grundwerte_wettstreit

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Didaktische Reihe
Band 22
Werte in der politischen Bildung
Herausgeber:
Gotthard Breit
Siegfried Schiele
LpB, 2000, 464 S. (Landeszentrale f. polit. Bildung Bad-Württ)
Frank Hörnlein
Grundwerte für Europa?
Einleitung
Die europäische Integration weitet sich sowohl auf immer mehr Staaten als auch auf eine wachsende Zahl von
Bereichen des politischen Lebens aus. Daraus ergeben sich nicht nur technische Probleme der Organisation und
der institutionellen Struktur dieses Vergemeinschaftungsprojekts; zunehmend drängen sich auch Fragen nach
den gemeinsamen normativen Grundlagen dieses Prozesses in den Blickpunkt.
Dies geschieht nicht zufällig gerade im Anschluss an eine neue Vertiefungsphase, in der sich neben der
Europäischen (Wirtschafts-) Gemeinschaft die Europäische Union etabliert hat.1 Letztere erfordert eine
Verbreiterung des europäischen Blickwinkels über den ökonomischen Horizont hinaus: Wenn beispielsweise die
gemeinsame Demokratiefähigkeit der Union zur Diskussion steht, muss auch über gemeinsame Werte verhandelt
werden. Denn gemeinschaftliche Demokratiefähigkeit setzt womöglich ein hoch entwickeltes Niveau an
Konsens und vorpolitischen Gemeinsamkeiten voraus. Auch die Erweiterung Europas bringt angesichts
ethnischer und kultureller Konflikte in einigen Staaten Mittel- und Osteuropas zusätzliche Unsicherheit darüber,
ob ein europäischer Grundwertekonsens überhaupt möglich ist (vgl. Griffith 1998). Sowohl die zukünftige
Erweiterung als auch die aktuelle Vertiefung der europäischen Integration bieten demnach Anlässe, Fragen nach
gemeinsamen europäischen Werten nachdrücklich zu stellen.
Auch wenn man die neueren Integrationsschritte2 nicht auf einen gemeinsamen europäischen Staat gerichtet
begreift, stellen sich bei dem angestrebten Verflechtungsgrad genauso wie im klassischen Nationalstaat zwei
grundlegende Fragen, die hier näher untersucht werden sollen:
1. Lässt sich unter den Staaten eine gemeinsame normative Grundlage für eine Vergemeinschaftung
feststellen; gibt es gemeinsame Grundwerte, die benannt und vermittelt werden können?
2. Ist für den Bestand und die Fortentwicklung der Europäischen Union ein Konsens über Grundwerte
überhaupt notwendig?
Existiert ein gemeinschaftlicher Konsens über Grundwerte?
Zunächst könnte diese erste Frage mit dem Verweis auf eine fehlende kulturelle Gemeinschaft in der
Europäischen Union verneint werden: Wenn es kein europäisches Volk gibt, kann es auch keinen umfassenden
Wertekonsens geben. Denn zu diesem Konsens würde gehören, dass sich die Völker in gemeinsamen politischen
Entscheidungen dazu bekennen. Dies ist bestenfalls mittelbar der Fall, und ist auch nicht anders zu erwarten,
wenn man die Unterschiedlichkeit der europäischen Politiktraditionen berücksichtigt: differierende historische
Entwicklungen haben nicht nur zu verschiedenen politischen Prozeduren und Stilen, sondern auch zu
verschiedenen Anforderungen an Politik geführt.
Kann es beispielsweise auf dem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit einen Grundkonsens zwischen den
europäischen Staatsvölkern geben? Nicht nur die nationalen Wirtschaftsideologien differieren immer noch
erheblich. Auch die akzeptierte Spanne der Verteilung des Volkseinkommens in den Einzelstaaten ist so
fundamental unterschiedlich, dass eine europaweite Einigung hierüber langfristig unwahrscheinlich erscheint.
Kann weiterhin Europa in Zukunft eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik realisieren? Es erscheint
ausgeschlossen, dass die Atom- und Ex-Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien mit bündnispolitisch
neutralen Staaten wie Österreich und Schweden das gleiche Verständnis von Frieden und Sicherheit teilen.
Trotzdem wird das Vorhandensein eines solchen Konsenses immer wieder behauptet.
Das strapazierte christlich-abendländische Kulturerbe
Das Festhalten an dem simplen, auf europäischem Parkett beliebten Verweis auf das gemeinsame "christlichabendländische Kulturerbe" und der Bezug auf die Französische Revolution als europäisches Fanal der
neuzeitlichen Grundwerte wirken gegenüber den komplexen faktischen Differenzen allerdings oberflächlich.3
2
Die Rhetorik suggeriert das Vorhandensein einer einheitlichen europäischen Wertebasis. Ihre Urheber täten
jedoch besser daran, sich offensiv zu ihrem normativen Hintergrund - um nicht zu sagen zu ihrem
Wunschdenken - zu bekennen. Dies gilt insbesondere in Auseinandersetzung mit den beitrittswilligen mittel- und
osteuropäischen Staaten: Diese stehen vor der anspruchsvollen Aufgabe, ihre politische Zuverlässigkeit
gegenüber einem vermeintlich homogenen "Club" unter Beweis stellen zu müssen, bevor sie gleichberechtigte
Mitglieder werden können. Wer hierbei jedoch faktische Differenzen zwischen den alten Mitgliedstaaten
bewusst verdeckt, muss damit rechnen, von außen auf diese hingewiesen zu werden. Der daraus entstehende
Glaubwürdigkeitsverlust kann dem Dialog mit den Aufnahmekandidaten nur schaden. Wer es in einem so
sensiblen Bereich mit der politischen Wahrheit nicht so genau nimmt, kann auch nicht mit der Ehrlichkeit seiner
Verhandlungspartner rechnen.
Zugegeben: Wer es bei der Betrachtung der Grundsätze von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" belässt und
sich ausschließlich an der europäischen Verfassungsnorm orientiert, gewinnt tatsächlich den Eindruck, Europa
stünde auf diesem Boden gemeinsamer Grundwerte. Hier muss jedoch berücksichtigt werden, dass die
terminologischen Gemeinsamkeiten geeignet sind, faktische Unterschiede zu überdecken. Bei genauerem
Hinsehen führt der Vergleich der einzelnen Verfassungen der Mitgliedstaaten zu einem eher unbefriedigenden
Ergebnis: Es ist zwar ein gemeinsamer Kern an Grundwerten in ihnen enthalten, aber deren Interpretationen und
Ausdifferenzierungen in einzelne konkrete Grundrechte sind in sehr unterschiedliche Richtungen entwickelt. Das
hält jedoch einzelne Autoren nicht davon ab, sehr optimistische Einschätzungen und entsprechend positive
Erwartungen an eine zukünftige gemeinsame europäische Verfassung zu formulieren (siehe z.B. Kimmel 1992,
S. 48f.). Um prüfen zu können, ob dieser Optimismus berechtigt sein könnte, empfiehlt sich eine kurze
Betrachtung des gemeinsamen europäischen Rechtsbestands.
Konsens durch gemeinsames europäisches Recht?
Eingedenk der insgesamt förderlichen Rolle der Rechtsetzung für den Integrationsprozess wird gerne auf die
konsensbildende Funktion des europäischen Primärrechts hingewiesen. Ein Blick auf die verschiedenen Verträge
lehrt, dass die Definition von Grundwerten und damit verbundenen Grundrechten immer noch als Domäne der
Nationalstaaten anzusehen ist. Dieser Umstand findet auch seinen Ausdruck in den multilateralen Abkommen,
die die europäischen Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg miteinander geschlossen haben. Diese teilen sich im
wesentlichen in zwei Gruppen auf: Die einen haben eine verhältnismäßig hohe formale Bindungswirkung für die
Staaten, beinhalten aber keinen expliziten Bezug zu gemeinsamen Grundwerten; die anderen haben umgekehrt
keine effektiv bindende und sanktionsfähige Wirkung für die Staaten, nehmen aber ausdrücklich auf Grundwerte
und Grundrechte Bezug. Zur ersten Gruppe gehören u.a. die Verträge zur Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft; zur zweiten Gruppe zählen z.B. die "Europäische Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten" vom 4. 11. 1950 und die im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (KSZE) am 21. 11. 1990 unterzeichnete "Charta von Paris für ein neues Europa".
Zwischen diesen beiden Polen steht in neuerer Zeit der Vertrag über die Europäische Union (EUV). Als
Fixierung des letzten "großen" Integrationsschrittes stellt er in Bezug auf unsere Fragestellung allerdings immer
noch keinen wirklichen Fortschritt dar: Zwar bestätigt der EUV im 3. Erwägungsgrund der Präambel und in den
Art. 6 und 30 der Fassung von Amsterdam das Bekenntnis der Vertragsstaaten zu den Grundsätzen der Freiheit,
der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit. Die
rechtliche Bindungswirkung des EUV ist jedoch anerkanntermaßen unterentwickelt. Dies ist auch eine
Begründung dafür, warum bei dem bisherigen europäischen Vertragswerk kaum die Rede von einer
europäischen Verfassung sein kann. Ansonsten belegen diese Verträge wiederum, dass Europa zwar eine
gemeinsame Wertgrundlage propagiert, diese jedoch augenscheinlich überhaupt keinen eigenständigen
Motivationsfaktor für seine Integration darstellt.
Grundwerte als Waffe im Kalten Krieg
Auch die Verfassungswirklichkeit wurde lange Zeit in zu rosigen Farben gemalt. In der EWG-Welt konnten
Ereignisse nicht intensiv und kontrovers diskutiert werden, die Zweifel an der westlich-europäischen
Wertegemeinschaft genährt hätten. Um der europäischen - und ganz besonders der atlantischen - Harmonie
willen wurden Menschenrechtsverletzungen häufig mit "Andere Länder, andere Sitten." abgehandelt. Sie wurden
mit grenzübergreifendem Kopfschütteln quittiert und schnell zu den Akten gelegt, um zum harmonischen Teil
der Tagesordnung zurückkehren zu können. Grundwerte, Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren
Durchsetzung und deren Verletzung waren bis 1989 ausschließlich Gegenstand der Auseinandersetzung mit dem
Blockgegner.
Seit den 70er Jahren sind jedoch allmähliche Veränderungen zu beobachten: Auch über den KSZE-Prozess
hinaus haben Fragen der Grundwerte und Grundordnungen der (zukünftigen) Mitgliedstaaten der Gemeinschaft
politisch an Gewicht gewonnen. Zudem wurden diese Themen nicht mehr nur als eine Angelegenheit von
Staaten, sondern stärker von Gesellschaften betrachtet. Dies deutete sich gegenüber dem Bündnispartner USA
3
bereits in den späten 60er Jahren im Protest gegen den Vietnam-Krieg an. Auf EG-Ebene zeigte sich der
gewachsene Stellenwert von Grundwerten und demokratischen Spielregeln im Umgang mit Griechenland,
Portugal und Spanien. Der Zugang zur Gemeinschaft wurde ihnen für den Zeitpunkt versprochen, zu dem sie
ihre diktatorischen Regime überwunden und demokratische Institutionen installiert haben würden.4 Dieses
Versprechen wurde aus politischen Motiven heraus eingelöst, auch wenn dies ökonomisch erwartungsgemäß
einen Rückschritt bedeutete, den die Gemeinschaftsstrukturen bis heute nicht völlig überwunden haben. Der
Grundsatz blieb bis in die aktuelle Erweiterungsrunde hinein in den Beitrittsverhandlungen und den
Stellungnahmen der EG/EU bestehen (vgl. Agenda 2000, passim): Ohne das Bekenntnis zum westlichen
Grundwertekanon und die Umsetzung von innerstaatlicher Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist der Zugang
zur Mitgliedschaft in EG und EU versperrt. Dies führt die zähe Debatte um den Beitritt der Türkei jedem
Betrachter vor Augen.5
Negative Gemeinsamkeiten
Zusätzliche europäische Gemeinsamkeiten deuten sich interessanterweise gerade dort an, wo Grundwerte und
Grundrechte verletzt werden. Offensichtlich gibt es hier einige Übereinstimmungen zwischen den
Mitgliedstaaten: Es ist eben nur ein Teil der Wahrheit, dass sich alle zur Wahrung der Grundwerte, -rechte und freiheiten bekennen; die meisten haben auch ähnliche Probleme mit deren Achtung: Korruption,
Gefangenenmisshandlung, staatliche Einschränkungen der Grundrechte von Personen ohne formales
Aufenthaltsrecht, soziale Ausgrenzung und sogar Ausschreitungen gegen Asylbewerber und Arbeitsmigranten dies sind anerkanntermaßen Probleme, die in den meisten europäischen Ländern anzutreffen sind.
Gleichermaßen augenfällig wird ein diffuser gemeinschaftlicher Wertekonsens bei der Reaktion auf die
Infragestellung eben dieses Konsenses durch rechtsextremistische und nationalistische Gruppen und Parteien, die
ihrerseits inzwischen europäische Netzwerke aufgebaut haben. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die
europäischen Reaktionen auf die Karrieren von LePen in Frankreich, Schönhuber in Deutschland, Fini in Italien
und Haider in Österreich6 alle gleich gewesen sind. Das Gegenteil ist der Fall: Im "Europa vor Haider" hat sich
die "europäische Öffentlichkeit" bei weitem nicht zu so dramatischen Reaktionen hinreißen lassen, wie
angesichts der Regierungsbeteiligung der "Freiheitlichen Partei Österreichs", obwohl das politische Potential
hinter den rechten Bewegungen in Italien, Deutschland, Frankreich und anderen Staaten nicht geringer zu
schätzen ist. Worauf es jedoch ankommt, ist die Tatsache, dass die europäische Bewertung der einzelnen Fälle
jeweils relativ einhellig war. Bei Jörg Haider scheint sich die Gemeinschaft ohne bedeutsame Abweichungen
darauf verständigt zu haben, dass es sich nun um "europäische Innenpolitik" handelt, und dementsprechend
zumindest energische Rhetorik und rituelle Ausschließung geboten ist. Bei optimistischer Interpretation könnte
man die europäische Aufregung über die Regierungsbeteiligung der FPÖ auch als ein Indiz für ein verbessertes
Grundwertebewusstsein in Europa ansehen, insbesondere, wenn man die eher flauen Reaktionen auf die
vorhergehenden Fälle bedenkt. Pessimisten würden dem entgegenhalten, dass diese europäischen Reaktionen
nicht mehr sind, als der Ausdruck von Furcht vor einer Vorbildwirkung für die rechtsextremen Bewegungen in
den eigenen Ländern - und letzten Endes nur eine populistische Reaktion auf eine populistische Aktion.
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass es Ansätze für einen Grundwertekonsens in Europa gibt. Dieser
ist jedoch noch so wenig ausgeprägt, dass er keine ernstzunehmende Bindungswirkung für die politische Realität
entfalten kann. Diese Tatsache kann man zu Recht beklagen, muss sich jedoch auch die Frage stellen, ob der
formulierte Anspruch an die Gemeinsamkeiten der Europäer vielleicht übertrieben hoch ist.
Ist ein Konsens über Grundwerte notwendig?
Auf den ersten Blick scheint festzustehen: Ein gesamteuropäischer Konsens über Grundwerte kann der
Integration zunächst nur dienlich sein (vgl. Groeben/Mestmäcker 1972, S. 138). Bei der nüchternen Betrachtung
der kulturellen und politischen Heterogenität Europas stellt sich jedoch die Frage, in welchem Umfang ein
solcher Konsens realisiert sein muss, um zu stabilen gesamteuropäischen politischen Verhältnissen beizutragen.
Denn der Weg zu einem solchen Konsens ist möglicherweise lang und schwierig. Der Beantwortung der Frage
nach dem notwendigen Umfang des Konsenses kann man sich u.a. durch einen Vergleich mit den USA nähern.
Ein Blick über die Grenzen
Die politische Entwicklung in den USA lehrt uns regelmäßig, dass ein umfassender Grundkonsens über Werte
für den dauerhaften Zusammenhalt eines Staates nicht grundsätzlich erforderlich ist. Wer hier zuerst an die
öffentliche Auseinandersetzung um die "Clinton-Lewinsky-Affäre" und das Amtsenthebungsverfahren gegen
den amerikanischen Präsidenten denkt, hat ein erstes, aber nicht das beste Indiz für diese These gefunden.
Gegenüber diesem öffentlichen Showdown zwischen dem konservativen und dem liberalen Amerika wiegen die
anhaltenden offensichtlichen Wertedifferenzen zwischen Befürwortern und Gegnern der Abtreibung und der
Todesstrafe für die US-amerikanische Gesellschaft sicherlich weit schwerer. Denn diese Debatten setzen bei
4
nichts Geringerem als dem Recht auf Leben an und werden dementsprechend intensiv und kontrovers geführt.
Dies ist ein Beleg dafür, dass eine Gesellschaft Grundkonflikte ihrer Mitglieder geraume Zeit - wenn nicht sogar
dauerhaft - aushalten kann, ohne zu zerbrechen. Und das liegt sicherlich nicht daran, dass diese Differenz
zwischen allen Bürgerinnen und Bürgern resignativ toleriert wird. Die Aggressivität, mit der sich jeweils die
beiden - gut organisierten - gesellschaftlichen Gruppen gegenüberstehen, macht klar, dass es zwischen ihnen
eigentlich keine Vermittlungsmöglichkeit und keinen Kompromiss geben kann. Trotzdem kommen nur sehr
wenige Amerikaner auf die Idee, den Zusammenhalt des politischen Systems, in dem dies alles stattfindet, in
Frage zu stellen.
In Europa lässt sich demgegenüber ein immer weiter gehender Konsens über die regulierte Zulassung der
Abtreibung und die Ablehnung der Todesstrafe beobachten. Spätestens in den 70er Jahren haben die einzelnen
Staaten des vereinten Europas das Recht auf fundamentale Eingriffe in die Menschenwürde (für Friedenszeiten)
verneint: In allen Staaten der EU ist die Todesstrafe abgeschafft.
Trotzdem kann die eingangs gestellte Frage nicht unter Verweis auf die USA rundweg verneint werden. Die
heutigen USA sind auch im Bereich der Grundwerte das Ergebnis eines seit langem abgeschlossenen
historischen Prozesses, der unter spezifischen Bedingungen stattgefunden hat. Die EU ist dagegen immer noch
ein politisches System im Werden. Als die USA entstanden, war die wirksame und wenig hinterfragte
Wertgrundlage ihrer Schöpfer das Christentum, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen. Die
Säkularisierung westlicher Gesellschaften ist im Rahmen des allgemein beobachtbaren Wertewandels allerdings
inzwischen sehr weit fortgeschritten. Das Christentum steht bei der Entstehung und Entwicklung der EG/EU
bestenfalls noch mittelbar als gemeinsame Wertgrundlage zur Verfügung.
Dies legt den Schluss nahe, dass es bei der europäischen Integration einer stärkeren Orientierung an
gemeinsamen Werten bedarf, ein gewisses Maß an Differenzen jedoch durchaus verkraftbar ist. Konkret
bedeutet dies, dass der Wandel von der wirtschaftlichen zur politischen Gemeinschaft von intensiven
Anstrengungen begleitet sein sollte, die gemeinsame Wertgrundlage zu schaffen, beziehungsweise zu erweitern.
Bilanz
Es kann also festgehalten werden, dass die Gemeinschaft der europäischen Staaten in ihren historischen und
politischen Traditionen den Kern für einen gemeinsamen Grundwertebestand besitzt. Momentan geht dieser über
grobe begriffliche Gemeinsamkeiten allerdings kaum hinaus. Für die Zukunft ist jedoch zu erwarten, dass
zumindest die Diskussion über die gemeinsamen Wertgrundlagen der europäischen Völker deutlich ausführlicher
wird. Die Vertiefung der Integration in Richtung auf eine gemeinsame Demokratie7 - und ganz besonders die
Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa - erfordern zwangsläufig eine intensivere Auseinandersetzung mit
diesen Grundlagen. So wie die Vertiefung auch weiterhin Fundamentalkritik aus dem Innern provozieren wird,
führt die Erweiterung zum dem Zwang, bestimmte Normen zu setzen und gegenüber potentiellen Mitgliedern
durchzuhalten.
Der Blick auf die USA lehrt jedoch, dass heterogene Gesellschaften durchaus auch geraume Zeit in der Lage
sind, grundlegende Konflikte zwischen großen Gruppen zu moderieren. Dies setzt jedoch einen verhältnismäßig
stabilen institutionellen Rahmen und ein gewisses Maß von Liberalität voraus. Europa bringt diese
Voraussetzungen erst zum Teil mit und erfüllt als politisches System sicherlich noch nicht alle Anforderungen an
eine pluralistische Demokratie. Man sollte allerdings von dieser Gemeinschaft auch nicht die schnelle und
einfache Lösung von Problemen erwarten, die die Nationalstaaten in mehreren Jahrhunderten zuvor nicht gelöst
haben.
Anmerkungen
1 Dabei sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, die Frage nach dem Gewicht gemeinsamer europäischer Werte würde
sich erst in der neuesten Integrationsphase stellen; Deutsch u.a. sind ihr aus gutem Grunde bereits zu Beginn der
europäischen Integrationsbemühungen nachgegangen (Deutsch u.a. 1957, S. 123f.).
2 Damit ist insbesondere der Vertrag von Maastricht und die allmählich fortschreitende Demokratisierung zentraler
europäischer Organisationen gemeint.
3 Interessanterweise wird bei der Französischen Revolution gerne geflissentlich ignoriert, dass sie ja auch gegen bestimmte,
auch weiterhin existente Werte gerichtet war.
4 An dieser Stelle kann und soll jedoch nicht diskutiert werden, inwieweit ökonomische oder andere politische Argumente
zur Aufnahme dieser Staaten geführt haben. Fest steht, dass ihre Demokratisierung ausdrücklich als eine wesentliche
Voraussetzung für ihre Integration formuliert wurde.
5 Das hindert die Gemeinschaft allerdings nicht daran, sehr weitgehende Assoziationsabkommen mit "ausgesperrten" Staaten
zu schließen.
6 Die im Literaturverzeichnis aufgelisteten Artikel aus der Wochenzeitung "Die Zeit" geben die Diskussion um den "Fall
Haider" und die damit verbundenen europäischen Reaktionen exemplarisch wieder.
7 Der oben bereits angeführte Mangel an Homogenität der europäischen Gesellschaften, der auch eine gemeinsame
Demokratiefähigkeit verhindert (vgl. Höreth 1998, S. 81) weist – als Ursache oder als Wirkung – wiederum auf einen
gleichzeitigen Mangel an gemeinsamen Werten hin.
5
Literatur
Agenda 2000 – Eine stärkere und erweiterte Union. Hrsg.: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Union.
Luxemburg 1997
Brettschneider, Frank/Ahlstich, Katja/Zügel, Bettina: Materialien zu Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. In: Gabriel, Oscar W. (Hrsg.): Die EG-Staaten im Vergleich: Strukturen,
Prozesse, Politikinhalte. Opladen 1992, S. 433-625
Deutsch, K.W./Burrell, Sidney A./Kann, Robert A. et al: Political Community and the North Atlantic Area – International
Organizations in the Light of Historical Experience. Princeton (N.J.) 1957
Griffiths, Stephan Iwan: Nationalism and ethnic conflict: threats of European security. Oxford 1998
Groeben, Hans von/Mestmäcker, Ernst-Joachim: Ziele und Methoden der europäischen Integration.. Frankfurt/M. 1972
Hargreaves, Alec G. (Hrsg.): Racism, ethnicity and politics in comtemporary Europe. Aldershot, Hants (u.a.) 1995
Höreth, Marcus: Warum sich das vereinte Europa mit der Demokratie schwer tut. In: Politik und Gesellschaft. Heft 1/1998,
S. 78-89
Hörnlein, Frank: Leitbilder im Zielsystem der europäischen Integration. Diss., einger.an der Universität Magdeburg. 1999
(unveröff.)
Judt, Tony: Taube Ohren und leere Rhetorik. In: Die Zeit, 23.3.2000, S. 10-11
Kimmel, Adolf: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen: Grundrechte, Staatszielbestimmungen und
Verfassungsstrukturen. In: Gabriel, Oscar W. (Hrsg.): Die EG-Staaten im Vergleich: Strukturen, Prozesse, Politikinhalte.
Opladen 1992, S. 23-49
Kimmel, Adolf (Bearb.): Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten. München 1987
Klingst, Martin: Europa und der Fall Haider. In: Die Zeit, 24.2.2000, S. 7
Köcher, Renate (Hrsg.): Wertewandel in Deutschland und Frankreich: nationale Unterschiede und europäische
Gemeinsamkeiten. Opladen 1998
Macho, Thomas: Haider und die Zukunft. In: Die Zeit, 9.3.2000, S. 46
Nass, Matthias: Bann über Österreich? Wo die Freiheit in Gefahr ist, muss sich Europa einmischen. In: Die Zeit, 10.2.2000,
S. 1
Neumann, Franz: Grundwerte. In: Mickel, Wolfgang W. (Hrsg.): Handlexikon zur Politikwissenschaft. Bonn 1986, S. 201207
Neumann, Franz: Grundwerte. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Wörterbuch Staat und Politik. München, Zürich, 4. Aufl. 1996, S.
230-240
Perger, Werner A.: Der Komprimator. In: Die Zeit, 17.2.2000, S. 11
Perger, Werner A.: Die Moros und der Pöbel. In. Die Zeit, 9.3.2000, S. 8
Sommer, Theo: Bann über Österreich? Europa leistet sich aus moralischen Gründen eine große Heuchelei. In: Die Zeit,
10.2.2000, S. 1
Valentino, Paolo: Streit um ein ZEIT-Interview. In: Die Zeit, 24.2.2000, S. 8
Vannahme, Joachim Fritz: Jeder summt seine Melodie. In: Die Zeit, 10.2.2000, S. 10
Wernicke, Christian: Herzogs Experiment. In: Die Zeit, 16.3.2000, S. 6
Quelle: http://www.lpb.bwue.de/publikat/werte/hoernlein.htm (4.12.02)
6
Zeitschrift für KulturAustausch, Ausgabe 3/2001
Baustelle Europa. Neue Fundamente für eine erweiterte Union
Werte im Wettstreit
Von Dieter Fuchs, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart
Die fortschreitende Integration der Europäischen Union setzt ein europäisches Bewusstsein
mit gemeinsamen Werten voraus. Wie aber soll ein verbindlicher Wertekanon gefunden
werden, wenn nicht mehr nur Christen, sondern auch Orthodoxe und Muslime zur
Europäischen Union gehören?
Europa hört dort auf, wo Orthodoxie und Islam beginnen. So die Annahme des prominenten
amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington. Mit den Religionen verlaufe
die kulturelle Grenze Europas, die in den Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft auch
eine politische und wirtschaftliche Grenze war. Die Erweiterung der Europäischen Union
setzt die traditionellen Barrieren außer Kraft. Künftig werden Christen, Orthodoxe und
Muslime gemeinsam die Europäische Union gestalten. Nimmt man die Thesen vom Konflikt
der Kulturen ernst, was bedeutet das dann für die europäische Integration?
Die Gemeinschaft eines europäischen Volkes braucht gemeinsame kulturelle Werte. Dabei
kann es natürlich nicht darum gehen, die kulturelle Mannigfaltigkeit der Länder und Regionen
Europas zu vereinheitlichen. Die Bürger brauchen jedoch eine gemeinsame Wertorientierung,
was die Struktur des politischen und ökonomischen Systems angeht, wie es für Europa
verbindlich sein soll: Autonomie und Selbstverantwortlichkeit der Individuen,
Volkssouveränität, Schutz von Privateigentum sowie Toleranz gegenüber Andersdenkenden –
Werte der liberalen Demokratie und der freien Marktwirtschaft.
Empirische Studien belegen, dass eine solche Gemeinsamkeit der Wertorientierungen in
Westeuropa tatsächlich vorliegt. Das Potenzial, eine europäische Wertegemeinschaft
herauszubilden, besteht durchaus. Daran schließen sich zwei Fragen an: Erstens, inwieweit es
auch ausgeschöpft werden kann, und zweitens, ob die Erweiterung der EU dieses Potenzial
abschwächt oder sogar verstärkt.
Bei der Untersuchung der Werte der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft zeigt sich
ein West-Ost-Gefälle. Die stärkste Akzeptanz dieser Werte findet sich in Westeuropa. Sie
nimmt dann nach Osten hin relativ kontinuierlich ab. Ein Schwellenwert lässt sich bei den
muslimischen Ländern Süd-Ost-Europas (Albanien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien)
und den slawischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion (Russland, Ukraine,
Weißrussland und Mazedonien) feststellen. Bei den Bürgern dieser Länder besteht noch eine
Disposition für autokratische Herrschaftsordnungen. Die Idee der Selbstverantwortung und
der Selbstorganisation der Individuen spielt eine deutlich geringere Rolle als bei den
Westeuropäern, und die Toleranz gegenüber abweichenden Vorstellungen des "guten" und
"richtigen" Lebens ist erheblich geringer ausgeprägt.
Die Herausbildung eines europäischen Volkes, der sich die Bürger des Kontintents auch
zurechnen wollen, setzt beides voraus: sowohl die Gemeinsamkeit politischer
Wertorientierungen als auch eine möglichst eindeutige Grenzziehung. Erst wenn festgelegt
ist, wer dazugehört und wer ausgeschlossen ist, können subjektive
Zusammengehörigkeitsgefühle und Solidaritätsbereitschaften entstehen. Nach der Theorie
von Samuel P. Huntington und nach unseren empirischen Ergebnissen müsste diese
Grenzziehung zumindest gegenüber dem slawisch-orthodoxen und dem muslimischen
7
Zivilisationskreis vorgenommen werden.
Die Gemeinsamkeit von Wertorientierungen stellt erst ein Potenzial für die Entstehung eines
europäischen Volkes mit einer kollektiven Identität dar. Zur Ausschöpfung reichen
rhetorische Appelle von Politikern nicht aus. Dazu bedarf es einer Institutionalisierung dieser
Wertorientierungen durch ein europäisches Regime. Das gegenwärtige Regime der EU erfüllt
diese Anforderungen nicht. Trotz des europäischen Parlaments stellt es keine vollständige
Demokratie dar, so wie sie in den einzelnen Nationalstaaten existiert. Vor allem fehlt die
Möglichkeit der Wahl und der Abwahl von Entscheidungsträgern durch die Bürger und damit
das wichtigste Instrument des Volkes, seine Souveränität in einer repräsentativen Demokratie
auszuüben. Erst durch ein demokratisches Regime der EU mit einer Befugnis für allgemein
verbindliche Entscheidungen in wichtigen Politikfeldern würde für die Bürger ein
Bezugsobjekt geschaffen, das die Gemeinsamkeit der Wertorientierungen sichtbar und
praktisch erfahrbar machen könnte. Die fortschreitende Integration der EU kann nur gelingen,
wenn sie von den europäischen Bürgern auch eine hinreichende Zustimmung erfährt. Die
Grundlage dieser Zustimmung ist ein europäisches Bewusstsein, das auf der Gemeinsamkeit
demokratischer, marktwirtschaftlicher und liberaler Wertorientierungen basiert. Sie muss
durch eine Grenzziehung nach außen stabilisiert und durch die Institutionalisierung eines
demokratischen Regimes für das Bewusstsein der Bürger fassbar gemacht werden.
© Zeitschrift für KulturAustausch 3/2001
http://www.ifa.de/zfk/themen/01_3_europa/dfuchs.htm (4.12.02)
8
www.omnia-verlag.de/ download/ europa 2000/ gemeinsame werte
http://www.giracom.de/omnia/dateien/gemein2.pdf (4.12.02)
Grundwerte/Werte, europäische
1. Quellen
Zum Bürgerrecht in Europa gehören gemeinsame Grundwerte. Für die Politik sind
Grundwerte regulative Ideen im Gestalten von Institutionen und im Finden von
Entscheidungen; denn jedes intentionale Handeln bedarf der Orientierung an
Werten. Die Frage ist, inwieweit in einem plural verfassten Staatensystem ein
Wertkonsens möglich ist. Er erhält seine materiellen Inhalte sowie seine
Legitimation durch die Verfassungen und Grundsatzdokumente, ferner auf dem
Wege des permanenten, wandelbaren Diskurses.
Während der „Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle
und Stahl“ (EGKS, 1951) und der „Vertrag zur Gründung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG, 1957) im Wesentlichen zweckrational auf einen
wirtschaftlichen Zusammenschluss westeuropäischer Staaten gerichtet waren,
enthält die „Satzung des Europarats“ (1949) Hinweise auf übernationale Momente,
die geeignet sind, eine normative Funktion im Zusammenhang mit einem
gemeinsamen europäischen Wertesystem einzunehmen.
2. Konstitutive Wertmerkmale
Als konstitutive Wertmerkmale werden genannt: Frieden, Gerechtigkeit,
internationale Zusammenarbeit, gemeinsames Erbe, persönliche und politische
Freiheit, Herrschaft des Rechts sowie Demokratie. Daraus lässt sich zwar kein
Wertesystem deduzieren, aber die Richtung ist in wichtigen Punkten angegeben und
wird z. B. in der Menschenrechts- und Kulturkonvention sowie in der Europäischen
Sozialcharta des Europarats weiter aufgefaltet. Schließlich versucht die
„Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE,
1975) eine gemeinsame politisch-normative Grundlage für ganz Europa zu
formulieren. Sie besteht in der souveränen Gleichheit der Staaten, der Achtung der
Souveränität, der Enthaltung von Androhung oder Anwendung von Gewalt, der
Unverletzlichkeit der Grenzen, der territorialen Integrität der Staaten, der friedlichen
Regelung von Streitfällen, der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, der
Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten (z. B. Gedanken-, Gewissens-,
Religions-, Überzeugungsfreiheit), der Gleichberechtigung und des
Selbstbestimmungsrechts der Völker, der Zusammenarbeit zwischen den Staaten,
der Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Treu und Glauben. Der
internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Erziehung wird eine erhebliche
Bedeutung zugewiesen (Korb 3); sie wird als geeignet angesehen, zu einem
besseren gegenseitigen Verständnis der Staaten untereinander beizutragen. Es wird
ein Austausch von Informationen und Erfahrungen sowie eine Verbesserung der
Beziehungen zwischen den Bildungseinrichtungen angeregt. Dabei sollen
verstärkter Fremdsprachenunterricht und das Studium fremder Zivilisationen helfen,
ferner soll ein Erfahrungsaustausch über Unterrichtsmethoden auf allen
Bildungsstufen erfolgen (vgl. KSZE-„Charta für ein neues Europa“, 1990).
3. Wichtige Wertgrundlagen
Einen erheblichen Fortschritt in der Herausbildung einer gemeinsamen
Wertegrundlage der EG-Staaten stellt die „Erklärung der Grundrechte und
Grundfreiheiten“ des Europäischen Parlaments (EP) vom 12. April 1989 (vgl. die
Erklärung vom 5. 4. 1977) dar. Unter Berufung auf die Römischen Verträge, die
Verfassungstradition der Mitgliedstaaten, die Europäische
9
Menschenrechtskonvention, die geltenden internationalen Rechtsinstrumente und
die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs werden in 28 Artikeln in
angestrebten Minima an gemeinsamen Werten festgelegt. Dazu gehören vor allem:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1); „Jeder hat das Recht auf Leben,
Freiheit und Sicherheit“ (Art. 2); die Rechtsgleichheit im Geltungsbereich des
Gemeinschaftsrechts: „Jede Diskriminierung zwischen den europäischen Bürgern
aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist verboten“ (Art. 3 III); Gedanken-,
Gewissens-, Religions-, Meinungs- und Informationsfreiheit; Schutz der Familie;
Freizügigkeit, das Recht auf Eigentum; Versammlungs-, Vereinigungs-,
Berufswahlfreiheit; gerechte Arbeitsbedingungen; kollektive soziale Rechte
(Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern, Streikrecht vorbehaltlich etwaiger
Verpflichtungen aus geltenden Gesetzen und Tarifverträgen); sozialer Schutz.
„Jeder hat das Recht auf Bildung und Ausbildung gemäß seinen Fähigkeiten. Der
Schulbesuch ist frei ...“ (Art. 16). Das Recht auf ein ordnungsgemäßes
Gerichtsverfahren und einen gesetzlichen Richter, Petitionsrecht an das EP,
Umwelt- und Verbraucherschutz.
Die vorstehende Auflistung beinhaltet einen liberalen Grundrechtskatalog, die
Festschreibung der „klassischen“ Grundrechte. Sie entsprechen darin den
politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen freiheitlich-demokratischer Rechtsund Sozialstaaten. Neu ist die grundrechtliche Sicherung des Umweltschutzes;
umstritten war die Einführung sozialer Rechte (s. u.).
4. Individualrechte
Grundansätze in Gestalt objektiver Normen zum Schutz des Einzelnen enthält der
EG-Vertrag, und zwar
– Diskriminierungsverbote (Art. 6/ 12, 40/ 34, 45/–, 67/–, 79/ 75, 95/ 90),
– Gebote der Gleichstellung der EG-Angehörigen im Arbeits-, Niederlassungs- und
Dienstleistungsrecht (Art. 48/ 39, 52/ 43, 60/ 50),
– Gebot der Lohngleichheit für Männer und Frauen (Art. 119/ 141),
– Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 48/ 39 ff.), Niederlassungsfreiheit (Art. 52/ 43
ff.), Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art. 59/ 49 ff.), Freiheit des Kapitalverkehrs
(Art. 67 ff./–)
5. Allgemeine Grundrechte
Allgemeine Grundrechte werden in der Präambel der Einheitlichen Europäischen
Akte (1986) bekräftigt, in der die Staats- und Regierungschefs erklären, dass sie
„entschlossen (sind), gemeinsam für die Demokratie einzutreten, wobei sie sich auf
die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten, in der Europäischen
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der
Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit,
Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, stützen“.
Eine zunehmend existenzielle Rolle für die europäischen Arbeitnehmer spielt die
Erhaltung und Erweiterung sozialer Werte in Gestalt sozialer Grundrechte. Das
Europäische Parlament hat in seiner „Entschließung zur sozialen Dimension des
Binnenmarktes“ vom 15. März 1989 „soziale Grundrechte“ formuliert, die „allen
Arbeitnehmern ungeachtet ihres Arbeitsverhältnisses und der Art des Unternehmens
einzuräumen sind:
– das Recht auf Chancengleichheit, auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit ohne
Diskriminierung aufgrund des Geschlechts,
– das Recht auf Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz,
– der Kinder- und Jugendschutz,
– die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht,
– das Recht auf Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung der Arbeitnehmer,
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– das Recht auf Tarifverhandlungsfreiheit,
– das Recht auf eine berufliche Grundausbildung und auf Weiterbildung sowie auf
Berufsberatung,
– das Recht auf sozialen Schutz und eine Altersrente,
– das Recht auf angemessenen Lohn und finanzielle Unterstützung für die
Arbeitnehmer, die vom Arbeitsmarkt unverschuldet ausgeschlossen sind,
– das Recht, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anzurufen,
– das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte innerhalb der Gemeinschaft
frei zu wählen.“ (Dok. A 2 – 399/88)
Daraufhin hat die Kommission eine (rechtlich unverbindliche) Sozialcharta im
September 1989 verabschiedet, die im Dezember 1989 als “Gemeinschaftscharta
der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“ gegen das Votum Großbritanniens
(korrigiert 1997) vom Europäischen Rat übernommen wurde, und im November
desselben Jahres ein sozialpolitisches Aktionsprogramm (Dok. KOM (89) 568 endg.)
vorgelegt.
Quelle:
Wolfgang W. Mickel, in Wolfgang W. Mickel (Hg.): Handlexikon der Europäischen
Union. Köln, 2. Auflage 1998, S. 290 ff.
* die Ziffer vor dem Schrägstrich entspricht der Artikel-Nummerierung im
„Maastrichter Vertrag“, hinter dem Schrägstrich folgt – in Kursivschrift – die
neue Nummerierung des inhaltlich entsprechenden Artikels nach dem
„Amsterdamer Vertrag“.
Literatur:
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Grundwerte der Demokratie im
internationalen Vergleich. Bonn 1994
Rengeling, H.-W.: Grundrechtsschutz in der EG. München 1992.
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