Sabah Alnasseri __________ Governance im Zeitalter des Terrors: Der Fall Irak „This is not a war on terror, this is a war of terror“ 1 Wie schon nach dem zweiten Golfkrieg im Jahre 1991 sind im Irak seit Beginn des Krieges 2003 unterschiedliche Gruppen, Parteien und Organisationen aktiv geworden. Alte, längst für tot erklärte Kräfte wurden reaktiviert. Kräfte, die unterschiedliche politische Projekte artikulierten und miteinander konkurrierten, Allianzen und Zweckbündnisse eingingen und Kapital aus der umkämpften Situation schlagen wollten. Damals wie heute verwandelte sich die anfängliche Euphorie über den Neubeginn schnell in herbe Enttäuschung. Die Anwesenheit von Besatzungstruppen, von internationalen Institutionen und die Vielfalt der politischen Kräfte im Irak haben zur politischen, territorialen und sozio-ökonomischen Fragmentierung des Landes geführt. Die politischen Kräfte im Irak haben generell wenig oder gar keine Erfahrung mit Regierungsverantwortung und dem Umgang mit politischen Institutionen. Meist haben sie ein sehr enges, instrumentelles Staatsverständnis und bleiben deshalb zersplittert. Die wirksamsten dieser Kräfte verfügen in der so genannten Zivilgesellschaft über diverse Machtnetzwerke (tribale, konfessionelle, kommunale, familiale etc.), sowie über Milizen und paramilitärische Einheiten (Jabar 2004). Manche dieser Akteure waren früher privilegierte Nutznießer des Saddam-Regimes (die Nationalisten um Allawi), profitierten vom Arrangement mit dem Regime (Barazani und Talabani) und/oder repräsentieren reiche und mächtige Familien in der irakischen Gesellschaft. Jede dieser Gruppen beansprucht heute die alleinige Vertretung von Teilen der irakischen Bevölkerung bzw. erhebt Ansprüche auf einen Teil des Staatsapparates. Der Staat seinerseits 1 Dahlia Wasfis, Tochter einer jüdischen Mutter und eines irakischen Vaters aus Basra, über die Besatzung des Irak. Sie beschrieb am 27. April 2006 in Washington, DC, ihren Besuch bei ihrer Familie in Basra und das tägliche Leben der Iraker unter der Besatzung (Rede beim Irak Forum, http://www.youtube.com/watch?v=ELjgVq6GtPA&mode=related&search=). PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 148, 37. Jg., 2007, Nr. 3, //// 2 Sabah Alnasseri verkümmert zu einer Beute partikularer Interessen. Der permanente Bewegungskrieg schafft die Existenzbedingungen für diesen neuen Staat. Sicherheitspolitik bedeutet im Irak Bewegungsfreiheit für das Kapital und die totale Kontrolle der Menschen: Polizei- und Militärkontrollen, Gefängnisse, Internierungslager, Checkpoints, Straßensperren, Stacheldraht, Ausgangsverbote, kollektive Verdächtigungen, Verhaftungen etc. Diese Sicherheitspolitik findet jedoch abseits staatlicher Kontrolle in zunehmend privatisierter Form statt. Neben dem Einsatz von Besatzungstruppen wird auf private Sicherheitsunternehmen, lokale wie regionale Milizen zurückgegriffen, um die subalternen Klassen vor allem in den städtischen Zentren zu disziplinieren. Die Milizen werden auch gegen politisch unangenehme Konkurrenten, Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivisten und kritische Journalisten eingesetzt, sowie um wichtige Naturressourcen und Handels- bzw. Logistikrouten abzusichern. Gangster, Banditen und paramilitärische Gruppen wurden durch die regierenden Parteien organisiert; politische Bündnisse wurden mit tribalistischen Kräften geschmiedet. Sie sichern die Dominanz der neuen, herrschenden Klassen. Die Situation in kulturellen oder ethnologischen Kategorien 2 darzustellen, ist nicht besonders aufklärend. Protestantisch oder Katholisch sein etc., das sagt nicht viel aus über politische Haltungen, Beweggründe und Praxen, geschweige über die staatliche Politik. Sobald Protagonisten innerhalb der Staatsapparate agieren, legen sie ihren ethnischen oder frommen Schleier ab, wenn sie politisch überleben und ihre Macht unter den institutionellen Zwängen, der Selektivität und der internen Dynamik des Staates zementieren möchten. Andernfalls müssen sie ihren eigenen Staat durch einen revolutionären Akt schaffen. Das Debakel der gegenwärtigen Junta im Irak ist, dass sie zu einer revolutionären Tat nicht fähig war und dennoch eine politische Katharsis durch einen imperialen Krieg erfuhr. Sie war jedoch nicht imstande, einen neuen Staat zu schaffen. Durch die Vermischung von politischer und Zivilgesellschaft wurde sie machtlos. Die gegenwärtige Dreieckskonstellation in der Regierung – Patriotische Union Kurdistans (PUK), Demokratische Partei 2 Zur Abwechslung wird dieser Artikel ohne die ethnischen oder religiösen Gemeinplätze auskommen, die affirmative wie kritische Darstellungen der gegenwärtigen Lage im Irak gewöhnlich kennzeichnen. Ich werde nur wenn nötig von diesen Zuschreibungen Gebrauch machen, und zwar in einem ideologiekritischen Sinne. Governance im Zeitalter des Terrors 3 Kurdistans (DPK) und die Allianz von al-Dawa, des Hohen Rats der islamischen Revolution im Irak (SCIRI), der neoliberalen Chalabi u.a. – bildet ein verhängnisvolles Gleichgewicht von unzähligen Partikularinteressen, auch mit der und durch die Besatzung. So bleibt es dabei: Das Sicherheitsthema, präziser, die Verunsicherung und Terrorisierung der Bevölkerung ist die Trumpfkarte in den kommenden turbulenten Zeiten der Übergangsphase bis zur nächsten Wahl – oder vielleicht bis zu einem internen Putsch! Die jetzige al-Maliki Regierung steht wegen ihr Führungsschwäche, der maßlosen Korruption und der zunehmenden gesetzlichen wie gesetzlosen Gewalt der Milizen unter enormem Druck, so dass sich neue Fronten unter säkularen wie religiösen Parteien und unabhängigen Kräften im Parlament bilden, die darauf hinarbeiten, die Regierung zu stürzen bzw. umzubilden. Was steht also im Irak auf dem Spiel? Zuerst haben wir eine Besatzung, imperiale Truppen, private Söldner, öffentlich-private Milizen, die ohne jegliche Einschränkungen agieren. Zweitens haben wir ein „provinzielles“ (an einzelnen Provinzen orientiertes) politisches Regime, das auf klientelistischen Netzen, nicht auf Staatsbürgerschaft und nationalem Konsens beruht. Drittens gibt es eine Regierung, deren Legitimität trotz oder wegen der Wahlen und der Verfassung fraglich ist. Viertens haben wir seit März 2003 eine Kriegssituation mit einem unvergleichlichen Ausmaß an sozialer, ökonomischer, menschlicher, ökologischer und institutioneller Zerstörung, ein Krieg nicht gegen die ehemalige regierende Clique, sondern gegen das Land als solches. Die Opfer dieses Klassen- und Geschlechtsterrors sind hauptsächlich Frauen, Lohnarbeiter, Arbeitslose, Bauern, Slumbewohner, Heimatlose etc. Einerlei wer hinter diesem Terror steckt, seien es imperiale Truppen, Söldner, Milizen, kriminelle Gruppen, Widerstandsgruppen, Auftragskiller etc., die Opfer finden sich in allen Segmenten der irakischen Gesellschaft. Einer Autobombe, einem Selbstmordattentäter, einem ApacheFlugkörper, einem IED (improvised explosive device), Napalm oder Streubomben sind ihre Opfer gleich. Aber dies ist die Situation unter jeder Besatzung, unter der früheren kolonialen wie unter der heutigen imperialen. Mittels der Kriegsökonomie und der Propaganda des „Religions“oder „Bürgerkriegs“ versuchen die herrschenden und regierenden Gruppen, an ihre jeweiligen Anhänger zu appellieren und diese hinter ihre Politik zu scharen. Doch tatsächlich lässt sich der Krieg im Irak weder als Religions- noch als Bürgerkrieg begreifen. Indem sie das Gegenteil behaupten, suggerieren die Besatzer, die Spirale der 4 Sabah Alnasseri Gewalt sei hausgemacht und die Verantwortung für den Krieg trügen seine Opfer. Was es allerdings gibt, sind Konflikte zwischen den intern zerstrittenen regierenden Gruppen und ihren außerparlamentarischen Widersachern. Während des Krieges haben die regierenden Eliten die Staatsapparate jeweils mit eigenen Kräften besetzt und versucht, sich der gegnerischen Kräfte zu entledigen. Die These vom Bürgerkrieg wird gleichermaßen von den regierenden Eliten und den Liberalen in den USA propagiert: Die irakische Regierung versucht dadurch, die Besatzung und die Anwesenheit von immer mehr ausländischen Truppen im Land zu legitimieren. Denn auf der Anwesenheit dieser Kräfte basiert die Machtstellung dieser Eliten. Die amerikanischen Demokraten und deren liberale think tanks hoffen auf deren Konsolidierung und bereiten sich für eine 3 Exit-Option vor. Wenn wir nun zwischen realer Politik und ihrer Darstellung unterscheiden, dann ist die entscheidende Frage, wer warum was wie tut. Eine politisch-strategische Analyse der Situation hilft uns, diese Frage zu beantworten und liefert genügend Argumente, um die strategische Frage des ‘Was tun?’ anzupacken. Die ethnokonfessionelle Mystifizierung des Konflikts zielt auf die Verdrängung dieser Frage, was ein fatalistisches Ohnmachtsgefühl hervorruft, das eine notwendige Bedingung der Zementierung des gegenwärtigen barbarischen Status Quo darstellt. Altes Öl, neue Rohre Ein Schlaglicht auf die komplexe Problemlage wirft der Entwurf für 4 ein neues „Öl- und Gasgesetz, der vom irakischen Kabinett 3 4 Leon Hadar vom Cato Institut entwickelte 2005 das Konzept eines „konstruktiven disengagement“. Steven N. Simon fabrizierte 2007 eine faule Synthese aus diesem Konzept und den Vorschlägen des Baker-Hamilton-Reports vom Oktober 2006. Der Bürger- und Religionskrieg ist auch das Thema der meisten Artikel von Anthony H. Cordesman (Centre for Strategic & International Studies) seit 2006. Seine Artikel in den Jahren davor beschäftigten sich hauptsächlich mit militärischen und institutionellen Fragen im Irak, mit Ausnahme eines Artikels im September 2005 („New Pattern in the Iraqi insurgency: The war for a civil war in Iraq“), in welchem er vom „Neo-Salafi-Extremismus“ spricht. Dabei bezieht er sich auf Außenseiter, deren Wirksamkeit weder er noch die Experten, die er zitiert, einschätzen können, und die doch hinter dem vermeintlichen Bürgerkrieg stecken sollen. Es scheint, als ob die liberalen Intellektuellen eine Exit-Strategie für die Demokraten nach 2008 vorbereiten - der Zeithorizont für das anvisierte „disengagement“ stimmt mit der Zeit der Wahlen im nächsten Jahr in den USA überein. Bevor der Gesetzentwurf dem Parlament vorgelegt wurde, hatten nur einige privilegierte Mitglieder eine Kopie erhalten. Es war riskant, sich Zugang zu dem Gesetzentwurf zu verschaffen und ihn zu veröffentlichen. Der irakische Blogger Governance im Zeitalter des Terrors 5 angenommen wurde. Das Parlament sollte ursprünglich bis zum 31. Mai über diesen Entwurf abstimmen, inzwischen ist diese Frist 5 verlängert worden. Falls dieses Gesetz nicht angenommen werden sollte, kann es trotz der Ablehnung des Parlaments vom Kabinett in 6 Kraft gesetzt werden. Aufgrund des massiven Widerstands insbesondere seitens der Gewerkschaften und Arbeiterräte gegen das so genannte PSA (Production Sharing Agreement) und gegen die hohen Profite der multinationalen Konzerne und die Vertragslaufzeiten wurde der Titel im neuen Entwurf zu „Wohlstand und Produktion“ geändert. Das Skandalöse an diesem Gesetz ist unter anderem die Schaffung eines „Bundesrates für Öl und Gas“ und eines „unabhängigen Beraterbüros“, die von Irakern und internationalen Experten besetzt werden sollen. Im neuen Gesetzentwurf sind keine Angaben mehr zu den Einnahmen oder prozentualen Anteilen der multinationalen Konzerne vorhanden, wie es noch im ersten Entwurf anvisiert war, wohl aber, dass die Vertragslaufzeit bis zu 30 Jahren betragen kann. Dieses Gesetz zu genehmigen würde bedeuten, dass das Parlament einen politischen Selbstmord begeht, indem es die wichtigsten Kompetenzen für Geschäfte mit dem irakischen Öl auf den „Bundesrat für Öl und Gas“ 5 6 Raed Jarar war er erste, der den Entwurf veröffentlichte und ins Englische übersetzte (http://raedinthemiddle.blogspot.com/). Zur Frage des Öls vgl. Juhasz/Jarrar (2007), Mahdi (2007); zum globalen Widerstand vgl. http://www.handsoffiraqioil.org/ und http://www.iraqoillaw.com/. Am 24. Mai 2007 stimmte der US-Kongress mit den Stimmen von Demokraten und Republikanern für ein Gesetz 'Support the Troops' und bewilligte 12 Milliarden Dollar dafür. Dabei wurden jedoch die Gelder für den Wiederaufbau des Irak an die Privatisierung des irakischen Öls geknüpft. Wenn sich das irakische Parlament weigert, die Privatisierungsgesetze anzunehmen, verweigert der Kongress diese Gelder, die den Irakern für den Wiederaufbau von dem versprochen wurden, was die Besatzer zerstört haben (Wright 2007). Das Privatisierungsgesetz wurde von Beratern amerikanischer Ölgesellschaften geschrieben, die von der Regierung Bush eingestellt wurden. Dieses Gesetz würde dem Irak die Kontrolle über nur 17 der 80 bekannten Ölfelder überlassen. Die Verschuldung des gestürzten Regimes wurde von unterschiedlichen internationalen Akteuren und Institutionen (vor allem dem Pariser Club) als ein Instrument benutzt, um die politisch-ökonomische und institutionelle Restrukturierung (Privatisierung, Deregulierung, Absicherung der Verwertungsbedingungen des internationalen Kapitals) des Iraks zu forcieren (vgl. http://www.jubileeiraq.org/blog/, Leys 2006, Sen/Chu 2005). Nach der neuen Verfassung, in der alle ehemaligen verfassungsmäßigen sozialen Rechte gestrichen wurden, wird die Zentralbank als eine „independent association“ (Artikel 101) charakterisiert, genauso wie die Medien etc. Die Transformation dieses Staatsapparates von einer nationalen zu einer „unabhängigen“ Institution stellt ein Moment der Internationalisierung des Staates dar, da die Prioritäten der Bank nicht mehr nationale sind, sondern sie forciert nunmehr eine internationale Agenda, die von Akteuren wie der Weltbank, dem IWF, der WTO, dem Pariser Club usw. bestimmt wird. 6 Sabah Alnasseri und das „Expertenbüro“ überträgt. Der Rat könnte ohne Zustimmung des Parlaments Vereinbarungen genehmigen und Verträge auf der Basis der PSA abschließen, die sich auf noch zu erschließende Ölfelder beziehen. Und da das Gesetz bewusst den Öl produzierenden Regionen mehr juristisches Gewicht bei der Vertragsvergabe einräumt als der Zentralregierung – diese ist 7 ohnehin zusammengesetzt aus Kräften , die aus den jeweiligen Ölregionen stammen – zerfällt der Irak weiter, was ich vor dem Krieg 8 als Kantonisierung bezeichnet habe (vgl. Alnasseri in links-netz.de). Politogramm des Irak Gegenwärtig sind die wichtigsten politischen Akteure im Irak Abkömmlinge von mächtigen Familien aus den alten herrschenden Klassen des Landes (Batatu 1978), die seit der osmanischen Ära bis zum Fall der Monarchie 1958 regierten (al-Hakim, Barzani, Chaderchi, Chalabi, Khöi, Pachachi, Sadr, Shirazi, Rubaai, al-Saadun u.a.). Dabei handelt es sich hauptsächlich um Familienclans, die dem feudalen, vorrepublikanischen Regime ihren sozialen, ökonomischen und/oder politischen Aufstieg verdankten (Alnasseri 2008) und heute ihr Comeback feiern. In aktuellen politischen Bündnissen zählen deshalb Claninteressen häufig mehr als – wie auch immer konstruierte – religiöse oder ethnische Identitäten. Diese Klassenpolitik nimmt jedoch die Form nationaler, ethnischer, kultureller und/oder konfessioneller Identitätspolitik an. 7 8 Schiit, Sunnit, Kurde, Araber etc. sind keine politischen Kategorien, es sind vielmehr ideologische (Selbst-) Zuschreibungen. Weder entspringen politische Praxen aus Versatzstücken ethnischer oder religiöser Ideologie, noch sind jene motiviert durch letztere, sondern sie liegen in erster Linie in Macht- und Klassenverhältnissen begründet. Alle drei Ölminister, die nominell Schiiten sind, führten neoliberale Dekrete und Gesetze ein, nicht wegen ihrer schiitischen Identität, wegen der Interessen ihrer Gemeinschaft oder Region, sondern im Interesse einer Klassenfraktion von Privateigentümern, die durch die Umstrukturierung von Eigentumsverhältnissen durch denselben Staat geschaffen wurde. Dies gilt mutatis mutandis auch für anderen Gruppen wie die Kurden. Dies ist nur möglich durch die Unterdrückung der subalternen Klassen, wodurch nicht nur die sozialen Basen von gegnerischen Kräften zerstört wurden, sondern in erster Linie eine soziale Basis des jetzigen Regimes geschaffen werden sollte. Gegenwärtig werden angeblich aus „Sicherheitsgründen“ hohe und lange Betonmauern in Bagdad nach dem Muster anderer Städte (wie Falludscha) gebaut, die die Bewohner der Stadtviertel ein- und ausschließen. Das ganze Land verwandelt sich so in eine Gefängnislandschaft. Durch die Einmauerung werden die Menschen effektiver kontrolliert und in ihrer Bewegungs- und Versammlungsfreiheit erheblich eingeschränkt. Einen klareren Beweis für das Debakel der Besatzung und der jetzigen al-Maliki Regierung kann es kaum geben. Governance im Zeitalter des Terrors 7 Ein anderer, nationalistisch orientierter Typ politischer Führungsgruppen entstammt der alten Mittelschicht (Technokraten, Akademiker, Bürokraten etc.), die ihren sozialen und politischen Aufstieg dem Saddam-Regime verdankte. In den 1970ern und frühen 1980ern genoss diese Schicht einen beträchtlichen Wohlstand, hohen sozialen Status und verschiedene Privilegien. Die Kriege und Sanktionen in den 1980ern und 1990ern trugen zu einer drastischen Verarmung dieser Schicht bei. Vor allem die ehemaligen Baathisten haben gute Kontakte und Verbindungen zum aufgelösten Sicherheitspersonal, zu den Resten der Baath-Partei in Syrien und zu anderen säkularen Kräften wie Kommunisten, Panarabisten, Liberalen etc. Eine dritte Kategorie, die neue Mittelschicht, bilden die Embargo- und Kriegsgewinnler, vor allem unter den irakischen Migranten, die von dem Zusammenbruch der Ökonomie während der Embargojahre und nach 2003 profitiert und sich enormes Kapital in unterschiedlichen Formen angeeignet haben. Des weiteren gibt es noch die regionalen Stammesmächte, die ebenfalls bereits unter dem gestürzten Regime aufgestiegen waren. Die Tribalisierung des politischen Feldes wurde mit der Einführung der „Büros der Stammesoberhäupter“ und der Erforschung der so genannten Stammesgenealogien durch Saddam Hussein verstärkt, um dem Regime verbündete Tribalkräfte zu fördern und seine Opponenten oder potentielle Rivalen zu isolieren. Zu diesen Kräften kommen schließlich noch die neoliberalen Internationalisten hinzu: multinationale Konzerne, Experten, Techniker, politische und Militärberater, Manager etc., die in die Formierung des inneren Gleichgewichts konstitutiv eingingen und die nach dem jetzigen Stand der Kräfteverhältnisse eine dominante 9 Position innehaben. Die Geostrategie der „Provinzialisten“ Die schiitischen religiösen Institutionen verloren ihren dominierenden Status in den Gemeinden seit den 1950er Jahren. Die Anzahl der religiösen Gelehrten in den schiitischen Institutionen ging von über Zehntausend am Anfang des 20. Jahrhunderts bis auf wenige Hundert in den 1970er Jahren zurück. Durch Bodenreformen, 9 Mit über 2000 Angestellten ist die US-Botschaft in Bagdad die größte der Welt. Sie gleicht einer Festung innerhalb der so genannten Grünen Zone. Die irakische Regierung und ihre Institutionen sind mit amerikanischen Experten und Beratern durchdrungen. 8 Sabah Alnasseri Binnenwanderung und Emigration der Bauern und die Konfiskation des Eigentums der schiitischen Institutionen durch den Staat wurden diese Institutionen, ihre Geistlichen und angegliederte Familienclans an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die gewalttätige Reaktion der al-Dawa Partei Ende der 1970er Jahre war dadurch verursacht, dass die Mehrheit der Schiiten sich in den säkularen Parteien engagierten, die ihnen Wohlstand und Zukunftsperspektiven anboten. Das Hauptgewicht der religiösen Institutionen lag nun außerhalb des Landes, und dort wurden auch reiche Institutionen wie die al-Khoei Stiftung und die al-Sistani Stiftung gegründet. In den 1990er Jahren rehabilitierte Saddam Hussein die sunnitischen und schiitischen Institutionen, um mehr Legitimität nach dem faktischen Niedergang der Baath Partei zu gewinnen. Mohammed Sadiq al-Sadr wurde als ein arabischer Geistlicher institutionell, öffentlich und finanziell gestützt, um dem Einfluss des iranischen Klerus entgegen zu treten. Die schiitischen Institutionen wurden jetzt von einem internen Familienclan dominiert, der gegen andere Clans und dem mit ihnen verwandten Klerus außerhalb des Iraks stand. Um die Machtverhältnisse noch ungünstiger für seine Opponenten zu machen, stellte al-Sadr eine Fatwa (ein religiöses Urteil) aus, wonach wohlhabende Schiiten ihre Khums (eine religiöse Steuer, 1/5 des Einkommens oder des Gewinnes) direkt an die Armen und nicht wie zuvor an die religiösen Institutionen zahlen sollten. Dadurch wurde die ökonomische Stellung der Institutionen weiter geschwächt und mit ihr die politische und kulturelle Autonomie dieser Institutionen. Dies machte al-Sadr nicht nur bei den Massen beliebt; es stellte nicht nur eine Bedrohung für das Saddam-Regime dar, sondern bedrohte vor allem die Machtstellung seiner Opponenten innerhalb und außerhalb der schiitischen Institutionen und Gemeinden, so dass das Attentat, dem al-Sadr und zwei seiner Söhne im Jahr 1999 zum Opfer fielen, gleichermaßen von Saddam oder von schiitischen Clans verübt worden sein könnte. Jene Clans und Teile des Klerus, die sich außerhalb des Iraks befanden, wurden im Lande selbst marginalisiert. Es war kein Wunder, dass al-Sadrs Widersacher zum ersten Mal in den 1990ern bereit waren, eine Front gegen Saddam zusammen mit anderen alten Feinden wie Kommunisten und rivalisierenden Baathisten zu bilden. Das ist der Hintergrund der ehemaligen irakischen ExilOpposition, die jetzt regiert. Die entfesselten schiitischen Parteien und die zugehörige Identitätspolitik könnten, so die neokonservativen Erwartungen der Bush-Administration, eine weitreichende geopolitische und kulturelle Governance im Zeitalter des Terrors 9 Wirkung über den Irak hinaus entfalten – und somit eine mächtige Konkurrenz sowohl zu der prominenten iranischen Doktrin des Wilayat al-Fagih (der Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten) als auch zur sunnitisch-wahabitischen Orientierung auf Saudi-Arabien aufbauen. Najaf und Kerbela könnten, so die Erwartungen des schiitischen Klerus und der schiitischen Institutionen, als Pilgerwallfahrtstädte für Millionen Schiiten weltweit fungieren, was einen enormen ökonomischen Aufschwung für die schiitischen Institutionen und deren Klientel in Handel, Dienstleistung, Industrie und Handwerk bedeuten und die politisch-kulturelle Stellung des irakischen Klerus stärken würde. Die gezielte Aufwertung der irakisch-schiitischen Kultur durch eine Interessenidentität zwischen den Besatzungsmächten und den regierenden schiitischen Parteien ist geopolitisch auch ein Affront gegen nationalistische, sozialistische und panarabische Kräfte, da diese stets mit den Sunniten assoziiert werden. Die innovativen diskursiven Konstruktionen „Schiit“ und „Sunnit“ sind dabei nichts anders als ideologische Versatzstücke für „Provinzialist“ und „Nationalist“. Die Innovation beruht freilich auf der Kulturalisierung von Politik und der Produktion ethno-identitärer Gemeinplätze. Das Problem ist hier, dass den Regierenden, die auf einem imperialen trojanischen Pferd an die Macht kamen, aufgrund des selbst zugeschriebenen, ethnisch-konfessionellen Charakters (kurdisch, schiitisch) die Legitimität eines national-repräsentativen Körpers fehlt. Indem der Konflikt mit dem gestürzten Regime post factum als ethnisch-konfessionell und nicht als ein nationaler, politischer Konflikt präsentiert wird – die Opfer des Saddam-Regimes als ausschließlich ethnische und konfessionelle Gruppen – erheben die Regierenden einen exklusiven Anspruch auf ‚ihren’ Staat. Dabei wird z.B. mit dem Etikett „Schiit“ eine Identitätspolitik betrieben, die religiös inszeniert wird. Religion bzw. Konfession erscheinen als die einzige politische Form der Organisation von Herrschaft und Interessenvertretung. Dabei nehmen die religiösen Institutionen, der Klerus und die klerikalen Gruppen, und darin wiederum vor allem die höchsten Würdenträger aus den herrschenden und mit einander konkurrierenden Familienclans wie al-Hakim und al-Sadr eine zentrale Stellung ein. Schiit wird nicht wie in der Vergangenheit als eine konfessionelle, sondern als eine politische Kategorie gesetzt. Vor dem Hintergrund der gegenwärtig offen umkämpften Situation und bedingt durch die wachsende Konkurrenz schiitisch-politischer 10 Sabah Alnasseri 10 Gruppen haben sich die religiösen Institutionen und deren Würdenträger inzwischen deutlich politisch positioniert (Fuller 2003). Sie fungieren durch ihre diversen politisch-kulturellen Praxen als Mehrheitsbeschaffer für regierende, schiitische Parteien. Diese wiederum erhoffen sich von der nominell schiitischen Mehrheitsbevölkerung eine politische Mehrheit, die sie sich mit Hilfe religiöser Institutionen sichern zu können glauben. Das politische Schisma wird gegenwärtig am deutlichsten vom jungen Geistlichen Muktada al-Sadr, der von den armen Einwohnern von al-Sadr City unterstützt wird, und von den das Regime unterstützenden Schiiten mit ihrer neuen Mittelschicht, dem Kleinbürgertum und der Kompradorenbourgeoisie artikuliert. Die Frage anders gestellt: Kräfteparallelogramm und Geometrie der Macht Die politischen Kräfteverhältnisse innerhalb und außerhalb der Staatsapparate verschieben sich ständig. Das bedeutet, dass es keine stabile Konfiguration der Kräfte und kein konstantes politisches Projekt gibt, sondern unvereinbare Staatsprojekte, jedes mit seinen jeweiligen flüssigen sozialen Basen und seiner permanent sich verändernden politischen Repräsentation. Die herrschenden Eliten und ihre jeweiligen Parteien haben gegenwärtig keine Mehrheit in der Bevölkerung, und sie haben auch im Parlament bei einzelnen entscheidenden Abstimmungen keine Mehrheit. Dadurch erklären sich ihre gewaltsamen Versuche, solche Mehrheiten zu schaffen. Sie und ihre Konkurrenten haben dennoch gut disziplinierte und organisierte Milizen und paramilitärische Gruppen, die sie aus der Reservearmee von Millionen von arbeitslosen und marginalisierten jungen Männern und – in geringerem Maße – Frauen einziehen. Terror ist in diesem Sinne eine Governancetechnik, eine öffentlichprivate Veranstaltung der schöpferischen Zerstörung. Das Terrormoment war von Beginn an in der theologischmissionarischen, „unfehlbaren“ Haltung der imperialen und lokalen Kräfte eingeschrieben. Die Strategie der Unordnung zielt auf die grundlegende Umstrukturierung aller Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. Sie verursacht ein Gefühl des materiellen 10 Diese Kräfte sind in ihrer Form der Organisation, ihrer „programmatischen“, sozialen und politischen Agenda überwiegend eine externe Fabrikation; sie haben keine tiefen Wurzeln oder Verbindungen zur sozialen Basis im Lande. Daher ihre permanente Zuflucht zur Gewalt, genauer: Gewalt wird als Mittel eingesetzt, um sich eine soziale Basis zu verschaffen. Daher stehen diese Gruppen stets in einem Konflikt mit einander. Governance im Zeitalter des Terrors 11 Fatalismus, der die politische Kultur der Neocons in Washington und der schiitisch-politischen Kräfte zementieren soll. Dieser Fatalismus bringt politische Passivität und eine Skepsis gegenüber der Politik im Allgemeinen hervor, d.h. er zementiert die vorhandene politische Macht durch die Verbannung von Öffentlichkeit. Dies ist eine Form der politischen Organisation unter dem Feuer des Krieges, die versucht die subalternen Klassen durch dauerhaften Terror in fatalistische Gläubige umzuwandeln. Die führenden Milizionäre der regierenden schiitischen Parteien sind geprägt durch zwei Jahrzehnte der Indoktrination im Exil nicht nur gegen die gestürzten Cliquen, sondern gegen die ganze Gesellschaft. Die Milizen sind die politische Form der Organisation und zugleich der neuralgische Punkt der regierenden Parteien und 11 der herrschenden Eliten . Die Frage der Gewalt und des Terrors ist nicht nur eine der Sicherheitspolitik: Auflösung oder Integration der Milizen in die Sicherheitsapparate bedeutet das Auflösen der Parteien als Apparate und mit ihnen des neuen Staates. Die Staatsapparate, die Parteien und die ökonomischen Institutionen sind hier so verwoben, dass keine Wirtschaft und keine Politik ohne Verbindung zu Parteien möglich ist. Die Parteien sind in allen Teilen des Landes nicht bloß Repräsentanten von existierenden Klassen, sondern stellen die Formen dar, durch die neue Klassenfraktionen von Privateigentümern geschaffen werden. Mitglieder der herrschenden Klassen besetzen gleichzeitig höchste Staatsämter (Barazani, Talabanim al-Hakim, Chalabi etc.). In einem strukturellen Sinn ist dies eine „ursprüngliche“ politische und ökonomische Akkumulation, d.h. die Schaffung einer neue Klassenformation und einer neuen Staatsform: die Institutionalisierung des Kapitalverhältnisses durch unterschiedliche Formen der Aneignung des gesellschaftlichen Kapitals, durch Plünderung, Raub, Korruption, Neuverteilung des Grund und Bodens. Dieser Prozess ist ohne die Unterstützung von imperialen und internationalen Protagonisten und Institutionen nicht zu machen. Dennoch ist eine stabile Konfiguration des Blocks an der Macht nicht absehbar, da es multiple Zentren der Macht und widersprüchliche Institutionen gibt, in denen verschiedene 11 Einige Milizen und Killerkommandos in den Sicherheitsapparaten und in der Zivilgesellschaft wurden von den USA selbst geschaffen, trainiert, finanziert und bewaffnet als Mittel gegen den Widerstand, andere unliebsame Gegner und als Mittel zur Schwächung der Zentralregierung. Die formale Unterordnung dieser Milizen unter die Sicherheitsapparate oder die regierenden Parteien hindert sie jedoch nicht daran, auf eigene Faust zu operieren, was Entscheidungen in der Sicherheitspolitik zu einem Ding der Unmöglichkeit macht. Dies ist eben eine Besatzungssituation. 12 Sabah Alnasseri Kräfte mit militaristischer und „provinzieller“ Gesinnung ohne praktische politische Erfahrung agieren. Dabei bedeutet die Rückkehr der alten Gesellschaftsklassen die Unterordnung des urbanen Lebens unter das ländliche, was mehrfache Verschiebungen zur Folge hat: von nationalen zu provinziellen und zu lokalen Organisationsformen, von säkularen Kollektiven zu Stammes- und Clan-Strukturen, von der Industrie zum Handel, von zivilen zu halbfeudalen und patriarchalischen Institutionen, Gesetzen und Sitten. Da die dominierenden Gruppen des Staates die Repräsentanten der alten gesellschaftlichen Klassen sind, die jetzt ihr Comeback feiern, stellt dies eine historische Regression in allen möglichen Varianten dar. Der politische Raum ist durch institutionelle Mechanismen verformt worden, die mit der Besatzung verhandelt und durch die Besatzung erzwungen wurden, die mit allen Mitteln eine parlamentarische Mehrheit garantieren, aber auch die Auflösung des Parlaments und die Erklärung des Ausnahmezustands einschließen, wann immer dies opportun erscheint. In politisch-institutionellem Sinne bedeutet dies, dass es keine gesetzgebende Versammlung gibt, kein Parlament im klassischen Sinne, sondern ein machtloses beratendes Organ ohne jegliche Möglichkeit der Regierungskontrolle, dass es keine Exekutive gibt, sondern Clans und Milizen, dass es keine unabhängige Justiz gibt, die die Sicherheitsapparate kontrollieren könnte. Es gibt nur bewaffnete Kräfte, die hauptsächlich von den regierenden Eliten abhängig sind, d.h. es gibt keine Sicherheitsapparate, sondern private Gewaltagenturen, die gegen die Bevölkerung eingesetzt werden. Letzterer wird andauernd misstraut; sie wird dauernd kollektiv bestraft, kann die willkürlichen Taten der Regierung und der Besatzungsmacht nicht kontrollieren, darum rekurriert sie auch auf Gewalt und den bewaffneten Kampf. Folglich entzieht die Bevölkerung der Regierung nicht nur ihre Unterstützung, sondern stellt auch deren Legitimität und Autorität in Frage. Die Gegenstrategie der regierenden Eliten beruht auf der Desorientierung, Unterjochung und Disziplinierung der Massen, der klientelistischen Konstruktion partikularer sozialer Basen, der Korruption und der Kooptation von Gegnern, um die Einheit der Subalternen zu verhindern. Diese politische Praxis versucht, Teile der subalternen Klassen gegeneinander auszuspielen, ihre Frustration zu nutzen, um ihre Zusammenarbeit mit dem Kolonialregime zu erzwingen. Dies ist Terror im ursprünglichen Sinne der Staatspolitik: Der so genannte Religions- und Bürgerkrieg ist nichts anderes als eine primitive Form der Freund-Feind-Politik, Governance im Zeitalter des Terrors 13 organisiert von Hunderttausenden Söldnern, imperialen Truppen und lokalen Milizen. Es besteht hier eine organische Verbindung zwischen parlamentarischen Gruppen und deren Milizen, insofern als sich die illegalen Taten der letzteren innerhalb der Legalität des Staates 12 bewegen. Dies verstärkt die autoritären Momente innerhalb des Staates und die relative Macht der Stammesbündnisse sowie der kriminellen Organisationen. Da der Irak eine sehr hohe Dichte des urbanen Lebens aufweist, ist das Grundprinzip hinter der massiven Bombardierung der Städte und der Terrorisierung des Zivillebens, umfangreiche demographische Verschiebungen der Bevölkerung in den Regierungs- und Besatzungszonen herbeizuführen und dadurch dem Widerstand seine soziale Basis zu rauben. Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind hier eine Form der politischen Ordnung und nicht Kollateralschäden! Hier wird Frantz Fanons Argument, wonach Gewalt als reinigende Kraft, als Mittel der Befreiung von der Unterjochung fungieren kann, ins Gegenteil verkehrt: Gewalt als reinigende Kraft in den Händen der herrschenden Klassen soll Befreiung ad absurdum führen. Diese gewaltbeladene Situation untergräbt soziale, ökonomische und politische Rechte; die Bevölkerung wird im privaten Raum eingesperrt, vom öffentlichen Leben abgeschnitten, der Indoktrination ausgeliefert, intellektuell und politisch lethargisch und kontrollierbar macht. Es gibt jedoch kein Zeichen für eine dominierende Kraft innerhalb des Blocks an der Macht, die die Situation unter Kontrolle halten kann, noch nicht! Historischer Wahlsieger? Vor diesem Hintergrund hatten die irakischen Wähler bei den zwei 12 Fragen der Entscheidungsfindung und -ausführung, der Zuständigkeiten und Machtbefugnisse in den Sicherheitsapparaten (Verteidigungsund Innenministerien) werden in der Regel an mehreren Stellen, durch unterschiedliche Akteure und in unterschiedlichen Formen gelöst. Neben den Experten und Befehlshabern der Besatzungsmacht, den NATO-Experten, die die Polizei ausbilden, den privaten Sicherheitsfirmen und ausländischen Geheimdiensten, die starken Einfluss auf diverse Kräfte der Sicherheitsapparate ausüben, tragen vor allem die paramilitärischen Gruppen und Milizen der regierenden Parteien zu dieser Verwirrung bei. Diese agieren meist autonom, befolgen Befehle ihrer eigenen Kommandos oder Parteien und weniger der Stelleninhaber in den jeweiligen Ministerien. Die Folge davon ist, dass es nicht klar wird, unter welcher Autorität, in welchen (legalen) Formen und unter welchen Restriktionen diese Milizen handeln, vor allem wenn es sich um Fragen von Festnahmen, Durchsuchungen, Einkerkerung, Bestrafung bis hin zu kollektivem Mord und Exekutionen handelt. 14 Sabah Alnasseri vergangenen Wahlen im Januar und im Dezember 2005 tatsächlich keine Wahl: Die Wahl-Veranstaltung, so wie sie formal (Ablauf und Timing waren durch die provisorische Verfassung vom März 2004 vorgeschrieben) und organisatorisch „durchgebombt“ wurde, war ein weiterer Schritt im Rahmen der Institutionalisierung des Bündnisses zwischen der Besatzungsmacht und den kurdischen Kräften sowie der ehemaligen irakischen Exilopposition im Rest des Landes. Denn das Hauptgewicht im Parlament und in der Exekutive haben Parteien (Patriotische Union Kurdistans, Demokratische Partei Kurdistans und die Allianz, die Einheitsliste der schiitischen Parteien u.a.), die die Repräsentanten der neuen herrschenden Klassen und Gruppen sind. Der Wahlmodus wirkte fraktionierend auf die Kräfteverhältnisse im Parlament und schwächte die Zentralregierung. Auf diese Weise wurde es für die Regierung so gut wie unmöglich, den Abbau von Militärbasen und einen Truppenabzug zu fordern. Im Gegenteil, „aus Furcht vor einem Bürgerkrieg“ baten die regierenden Gruppen die Besatzungstruppen, „noch eine Weile“ im Land zu bleiben. Der Verfassungsprozess wurde nicht landesweit, öffentlich und transparent organisiert; damit verfestigte sich die Gefahr, das Land weiter zu fraktionieren. Eine aus handverlesenen Mitgliedern der Nationalversammlung zusammengesetzte Verfassungskommission, die formal für den Verfassungsentwurf verantwortlich war, wurde nicht von außerparlamentarischen, politischen wie zivilgesellschaftlichen Akteuren, Institutionen und öffentlichen Debatten getragen. Eine breitere, demokratische Partizipation, die für mehr Legitimität der neuen Verfassung gesorgt hätte, war nicht gewährleistet. Nicht das Dokument, der Verfassungstext, sondern die Art und Weise, wie er durch einen breiten nationalen Konsens zustande gebracht wird, garantiert eine friedlich-demokratische Entwicklung, ihre institutionelle Verankerung und eine legitime Repräsentation. Verdächtigungen und Skepsis (nicht nur) seitens konkurrierender politischer Gruppen begleiteten die Debatte und sorgten für eine Eskalation des Konflikt. In diesem Kontext wären ein durch Vermittlung der UNO oder eines neutralen Dritten vereinbarter Waffenstillstand und die Ausarbeitung eines Zeitplans für den Rückzug der Besatzungstruppen Schritte in die richtige Richtung gewesen, wodurch jene Akteure, die die Wahlen boykottierten und die Besatzung ablehnen, hätten eingebunden werden können. Doch so blieb die Ausarbeitung der Verfassung eine interne, intransparente Angelegenheit von politischen Eliten und Technokraten, die das Risiko der Gewalttätigkeit erhöhte. Mächtige Governance im Zeitalter des Terrors 15 Parteigruppen spielten eine große Rolle in jenem Übergangsprozess der Verfassungsbildung, und die Verfassung verkümmerte einfach zu einer Beute dieser Gruppierungen. Die Verfassung wurde von vielen als ein ihnen auferlegter Zwang empfunden und nicht als das Produkt eines offenen und einschließenden Dialogs, das die Rechte und Interessen aller Gruppen im Land schützt. Damit wurde für eine undemokratische und instabile Entwicklung und für eine wenig legitime und kaum handlungsfähige Regierung gesorgt. Ein Prozess der Verfassungsbildung erfordert Zeit, besonders wenn er öffentlich-demokratisch organisiert wird. Die vorgesehene Zeitspanne war jedoch zu kurz, insbesondere wenn man bedenkt, dass fast drei Monate nach der Wahl vom Januar 2005 immer noch keine Regierung gebildet worden war, so dass die Ausarbeitung eines demokratischen Verfassungsentwurfs bis Mitte August 2005 utopisch erschien. Eine auf die Schnelle, elitär-technokratisch und unter dem Vorzeichen der Besatzung entworfene Verfassung hat die Situation noch mehr angeheizt, die Lage destabilisiert und antidemokratische Tendenzen forciert. In diesem Kontext hatte nicht nur die regionale Regierung in Kurdistan einen Verfassungsentwurf entwickelt und vorgeschlagen, der aus der Perspektive und der Interessenlage der zwei dort dominierenden Parteien konzipiert worden war. Es konnte nicht verhindert werden, dass die öffentliche Debatte durch solche Entwürfe verengt wurde und dass die Entwürfe negative Auswirkungen zeitigten. Dadurch verfestigte sich die oligopolistische Stellung mächtiger Gruppen, die die Institutionalisierung von vorgefertigten Entwürfen erleichterte. Die Wahlen am 15.12.05 sollten im Rahmen der neuen, bis dahin erarbeiteten und qua Referendum bis zum 15.10.05 angenommenen Verfassung stattfinden. Insofern war die Verfassungsfrage zentral: welcher Wahlmodus, welche Kammern, welche Form des Föderalismus sollte eingerichtet werden? Welche Rolle sollte die Religion im Rechtssystem spielen? Wie sollte die Geschlechterfrage und die Frage des gesellschaftlichen Eigentums gelöst werden? All dies musste geklärt werden. So wird von etlichen Seiten kritisiert, dass Minderheiten quasi ein Vetorecht in allen relevanten Fragen innehaben, wodurch sie Entscheidungen, Gesetze etc., die die Mehrheit betreffen, verhindern und somit eine Kontrollfunktion der Mehrheit gegenüber ausüben können. So wird der Präsidialrat mit Zweidrittelmehrheit und nicht wie üblich mit einfacher Mehrheit gewählt; der Rat hat ein Vetorecht in Bezug auf Gesetzentwürfe des Parlaments, dieses Veto kann nur mit Zweidrittelmehrheit im 16 Sabah Alnasseri Parlament überstimmt werden. Bedenkt man die ethnisch-religiöse Zusammensetzung der Räte (Präsidenten und Minister), so wird die Problematik deutlich. Somit wird der Fraktionierung und nicht der Einheit der Gesellschaft und des Staates Vorschub geleistet, d.h. ethnisch-religiöse und räumliche Markierungsgrenzen werden institutionell zementiert; und dies wirkt wiederum verschärfend auf die bestehenden Konflikte. Man könnte dagegen halten, dass durch diese Pluralisierung ein einmaliges Experiment eröffnet wird, an dessen Ende eine neue, multinational-multikulturelle Form der Staatlichkeit entstehen könnte, die ein historisches Ereignis, einen Bruch mit der bisherigen Entwicklung in diesem Raum darstellen würde. Doch weder das pessimistische noch das optimistische Szenario, so sehr diese die politische Denk- und Handlungsweise bestimmter Akteure beeinflussen mögen, sagen viel über die gegenwärtige Situation aus. Der Verfassungsentwurf ist einerseits ein Dokument, eine Artikulationsform widersprüchlicher und konflikthafter Interessen, Vorstellungen und Erwartungen diverser Akteure. Anderseits zeigt sich in ihm ein ungleichgewichtiges Kräfteverhältnis von strategischen Bündnissen und Allianzen, die fortan als Überwacher der Verfassung fungieren. Die Verfassungsfrage ist also nur vor dem Hintergrund der vergangenen Erfahrungen, die immer noch den Denkhorizont der Akteure bestimmen, und dem durch den Krieg, den Sturz des Regimes und die krisenhafte Situation eingeführten Bruch im Gefüge des Staates und dessen bisheriger Entwicklung zu begreifen. In diesem Sinne ist die neue „permanente“ Verfassung auch provisorisch. Es war nicht allein die Zeit, die zu knapp war, um alle Probleme lösen und einen tragfähigen Kompromiss finden zu können. Es sind die widersprüchlichen, politischen Projekte diverser Akteure, einschließlich der Besatzungsmächte, die einen tragfähigen und nachhaltig wirkenden Verfassungskompromiss erschwerten. Die am 15.10.2005 qua „Referendum“ angenommene, so genannte Verfassung – tatsächlich liest sie sich mehr wie ein Anti-TerrorBekenntnis – war ein Meisterstück der demokratischen Missachtung, denn diese Verfassung ist in rechtlich-formaler Hinsicht in dreierlei Weise nicht nur bedenklich, sondern illegitim: 1. Die von der so genannten provisorischen Verfassung vom März 2004 vorgeschriebene Frist für das Referendum, der 15.8.2005 wurde nicht eingehalten. 2. Der zur öffentlichen Debatte bis zum Referendum am 15.10.2005 vorgelegte Entwurf ist nicht der, der vor diesem Termin Governance im Zeitalter des Terrors 17 verabschiedet wurde. Im Entwurf wurden einige Veränderungen vorgenommen, die im ursprünglichen Text nicht enthalten waren. 3. Über diese Veränderungen am Text wurde im Parlament nicht abgestimmt, sondern sie wurden partikularistisch und klientelistisch dekretiert. Insofern ist die ganze Veranstaltung formal-rechtlich absurd. Politisch ist das natürlich höchst problematisch, denn immerhin geht es hier um grundsätzliche Fragen der Regierungs- und Staatsbildung, die die Zukunft des Landes und damit die gesamte Region betreffen. Außerdem ist der Text in einem patriarchalisch-theologischen Duktus verfasst, in dem „das andere Geschlecht“ historisch wie politisch abwesend ist. Die Konstruktion der islamischen Demokratie ist der Hauptwiderspruch, der den gesamten Text durchzieht und der für Konfliktstoff auf allen Ebenen und in unterschiedlichen Dimensionen 13 sorgt und sorgen wird (vgl. Alnasseri 2004). Wie die Verfassung des US-Verwalters Bremer (des Kalif von Bagdad, wie er im Irak genannt wird) ist auch die irakische Verfassung nur provisorisch, denn nach den Wahlen am 15.12.2005 wurde ein Ausschuss gebildet, der weitere Verfassungsänderungen erarbeiten soll. Über den neuen Entwurf soll dann erneut ein Referendum stattfinden. Der Übergang in Permanenz ist der politischen Situation also immanent. Des Kaisers alte Kleider! Regierungsfähigkeit konnten bislang weder der ehemalige Ministerpräsident Allawi, noch sein Nachfolger al-Jaafari und schon gar nicht der jetzige Ministerpräsident al-Maliki unter Beweis stellen. Je mehr die Regierung ihre Handlungs- und Ratlosigkeit demonstriert, desto heftiger wird der Widerstand, desto geringer werden ihre Machtstützpunkte in der von ihr geschaffenen politischen Gemeinschaft sein und desto schneller werden ihre Anhänger die Lager wechseln. Die wachsende Stärke und die zunehmende Wirksamkeit des Widerstandes, die offensichtliche Niederlage der Besatzung, die zweifelhafte Legitimität der Regierung und die Wirkungslosigkeit der gesetzgebenden Versammlung, die Proteste größerer Teile der Bevölkerung gegen die Besatzung, die drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen,. - unter diesen 13 Die neue Verfassung halt ausdrücklich fest, dass „the Supreme Federal Court will be also made up of judges and experts in Sharia (Islamic Law)“, und unter dem Artikel (101), „the offices of (religious) endowments are considered financially and administratively independent associations.“ 18 Sabah Alnasseri Bedingungen blühten die Gerüchte des Bürger- und Religionskrieges in den USA und im Irak. Das Resultat ist der zunehmende Gebrauch von Gewalt. Genau dies kennzeichnet die gegenwärtige Phase, mit Hunderttausenden von 14 Toten , Verletzten und Verstümmelten, der zunehmenden Migration und den Flüchtlingswellen. Über 2 Millionen Menschen haben den Irak in Richtung der Nachbarstaaten verlassen, und genau so viele wurden aufgrund des massiven Bombardements der Städte vertrieben bzw. zur Binnenmigration gezwungen. Inzwischen wurden im Irak mehr Bomben abgeworfen als im gesamten Vietnamkrieg. Das ist das Resultat von vier Jahren Befreiungsimperialismus. Was tun? Nicht einmal Ketten sind zu verlieren Es ist illusionär, an Veränderungen innerhalb des Rahmens dieser imperialen Institutionen zu denken. Welche Möglichkeiten der Veränderung und welche politischen Kräfte gibt es dennoch? 1. Wegen den Hunderttausenden von ermordeten Zivilisten, den Unzähligen, die in Abu Ghraib gefoltert wurden, haben sich Tausende von irakischen Opfern zusammen mit Hunderttausenden von arbeitslosen Armeemitgliedern dem Widerstand angeschlossen. Der Widerstand hat einen säkularen Charakter und nimmt verschiedene Formen (politisch, militärisch, ökonomisch, kulturell) an, vom bewaffnetem Kampf bis zu zivilem Ungehorsam, Streiks, Sabotage usw. Die Mehrheit der Protagonisten ist liberal (Mitglieder des alten Mittelstands, deren Existenz durch die neoliberale Wirtschaftspolitik zerstört wurde), Nationalisten, Panarabisten, 15 Sozialisten, Kommunisten, Leninisten und Trotzkisten. Die so 14 Nach einer Befragung der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health und Al Mustansiriya University in Bagdad kamen wahrscheinlich 654.965 Zivilisten zwischen März 2003 und Juli 2006 ums Leben (vgl. Burnham u.a. 2006, Horton 2007). 15 Die irakische kommunistische Partei (IKP) erfuhr seit den 1950er Jahren viele Fraktionierungen wegen politischen und strategischen Fehlern und problematischen Entscheidungen der Führung, so dass es heute mehrere einzelne Parteien und unabhängige Gruppen gibt. IKP (mit ihrer nahestehenden Gewerkschaft, IFTU), KP Kurdistan, irakische kommunistische Arbeiterpartei IWCP (trotzkistisch, steht den Arbeiterräten FWCUI nahe, der Gewerkschaft der Arbeitslosen UUI und der Frauen Organisation OWFI mit ihrem berühmten Mitglied Yanar Mohammed), IKPGeneralkommando, IKP-Kader, kommunistische Volksunion (Schwesterpartei der spanischen kommunistischen Partei), marxistische Guerillagruppen (Irakische marxistische Widerstandsgruppe). Außer der IKP und der KPK haben alle anderen Parteien, Organisationen und Gruppen eine Antibesatzungsposition. Als die Führung der IKP, wieder aus falscher Berechnung heraus, von Anfang an am Besatzungsregime aktiv teilnahm, wiederholte sie die alten politisch-strategischen Governance im Zeitalter des Terrors 19 genannten Gotteskämpfer (Jihadisten, Salafisten, Wahabbiten, Anhänger Bin-Ladens usw.) sind eine verschwindende Minderheit, deren Taten durch die Medien und Politik aufgebauscht werden. Den Widerstand als ein in erster Linie religiöses Ereignis darzustellen, nutzt vor allem der Regierung in ihrem Anspruch auf politische Macht. Zugleich dient das mittelalterliche Szenario auch den ideologischen Zwecken der Neocons in den USA, da sie ihren Krieg als einen clash of civilisations verkaufen können. Demgegenüber zu behaupten, dass der Widerstand säkularen Charakter hat, heißt nicht, dass alle Gruppen fortschrittlich wären und dass eine gegen die Besatzung gerichtete Einstellungen per se emanzipatorisch wäre oder dass die Widerstandsgruppen keine widersprüchlichen Projekte verfolgen würden. Es sollte aber deutlich werden, dass das Grundübel die Besatzung ist. Wegen der neuen Kriegssituation konnten die einzelnen Gruppen des Widerstandes keine gemeinsame Strategie entwickeln. Deswegen ist der Widerstand bis heute fraktioniert geblieben. Diese Schwäche hat verschiedene Gründe: kontinuierliche Verschiebungen der Kräfte innerhalb des Widerstands, die internen Konflikte um inkompatible Partikularinteressen und politische Projekte, die kriegsbedingten sozialstrukturellen Verwerfungen etc. Und nicht zuletzt kommen regionale und internationale Einmischungsversuche dazu. Andererseits erfordern ein dezentralisierter und fragmentierter politischer Raum, der veränderte Kontext von globaler, regionaler und lokaler politischer Praxis sowie die überholten Formen der nationalen Befreiungsbewegungen unterschiedliche Formen der Organisation und des Widerstandes. Folglich könnte das Fehlen einer zentralisierten und vereinheitlichten Führung genau die Stärke der Bewegung darstellen (vgl. zum irakischen Widerstand auch Watkins 2004). Die Frage ist nicht, wie man multiple politische Energien zentralisiert, sondern wie man sie in programmatischpolitische Fragen und Forderungen übersetzt. Vor allem ein bedingungsloses und sofortiges Ende der Besatzung muss die oberste Forderung sein. 2. Insbesondere im letzten Jahr, also genau zu der Zeit als behauptet wurde, ein Religionskrieg fände statt, gab es eine Zersplitterung innerhalb der Tribalkräfte zwischen denen, die hinter dem Regime Fehler der 50er, 60er und 70er Jahre. Aber diese Fehler sind momentan strukturell verständlich, da die Partei sozialdemokratisch geworden ist. Die Transformation ist in erster Linie durch die Verschiebung der früheren sozialen Basis der Partei von der Arbeiterklasse zu einem neuen Mittelstand verursacht. 20 Sabah Alnasseri stehen und denen, die eine breite und nicht exklusive Politik unterstützen. Diese Verschiebung ist entscheidend, da diese Kräfte 16 die ländliche Bevölkerung mobilisieren können. Diese Kräfte zu gewinnen, ist für die Legitimität eines breiten politischen Projektes unentbehrlich. 3. Obgleich Gewerkschaften und Arbeiterräte entlang den regionalen und politischen Linien fraktioniert waren, teils unvereinbare politische Strategien verfolgten - vor allem hinsichtlich der Besatzung und der Privatisierung - und unterschiedliche Formen der Organisation aufwiesen (demokratisch und autonom vs. hierarchisch und paternalistisch), und obgleich diese Unterschiede die Formierung von politischen Bündnissen gefährdeten, zeichnete sich dennoch eine positive Verschiebung im Januar 2006 (gemeinsame Ablehnung neoliberaler Strukturanpassungsmaßnahmen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds) und bei der gemeinsamen Ablehnung des Entwurfs des Öl- und Gasgesetzes im Dezember 17 2006 ab. Dies deutet auf ein neues politisches Denken hin und auf die Möglichkeit, parteiübergreifend zusammenzuarbeiten. 4. Trotz der schlechten Situation der Frauen erzielten die wenigen kämpferischen Versuche zu Verbesserungen dennoch einen 16 Bevor der ehemalige US-Verwalter Bremer im Juni 2004 den Irak verließ, vergaß er nicht, noch ganz schnell Einhundert neoliberale Dekrete zu erlassen. Nach dem Dekret Nr. 81 „Patent, Industrial Design, Undisclosed Information, Integrated Circuits and Plant Variety“ sind die Jahrtausende lang praktizierte, kollektive Kultivierung der Landwirtschaft und das angeeignete Wissen illegal. Saatgut gehört nicht mehr den irakischen Bauern, sondern ist jetzt Privateigentum der Multis. „The new law is presented as being necessary to ensure the supply of good quality seeds in Iraq and to facilitate Iraq’s accession to the World Trade Organization (WTO). What it will actually do is facilitate the penetration of Iraqi agriculture by the likes of Monsanto, Syngenta, Bayer, and Dow Chemical - the corporate giants that control seed trade across the globe.” Die Horrorgeschichte geht weiter, weil das „new patent law also explicitly promotes the commercialization of genetically modified (GM) seeds in Iraq” (Foreign Policy in Focus, Iraq’s New Patent Law: A Declaration of War against Farmers, November 2004, http://www.fpif.org/papers/0411grain.html; siehe auch Stone 2006). 17 Im Januar 2006 bezogen die irakischen Gewerkschaften - General Federation of Iraqi Workers, Oil Unions Federation in Iraq (Basra), Federation of Workers Councils and Unions in Iraq, Kurdistan General Workers Syndicate Union (Erbil), Iraqi Kurdistan Workers Syndicate Union - gemeinsam Stellung gegen das für den Irak vorgesehene Anpassungsprogramm der Weltbank und des internationalen Währungsfonds. Im Dezember 2005, kurz vor den Wahlen, hatte die damalige al-Jaafri Regierung ein so genanntes „stand-by arrangement“ mit dem IWF unterzeichnet, wonach u. a. die öffentliche Subventionen für das Öl abgebaut werden sollten. Danach stiegen die Ölpreise und mit ihnen alle anderen Preise astronomisch. Inflation und weitere Verschlechterung der Lebensbedingungen der Bevölkerung waren die Folgen (siehe Leys 2006; Rothschild 2006). Governance im Zeitalter des Terrors 21 beträchtlichen Erfolg (1/4 der Parlamentsitze wurden für die Frauen 18 reserviert). 5. Die andauernde Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der Staatsapparate, insbesondere innerhalb des Parlaments, kann freie Räume schaffen, die für politische Manöver ausgenutzt werden könnten, wenn sie gleichzeitig durch politische Kräfte außerhalb dieser Apparate unterstützt werden. Außer ideologischen Slogans wie Demokratie, Menschenrechte etc. sind aber bisher keine konkreten programmatischen Forderungen erarbeitet und artikuliert worden, weder durch außerparlamentarische Kräfte noch durch die selbst ernannten Repräsentanten des Volkes. Es ist für ein alternatives politisches Projekt entscheidend, dass Forderungen hinsichtlich der materiellen Bedürfnisse der Subalternen nicht nur konkret entwickelt, sondern vor allem durchgesetzt werden (z.B. durch Fabrikbesetzungen), anstatt permanent nur auf die Politik der Exekutive zu reagieren. In diesem Sinne wären konkrete Forderungen im Hinblick auf die Ölfrage zu stellen: die Institutionalisierung von „assoziativen Besitzanteilen“, die allgemein und nicht ethnisch oder regional beschränkt sind und die zu gesellschaftlichen Rechtsansprüchen führen sollten: Recht auf würdige Arbeit, auf kostenlose Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung etc. Dies wäre der beste Garant gegen autoritäre, paternalistisch-klientelistische Formen der Abhängigkeit und gegen selektive Kohabitation, die verheerende Auswirkungen haben: Nepotismus, Korruption, intensive Ausbeutung und ungerechte Verteilung. Das Öl wie das Land gehört allen. In diesem Sinne müssten auch geschlechtsspezifische Fragen der Arbeit, des Einkommens und der sozialen Sicherung politische Priorität haben. Ohne eine breite demokratische Partizipation an Entscheidungsfindungsprozessen kann es keine gerechte Entwicklung geben. Eine stabile und nachhaltige demokratische Entwicklung ist im peripheren Kontext ohne demokratische Ökonomie aber ein Ding der Unmöglichkeit. Damit sind einige der realisierbaren Forderungen genannt, die der Politisierung und der freien Initiative der unterdrückten Mehrheit im Irak einen Schub geben könnten. Doch den weiteren Verlauf und den Ausgang der Entwicklung bestimmen die Menschen im Irak selbst. Ein Leben in Würde kann es nur geben, sobald sie aus ihrer 18 Zur gegenwärtigen Lage der Frauen im Irak vgl. http://www.peacewomen.org/news/Iraq/ news.html; Act Together. Women action for Iraq, http://www.acttogether.org/codepink.htm. 22 Sabah Alnasseri Passivität ausbrechen und kollektiv der Barbarei ein Ende setzen. Literatur Alnasseri, Sabah (2004): Die Konstruktion „islamische Demokratie“ und der mögliche Übergang zu einer post-islamitischen Situation, in: ders. (Hg.), Politik jenseits der Kreuzzüge, Münster, S. 198-218. Alnasseri, Sabah (2008): Understanding Iraq, in: The Socialist Register: Global Flashpoints: Reactions to Imperialism and Neoliberalism (im Erscheinen). Batatu, Hanna (1978): The Old Social Classes & the Revolutionary Movement in Iraq, Princeton. Burnham, G.; Lafta, R.; Doocy, S.; Robert, L. (2006): Mortality after the 2003 invasion of Iraq: a cross-sectional cluster sample survey, in: The Lancet, 11.10.2006. Cordesman, Anthony H. (2005): New Patterns in the Iraqi Insurgency: The War for a Civil War in Iraq. Center for Strategic and International Studies, Washington, DC, 27.9.2005. Fanon, Frantz (1966): Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main. Fuller, Graham E. (2003): Islamist Politics in Iraq after Saddam Hussein, in: United States Institute of Peace, Report Nr. 108, August 2003, http://www.usip.org/pubs/specialreports/sr108.html. Hadar, Leon (2005): Sandstorm. Policy Failure in the Middle East. Houndmills. Horton, Richard (2007): A monstrous war crime, in: The Guardian, 28.3.2007. Jabar, Faleh A. (2004): Postconflict Iraq, in: United States Institute of Peace, Report N. 120, Mai 2004, http://www.usip.org/pubs/specialreports/sr120.pdf. Juhasz, Antonia; Jarrar, Raed (2007): Oil Grab in Iraq. Foreign Policy in Focus, 22.2.2007, http://www.fpif.org/fpiftxt/4020. Leys, Jeff (2006): Economic Warfare: Iraq and the I.M.F., 19.9.2006, http://www.commondreams.org/views06/0919-30.htm. Mahdi, Kamil (2007): Iraqis Will Never Accept this Sellout to the Oil Corporations. In: The Guardian, 16.1.2007. Rothschild, Matthew (2006): IMF Occupies Iraq, Riots Follow, 3.1.2006, http://progressive.org/mag_wx010306. Simon, Steven N. (2007): After the Surge. The case of U.S. Military disengagement from Iraq. Council on Foreign Relations, Council Special Report Nr. 23, Februar 2007. Sen, Basav/Chu, Hope (2005): Operation Corporate Freedom: The IMF and the World Bank in Iraq, Global Policy Forum, September 2005, http://www.globalpolicy.org/security/issues/ iraq/reconstruct/2005/09corporatefreedom.htm Stone, Daniel (2006): The Assault on Iraqi Agriculture - US Agribusiness Targets the Fertile Crescent, August 2006, http://www.globalpolicy.org/security/issues/iraq/attack/consequences/ 2006/08agriculture.htm. Watkins, Susan (2004): Vichy on the Tigris. In: New Left Review 28, Juli-August 2004. Wright, Ann (2007): What Congress Really Approved, Benchmark No. 1: 'Privatizing Iraq's Oil for US Companies', 26 May 2007, http://www.truthout.org/docs_2006/052607Z.shtml.