasse Anzahl an Faktoren Komplikationshäufigkeit % 95 % CI Klasse I 0 2/488 0,4 0,05 - 1,5 Klasse II 1 5/567 0,9 0,3 - 2,1 Klasse III 2 17/258 6,6 3,9 - 10,3 Klasse IV >3 12/109 11,0 5,8 - 18,4 Tabelle 5: Kardialer Riskoindex nach Lee 1999(4315 Patienten insgesamt){Lee, 1999 #12}. CI: Konfidenzintervall. Problem der Risikoindizes Um es nach diesem ersten Beispiel gleich vorweg anzusprechen: Die Statistik mit denen diese Indizes sie erstellt worden sind, hat ein Problem{Priebe, 2007 #14}: Die analysierten Patientengruppen beinhalten in der Regel sehr viele leichter erkrankte Patienten dagegen bei weitem weniger schwerkranke Patienten. - Klar, bei einem Patienten, dem man auch ohne Risikoindex ansieht, dass er schwerst anderweitig vorerkrankt ist, wägt man ab, ob gegenüber den Vorerkrankungen überhaupt operiert werden soll, nicht nur der Operateur, sondern oft auch der Patient selber. Außerdem neigen schwerkranke Patienten dazu, an ihren Krankheiten zu versterben, - 12 - bevor überhaupt eine Operation in Frage kommt. Deshalb sind Voraussagen über das perioperative Risiko von schwerkranken Patienten statistisch viel weniger genau als die Aussagen über leicht erkrankte Patienten Konkret heißt das für die klinische Praxis: Auf die Voraussage eines niedrigen kardiovaskulären Operationsrisikos bei einem kardiovaskulären Risikopatienten kann man gut vertrauen. Daher kann man dann oft auf weitere aufwendige Maßnahmen zur Patientenvorbereitung verzichten(Tests, Medikamente, Konsilien). Dagegen ist die Voraussage eines hohen kardiovaskulären Risikos bei einem kardiovaskulären Risikopatienten glücklicherweise nicht so oft - zumindest gefühlsmäßig bei uns Klinikern - mit einer tatsächlich auftretenden Komplikation verbunden, als wie wir es uns in unseren präoperativen Albträumen vorstellen. Das finden wir ganz gut(zumindest gefühlsmäßig). Weitere Risiko-Indizes - Für einzelne Fachgebiete, größere Patientenzahlen An den ersten Risikoindizes, wie dem von Lee 1999, wurde bald bemängelt, dass die Aussagen zu allgemein seien und nicht auf spezielle Eingriffsarten eingingen{Augoustides, 2013 #20}. Als Konsequenz wurden nach dem Jahr 2000 weitere Risikoindizes mit hohen Patientenzahlen speziell für Thorax- und Gefäßchirurgie entwickelt. So gibt es seit 2010 den Thoracic revised Cardiac Risk Index Nach statistischer Auswertung von 1696 Patienten mit Lungenresektionen fanden italienische und spanische Thoraxchirurgen die folgenden Risikofaktoren signifikant verbunden mit dem Auftreten schwerer myokardialer Komplikationen. Jedem Risiofaktor wurde der jeweils nebenstehende Punktwert zur Erstellung eines Risikoscores zugeordnet{Brunelli, 2010 #21} und anschließend dieser Score an den 2621 Patienten im darauffolgenden Jahr 2011 überprüft(validiert){Brunelli, 2011 #22}{Augoustides, 2013 #20}: - Pneumonektomie Myokardiale Ischämie Zerobrovaskuläre Ischämie Kreatinin > 2 mg/dL 1,5 Punkte 1,5 Punkte 1,5 Punkte 1,0 Punkt Daraus ergab sich folgende Punkteskala und die folgende Komplikationshäufigkeit: Punkte 0 1-1,5 2-2,5 > 2,5 Risiko schwerer myokardialer Komplikationen 1,5% 5,8% 19% 23% Speziell für Lungenoperationen ergab sich dabei eine bessere Voraussagekraft als wie beim Revised Cardial Risk Index von Lee 1999. Die Vascular Surgical Group of New England hat 2010 für einen Cardiac Risk Index for vascular surgery 10 081 Patienten mit Gefäßoperationen statistisch ausgewertet{Augoustides, 2013 #20}. Dabei fanden sich folgende signifikante Risikofaktoren für schwere myokardiale Komplikationen, - 13 - denen der jeweils nebenstehende Punktwert zur Erstellung eines Risikoscores zugeordnet wurde: - Alter > 80 Alter 60 - 79 Alter 50 - 69 Koronare Herzkrankheit Komp. Herzinsuffizienz COPD Kreatinin > 1,8 mg/dL Rauchen Insulinpfl. Diabetes mellitus Langzeit-Beta-Blockade, Z. n. CABG oder PTCA 4 Punkte 3 Punkte 2 Punkte 2 Punkte 2 Punkte 2 Punkte 1 Punkt 1 Punkt 1 Punkt -1 Punkt(1 Punkt abgezogen) Die Punkteskala dazu ergibt folgende Komplikationshäufigkeit: Punkte 0-3 4 5 6 7 >=8 Risiko schwerer myokardialer Komplikationen 2,5% 3,5% 6,0% 6,6% 8,9% 14,3% Dabei für Gefäßoperationen ebenfalls eine bessere Voraussagekraft als Revised Cardial Risk Index von Lee 1999. Da die vielen Punkte nun schon schwieriger im Kopf zu berechnen sind, gibt’s dafür den Online Risk Calculator auf www.vsgne.org. Es ist sowieso eine interessante neuere Entwicklung, dass solche Punktbewertungsysteme zunehmend Online oder als App zur Verfügung stehen(Anleitungen dazu auf den jeweiligen Home Pages), was nicht nur die Berechnungen vereinfacht, sondern auch ihren Einsatz direkt am Krankenbett ermöglicht. Außerdem können Sie selber damit spielen: Was wäre, wenn Ihr Patient dies oder jenes noch hätte – Wie ändert sich dann die perioperative Gefährdung? – Manchmal sind die Veränderungen erstaunlich. Bitte beachten Sie aber auch nebenbei inhaltlich, dass in allen bisher vorgestellten Risiko-Indizes ein Wert für die Nierenfunktion eingeht, was den Stellenwert der Niere für den postoperativen Heilungsprozess unterstreicht. Risikoabschätzung unter Verwendung bereits bestehender Datenbanken mit großen Patientenzahlen(über 200 000) Weiter wurde am Revised Cardiax Index von 1999 bemängelt, dass die Patientenzahlen für eine ausreichende Validierung der Scores immer noch zu gering seien, zumindest in einigen Unterbereichen, wie schon beschrieben zum Beispiel bei schwerkranken Patienten. Da prospektive Untersuchungen mit noch mehr Patientenzahlen aber kaum noch durchführbar sind, wird zunehmend eine andere, retrospektive Möglichkeit der Informationsgewinnung verwendet{Augoustides, 2013 #20}: Ein Verfahren, das unter dem Stichwort „Data Mining“ schon seit längerer Zeit Firmen wie IBM ihren Geschäftskunden kommerziell zur Auswertung derer umfangreicher Datenbestände anbieten, - 14 - für das aber auch so unterschiedliche Institutionen wie Google, Amazon, die National Security Agency der Vereinigten Staaten von Amerika und neuerdings sogar unser eigener Bundesnachrichtendienst aufs Heftigste kritisiert worden sind, nämlich bereits vorhandene Datensammlungen, die liebevoll für ganz andere Zwecke angelegt worden sind, für die eigenen Ziele schamlos zu plündern. Ein Beispiel dafür haben Sie ganz zu Anfang schon kennengelernt, die Verwendung von Daten zur chirurgischen Qualitätskontrolle für die Erstellung von Mortalitätsstatistiken einzelner chirurgischer Eingriffe(Tab. 2, S. 4). Mit Hilfe dieser Datenbank – der des National Surgical Quality Improvement Program (NSQIP) des American College of Surgeons(ACS) - wurden weitere Calculations-Systeme für die Prognose operativer Eingriffe entwickelt. So ebenfalls wie bei den Gefäßchirurgen von Neuengland ein Score für das Risiko von perioperativem Herzinfarkt oder Herzstillstand, allerdings mit ganz anderen Eingangsfaktoren für die Punktbewertung: Risikofaktoren für das Risiko von Herzinfarkt oder Herzstillstand ermittelt an 211 410 Patienten, anschließend validiert an 257 385 Patienten 468 795 Patienten insgesamt aus 250 Kliniken - Art des Eingriffs Pflegebedürftigkeit(Dependent Status) Erhöhtes Kreatinin(Schon wieder) ASA-Klasse(Zum erstenmal auf dieser Bühne) Höheres Alter Für Gefäßoperationen bessere Voraussagekraft als Revised Cardial Risk Index 1999(Lee) und etwas besser als Vascular Surgical Group of New England Der Risk Calculator dazu auf www.surgicalriskcalculator.com Auf dieser Homepage finden Sie auch weitere Risikokalkulatoren für Komplikationen bei speziellen Eingriffsarten: - Aorteneingriffe - Infrainguinale Gefäßchirurgie - Notwendigkeit postoperativer Beatmung - Pneumonie - Bariatrische Chirurgie - Darmresektionen nach mesenterialer Ischämie Die Literatur dazu im Einzelnen(Gupta et al.) finden Sie auf dieser Homepage oder in{Augoustides, 2013 #20} Speziell für uns schlichte Gemüter aus der operativen Medizin wurde von anderen US-Medizinern ein einfacher Bedside-Score zur Abschätzung der perioperativen Mortalität am Krankenbett erstellt{Glance, 2012 #18}. Dabei wurde Datenmaterial von 298 772 Patienten, operiert zwischen 2005 – 2007, aus derselben chirurgischen Datenbank verwendet: Signifikante Risiko-Faktoren - ASA I – V OP-Risiko mittelschwer OP-Risiko hoch Notfalleingriff Zugeordnete Punktzahlen: 0, 2, 3, 4, 5 Punkte 1 Punkt 2 Punkte 1 Punkt - 15 - Punkteskala und Mortalität Punkte 0-4 5-6 >6 Mortalität < 0,4% 1,5 - 4,0% > 10% Klinische Chemie und perioperative Risikoeinschätzung Können uns Bio-Marker zusätzlich vor Gefahren warnen? Anstatt sich ständig an Hand von Risiko-Scores den Kopf zu zerbrechen, welche Gefahren Ihren Patientinnen und Patienten bei Operationen drohen, können Sie noch einen ganz anderen und wesentlich angenehmeren Weg wählen um an entscheidende Informationen zu kommen. Wenn Sie die Möglichkeit dazu besitzen, können Sie, wie es es im klinischen Alltag gern üblich ist und auch reichlich Gebrauch davon gemacht wird, die Arbeit an andere delegieren, in diesem Fall an die Klinische Chemie. Allerdings findet dieses Vorgehen seine Grenzen in der Kostenabrechnung, im Gegensatz zur Ihrer oft unbezahlten und wohlgelittenen geistigen Überstundentätigkeit. Die Frage ist: Können perioperativ im Blut gemessene Biomarker uns zusätzliche Informationen liefern und vor möglichen Komplikationen warnen – unabhängig von Art der Operation, Vorerkrankungen und akutem Gesundheitszustand unserer Patientinnen und Patienten? - Das heißt, unabhängig von der Information, die wir bereits aus den bisher genannten Scores und anderen Risikoeinschätzungen kennen. - Und können solche Messungen das Operationsrisiko in einem Ausmaß als höher oder niedriger einstufen, dass es auch unsere Planungen für die perioperative Therapie verändert. Und sei es auch nur, dass wir eine erhöhte Wachsamkeit an den Tag legen? Aus der Vielzahl im Blut meßbarer Bio-Marker kommen in Frage für eine zusätzliche Abschätzung des perioperativen Risikos vor allem die Plasmakonzentration und der zeitliche Verlauf von: – Troponin – freigesetzt bei Verletzung kardialer Zellen – Brain Natriuretic Peptide(BNP) – freigesetzt von Kardiomyozyten unter starker Dehnung – Glykolisiertes Hämoglobin - bekannter als Diabetes Marker HbA1c, assoziiert mit erhöhtem perioperativen kardiovaskulären Risiko{Beattie, 2013 #1} Als Beispiel für den Informationsgewinn durch Biomarker hier ein Auszug aus dem VISIONStudienkomplex(Vascular events In noncardiac Surgery patIents cOhort evaluatioN - VISION), der Eingang in die anästhesiologische Zeitschriftenwelt gefunden hat: Myocardial Injury after Noncardiac Surgery: A Large, International, Prospective Cohort Study Establishing Diagnostic Criteria, Characteristics, Predictors, and 30-day Outcomes Anesthesiology, März 2014, p 564–578{Botto, 2014 #2} Hier wurden an insgesamt weltweit 15 000 Patienten auf klinisch-chemischen Anzeichen eines postoperativen Herzmuskelschadens allein oder auf zusätzliche klinische Kriterien untersucht und das Ergebnis der postoperativen 30-Tage Mortalität gegenübergestellt. Dabei war die Definition von: Myocardial Injury after Noncardial Surgery (MINS), Herzmuskelschaden nach nicht herzchirurgischen Operationen - 16 - Troponin T >= 0,04 μg/L* innerhalb der ersten 3 Tage nach OP *4. Generation TnT Assay mit: klassischen Anzeichen einer kardialen Ischämie(Schmerzen präkordial, im Arm, Kiefer, oder EKGVeränderungen) oder: ohne solche Anzeichen von kardialer Ischämie. Mortalität innerhalb von 30 Tagen nach OP. Bei den etwa 15 000 Patienten fanden sich: 1 200(1194) Patienten mit Kriterien für Herzmuskelschaden – laborchemisch, mit oder ohne klinische Anzeichen kardialer Ischämie(MINS) 8% → Mortalität 9,6% 14 000(13 822) Patienten ohne Kriterien für Herzmuskelschaden – laborchemisch mit oder ohne klinische Anzeichen kardialer Ischämie(MINS) 92% → Mortalität 1,1% Andere signifikante prädiktive Faktoren für erhöhte postoperative Mortalität: Sepsis, Schlaganfall, Lungenembolie. Außerdem:Ein Troponinwert >= 0,04 μg/L(auch >= 0,03 μg/L) allein, auch ohne klassische Anzeicheneiner kardialen Ischämie, sagt eine erhöhte postoperative Mortalität voraus. Wesentlich ist, dass von den 1 200 Patienten mit Kriterien für einen Herzmuskelschaden nur 42% klassische Anzeichen einer kardialen Ischämie hatten(Mortalität 14.3%), 58% dagegen nicht, sondern nur ein Troponin von >= 0,04 μg/L; dennoch aber immer noch eine wesentlich höhere Mortalität(Mortalität 6,4%) als wie die übrigen Patienten(1,1%). {Augoustides, 2013 #20} Funktionelle Tests Die Zuordnung unserer Patientin oder unsers Patienten zu Patientengruppen, die ein größeres oder geringeres Gefährdungspotential für die bevorstehende Operation nahelegt. Wir wollen aber nicht nur das Gefährdungspotential für unseren Patienten wissen, sondern ganz konkret, wie der individuelle Organismus unseres Patienten auf den perioperativen Stress reagiert. Das können wir aber nur, indem wir austesten, inwieweit dieser Organismus, im Wesentlichen sein kardiopulmonales System, unter den perioperativen Belastungen belastbar ist und wo die Grenzen dieser Belastung sind. Da wir nicht probeoperieren können, müssen wir die Belastungsfähigkeit anamnestisch erheben oder eine mögliche Belastung simulieren. - 17 - Am schnellsten und ohne besondere Hilfsmittel durchführbar ist Ein einfacher kardiopulmonaler Funktionstest: Wieviele Stockwerke können Sie hochsteigen ohne Verschnaufpause? (Im Zweifelsfall einfach selbst in der Klinik den Patienten Treppen steigen lassen und am Ende Puls fühlen) 3 Stockwerke Keine Herzinsuffizienz Kein Problem 2 Stockwerke Leichte bis mäßiggradige Herzinsuffizienz Machbar 1 Stockwerk Mittelgradige Herzinsuffizienz Aufpassen, aber wahrscheinlich auch machbar mit einiger Überlegung Weniger als 1 Stockwerk Schwerere Herzinsuffizienz Vorsicht! Tabelle 6: Aus Lenz, C. Anesthesia quick and dirty, Mannheim, to be submitted 2020(An experience and intuitivity based medicine approach to anesthesia). Weder Anzahl und Höhe der einzelnen Stufen, noch die Höhe der Stockwerke ist allerdings dabei definiert, ebenso wenig habe ich das von mir zu diesem Zweck gern genutzte Treppenhaus im Haus 1 des Universitätsklinikums Mannheim(da, wo der Hubschrauber oben landet) validiert gegen eine Vergleichsgruppe von Treppenhäusern in anderen deutschen Krankenhäusern und Privatwohnungen(ohne Hubschrauberlandeplatz). Die besondere Bedeutung des Treppensteigens besteht darin, dass sie ein gutes klinisches Maß für die kardiopulmonale Belastungsfähigkeit ist, da beim Steigen einer Treppe ausreichend Energie und kardiopulmonale Arbeit aufgewendet werden muss um das gesamte Körpergewicht höher zu bewegen(der Patient wiegt 80 kg). In der Regel ist das ein höherer Energieaufwand als etwa nur Hanteln zu stemmen(Gewicht z. B. 10 kg), auch wenn das vielleicht attraktiver aussieht und zu einem schöneren Aufbau einzelner Muskeln führt. - Allerdings können Sie auch Schwierigkeiten bekommen bei Antworten wie: „Ich steig' keine Treppen. Ich wohn' im Parterre,“ oder „Ich fahr' immer mit dem Aufzug). - Wenn es sehr wichtig ist, müssen Sie dann eben die Treppe im Haus 1 benutzen … . Auch Patienten mit arthrotischen Hüft- und LWS-Beschwerden, oder solche mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit(pAVK) steigen keine Treppen, da sie Schmerzen bekommen, bevor ihnen die Luft ausgeht. Alltägliche Tätigkeiten und deren metabolisches Äquivalent als Messgröße für die kardiopulmonale Belastbarkeit - 18 - „Metabolic equivalent task“(MET) Besser ist es natürlich, wenn die anamnestisch erhobene Belastbarkeit messtechnisch ordnungsgemäß abgesichert und vergleichbar ist. Dazu kann der Energie- und Arbeitsaufwand für einzelne körperliche Belastungen des täglichen Lebens – die für den Patienten nachvollziehbar sind(und glücklicherweise auch für den Untersucher) – apparativ gemessen und die einzelnen Tätigkeiten je nach gefundenem Messwert einer nummerische Skala mit aufsteigendem Energieund Arbeitsaufwand zugeordnet werden. Als Messgröße dient dabei das „Metabolische Äquivalent“ oder „metabolic equivalent task“(MET). Der Basiswert 1 MET = V02 von 3,5 ml/kg/min entspricht dabei dem Energie- und Arbeitsaufwand des Körpers in Ruhe(Grundumsatz). Die Kardiopulmonale Belastbarkeit können Sie dann abschätzen mit Fragen nach alltäglichen Tätigkeiten Können Sie ... … sich ohne Anstrengung in der Wohnung bewegen? … leichte Hausarbeit verrichten (z.B. Staubwischen, Waschen)? ... sich selbst versorgen? … ohne Anstrengung in der Ebene 1-2 Häuserblocks in Schrittgeschwindigkeit gehen? … mäßigschwere Hausarbeit verrichten (z.B. Staubsaugen, Aufwischen)? 1 MET … leichte Gartenarbeit verrichten? … Treppen steigen, Rollstuhl schieben? … an mäßig anstrengenden Freizeitaktivitäten teilnehmen(z.B. Golfspielen, langsames Tanzen, Musikinstrument spielen)? 4 MET … an mäßig anstrengenden Sportaktivitäten teilnehmen (z.B. Tennisdoppel, Bowling, Tanzen)? … schwere Hausarbeit verrichten(z.B. Fußboden schrubben, schwere Möbel bewegen)? … eine kurze Distanz laufen? 7 MET … an sehr anstrengenden Sportaktivitäten teilnehmen (z.B. Schwimmen, Tenniseinzel, Fußball)? > 10 MET Nach{Ainsworth, 2011 #19} und{Priebe, 2007 #14} Apparative Belastungsstests Nicht- oder minimalinvasiv Das alles sind aber immer noch Vergleiche. Um Originalmessungen am Patienten selbst zu erhalten und die Grenzen der Leistungsfähigkeit dessen Organismus auszuloten, benötigt man Messinstrumente, Zeit für die Durchführung, die Auswertung und Interpretation der Messung, Personen, die geschult sind das zu tun und im Bedarfsfall die untersuchten Patienten medizinisch zu - 19 - behandeln, wenn diese die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit überschritten haben. Dies ist natürlich ein erheblicher medizinischer Aufwand, sodass die Indikation dazu eng gestellt wird{Augoustides, 2013 #20}. Derartige kardiale Belastungstests sind Belastungs-EKG Belastungs-Perfusionszintigraphie Dobutamin-Stress-Echo und -Magnet Resonanz Tomographie(MRT) Wie schon die vorher erwähnten Scores eignen sich auch diese funktionellen Untersuchungen sehr gut für die Voraussage eines geringen perioperativen Risikos, dagegen ist die Voraussagekraft für ein hohes perioperatives Risiko geringer. Am besten scheint dies wohl noch der Fall zu sein beim Dobutamin-Stress-Echo/MRT{Priebe, 2007 #14}. Die Belastung kommt dabei nicht durch körperliche Tätigkeit zustande, sondern medikamentös durch Infusion des positiv inotrop wirkenden Katecholamins Dobutamin. Die Herzkreislaufbelastung medikamentös auszulösen kann auch eine Alternative zu klassischen Funktionsuntersuchungen sein, wie dem Belastungs-EKG(„Fahrradfahren“), wenn durch Einschränkungen wie Hüftgelenksarthrose oder pAVK der körperlichen Tätigkeit(„Fahrradfahren“) Grenzen gesetzt sind. Stellenwert von invasiven Herzkatheteruntersuchungen Im Allgemeinen herrscht hier der Konsens, dass invasive Untersuchungen, meistens „Linksherzkatheter“ ebenfalls keine besseren Voraussagen ermöglichen, aber eine bestimmte Morbidität und auch Mortalität(Koronarangiographie Mortalität 0,1-0,5%) aufweisen, sodass empfohlen wird: Invasive Untersuchungen vor operativen Eingriffen sollten in der Regel nur dann durchgeführt werden, wenn sie unabhängig von der anstehenden Operation indiziert sind{Kristensen, 2014 #15}. - 20 - Zusammenfassend ergibt sich folgendes Ablaufschema: Abbildung 2: Ablaufschema der präoperativen Patientenvorbereitung I. Da einige anamnestische Angaben zur kardiopulmonalen Belastbarkeit relativ einfach zu gewinnen sind(Treppensteigen, metabolische Äquivalente), kann auch bei niedriggradigem OP-Risiko deren Erhebung zusätzliche Sicherheit geben, auch wenn sich dadurch das Vorgehen unter und nach dem Eingriff nicht wesentlich ändern wird(Aber Sie schlafen vor der Operation eventuell etwas besser). Die Indikationsstellung für nicht/minimalinvasive funktionelle Test ist in den Empfehlungen der europäischen Kardiologen etwas schwammig angegeben. Auch wenn die Empfehlungen dazu nominell auf Hochrisikoeingriffe begrenzt sind, wird geraten, solche Untersuchungen eventuell auch bei Patienten mit mittlerem OP-Risiko und vielen zusätzlichen Risikofaktoren in der Anamnese zu erwägen. Individualisiertes Vorgehen ist der euphemistische Begriff für maximale Überwachung und die Bereitschaft, intraoperatives Vorgehen und Strategie in engster Zusammenarbeit aller Beteiligten je nach auftretender Komplikation schnellstmöglich gegebenenfalls radikal abzuändern und an die neue Situation anzupassen. - 21 - Weiter ist zu erwägen, ob durch perioperative Gabe von Medikamenten ein zusätzlicher Schutz des Herzkreislauf-Systems vor allzu großer Belastung gewonnen werden kann. Eine Zusammenfassung dazu finden Sie in Tab. 7. Für das Neuansetzen eines kreislaufwirksamen Medikaments – im Wesentlichen β-Blocker und Statine – gilt dabei, dass dies rechtzeitig vor dem Eingriff geschehen und die Dosis sorgfältig titriert werden sollte{Kristensen, 2014 #15}. Die Erweiterungen von funktionellen Untersuchungen und medikamentöser Therapie, die noch erwogen werden können, führen uns dann zum letzten Bild in Zusammenfassung II. Medikamentöse Vorbehandlung mit kardiovaskulär wirksamen Medikamenten Medikament Empfehlung Bemerkungen β-Blocker + Start mindestens 7-30 Tage oder früher vor OP und sorgfältige Titration der Effekte: HF 60-70, RR normoton Statine + Start frühzeitig vor OP, Präparate mit Langzeitwirkung, da alle oral Calcium-Kanal-Blocker (+) Bei Kontraindikationen für β-Blocker Ivabradin ?+ Neues Medikament, bisher 1 Studie α2-Rezeptor-Agonisten +/- Widersprüchliche Ergebnisse Diuretika - Absetzen so lange Nüchternheit besteht Bei herzinsuffizienten Patienten mit Hypervolämie kurzfristig i. v. Elektrolytverschiebungen beachten Aspirin 100 + Nur bei zu erwartenden größeren Blutungen absetzen, nicht neu ansetzen Antikoagulantien +/- Nach individueller Situation Ansonsten alle Medikamente, die auch ohne Operation zusätzlich indiziert gewesen wären außer solchen, die normalerweise perioperativ abgesetzt werden Tabelle 7: Möglichkeiten perioperativ zusätzlicher Herz-Kreislauf-Medikation{Kristensen, 2014 #15}. - 22 - Abbildung 3: Ablaufschema der präoperativen Patientenvorbereitung II mit möglichen Erweiterungen - 23 -