Medizinische Versorgung illegalisierter Migrantinnen und Migranten Gekürzte Fassung des Vortrags auf der Mitgliederversammlung der „Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland“, in Köln, 17.06.06 1. Illegalität in Deutschland Als Folge wirtschaftlicher, ökologischer und politischer Krisen sind Menschen überall auf der Erde gezwungen ihre Heimat zu verlassen. Schätzungsweise 1-1,5 Millionen von ihnen leben „ohne Aufenthaltstitel“, wie es offiziell heißt, in Deutschland. Das ist mehr als die Einwohnerzahl von Köln. Allein in Bonn leben schätzungsweise 3000 - 4000 MigrantInnen ohne Aufenthaltsstatus. Die rasante Zunahme der Migration und der irregulären Migration ist eine Folge der neoliberalen Globalisierung. Mit den Waren und dem Kapital zirkulieren auch die Menschen und gehen dorthin, wo sie sich bessere Lebensverhältnisse versprechen. „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“, lautete das Motto eines Flüchtlingskongresses in Jena. Menschen ohne Aufenthaltspapiere sind zu einem Leben in der Illegalität gezwungen. Leben in der Illegalität – was bedeutet das? Die Lebenssituation dieser Menschen in Deutschland prägt bereits ihre Bezeichnung als „Illegale“. Mit dieser Bezeichnung werden sie kriminalisiert und ihnen wird jede Berichtigung zur Existenz in diesem Lande abgesprochen. In meinem Vortrag werde ich von Menschen ohne Papiere sprechen, in Analogie zur Aussage Elie Wiesels: „Ihr sollt wissen, dass kein Mensch illegal ist. Das ist ein Widerspruch in sich. Menschen können schön sein oder noch schöner. Sie können gerecht sein oder ungerecht. Aber illegal? Wie kann ein Mensch illegal sein?“ Die Bezeichnung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht ist in Europa sehr unterschiedlich. In Frankreich spricht man von den „sans papiers“, Menschen, denen die entsprechenden Papiere fehlen, in Großbritannien von „undocumented persons“, die Spanier und Italiener sprechen von „clandestinos“, den heimlich verborgenen Mitbewohnern. Die verschieden Bezeichnungen spiegeln auch die unterschiedliche rechtliche Sichtweise des jeweiligen Landes wider. In Großbritannien, Griechenland und Frankreich besteht die Möglichkeit nach einem 10jährigen Aufenthalt einen Antrag auf Bleiberecht zu stellen.1 In Italien und Spanien werden bisher in unregelmäßigen Abständen in der Illegalität Lebende legalisiert, d.h. bei Nachweis von Arbeit werden befristete Aufenthaltsgenehmigungen erteilt. Dies ist in Deutschland nicht möglich. Es gibt keine Chance auf einen dauerhaften regulären Aufenthalt, außer durch Heirat einer Deutschen/eines Deutschen. Nach dem deutschen Recht ist der Nicht-Besitz von gültigen Aufenthaltspapieren, das Zuwanderungsgesetz spricht von Aufenthaltstiteln, ein Strafbestand, ein kriminelles Delikt. D.h. nur durch ihre bloße Anwesenheit verstoßen diese Migranten und Migrantinnen gegen das Gesetz. Im Aufenthaltsgesetz, dem Kernstück des Zuwanderungsgesetzes, wird geregelt, wie diese Menschen bestraft werden sollen: mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe und immer mit Abschiebeknast und dann mit der Abschiebung. (Aufenthaltsgesetz § 50 Abs. 1 und § 95). Alle von der Polizei aufgegriffenen Menschen ohne Papiere kommen, wenn sie keine Kinder haben, die sie versorgen müssen, in „die Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige“ wie es offiziell heißt, also den Abschiebeknast. Die Kosten für die Abschiebung und die Unterbringung in der "Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige" hat der Ausländer zu tragen (§ 66/1). Nach der Abschiebung entsteht ein Einreiseverbot (§ 11). Konkret heißt dies z.B., wenn eine Frau hier einen deutschen Mann heiraten will, aber 1 Frankreichs Regierung hat neue Regelungen zu einer besseren Steuerung der Einwanderung beschlossen und dem Parlament zur weiteren Beratung vorgelegt. Darin wird das Konzept der „ausgewählten Einwanderung“ umgesetzt. Die französische Regierung unter Premierminister Dominique de Villepin hat am 29. März 2006 ihr neues Einwanderungsgesetz an das Parlament übergeben. Am 13.5.2006 demonstrierten 35.000 Personen in Paris gegen diesen Gesetzesentwurf. Seit Jahren waren nicht mehr so viele Menschen zur Unterstützung von Flüchtlingen und Migranten auf die Straße gegangen. Auch in anderen Städten Frankreichs fanden an diesem Tag Demonstrationen mit dem gleichen Anliegen statt. Das Parlemant nahm ungeachtet des Protestes am 17.05.06 den Gesetzesentwurf an. Die Möglichkeit nach 10-jährigem illegalem Aufenthalt in Frankreich automatisch einen legalen Aufenthaltstitel zu erlangen soll nach diesem Gesetzentwurf abgeschafft werden. für die Hochzeit noch Papiere fehlen und das Visum dann abgelaufen ist, darf diese Frau, falls sie aufgegriffen und dann abgeschoben wird, erst mal nicht wieder einreisen. Erst wenn alle Abschiebungskosten bezahlt sind, hat sie überhaupt eine Chance auf eine erneute Einreise. 2. Ein Leben in Rechtlosigkeit ohne Zugang zur medizinischen Versorgung Der überwiegende Teil der ohne Papiere in Deutschland lebenden Menschen sind legal eingereist, z.B. mit einem Touristenvisum, oder als Geschäftsreisende oder als Studenten oder als Flüchtlinge. Die heimliche Einwanderung bzw. der Grenzübertritt mit gefälschten Papieren spielt keine so bedeutende Rolle, wie es zuweilen in der öffentlichen Diskussion suggeriert wird. Sobald die Aufenthaltsfrist verstrichen ist und die Menschen nicht wieder ausreisen oder ohne Arbeitserlaubnis eine Arbeit aufnehmen treten sie in die Illegalität ein. All diesen Menschen ist eines gemeinsam: Die ständige Furcht vor Entdeckung, Denunziation und Abschiebung, schwierige Arbeit- und Lebensbedingungen und die Tatsache, dass sie in weitgehender Rechtlosigkeit leben. Zwar haben die Menschen ohne Papiere auch soziale Rechte, gelten die Menschenrechte auch für sie, wie Ralf Fudor in einem Rechtsgutachten nachgewiesen hat. 2 Aber diese Rechte wie der Anspruch auf ärztliche Behandlung im Krankheitsfall lassen sich in der Praxis nur unter dem Risiko der Inkaufnahme einer Abschiebung durchsetzen. Trotz ihrer großen Zahl werden diese Menschen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Sie leben in einer Schattenwelt. Das wichtigste ungeschriebene Gebot in dieser Welt lautet: „Nicht auffallen!“ Weitere Gebote sind: „Nicht schwarzfahren! Nicht bei rot über die Straße gehen! Niemandem ins Gesicht sehen! Nicht krank werden!“3 Krankheit wird für Menschen ohne Papiere zu einem Sicherheitsrisiko, ist eine private Katastrophe. Zunächst wird dann meist eine Eigenbehandlung versucht. Erst wenn eine professionelle Behandlung unvermeidlich geworden ist, wird eine Arztpraxis auf Privatrechnung und unter falscher Identität aufgesucht. Dann verschulden sich diese kranken Menschen bei ArbeitgeberInnen, Bekannten oder Verwandten, um eine notwendige und unaufschiebbare Behandlung bezahlen zu können. Oft wird die angefangene Behandlung aus Kostengründen aber wieder abgebrochen. Daher kommt es immer wieder vor, dass gut behandelbare Erkrankungen verschleppt werden. Die Verschleppung von Krankheiten kann neben Schäden für die PatientInnen auch Gefahren für die Bevölkerung nach sich ziehen. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass viele Eltern ohne Aufenthaltsstatus meist aus Kostengründen keine oder nur die erste Impfung machen lassen. Die meisten Kinder ohne Aufenthaltsstatus bekommen aus Kostengründen auch nicht die in Deutschland vorgesehenen Vorsorgeuntersuchungen. Und man muss bei diesem Problem, mindestens eine Million Menschen ohne Papiere leben de facto in der Rechtlosigkeit, auch die Rolle unserer Gesellschaft sehen. Der Schattenarbeitsmarkt insbesondere in den Wirtschaftssektoren Haushalt, Gastwirtschaft, Bau und Landwirtschaft wird bewusst toleriert, denn es handelt sich um ein billiges, rechtloses und unauffälliges Potential an Arbeitskräften. Gerade die „Illegalität“ sichert Rechtlosigkeit, damit niedrige Löhne und keine Sozialabgaben, wie Krankenkassenbeiträge. An dem Beispiel des florierenden Markts für "illegale" Hausangestellte, nicht nur in der Oberschicht, sondern auch im doppelverdienenden Mittelstand, lässt man putzen, kann man sehen, wie Probleme unserer Gesellschaft, hier der Geschlechterkonflikt um Umverteilung der Erwerbs- und Hausarbeit zwischen Männern und Frauen, ausgelagert und vermieden werden. Die zunehmende Gleichstellung von Männern und Frauen wird so auch bei Menschen erkauft, die in Folge der Globalisierung ihre Herkunftsländer verlassen müssen, um überleben zu können. Der Preis den die MigrantInnen für uns bezahlen ist ein Leben in der Rechtlosigkeit. 2 3 Alt, Jörg, Fudor, Ralf, Rechtlos? Menschen ohne Papiere, Anregungen für eine Positionsbestimmung, Karlsruhe 2001 Hrg. Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Bloß nicht auffallen! Illegale in Deutschland, Hamburg 2004, S. 4 2 3. MediNetz Bonn 3.1. Praktische Hilfe Als Reaktion auf diesen menschenverachtenden Zustand, dass Menschen ohne Aufenthaltstiteln das Grundrecht auf medizinische Versorgung abgesprochen wird, gibt es in 12 größeren Städten Deutschlands medizinische Flüchtlingshilfen4. In Bonn wurde im Sommer 2003 die Menschenrechtsinitiative MediNetzBonn initiiert, eine medizinische Beratungs- und Vermittlungsstelle für MigrantInnen, Flüchtlinge und Menschen ohne Papiere. MedinetzBonn versucht MigrantInnen, die auf Grund ihres Aufenthaltsstatus von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen sind, eine qualifizierte medizinische Versorgung zugänglich zu machen5, denn jeder Mensch das Grundrecht auf eine adäquate medizinische Versorgung. MediNetzBonn hat ein heilberufliches Netz für eine kostenlose und anonyme medizinische, psychologische und zahnmedizinische Behandlung für Menschen ohne Papiere oder mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus aufgebaut, das versucht die Menschen im Krankheitsfall aufzufangen. Mit jedem Heilberufler trifft MediNetz eine Absprache über die Zahl der kostenlosen Behandlungen pro Monat. Als weitere Kontrollfunktion bekommen die PatientInnen einen „MediNetz Überweisungsschein“. Und MediNetz macht dann auch die Arzttermine. Das Netz aus Frauen und Männern fast aller Heilberufe besteht inzwischen aus über 50 ÄrztInnen der unterschiedlichsten Fachrichtungen in Bonn und Umkreis, psychologischen TherapeutInnen, Hebammen, Krankengymnastinnen, Heilpraktikerinnen, Krankenhäusern und DolmetscherInnen für die unterschiedlichsten Sprachen. MediNetzBonn ist unabhängig von Parteien, Kirchen oder anderen Institutionen und bekommt keine staatliche Unterstützung. Die vermittelten Behandlungen sind ebenso kostenlos, wie es die ehrenamtliche Vermittlungstätigkeit der MediNetz MitarbeiterInnen ist. Kosten entstehen dennoch für: teurere Diagnostik oder Medikamente, die die PatientInnen nicht selber bezahlen können, für Krankenhausaufenthalte, Operationen, Geburten, Impfungen für die Kinder. Diese Ausgaben werden aus Spenden finanziert. Am 2. Februar 2004 wurde mit der Vermittlungs- und -beratungstätigkeit begonnen. Seitdem kommen jeden Montag im Durchschnitt 11-12 Menschen in die Sprechstunde und wir vermitteln diese Menschen ohne Papiere an eine/n unserer ÄrztInnen. In einigen Fällen müssen wir um Rat Suchende an andere Flüchtlingsberatungsstellen weiter verwiesen. Bei Rechtsfragen holen wir die entsprechenden Auskünfte bei einer Anwältin bzw. einem Anwalt, die mit uns kooperieren, ein. In knapp zweieinhalb Jahren (Februar 04 bis Mai 06) haben uns 1214 kranke Menschen aufgesucht, die wir dann weitervermittelt haben. Folgebehandlungen sind nicht mitgezählt. Mehr als 70% der PatientInnen sind Frauen und 9,6 % Kinder. Ein Krankenhausaufenthalt ist für Menschen ohne Papiere ein großes Sicherheitsrisiko. Gerade aufgrund ihrer Hilflosigkeit und dem dadurch bedingten Kontrollverlust über ihre Situation droht hier am ehesten die 'Enttarnung' mit nachfolgender Ausweisung, Abschiebehaft oder Abschiebung. Zwar erhält ein ins Krankenhaus eingelieferter illegalisierter Patient die notwendige medizinische Versorgung. Zugleich erfolgt seitens des Krankenhauses aber zumeist eine routinemäßige Überprüfung, um zu wissen an wen die Rechnungsstellung erfolgen kann. Es gibt zahlreiche Berichte, nach denen Illegalisierte nach Entdeckung ihres Statusses in Haftkrankenhäuser verlegt wurden oder früher oder später, nach der normalen Entlassung verhaftet wurden. Aber auch für MediNetz ist jede Krankenhausbehandlung eine Herausforderung. Eine Behandlung in Krankenhäusern ist möglich, geht jedoch, anders als die ambulanten Arztbehandlungen, nicht kostenlos. 4 Bundesweite Liste der Büros für medizinische Flüchtlingshilfe: www.aktivgegenabschiebung.de/links_medizin.html Formaljuristisch betrachtet besteht auch für illegalisierte Menschen die Möglichkeit ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen (nach § 4 AsylbLG in Verbindung mit § 1 sind die Sozialämter zur Kostenübernahme verpflichtet)Das AsylbLG gewährleistet nur eine sehr eingeschränkte medizinische Versorgung und de facto kann diese Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe mit einer Ausweisung verbunden sein. Jeder behördliche Kontakt ist mit einer Überprüfung der Personalien verbunden, was zur Aufdeckung des fehlenden Aufenthaltsstatusses führt und damit eine Ausweisung zur Folge hat. 5 3 MediNetz organisierte bisher 17 stationäre Krankenhausaufenthalte und sieben ambulante Operationen. Des weiteren haben wir bisher 10 schwangere Frauen betreut und die Geburten organisiert. Die Geburtstermine für die nächsten „MediNetz Babys“ sind im Juli und Oktober. Neben der Vermittlung im akuten Krankheitsfall bei organischen Erkrankungen treten, wenn auch seltener, akute psychische und psychosomatische Störungen auf. Dann leisten unsere medizinischen und psychologischen TherapeutInnen Krisenintervention und geben therapeutische Hilfe. Flüchtlinge, die sich alternativlos in der Illegalität befinden, erleben berechtigterweise ihre Situation als ausweglos. Unruhe, fehlendes Vertrauen, Angst und Heimweh prägen die psychische Situation vieler Menschen ohne Papiere. Zum einen werden psychische Störungen von den meisten Betroffenen nicht als solche wahrgenommen, zum anderen verhindert die isolierte Lebensweise, immer im Schatten leben zu müssen, in der ständigen Angst aufgegriffen und abgeschoben zu werden, den Aufbau vertrauensvoller und stabiler Beziehungen. Es ist davon auszugehen, dass bei vielen Menschen ohne Papiere die Ängste eine somatische Ausprägung bekommen aber zumeist nur bei deutlicher Ausprägung, wie auch bei deutschen PatientInnen, als solche erkannt werden. Flüchtlinge, die in ihren Heimatländern der Verfolgung ausgesetzt waren, leiden oft an posttraumatischen Belastungsstörungen. Gerade die aufenthaltsrechtliche Unsicherheit kann für Flüchtlinge ohne Aufenthaltsstatus, z.B. bei Ablehnung des Asylantrages, retraumatisierend wirken. Im Gegensatz zu in der Illegalität lebenden ArbeitsmigrantInnen haben Flüchtlinge keine Rückkehroption in ihr Heimatland und sind nicht selten suizidgefährdet. 3.2. Politische Arbeit Neben der praktischen Hilfe, also Sprechstunde und medizinischer Vermittlung, gehört die politische Einflussnahme zu unserem Selbstverständnis. Ein größeres Bewusstsein für das Phänomen der „Illegalität“ zu schaffen und die Zustände anzuklagen, die unsere Existenz nötig machen. Die soziale Situation Illegalisierter ist im europäischen Vergleich in Deutschland einzigartig. In Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, England können Illegalisierte das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen. Ein größeres Bewusstsein für das Phänomen der „Illegalität“ zu schaffen ist daher dringend geboten. Bislang wird in der Politik Illegalität so gut wie gar nicht als menschenrechtliches Problem diskutiert, sondern in erster Linie als aufenthaltsrechtliches Delikt, das durch verschärfte Kontrollen zu bekämpfen sei. Migration und irreguläre Migration sind jedoch keine Randerscheinungen mehr. Solange Illegalisierten in Deutschland der Zugang zum Gesundheitssystem verschlossen ist, muss es Initiativen wie MediNetzBonn geben, die versuchen diese Lücke zu schließen. Für die Betroffenen ist es langfristig keine Lösung, wenn auf die Verletzung des Menschenrechtes auf Gesundheit nur mit der Bereitstellung humanitärer Hilfe reagiert wird. Hier muss realistischer Weise auch gesehen werden, dass die Hilfesuchenden in einer Parallelmedizin zu PatientInnen letzter Klasse werden. Es muss nach Lösungen gesucht werden, die das Recht aller Menschen auf medizinische Versorgung sicherstellen. Der Druck auf die politisch Verantwortlichen muss wachsen, damit sachgemäße Lösungen gefunden und umgesetzt werden. Für die Umsetzung des sozialen Rechts auf medizinische Versorgung bieten sich zum Beispiel die Einführung und Zulassung anonymer Registrierkarten an. Die Finanzierungsprobleme könnten durch Schaffung besonderer Fonds geregelt werden. Es darf nicht mehr – wie mehrfach geschehen - vorkommen, dass Menschen direkt aus dem Krankenhaus abgeschoben werden.6 6 Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel, www.medinetzbonn.de 4 Des weiteren gehören neben dem Zugang zum Gesundheitssystem auch die Gewährleistung des Rechtes auf Bildung7 und langfristig ebenfalls Legalisierungsregelungen, wie es sie in anderen Ländern ja längst gibt. Des weiteren bedarf es rechtlicher Klarstellungen zu den Paragraphen 87 und 96 des Aufenthaltsgesetzes. ÄrztInnen, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen etc. dürfen nicht zur Migrationskontrolle missbraucht werden. Es muss ebenfalls rechtlich geklärt werden, dass humanitäre Hilfe nicht unter den Strafbestand der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt fallen könnte. 4. Kann die medizinische Versorgung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus strafbar sein? Bei der humanitär motivierten Hilfe für Menschen ohne Aufenthaltsstatus können Bereiche des Strafrechtes und des Aufenthaltsgesetzes tangiert werden. Bezogen auf die medizinische Hilfe sind die Paragraphen 87 und 96 des Aufenthaltsgesetzes von Bedeutung. § 96 AufenthG Einschleusen von Ausländern: „(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einen anderen zu einer der in § 95 (unerlaubter Aufenthalt und/oder unerlaubte Einreise) bezeichneten Handlungen anstiftet oder ihm dazu Hilfe leistet und 1. dafür einen Vermögensvorteil erhält oder sich versprechen lässt oder 2. wiederholt oder zu Gunsten von mehreren Ausländern handelt. Das Strafrecht differenziert in die Tatformen: Beihilfe (§ 27 StGB) und Anstiftung (§26 StGB). Beihilfe ist die einem Ausländer ohne Aufenthaltstitel vorsätzlich geleistete Hilfe bei der Begehung einer rechtswidrigen Tat, d.h. sich unerlaubt in Deutschland aufzuhalten oder den Entschluss des unerlaubten Aufenthaltes zu bestärken. Anstiftung bedeutet einen Anderen zu einer rechtswidrigen Tat zu veranlassen oder zu überreden. Bei einer Anklageerhebung nach § 26, § 27 StGB muss das Vorliegen eines objektiven und subjektiven Tatbestandes nachgewiesen werden. Macht sich ein Arzt/eine Ärztin die einen kranken Menschen ohne Aufenthaltstitel behandelt der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt strafbar? Nach den Verwaltungsvorschriften zum AufenthG muss es sich bei der Beihilfe um eine Unterstützung handeln, die dazu beträgt, dass der Ausländer unerlaubt einreist oder sich unerlaubt im Bundesgebiet aufhalten kann. Dies wäre der Fall, wenn die PatientInnen extra ohne den notwendigen Aufenthaltstitel nach Deutschland kämen, um sich dann hier behandeln zu lassen und der Arzt/die Ärztin dies wüssten und billigend in Kauf nähmen. In der Praxis sieht es jedoch so aus, dass die Menschen schon hier sind, krank werden und dann Hilfe suchen. Des weiteren müsste der Arzt/die Ärztin vom illegalen Aufenthalt wissen und billigend in Kauf nehmen, dass ihre Behandlung den illegalen Aufenthalt unterstützt. Auch dies entspricht nicht der Realität. Für den Arzt/die Ärztin steht der kranke Mensch im Zentrum und nicht der fehlende Aufenthaltsstatus. Gemäß der ärztlichen Ethik ist jeder Arzt/jede Ärztin verpflichtet ohne Ansehen der Person kranke Menschen zu behandeln. Der Arzt/die Ärztin würden nur dann rechtswidrig handeln, wenn sie ihre Handlung nicht rechtfertigen könnten. Ein Rechtfertigungsgrund nach § 34 StGB ist der Notstand: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden 7 MediNetz Aufruf Solidarität mit Kindern ohne Aufenthaltsstatus, www.medinetzbonn.de 5 Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“ Ein Arzt/eine Ärztin wenden ja gerade durch die Behandlung eine Gefahr für Leib oder Leben des Patienten ab. Das menschliche Leben und der Wert der körperlichen Unversehrtheit sind im Grundgesetz festgeschrieben: „2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, “ damit auch jeder, nach dem Gesetz „illegal“ in Deutschland lebende Mensch . Das Grundgesetz hat Verfassungsrang, ist oberste Rechtsnorm, dem das Aufenthaltsgesetz untergeordnet ist. Dies könnte der Grund sein, warum bisher noch kein Arzt, keine Ärztin oder keine medizinische Vermittlungsstelle nach § 96 AufenthG angeklagt worden sind. 8 Für die medizinische Versorgung von kranken Menschen ohne Aufenthaltsstatus muss auch der Denunziationsparagraph, § 87 (Übermittlungen an Ausländerbehörden), Abs. 2 betrachtet werden: „Öffentliche Stellen haben unverzüglich die zuständige Ausländerbehörde zu unterrichten, wenn sie Kenntnis erlangen von 1. dem Aufenthalt eines Ausländers, der keinen erforderlichen Aufenthaltstitel besitzt und dessen Abschiebung nicht ausgesetzt ist, 2. dem Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung oder 3. einem sonstigen Ausweisungsgrund.“ Öffentliche Stellen auf die dies zutrifft sind Sozialämter, Jugendämter, Gerichte, Standesämter, nicht jedoch Arztpraxen oder konfessionelle Krankenhäuser. Städtische Krankenhäuser können zwar als öffentliche Stellen betrachtet werden, da sie, wie auch die Schulen, öffentliche Aufgaben wahrnehmen, aber sind sie zur Denunziation verpflichtet? Verdi hat in einem Gutachten festgestellt: „Erstens ist in § 88 AufenthG festgelegt, dass die Datenübermittlung unterbleibt, wenn dem andere gesetzliche Regelungen entgegenstehen. Dies ist zum Beispiel die ärztliche Schweigepflicht, auf die sich auch die Krankenhausverwaltung berufen kann, wenn der Schweigeverpflichtete das Geheimnis nach § 203 Abs. 1 StGB in seiner beruflichen Funktion erfahren hat. Zweitens sind Krankenhausverwaltungen zwar öffentliche Stellen, sie haben somit "ihnen bekannt gewordene Umstände" mitzuteilen. Aber nach Nummer 87.1.2. der Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums zum Aufenthaltsgesetz gelten als "bekannt geworden" nur Informationen, deren Einholung zur Erfüllung ihrer eigenen Aufgaben notwendig ist. Wenn im Zuge ihrer Aufgabenerfüllung nebenbei auch Erkenntnisse über den illegalen Aufenthalt gewonnen werden, dann sind dies im Sinne der obigen Definition keine "bekannt gewordenen Umstände". Der Jurist Fodor folgert in einem Rechtsgutachten: "Aufgabe der öffentlichen Krankenhäuser ist die medizinische Hilfe. Für die Erfüllung dieser medizinischen Aufgaben ist der Aufenthaltsstatus ausländischer Patienten unerheblich (...) Mithin besteht für Verwaltungen von Krankenhäusern keine Pflicht, Erkenntnisse über den Aufenthaltstatus von Patienten zu gewinnen. Dementsprechend gilt auch nicht die Mitteilungspflicht (...) Für öffentliche Krankenhäuser indes besteht keine Ermittlungspflicht, so dass auch keine Unterrichtungspflicht bejaht werden kann".“9 Eine rechtliche Klarstellung der hier angesprochenen Problemkomplexe muss dringend erfolgen. Es darf nicht übersehen werden, die humanitäre Hilfe, die MediNetzBonn und die anderen medizinischen Hilfen leisten, ist von gesetzlichen Vorgaben und dem 8 Projektstelle „Illegalität“, Infobrief 2/04, Uli Sextro, Postfach 102028, 40011 Düsseldorf http://www.verdi.de/gesundheitspolitik/gesundheit_von_az/migration/medizinische_versorgung_von_menschen_ohne_legalen_aufenthaltsstatus Fodor, R. (2001): Rechtsgutachten zum Problemkomplex des Aufenthaltes von ausländischen Staatsangehörigen ohne Aufenthaltsrecht und ohne Duldung in Deutschland; In: Alt, J., Fodor, R.: Rechtlos? Menschen ohne Papiere, S. 125-218, Karlsruhe 2001 9 6 gesamtgesellschaftlichen Klima mitgeprägt, das überwiegend ausländerfeindlich und rassistisch ist10. MediNetzBonn versteht seine Arbeit als antirassistisch. 5. Kampagne achten statt verachten Den schätzungsweise 1 – 1,5 Million Menschen in Deutschland, die ohne Papiere und ohne Chipkarte leben, zumindest die medizinische Grundversicherung zu sichern, hat sich die neue Kampagne der IPPNW (Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) "achten statt verachten" zum Ziel gesetzt. Ein 16-seitiges Faltblatt informiert über das in der Öffentlichkeit weitgehend verdrängte Thema. In einer bundesweiten Unterschriftenaktion fordert die IPPNW den Bundestag zudem auf, die gesetzlichen Voraussetzungen für ein System anonymer Behandlungsangebote für Flüchtlinge ohne Papiere zu schaffen und Rechtssicherheit bei der Unterstützung, Betreuung und Behandlung von Menschen ohne Papiere herzustellen. Die Unterschriften sollen an Bundespräsident Wolfgang Thierse übergeben werden.11 Sigrid Becker-Wirth MediNetzBonn Literatur12: Alt, Jörg, Fudor, Ralf, Rechtlos? Menschen ohne Papiere, Anregungen für eine Positionsbestimmung, Karlsruhe 2001 Alt, Jörg, Leben in der Schattenwelt – Problemkomplex illegale Migration, Karlsruhe 2003 Alt, Jörg, Illegal in Deutschland, Forschungsprojekt zur Lebenssituation illegaler Migranten in Leipzig, Karlruhe 1999 Anderson, Philip, „Dass sie uns nicht vergessen...“, Menschen in der Illegalität in München, Hrsg.: Sozialreferat München, 2003 AutorInnenkollektiv, "Ohne Papiere in Europa, Illegalisierung der Migration Selbstorganisierung und Unterstützungsprojekte in Europa“, Berlin, Hamburg 2000 Becker-Wirth, Sigrid, Recht auf Gesundheit, Krankheit kennt keinen Aufenthaltsstatus, in Migration-Reader 2005, ASTA Uni Bonn Book of Solidarity, Unterstützung für Menschen ohne Papiere in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien, Hrsg.: Picum, Pro Asyl, Freudenberg Stiftung, Karlsruhe 2004 10 Bettina von Clausewitz, Lösungsansätze, Was tun für Menschen ohne Papiere, in: Hrg. Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Bloß nicht auffallen! Illegale in Deutschland, Hamburg 2004, S.60-62 11 Download der Unterschriftenliste Homepage der IPPNW 12 Buchbesprechungen: Sigrid Becker-Wirth, Legal, Illegal...? Bücher zur Situation von Menschen ohne Papiere, in ila 250, S. 29-30; www.ila-bonn.de/solidaritaet/ohnepapiere_buecher.htm 7 Die deutschen Bischöfe, Kommission für Migrationsfragen (Hrsg.), Leben in der Illegalität in Deutschland? Eine humanitäre und Pastorale Herausforderung, 2001, Einzelexemplare der Broschüre sind kostenlos erhältlich beim Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kaiserstraße 161, 53113 Bonn Classen, G. (2004): Die Gesundheitsreform und die medizinische Versorgung von Sozialhilfeberechtigten und Flüchtlingen. In: Die medizinische Versorgung von Flüchtlingen und MigrantInnen und die Folgen der Gesundheitsreform. Materialien zur Fortbildung des Flüchtlingsrates Berlin am 16. April 2004 in Berlin, S. 30-43; Download unter: www.fluechtlingsrat-berlin.de unter Gesetzgebung, übriges Sozialrecht Classen, G. (2005): Krankenhilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz; Download: www.fluechtlingsrat-berlin.de unter Publikationen, Arbeitshilfen Hrg. Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Bloß nicht auffallen! Illegale in Deutschland, Hamburg 2004 Faltblatt Gesundheit für alle! Informationen für Klinikpersonal, Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin, Download: http://.medibuero.de/papers/Faltbaltt.pdf Gefesselte Medizin - Ärztliches Handeln - Abhängig von Aufenthaltsrechten? Hrsg.: Flüchtlingsrat Berlin, Ärztekammer Berlin, Pro Asyl, Berlin 1998 Groß, Jessica, Medizinische Versorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus; Download: www.verdi.de/gesundheitspolitik/gesundheit von a-z/migration/medizinische versorgung von menschen ohne aufenthaltstatus Heinhold, Hubert, Abschiebungshaft in Deutschland, Die rechtlichen Voraussetzungen und der Vollzug. Hrsg.: PRO ASYL u. Republikanischer Anwätinnen- und Anwälteverein, Karlsruhe 2004 Jünschke, Klaus, Paul, Bettina (Hrsg.), Wer bestimmt denn unser Leben? Beiträge zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus, Karlsruhe 2005 Müller, Doreen, Recht auf Gesundheit? Medizinische Versorgung illegalisierter MigrantInnen zwischen exklusiven Staatsbürgerrechten und universellen Menschenrechten, Hrsg.: Förderverein Niedersächsischer Flüchtlingsrat Hildesheim, 2004 NISCHE, Netzwerk für Illegalisierte Menschen in Schleswig Holstein, Faltblatt: Menschen ohne Papiere, Hinweise für Ärztinnen und Ärzte sowie Beschäftigte im Gesundheitswesen; Download: www.hamburger-illustrierte.de/content/htm/tic/2005/07/12/200507121733.html Pater, Siegfried, Menschen ohne Papiere, RETAP-Verlag, Bonn 200513 Sextro, Uli, Projektstelle „Illegalität“, Infobrief 2/04, Strafrecht und Illegalität Download: www.fluechtlingsrat-nrw.de/1993/index.html 13 Buchbesprechung: Sigrid Becker-Wirth, Nicht auffallen, Lesebuch über Menschen ohne Papiere, in ila 288, S. 12; www.ila-bonn.de/buchbesprechungen/buecher288.htm 8 Internetadressen: Bundesweite Liste der Büros für medizinische Flüchtlingshilfe: www.aktivgegenabschiebung.de/links_medizin.html MediNetzBonn, Medizinische Vermittlungsstelle für Flüchtlinge, MigrantInnen und Menschen ohne Papiere, www.medinetzbonn.de Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin: www.fluechtlingsrat-berlin.de/akmedizin Informationsstelle Lateinamerika, Schwerpunkt ila 250/November 2001, Ohne Papiere www.ila-bonn.de/archiv/250inhalt.htm IPPNW: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung, Kampagne „achten statt verachten“, www.ippnw.de/Soziale_Verantwortung/ Berliner Flüchtlingsrat, www.fluechtlingsrat-berlin.de Flüchtlingsrat Niedersachsen, www.nds-fluerat.org Flüchtlingsrat NRW, www.fluechtlingsrat-nrw.de Forschungsgesellschaft für Flucht und Migration, www.ffm-berlin.de Katholisches Forum Leben in der Illegalität, www.forum-illegalität.de "kein mensch ist illegal", www.contrast.org/borders PICUM, Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants, www.picum.org Pro Asyl: www.proasyl.de Jede Menge sehr guter Informationen und Artikel zum Problemkomplex Illegalität auf der Website von Jörg Alt: www.joerg-alt.de Informationen aus Europa: UNITED for Intercultural Action � European network against nationalism, racism, fascism and in support of migrants and refugees, www.united.non-profit.nl/ Frankreich: Sans Papiers, http://pajol.eu.org Großbritannien: National Coalition of Anti-Deportation Campaigns, www.ncadc.org.uk/ Italien: Sans Papiers, www.ecn.org/sans/index.htm Niederlande: De Fabel van de illegaal, http://www.defabel.nl/ Österreich: Für eine Welt ohne Rassismus, www.illegalisiert.at/ Spanien: derechos para todos, www.nodo50.org/derechosparatodos/ 9