Mag. Daniela Arnold Bewegung ist nicht nur ein Fall für den Sportunterricht. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Immer häufiger ist zu hören, dass über Bewegung größere individuelle Lernerfolge erzielt werden können, dass Aufmerksamkeitsdefizite sich verringern, dass das Selbstwertgefühl gesteigert wird und sogar die Gewaltbereitschaft abnimmt. Bewegung scheint ein zentrales Element für Schulerfolg zu sein. Das Auf- und Abgehen beim Vokabellernen, die Lerneffekte durch Mitschreiben von Vorträgen, das Mandala malen bei wichtigen Telefonaten, kreative Impulse beim Joggen machten jedem von uns schon irgendwann deutlich, wie wesentlich die Beteiligung motorischer Gehirnzentren bei Verarbeitungs-, Speicherungsund Erinnerungsvorgängen sein muss. Diese Erkenntnis ist nicht neu, schon im 18. Jahrhundert meinte Rousseau: “Übe unablässig den Leib, mache ihn kräftig und gesund, um ihn weise und vernünftig zu machen“. "Robben und Krabbeln scheinen für die Entwicklung der Intelligenz ebenso wichtig zu sein, wie die sprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikationsfähigkeiten." (R.Mellilo, Neurologe, USA 2006) Bewegung ist vom Beginn des Lebens an da und regt das Gehirn zu seiner Entwicklung an. Ohne Bewegung bräuchten wir kein Gehirn. Allein durch Bewegung und die damit eng verknüpfte Sinneswahrnehmung werden die für dauerhafte Lerneffekte grundlegenden Verbindungen zwischen den einzelnen Gehirnzentren geschaffen, er-halten und verstärkt. Die kindliche Entwicklung verläuft nach einem vorprogrammierten Ablauf. Kinder er-robben, errollen, er-krabbeln, er-tasten sich die die Umwelt. Moderne bildgebende Techniken zeigen wie aus diesem motorischhandelnden Erschließen der 1 Welt im Gehirn Strukturen angelegt und im Laufe der Zeit bestimmte Funktionen ausgebildet werden. Dieser „Reifungsprozess“ des Gehirns ist erst nach ca. 25 Jahren vollständig abgeschlossen. Die Entwicklung von Denkleistungen ist eng an die Motorik und Sensorik gebunden. Motorische Fertigkeiten sind eine Voraussetzung für eine rasche und effiziente Verarbeitung kognitiver Inhalte. „In dem Moment, wo die Hirnfunktionen vollständig und ausgewogen ablaufen, erreichen Körperbewegungen ihr höchstes Maß an Anpassung, ist Lernen eine relativ einfache Aufgabe und richtiges Verhalten ein ganz natürlicher Zustand“ (J.Ayres) Verschiedene Umstände können dazu führen, dass die Meilensteine der frühkindlichen Entwicklung in ihrer Reihenfolge, in der Quantität oder der Qualität mangelhaft durchlaufen werden. Die Ausbildung der Gehirnstrukturen kann dadurch nicht jenen Reifegrad erreichen, den schulische Anforderungen erwarten. Benötigt der Körper noch bewusste Steuerung, so bleibt für kognitive Verarbeitungsvorgänge zu wenig Energie übrig und das Leistungsniveau sinkt. Bei einer qualitativen Bewegungsbeobachtung werden strukturelle Schwächen erkennbar, die mit den in der Schule auftretenden Problemen in Zusammenhang stehen können. Um sicher über einen Mauervorsprung zu balancieren, beim Schreiben einen Stift wohldosiert über ein Blatt Papier zu führen, beim Lesen mit den Augen über das Blatt zu gleiten oder Mengen im Rechenunterricht sicher zu erfassen, sind Kinder auf ein breitgefächertes Repertoire aus Wahrnehmungsund Bewegungserfahrungen aus ihrer frühen Kindheit angewiesen. „Wer sich nicht bewegt, bleibt sitzen“ Bewegung sorgt für eine ausgewogene Funktionsweise des zentralen Botenstoffsystems im Gehirn. Somit fördert Bewegung die Entstehung dauerhafter Lerneffekte. Die Reifung des Stirnhirns, jener Hirnregion, die unter anderem für vorausschauende Planung, für Impulskontrolle und Verantwortungsgefühl zuständig ist, ist wesentlich abhängig von der Reifung der Dopaminfasern. Diese Dopaminfasern entwickeln sich aktivitätsabhängig. Bewegungsmangel, aber auch Drogenkonsum können die Entwicklung der Botenstoffe empfindlich stören. „Die Bedeutung der Bewegung liegt nicht nur im Training des Herz-Kreislaufsystems, sondern auch im Training des Gehirns und im Herstellen unzähliger Nervenverbindungen“ „Stress interpretiert unser Körper immer noch als Gefahr.“ Stress in Form von Überforderung, Hektik, Konkurrenzdruck, aber auch negativen Assoziationen werden vom Körper gemäß der urzeitlichen Prägung immer noch als Gefahr interpretiert. Die Funktionsweise des Gehirns verändert sich schlagartig, wenn der Körper Gefahr wittert. Das limbische System, das jede Information emotional bewertet, Handlungen initiiert, ist an der Organisation der Weiterverarbeitung wesentlich beteiligt. Stuft das limbische System eine Situation als sehr beängstigend ein, so wird das „Überlebensprogramm“ gestartet. Alle „Türen“ zu nicht unbedingt nötigen Gehirnzentren werden verschlossen und stehen zur weiteren Problemlösung nicht zur Verfügung. Aufgrund von fehlenden motorischen Rückkoppelungen fallen Steuerungsmöglichkeiten der Motorik weg. Bewegungen werden hektisch und schlecht koordiniert. Die gesamte Handlungsplanung kann zusammenbrechen. Lernen und Gedächtnisbildung benötigen jedoch diese motorischen Zentren. 2 Neurowissenschaftliche Forschung zeigt, dass Muskelaktivitäten und speziell koordinierte Bewegungen zur Bildung von Neurotrophinen führen, die das Wachstum der Nervenzellen anregen und die Anzahl neuronaler Verbindungen vermehren. Über Bewegung kann eine Umstrukturierung des Gehirns erreicht werden. Das Gehirn ist kein isoliert arbeitendes System, es ist abhängig von den Funktionsabläufen im Körper. Der Entwicklungsstand des Körpers ist für die Denk- und Lernleistungen offensichtlich von großer Bedeutung. „Noch nie waren so viele Kinder _ motorisch auffällig wie heute“ (K.Bös) Neunjährige Kinder scheitern beim rhythmischen Hopserlauf, beim Hampelmann, Einbeinstand oder auch beim Krabbeln. Die Ursachen mangelnder motorischer Kompetenzen sind vielfältig und wissenschaftlich nicht vollständig geklärt. Eine Ursache liegt im Tagesablauf der heutigen Jugend. „Kinder bewegen sich heute im Schnitt nur noch 30 Minuten täglich“. (Büsching, Kinderarzt) Neben gesundheitlichen Problemen wie Gelenks- und Skelettveränderungen oder Übergewicht nehmen Unfälle, die mit schlechter Körperbeherrschung zusammenhängen, zu. In der frühen Kindheit versäumte Bewegungsbausteine können in diesen kurzen Bewegungsphasen im Alltag nicht aufgeholt werden. Dieser Tendenz kann aber entgegengesteuert werden. Motorische Defizite, die erkennbar sind an ungeschickten, verkrampften Bewegungen, an mangelhafter Bewegungshar-monie und fehlende Bewegungsspontanität sowie motorischer Unruhe können mit gezieltem Training ausgeglichen werden. Auch mangelhafter sensorischer Wahrnehmung, wie zum Beispiel überoder unterempfindlichem Gleichgewicht oder Körperempfindung oder Koordination von Auge und Hand, kann entgegengesteuert werden. Bewegung sollte ein selbstverständlicher Teil des Unterrichts werden. Mit neuen Aktions- und Interaktionsformen kommt Bewegung in den Lernprozess. Die Bewegungspause, das Bewegungslied, die Bewegungsgeschichte oder Entspannungsübungen führen den Aufbau der körperlichen Basis mit einfließt. „Wann, wenn nicht in der Schule, könnten viele Kinder ihre Defizite aufholen?“ (Dr.A.Salcher) zu einem kindund gehirngerechterem Unterricht. Zum gezielten Nachholen von versäumten, motorischen Fähigkeiten reichen aber auch diese undifferenzierten Bewegungsangebote nicht. Viele in der frühen Kindheit aufgebaute Defizite wachsen sich nicht einfach aus. Unser Gehirn ist plastisch, es lässt sich von uns selber mit Musik und Bewegung umbauen. Dazu müssen die einzelnen Bewegungsbausteine in einer gewissen Häufigkeit Intensität und Dauer trainiert werden, wie sie im Alltag der Kinder normalerweise nicht vorkommen. Wer nur 2-mal pro Woche im Turnen Bewegung macht oder einmal in der Musikschule sein Instrument spielt, kann sich keine merkbaren Veränderungen des Fundaments für Lernen und Verhalten erwarten. Nimmt sich die Pädagogik in der Schule des Problems der unreifen körperlichen Basis an, so hat sie den Vorteil, dass die Kinder fünf Tage in der Woche in der Schule sind und Förderung somit regelmäßig möglich ist. Pädagoginnen sollten ihre pädagogischen Konzepte derart vorbereiten können, dass das Wissen über 3 Sowohl das für den Einsatz in Großgruppen (Kindergarten, Schule oder Hort) entwickelte MMS-Programm als auch das MOTOI-Therapiekonzept zielen darauf ab, motorische Fähigkeiten über ein gezielt zusammengestelltes Übungsprogramm zu verbessern. Durch diese musikunterstütze, motorische Förderung erreicht man Verbesserungen bei: Sprachentwicklung, Lesen, Schreiben, Mathematik, Koordination, Aufmerksamkeit und Verhalten. Durch die Wiederholung der frühkindlichen Bewegungsentwicklung wird Kindern mit Nachholbedarf eine Verbesserung der motorischen Basisfähigkeiten ermöglicht. Neben gezielten Bewegungsübungen ist die Musik das zweite Standbein dieser für Österreich neu entwickelten Förderprogramme. „.. deshalb haben wir unter allem Denkbaren die Musik zum Element unserer Erziehung gewählt, denn von ihr gehen Wege nach allen Seiten aus.“ (nach J. W.Goethe) Der Rhythmus, die zeitlich festgelegte Abfolge von Bewegungen, ist eine Verbindung zwischen Musik und Bewegung. Die menschliche Motorik wird auch durch rhythmische Strukturen kontrolliert. Motorische Aktivitäten gelingen besser, wenn eine angemessene rhythmische Struktur erstellt wurde. Musik kann zur Erstellung bzw. zur Wiederherstellung dieser rhythmischen Struktur beitragen. Gemeinsames Singen oder Bewegungen im Rhythmus sind wirkungsvoll, aktivieren zudem das körpereigene Motivierungssystem und bewirken eine Resonanz sowie Synchronisierung in der Gruppe. Musik gelingt es binnen kurzer Zeit – ähnlich wie chemischen Substanzen – den Angstmodus des Gehirns auszuschalten. MMS ist ein spezielles Bewegungsprogramm, mit dem PädagogInnen die, aufgrund der veränderten Gesellschafts- und Umweltbedingungen immer häufiger fehlenden Basiskompetenzen der Schulkinder, aufbauen und verbessern können. Pädagoginnen lernen, die körperliche Basis als Ausgangspunkt für ihr pädagogisches Konzept heranzuziehen und auf dem Niveau anzusetzen, wo sich die Kinder gerade befinden. Motoi-Therapie kombiniert unterschiedliche pädagogische Förder- und Bewegungsansätze, um damit den ganzen Menschen - Körper und Geist gleichermaßen zu erreichen und zu unterstützen. MotoiTherapeuten arbeiten selbstständig in der Einzel- oder Kleingruppenförderung. Sie sind darauf spezialisiert Zusammenhänge zwischen qualitativen Bewegungsdefiziten von Kindern und Jugendlichen und Lernbzw. Verhaltensproblemen zu erkennen. Über Musik und Bewegung können neben den für das Lernen wesentlichen Basiskompetenzen auch das Selbstwertgefühl, das Selbstvertrauen und die Selbsteinschätzung gefördert werden. Die Bedeutung der Bewegung geht weit über das Thema Übergewicht und Kondition sowie das Schulfach Sport und Bewegung hinaus. Schule wird sich mit dem Thema Aufholen versäumter Nähere Informationen zum Thema Lernen und Bewegung finden Sie in Arnold, Daniela: Herausforderung Schule – Was hat Bewegung mit erfolgreichem Lernen zu tun? – Die wahren Hintergründe vieler Lernschwierigkeiten 4 motorischer Bausteine noch intensiver beschäftigen müssen. Die körperliche Ausstattung der Schulanfänger entspricht nicht mehr jenem Niveau, das als Ausgangspunkt der pädagogischen Konzepte, Lehrpläne und Ausbildungsinhalte der heutigen Pädagogen angenommen wurde. Gerade in einer Zeit, in der die Jobaussichten sich verschlechtern, hat eine harmonische Gesamtpersönlichkeit wesentliche Wettbewerbsvorteile. Gesellschaftliche Veränderungen machen eine neue Berufsgruppe notwendig, die gesunden, aber bewegungsmüden Kindern helfen, Defizite, die die moderne Kinderwelt mit sich bringt, aufzuholen und der schulischen Herausforderung ohne Verlust des Selbstwertgefühls zu entsprechen. BoD Verlag ISBN 9 783837 083897 5