Irak

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Sabah Alnasseri
__________
Governance im Zeitalter des Terrors: Der Fall Irak
„This is not a war on terror, this is a war of terror“
1
Wie schon nach dem zweiten Golfkrieg im Jahre 1991 sind im Irak
seit Beginn des Krieges 2003 unterschiedliche Gruppen, Parteien
und Organisationen aktiv geworden. Alte, längst für tot erklärte Kräfte
wurden reaktiviert. Kräfte, die unterschiedliche politische Projekte
artikulierten und miteinander konkurrierten, Allianzen und
Zweckbündnisse eingingen und Kapital aus der umkämpften
Situation schlagen wollten. Damals wie heute verwandelte sich die
anfängliche Euphorie über den Neubeginn schnell in herbe
Enttäuschung.
Die Anwesenheit von Besatzungstruppen, von internationalen
Institutionen und die Vielfalt der politischen Kräfte im Irak haben zur
politischen, territorialen und sozio-ökonomischen Fragmentierung
des Landes geführt. Die politischen Kräfte im Irak haben generell
wenig oder gar keine Erfahrung mit Regierungsverantwortung und
dem Umgang mit politischen Institutionen. Meist haben sie ein sehr
enges, instrumentelles Staatsverständnis und bleiben deshalb
zersplittert. Die wirksamsten dieser Kräfte verfügen in der so
genannten Zivilgesellschaft über diverse Machtnetzwerke (tribale,
konfessionelle, kommunale, familiale etc.), sowie über Milizen und
paramilitärische Einheiten (Jabar 2004).
Manche dieser Akteure waren früher privilegierte Nutznießer des
Saddam-Regimes (die Nationalisten um Allawi), profitierten vom
Arrangement mit dem Regime (Barazani und Talabani) und/oder
repräsentieren reiche und mächtige Familien in der irakischen
Gesellschaft. Jede dieser Gruppen beansprucht heute die alleinige
Vertretung von Teilen der irakischen Bevölkerung bzw. erhebt
Ansprüche auf einen Teil des Staatsapparates. Der Staat seinerseits
1
Dahlia Wasfis, Tochter einer jüdischen Mutter und eines irakischen Vaters aus
Basra, über die Besatzung des Irak. Sie beschrieb am 27. April 2006 in
Washington, DC, ihren Besuch bei ihrer Familie in Basra und das tägliche Leben
der
Iraker
unter
der
Besatzung
(Rede
beim
Irak
Forum,
http://www.youtube.com/watch?v=ELjgVq6GtPA&mode=related&search=).
PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 148, 37. Jg., 2007, Nr. 3, ////
2
Sabah Alnasseri
verkümmert zu einer Beute partikularer Interessen. Der permanente
Bewegungskrieg schafft die Existenzbedingungen für diesen neuen
Staat.
Sicherheitspolitik bedeutet im Irak Bewegungsfreiheit für das Kapital
und die totale Kontrolle der Menschen: Polizei- und Militärkontrollen,
Gefängnisse, Internierungslager, Checkpoints, Straßensperren,
Stacheldraht,
Ausgangsverbote,
kollektive
Verdächtigungen,
Verhaftungen etc. Diese Sicherheitspolitik findet jedoch abseits
staatlicher Kontrolle in zunehmend privatisierter Form statt. Neben
dem
Einsatz
von
Besatzungstruppen
wird
auf
private
Sicherheitsunternehmen,
lokale
wie
regionale
Milizen
zurückgegriffen, um die subalternen Klassen vor allem in den
städtischen Zentren zu disziplinieren. Die Milizen werden auch gegen
politisch
unangenehme
Konkurrenten,
Gewerkschafter,
Menschenrechtsaktivisten und kritische Journalisten eingesetzt, sowie
um wichtige Naturressourcen und Handels- bzw. Logistikrouten
abzusichern. Gangster, Banditen und paramilitärische Gruppen
wurden durch die regierenden Parteien organisiert; politische
Bündnisse wurden mit tribalistischen Kräften geschmiedet. Sie
sichern die Dominanz der neuen, herrschenden Klassen.
Die Situation in kulturellen oder ethnologischen Kategorien
2
darzustellen, ist nicht besonders aufklärend. Protestantisch oder
Katholisch sein etc., das sagt nicht viel aus über politische
Haltungen, Beweggründe und Praxen, geschweige über die
staatliche Politik. Sobald Protagonisten innerhalb der Staatsapparate
agieren, legen sie ihren ethnischen oder frommen Schleier ab, wenn
sie politisch überleben und ihre Macht unter den institutionellen
Zwängen, der Selektivität und der internen Dynamik des Staates
zementieren möchten. Andernfalls müssen sie ihren eigenen Staat
durch einen revolutionären Akt schaffen.
Das Debakel der gegenwärtigen Junta im Irak ist, dass sie zu einer
revolutionären Tat nicht fähig war und dennoch eine politische
Katharsis durch einen imperialen Krieg erfuhr. Sie war jedoch nicht
imstande, einen neuen Staat zu schaffen. Durch die Vermischung
von politischer und Zivilgesellschaft wurde sie machtlos.
Die gegenwärtige Dreieckskonstellation in der Regierung –
Patriotische Union Kurdistans (PUK), Demokratische Partei
2
Zur Abwechslung wird dieser Artikel ohne die ethnischen oder religiösen
Gemeinplätze auskommen, die affirmative wie kritische Darstellungen der
gegenwärtigen Lage im Irak gewöhnlich kennzeichnen. Ich werde nur wenn nötig
von diesen Zuschreibungen Gebrauch machen, und zwar in einem
ideologiekritischen Sinne.
Governance im Zeitalter des Terrors
3
Kurdistans (DPK) und die Allianz von al-Dawa, des Hohen Rats der
islamischen Revolution im Irak (SCIRI), der neoliberalen Chalabi u.a.
– bildet ein verhängnisvolles Gleichgewicht von unzähligen
Partikularinteressen, auch mit der und durch die Besatzung. So bleibt
es dabei: Das Sicherheitsthema, präziser, die Verunsicherung und
Terrorisierung der Bevölkerung ist die Trumpfkarte in den
kommenden turbulenten Zeiten der Übergangsphase bis zur
nächsten Wahl – oder vielleicht bis zu einem internen Putsch! Die
jetzige al-Maliki Regierung steht wegen ihr Führungsschwäche, der
maßlosen Korruption und der zunehmenden gesetzlichen wie
gesetzlosen Gewalt der Milizen unter enormem Druck, so dass sich
neue Fronten unter säkularen wie religiösen Parteien und
unabhängigen Kräften im Parlament bilden, die darauf hinarbeiten,
die Regierung zu stürzen bzw. umzubilden.
Was steht also im Irak auf dem Spiel? Zuerst haben wir eine
Besatzung, imperiale Truppen, private Söldner, öffentlich-private
Milizen, die ohne jegliche Einschränkungen agieren. Zweitens haben
wir ein „provinzielles“ (an einzelnen Provinzen orientiertes) politisches
Regime,
das
auf
klientelistischen
Netzen,
nicht
auf
Staatsbürgerschaft und nationalem Konsens beruht. Drittens gibt es
eine Regierung, deren Legitimität trotz oder wegen der Wahlen und
der Verfassung fraglich ist. Viertens haben wir seit März 2003 eine
Kriegssituation mit einem unvergleichlichen Ausmaß an sozialer,
ökonomischer, menschlicher, ökologischer und institutioneller
Zerstörung, ein Krieg nicht gegen die ehemalige regierende Clique,
sondern gegen das Land als solches. Die Opfer dieses Klassen- und
Geschlechtsterrors sind hauptsächlich Frauen, Lohnarbeiter,
Arbeitslose, Bauern, Slumbewohner, Heimatlose etc. Einerlei wer
hinter diesem Terror steckt, seien es imperiale Truppen, Söldner,
Milizen, kriminelle Gruppen, Widerstandsgruppen, Auftragskiller etc.,
die Opfer finden sich in allen Segmenten der irakischen Gesellschaft.
Einer Autobombe, einem Selbstmordattentäter, einem ApacheFlugkörper, einem IED (improvised explosive device), Napalm oder
Streubomben sind ihre Opfer gleich. Aber dies ist die Situation unter
jeder Besatzung, unter der früheren kolonialen wie unter der heutigen
imperialen.
Mittels der Kriegsökonomie und der Propaganda des „Religions“oder „Bürgerkriegs“ versuchen die herrschenden und regierenden
Gruppen, an ihre jeweiligen Anhänger zu appellieren und diese hinter
ihre Politik zu scharen. Doch tatsächlich lässt sich der Krieg im Irak
weder als Religions- noch als Bürgerkrieg begreifen. Indem sie das
Gegenteil behaupten, suggerieren die Besatzer, die Spirale der
4
Sabah Alnasseri
Gewalt sei hausgemacht und die Verantwortung für den Krieg trügen
seine Opfer. Was es allerdings gibt, sind Konflikte zwischen den
intern
zerstrittenen
regierenden
Gruppen
und
ihren
außerparlamentarischen Widersachern. Während des Krieges haben
die regierenden Eliten die Staatsapparate jeweils mit eigenen Kräften
besetzt und versucht, sich der gegnerischen Kräfte zu entledigen. Die
These vom Bürgerkrieg wird gleichermaßen von den regierenden
Eliten und den Liberalen in den USA propagiert: Die irakische
Regierung versucht dadurch, die Besatzung und die Anwesenheit
von immer mehr ausländischen Truppen im Land zu legitimieren.
Denn auf der Anwesenheit dieser Kräfte basiert die Machtstellung
dieser Eliten. Die amerikanischen Demokraten und deren liberale
think tanks hoffen auf deren Konsolidierung und bereiten sich für eine
3
Exit-Option vor.
Wenn wir nun zwischen realer Politik und ihrer Darstellung
unterscheiden, dann ist die entscheidende Frage, wer warum was
wie tut. Eine politisch-strategische Analyse der Situation hilft uns,
diese Frage zu beantworten und liefert genügend Argumente, um die
strategische Frage des ‘Was tun?’ anzupacken. Die ethnokonfessionelle Mystifizierung des Konflikts zielt auf die Verdrängung
dieser Frage, was ein fatalistisches Ohnmachtsgefühl hervorruft, das
eine notwendige Bedingung der Zementierung des gegenwärtigen
barbarischen Status Quo darstellt.
Altes Öl, neue Rohre
Ein Schlaglicht auf die komplexe Problemlage wirft der Entwurf für
4
ein neues „Öl- und Gasgesetz, der vom irakischen Kabinett
3
4
Leon Hadar vom Cato Institut entwickelte 2005 das Konzept eines „konstruktiven
disengagement“. Steven N. Simon fabrizierte 2007 eine faule Synthese aus
diesem Konzept und den Vorschlägen des Baker-Hamilton-Reports vom Oktober
2006. Der Bürger- und Religionskrieg ist auch das Thema der meisten Artikel von
Anthony H. Cordesman (Centre for Strategic & International Studies) seit 2006.
Seine Artikel in den Jahren davor beschäftigten sich hauptsächlich mit
militärischen und institutionellen Fragen im Irak, mit Ausnahme eines Artikels im
September 2005 („New Pattern in the Iraqi insurgency: The war for a civil war in
Iraq“), in welchem er vom „Neo-Salafi-Extremismus“ spricht. Dabei bezieht er sich
auf Außenseiter, deren Wirksamkeit weder er noch die Experten, die er zitiert,
einschätzen können, und die doch hinter dem vermeintlichen Bürgerkrieg stecken
sollen. Es scheint, als ob die liberalen Intellektuellen eine Exit-Strategie für die
Demokraten nach 2008 vorbereiten - der Zeithorizont für das anvisierte
„disengagement“ stimmt mit der Zeit der Wahlen im nächsten Jahr in den USA
überein.
Bevor der Gesetzentwurf dem Parlament vorgelegt wurde, hatten nur einige
privilegierte Mitglieder eine Kopie erhalten. Es war riskant, sich Zugang zu dem
Gesetzentwurf zu verschaffen und ihn zu veröffentlichen. Der irakische Blogger
Governance im Zeitalter des Terrors
5
angenommen wurde. Das Parlament sollte ursprünglich bis zum 31.
Mai über diesen Entwurf abstimmen, inzwischen ist diese Frist
5
verlängert worden. Falls dieses Gesetz nicht angenommen werden
sollte, kann es trotz der Ablehnung des Parlaments vom Kabinett in
6
Kraft gesetzt werden. Aufgrund des massiven Widerstands
insbesondere seitens der Gewerkschaften und Arbeiterräte gegen
das so genannte PSA (Production Sharing Agreement) und gegen
die hohen Profite der multinationalen Konzerne und die
Vertragslaufzeiten wurde der Titel im neuen Entwurf zu „Wohlstand
und Produktion“ geändert. Das Skandalöse an diesem Gesetz ist
unter anderem die Schaffung eines „Bundesrates für Öl und Gas“
und eines „unabhängigen Beraterbüros“, die von Irakern und
internationalen Experten besetzt werden sollen. Im neuen
Gesetzentwurf sind keine Angaben mehr zu den Einnahmen oder
prozentualen Anteilen der multinationalen Konzerne vorhanden, wie
es noch im ersten Entwurf anvisiert war, wohl aber, dass die
Vertragslaufzeit bis zu 30 Jahren betragen kann. Dieses Gesetz zu
genehmigen würde bedeuten, dass das Parlament einen politischen
Selbstmord begeht, indem es die wichtigsten Kompetenzen für
Geschäfte mit dem irakischen Öl auf den „Bundesrat für Öl und Gas“
5
6
Raed Jarar war er erste, der den Entwurf veröffentlichte und ins Englische
übersetzte (http://raedinthemiddle.blogspot.com/). Zur Frage des Öls vgl.
Juhasz/Jarrar (2007), Mahdi (2007); zum globalen Widerstand vgl.
http://www.handsoffiraqioil.org/ und http://www.iraqoillaw.com/.
Am 24. Mai 2007 stimmte der US-Kongress mit den Stimmen von Demokraten
und Republikanern für ein Gesetz 'Support the Troops' und bewilligte 12 Milliarden
Dollar dafür. Dabei wurden jedoch die Gelder für den Wiederaufbau des Irak an
die Privatisierung des irakischen Öls geknüpft. Wenn sich das irakische
Parlament weigert, die Privatisierungsgesetze anzunehmen, verweigert der
Kongress diese Gelder, die den Irakern für den Wiederaufbau von dem
versprochen wurden, was die Besatzer zerstört haben (Wright 2007). Das
Privatisierungsgesetz wurde von Beratern amerikanischer Ölgesellschaften
geschrieben, die von der Regierung Bush eingestellt wurden. Dieses Gesetz
würde dem Irak die Kontrolle über nur 17 der 80 bekannten Ölfelder überlassen.
Die Verschuldung des gestürzten Regimes wurde von unterschiedlichen
internationalen Akteuren und Institutionen (vor allem dem Pariser Club) als ein
Instrument benutzt, um die politisch-ökonomische und institutionelle
Restrukturierung
(Privatisierung,
Deregulierung,
Absicherung
der
Verwertungsbedingungen des internationalen Kapitals) des Iraks zu forcieren (vgl.
http://www.jubileeiraq.org/blog/, Leys 2006, Sen/Chu 2005). Nach der neuen
Verfassung, in der alle ehemaligen verfassungsmäßigen sozialen Rechte
gestrichen wurden, wird die Zentralbank als eine „independent association“
(Artikel 101) charakterisiert, genauso wie die Medien etc. Die Transformation
dieses Staatsapparates von einer nationalen zu einer „unabhängigen“ Institution
stellt ein Moment der Internationalisierung des Staates dar, da die Prioritäten der
Bank nicht mehr nationale sind, sondern sie forciert nunmehr eine internationale
Agenda, die von Akteuren wie der Weltbank, dem IWF, der WTO, dem Pariser
Club usw. bestimmt wird.
6
Sabah Alnasseri
und das „Expertenbüro“ überträgt. Der Rat könnte ohne Zustimmung
des Parlaments Vereinbarungen genehmigen und Verträge auf der
Basis der PSA abschließen, die sich auf noch zu erschließende
Ölfelder beziehen. Und da das Gesetz bewusst den Öl
produzierenden Regionen mehr juristisches Gewicht bei der
Vertragsvergabe einräumt als der Zentralregierung – diese ist
7
ohnehin zusammengesetzt aus Kräften , die aus den jeweiligen
Ölregionen stammen – zerfällt der Irak weiter, was ich vor dem Krieg
8
als Kantonisierung bezeichnet habe (vgl. Alnasseri in links-netz.de).
Politogramm des Irak
Gegenwärtig sind die wichtigsten politischen Akteure im Irak
Abkömmlinge von mächtigen Familien aus den alten herrschenden
Klassen des Landes (Batatu 1978), die seit der osmanischen Ära bis
zum Fall der Monarchie 1958 regierten (al-Hakim, Barzani,
Chaderchi, Chalabi, Khöi, Pachachi, Sadr, Shirazi, Rubaai, al-Saadun
u.a.). Dabei handelt es sich hauptsächlich um Familienclans, die dem
feudalen, vorrepublikanischen Regime ihren sozialen, ökonomischen
und/oder politischen Aufstieg verdankten (Alnasseri 2008) und heute
ihr Comeback feiern. In aktuellen politischen Bündnissen zählen
deshalb Claninteressen häufig mehr als – wie auch immer
konstruierte – religiöse oder ethnische Identitäten. Diese
Klassenpolitik nimmt jedoch die Form nationaler, ethnischer,
kultureller und/oder konfessioneller Identitätspolitik an.
7
8
Schiit, Sunnit, Kurde, Araber etc. sind keine politischen Kategorien, es sind
vielmehr ideologische (Selbst-) Zuschreibungen. Weder entspringen politische
Praxen aus Versatzstücken ethnischer oder religiöser Ideologie, noch sind jene
motiviert durch letztere, sondern sie liegen in erster Linie in Macht- und
Klassenverhältnissen begründet. Alle drei Ölminister, die nominell Schiiten sind,
führten neoliberale Dekrete und Gesetze ein, nicht wegen ihrer schiitischen
Identität, wegen der Interessen ihrer Gemeinschaft oder Region, sondern im
Interesse einer Klassenfraktion von Privateigentümern, die durch die
Umstrukturierung von Eigentumsverhältnissen durch denselben Staat geschaffen
wurde. Dies gilt mutatis mutandis auch für anderen Gruppen wie die Kurden. Dies
ist nur möglich durch die Unterdrückung der subalternen Klassen, wodurch nicht
nur die sozialen Basen von gegnerischen Kräften zerstört wurden, sondern in
erster Linie eine soziale Basis des jetzigen Regimes geschaffen werden sollte.
Gegenwärtig werden angeblich aus „Sicherheitsgründen“ hohe und lange
Betonmauern in Bagdad nach dem Muster anderer Städte (wie Falludscha)
gebaut, die die Bewohner der Stadtviertel ein- und ausschließen. Das ganze Land
verwandelt sich so in eine Gefängnislandschaft. Durch die Einmauerung werden
die Menschen effektiver kontrolliert und in ihrer Bewegungs- und
Versammlungsfreiheit erheblich eingeschränkt. Einen klareren Beweis für das
Debakel der Besatzung und der jetzigen al-Maliki Regierung kann es kaum
geben.
Governance im Zeitalter des Terrors
7
Ein
anderer,
nationalistisch
orientierter
Typ
politischer
Führungsgruppen entstammt der alten Mittelschicht (Technokraten,
Akademiker, Bürokraten etc.), die ihren sozialen und politischen
Aufstieg dem Saddam-Regime verdankte. In den 1970ern und frühen
1980ern genoss diese Schicht einen beträchtlichen Wohlstand,
hohen sozialen Status und verschiedene Privilegien. Die Kriege und
Sanktionen in den 1980ern und 1990ern trugen zu einer drastischen
Verarmung dieser Schicht bei. Vor allem die ehemaligen Baathisten
haben gute Kontakte und Verbindungen zum aufgelösten
Sicherheitspersonal, zu den Resten der Baath-Partei in Syrien und zu
anderen säkularen Kräften wie Kommunisten, Panarabisten,
Liberalen etc.
Eine dritte Kategorie, die neue Mittelschicht, bilden die Embargo- und
Kriegsgewinnler, vor allem unter den irakischen Migranten, die von
dem Zusammenbruch der Ökonomie während der Embargojahre und
nach 2003 profitiert und sich enormes Kapital in unterschiedlichen
Formen angeeignet haben.
Des weiteren gibt es noch die regionalen Stammesmächte, die
ebenfalls bereits unter dem gestürzten Regime aufgestiegen waren.
Die Tribalisierung des politischen Feldes wurde mit der Einführung
der „Büros der Stammesoberhäupter“ und der Erforschung der so
genannten Stammesgenealogien durch Saddam Hussein verstärkt,
um dem Regime verbündete Tribalkräfte zu fördern und seine
Opponenten oder potentielle Rivalen zu isolieren.
Zu diesen Kräften kommen schließlich noch die neoliberalen
Internationalisten hinzu: multinationale Konzerne, Experten,
Techniker, politische und Militärberater, Manager etc., die in die
Formierung des inneren Gleichgewichts konstitutiv eingingen und die
nach dem jetzigen Stand der Kräfteverhältnisse eine dominante
9
Position innehaben.
Die Geostrategie der „Provinzialisten“
Die schiitischen religiösen Institutionen verloren ihren dominierenden
Status in den Gemeinden seit den 1950er Jahren. Die Anzahl der
religiösen Gelehrten in den schiitischen Institutionen ging von über
Zehntausend am Anfang des 20. Jahrhunderts bis auf wenige
Hundert in den 1970er Jahren zurück. Durch Bodenreformen,
9
Mit über 2000 Angestellten ist die US-Botschaft in Bagdad die größte der Welt.
Sie gleicht einer Festung innerhalb der so genannten Grünen Zone. Die irakische
Regierung und ihre Institutionen sind mit amerikanischen Experten und Beratern
durchdrungen.
8
Sabah Alnasseri
Binnenwanderung und Emigration der Bauern und die Konfiskation
des Eigentums der schiitischen Institutionen durch den Staat wurden
diese Institutionen, ihre Geistlichen und angegliederte Familienclans
an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die gewalttätige Reaktion
der al-Dawa Partei Ende der 1970er Jahre war dadurch verursacht,
dass die Mehrheit der Schiiten sich in den säkularen Parteien
engagierten, die ihnen Wohlstand und Zukunftsperspektiven
anboten. Das Hauptgewicht der religiösen Institutionen lag nun
außerhalb des Landes, und dort wurden auch reiche Institutionen wie
die al-Khoei Stiftung und die al-Sistani Stiftung gegründet.
In den 1990er Jahren rehabilitierte Saddam Hussein die sunnitischen
und schiitischen Institutionen, um mehr Legitimität nach dem
faktischen Niedergang der Baath Partei zu gewinnen. Mohammed
Sadiq al-Sadr wurde als ein arabischer Geistlicher institutionell,
öffentlich und finanziell gestützt, um dem Einfluss des iranischen
Klerus entgegen zu treten. Die schiitischen Institutionen wurden jetzt
von einem internen Familienclan dominiert, der gegen andere Clans
und dem mit ihnen verwandten Klerus außerhalb des Iraks stand.
Um die Machtverhältnisse noch ungünstiger für seine Opponenten zu
machen, stellte al-Sadr eine Fatwa (ein religiöses Urteil) aus, wonach
wohlhabende Schiiten ihre Khums (eine religiöse Steuer, 1/5 des
Einkommens oder des Gewinnes) direkt an die Armen und nicht wie
zuvor an die religiösen Institutionen zahlen sollten. Dadurch wurde
die ökonomische Stellung der Institutionen weiter geschwächt und
mit ihr die politische und kulturelle Autonomie dieser Institutionen.
Dies machte al-Sadr nicht nur bei den Massen beliebt; es stellte nicht
nur eine Bedrohung für das Saddam-Regime dar, sondern bedrohte
vor allem die Machtstellung seiner Opponenten innerhalb und
außerhalb der schiitischen Institutionen und Gemeinden, so dass das
Attentat, dem al-Sadr und zwei seiner Söhne im Jahr 1999 zum
Opfer fielen, gleichermaßen von Saddam oder von schiitischen Clans
verübt worden sein könnte.
Jene Clans und Teile des Klerus, die sich außerhalb des Iraks
befanden, wurden im Lande selbst marginalisiert. Es war kein
Wunder, dass al-Sadrs Widersacher zum ersten Mal in den 1990ern
bereit waren, eine Front gegen Saddam zusammen mit anderen
alten Feinden wie Kommunisten und rivalisierenden Baathisten zu
bilden. Das ist der Hintergrund der ehemaligen irakischen ExilOpposition, die jetzt regiert.
Die entfesselten schiitischen Parteien und die zugehörige
Identitätspolitik könnten, so die neokonservativen Erwartungen der
Bush-Administration, eine weitreichende geopolitische und kulturelle
Governance im Zeitalter des Terrors
9
Wirkung über den Irak hinaus entfalten – und somit eine mächtige
Konkurrenz sowohl zu der prominenten iranischen Doktrin des
Wilayat al-Fagih (der Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten) als
auch zur sunnitisch-wahabitischen Orientierung auf Saudi-Arabien
aufbauen. Najaf und Kerbela könnten, so die Erwartungen des
schiitischen Klerus und der schiitischen Institutionen, als
Pilgerwallfahrtstädte für Millionen Schiiten weltweit fungieren, was
einen enormen ökonomischen Aufschwung für die schiitischen
Institutionen und deren Klientel in Handel, Dienstleistung, Industrie
und Handwerk bedeuten und die politisch-kulturelle Stellung des
irakischen Klerus stärken würde.
Die gezielte Aufwertung der irakisch-schiitischen Kultur durch eine
Interessenidentität zwischen den Besatzungsmächten und den
regierenden schiitischen Parteien ist geopolitisch auch ein Affront
gegen nationalistische, sozialistische und panarabische Kräfte, da
diese stets mit den Sunniten assoziiert werden. Die innovativen
diskursiven Konstruktionen „Schiit“ und „Sunnit“ sind dabei nichts
anders als ideologische Versatzstücke für „Provinzialist“ und
„Nationalist“. Die Innovation beruht freilich auf der Kulturalisierung
von Politik und der Produktion ethno-identitärer Gemeinplätze.
Das Problem ist hier, dass den Regierenden, die auf einem
imperialen trojanischen Pferd an die Macht kamen, aufgrund des
selbst zugeschriebenen, ethnisch-konfessionellen Charakters
(kurdisch, schiitisch) die Legitimität eines national-repräsentativen
Körpers fehlt. Indem der Konflikt mit dem gestürzten Regime post
factum als ethnisch-konfessionell und nicht als ein nationaler,
politischer Konflikt präsentiert wird – die Opfer des Saddam-Regimes
als ausschließlich ethnische und konfessionelle Gruppen – erheben
die Regierenden einen exklusiven Anspruch auf ‚ihren’ Staat. Dabei
wird z.B. mit dem Etikett „Schiit“ eine Identitätspolitik betrieben, die
religiös inszeniert wird. Religion bzw. Konfession erscheinen als die
einzige politische Form der Organisation von Herrschaft und
Interessenvertretung. Dabei nehmen die religiösen Institutionen, der
Klerus und die klerikalen Gruppen, und darin wiederum vor allem die
höchsten Würdenträger aus den herrschenden und mit einander
konkurrierenden Familienclans wie al-Hakim und al-Sadr eine
zentrale Stellung ein. Schiit wird nicht wie in der Vergangenheit als
eine konfessionelle, sondern als eine politische Kategorie gesetzt.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtig offen umkämpften Situation
und bedingt durch die wachsende Konkurrenz schiitisch-politischer
10
Sabah Alnasseri
10
Gruppen
haben sich die religiösen Institutionen und deren
Würdenträger inzwischen deutlich politisch positioniert (Fuller 2003).
Sie fungieren durch ihre diversen politisch-kulturellen Praxen als
Mehrheitsbeschaffer für regierende, schiitische Parteien. Diese
wiederum
erhoffen
sich
von der nominell schiitischen
Mehrheitsbevölkerung eine politische Mehrheit, die sie sich mit Hilfe
religiöser Institutionen sichern zu können glauben. Das politische
Schisma wird gegenwärtig am deutlichsten vom jungen Geistlichen
Muktada al-Sadr, der von den armen Einwohnern von al-Sadr City
unterstützt wird, und von den das Regime unterstützenden Schiiten
mit ihrer neuen Mittelschicht, dem Kleinbürgertum und der
Kompradorenbourgeoisie artikuliert.
Die Frage anders gestellt:
Kräfteparallelogramm und Geometrie der Macht
Die politischen Kräfteverhältnisse innerhalb und außerhalb der
Staatsapparate verschieben sich ständig. Das bedeutet, dass es
keine stabile Konfiguration der Kräfte und kein konstantes politisches
Projekt gibt, sondern unvereinbare Staatsprojekte, jedes mit seinen
jeweiligen flüssigen sozialen Basen und seiner permanent sich
verändernden politischen Repräsentation. Die herrschenden Eliten
und ihre jeweiligen Parteien haben gegenwärtig keine Mehrheit in der
Bevölkerung, und sie haben auch im Parlament bei einzelnen
entscheidenden Abstimmungen keine Mehrheit. Dadurch erklären
sich ihre gewaltsamen Versuche, solche Mehrheiten zu schaffen. Sie
und ihre Konkurrenten haben dennoch gut disziplinierte und
organisierte Milizen und paramilitärische Gruppen, die sie aus der
Reservearmee von Millionen von arbeitslosen und marginalisierten
jungen Männern und – in geringerem Maße – Frauen einziehen.
Terror ist in diesem Sinne eine Governancetechnik, eine öffentlichprivate Veranstaltung der schöpferischen Zerstörung. Das
Terrormoment war von Beginn an in der theologischmissionarischen, „unfehlbaren“ Haltung der imperialen und lokalen
Kräfte eingeschrieben. Die Strategie der Unordnung zielt auf die
grundlegende Umstrukturierung aller Beziehungen zwischen Staat
und Gesellschaft. Sie verursacht ein Gefühl des materiellen
10 Diese Kräfte sind in ihrer Form der Organisation, ihrer „programmatischen“,
sozialen und politischen Agenda überwiegend eine externe Fabrikation; sie haben
keine tiefen Wurzeln oder Verbindungen zur sozialen Basis im Lande. Daher ihre
permanente Zuflucht zur Gewalt, genauer: Gewalt wird als Mittel eingesetzt, um
sich eine soziale Basis zu verschaffen. Daher stehen diese Gruppen stets in
einem Konflikt mit einander.
Governance im Zeitalter des Terrors
11
Fatalismus, der die politische Kultur der Neocons in Washington und
der schiitisch-politischen Kräfte zementieren soll. Dieser Fatalismus
bringt politische Passivität und eine Skepsis gegenüber der Politik im
Allgemeinen hervor, d.h. er zementiert die vorhandene politische
Macht durch die Verbannung von Öffentlichkeit. Dies ist eine Form
der politischen Organisation unter dem Feuer des Krieges, die
versucht die subalternen Klassen durch dauerhaften Terror in
fatalistische Gläubige umzuwandeln.
Die führenden Milizionäre der regierenden schiitischen Parteien sind
geprägt durch zwei Jahrzehnte der Indoktrination im Exil nicht nur
gegen die gestürzten Cliquen, sondern gegen die ganze
Gesellschaft. Die Milizen sind die politische Form der Organisation
und zugleich der neuralgische Punkt der regierenden Parteien und
11
der herrschenden Eliten . Die Frage der Gewalt und des Terrors ist
nicht nur eine der Sicherheitspolitik: Auflösung oder Integration der
Milizen in die Sicherheitsapparate bedeutet das Auflösen der
Parteien als Apparate und mit ihnen des neuen Staates.
Die Staatsapparate, die Parteien und die ökonomischen Institutionen
sind hier so verwoben, dass keine Wirtschaft und keine Politik ohne
Verbindung zu Parteien möglich ist. Die Parteien sind in allen Teilen
des Landes nicht bloß Repräsentanten von existierenden Klassen,
sondern stellen die Formen dar, durch die neue Klassenfraktionen
von Privateigentümern geschaffen werden. Mitglieder der
herrschenden Klassen besetzen gleichzeitig höchste Staatsämter
(Barazani, Talabanim al-Hakim, Chalabi etc.). In einem strukturellen
Sinn ist dies eine „ursprüngliche“ politische und ökonomische
Akkumulation, d.h. die Schaffung einer neue Klassenformation und
einer
neuen
Staatsform:
die
Institutionalisierung
des
Kapitalverhältnisses durch unterschiedliche Formen der Aneignung
des gesellschaftlichen Kapitals, durch Plünderung, Raub, Korruption,
Neuverteilung des Grund und Bodens. Dieser Prozess ist ohne die
Unterstützung von imperialen und internationalen Protagonisten und
Institutionen nicht zu machen. Dennoch ist eine stabile Konfiguration
des Blocks an der Macht nicht absehbar, da es multiple Zentren der
Macht und widersprüchliche Institutionen gibt, in denen verschiedene
11 Einige Milizen und Killerkommandos in den Sicherheitsapparaten und in der
Zivilgesellschaft wurden von den USA selbst geschaffen, trainiert, finanziert und
bewaffnet als Mittel gegen den Widerstand, andere unliebsame Gegner und als Mittel
zur Schwächung der Zentralregierung. Die formale Unterordnung dieser Milizen unter
die Sicherheitsapparate oder die regierenden Parteien hindert sie jedoch nicht daran,
auf eigene Faust zu operieren, was Entscheidungen in der Sicherheitspolitik zu
einem Ding der Unmöglichkeit macht. Dies ist eben eine Besatzungssituation.
12
Sabah Alnasseri
Kräfte mit militaristischer und „provinzieller“ Gesinnung ohne
praktische politische Erfahrung agieren.
Dabei bedeutet die Rückkehr der alten Gesellschaftsklassen die
Unterordnung des urbanen Lebens unter das ländliche, was
mehrfache Verschiebungen zur Folge hat: von nationalen zu
provinziellen und zu lokalen Organisationsformen, von säkularen
Kollektiven zu Stammes- und Clan-Strukturen, von der Industrie zum
Handel, von zivilen zu halbfeudalen und patriarchalischen
Institutionen, Gesetzen und Sitten. Da die dominierenden Gruppen
des Staates die Repräsentanten der alten gesellschaftlichen Klassen
sind, die jetzt ihr Comeback feiern, stellt dies eine historische
Regression in allen möglichen Varianten dar.
Der politische Raum ist durch institutionelle Mechanismen verformt
worden, die mit der Besatzung verhandelt und durch die Besatzung
erzwungen wurden, die mit allen Mitteln eine parlamentarische
Mehrheit garantieren, aber auch die Auflösung des Parlaments und
die Erklärung des Ausnahmezustands einschließen, wann immer
dies opportun erscheint. In politisch-institutionellem Sinne bedeutet
dies, dass es keine gesetzgebende Versammlung gibt, kein
Parlament im klassischen Sinne, sondern ein machtloses beratendes
Organ ohne jegliche Möglichkeit der Regierungskontrolle, dass es
keine Exekutive gibt, sondern Clans und Milizen, dass es keine
unabhängige Justiz gibt, die die Sicherheitsapparate kontrollieren
könnte. Es gibt nur bewaffnete Kräfte, die hauptsächlich von den
regierenden Eliten abhängig sind, d.h. es gibt keine
Sicherheitsapparate, sondern private Gewaltagenturen, die gegen die
Bevölkerung eingesetzt werden. Letzterer wird andauernd misstraut;
sie wird dauernd kollektiv bestraft, kann die willkürlichen Taten der
Regierung und der Besatzungsmacht nicht kontrollieren, darum
rekurriert sie auch auf Gewalt und den bewaffneten Kampf. Folglich
entzieht die Bevölkerung der Regierung nicht nur ihre Unterstützung,
sondern stellt auch deren Legitimität und Autorität in Frage.
Die Gegenstrategie der regierenden Eliten beruht auf der
Desorientierung, Unterjochung und Disziplinierung der Massen, der
klientelistischen Konstruktion partikularer sozialer Basen, der
Korruption und der Kooptation von Gegnern, um die Einheit der
Subalternen zu verhindern. Diese politische Praxis versucht, Teile
der subalternen Klassen gegeneinander auszuspielen, ihre
Frustration zu nutzen, um ihre Zusammenarbeit mit dem
Kolonialregime zu erzwingen. Dies ist Terror im ursprünglichen Sinne
der Staatspolitik: Der so genannte Religions- und Bürgerkrieg ist
nichts anderes als eine primitive Form der Freund-Feind-Politik,
Governance im Zeitalter des Terrors
13
organisiert von Hunderttausenden Söldnern, imperialen Truppen und
lokalen Milizen.
Es besteht hier eine organische Verbindung zwischen
parlamentarischen Gruppen und deren Milizen, insofern als sich die
illegalen Taten der letzteren innerhalb der Legalität des Staates
12
bewegen.
Dies verstärkt die autoritären Momente innerhalb des
Staates und die relative Macht der Stammesbündnisse sowie der
kriminellen Organisationen. Da der Irak eine sehr hohe Dichte des
urbanen Lebens aufweist, ist das Grundprinzip hinter der massiven
Bombardierung der Städte und der Terrorisierung des Zivillebens,
umfangreiche demographische Verschiebungen der Bevölkerung in
den Regierungs- und Besatzungszonen herbeizuführen und dadurch
dem Widerstand seine soziale Basis zu rauben. Angriffe auf die
Zivilbevölkerung sind hier eine Form der politischen Ordnung und
nicht Kollateralschäden!
Hier wird Frantz Fanons Argument, wonach Gewalt als reinigende
Kraft, als Mittel der Befreiung von der Unterjochung fungieren kann,
ins Gegenteil verkehrt: Gewalt als reinigende Kraft in den Händen der
herrschenden Klassen soll Befreiung ad absurdum führen. Diese
gewaltbeladene Situation untergräbt soziale, ökonomische und
politische Rechte; die Bevölkerung wird im privaten Raum
eingesperrt, vom öffentlichen Leben abgeschnitten, der Indoktrination
ausgeliefert, intellektuell und politisch lethargisch und kontrollierbar
macht. Es gibt jedoch kein Zeichen für eine dominierende Kraft
innerhalb des Blocks an der Macht, die die Situation unter Kontrolle
halten kann, noch nicht!
Historischer Wahlsieger?
Vor diesem Hintergrund hatten die irakischen Wähler bei den zwei
12 Fragen der Entscheidungsfindung und -ausführung, der Zuständigkeiten und
Machtbefugnisse
in
den
Sicherheitsapparaten
(Verteidigungsund
Innenministerien) werden in der Regel an mehreren Stellen, durch
unterschiedliche Akteure und in unterschiedlichen Formen gelöst. Neben den
Experten und Befehlshabern der Besatzungsmacht, den NATO-Experten, die die
Polizei ausbilden, den privaten Sicherheitsfirmen und ausländischen
Geheimdiensten, die starken Einfluss auf diverse Kräfte der Sicherheitsapparate
ausüben, tragen vor allem die paramilitärischen Gruppen und Milizen der
regierenden Parteien zu dieser Verwirrung bei. Diese agieren meist autonom,
befolgen Befehle ihrer eigenen Kommandos oder Parteien und weniger der
Stelleninhaber in den jeweiligen Ministerien. Die Folge davon ist, dass es nicht
klar wird, unter welcher Autorität, in welchen (legalen) Formen und unter welchen
Restriktionen diese Milizen handeln, vor allem wenn es sich um Fragen von
Festnahmen, Durchsuchungen, Einkerkerung, Bestrafung bis hin zu kollektivem
Mord und Exekutionen handelt.
14
Sabah Alnasseri
vergangenen Wahlen im Januar und im Dezember 2005 tatsächlich
keine Wahl: Die Wahl-Veranstaltung, so wie sie formal (Ablauf und
Timing waren durch die provisorische Verfassung vom März 2004
vorgeschrieben) und organisatorisch „durchgebombt“ wurde, war ein
weiterer Schritt im Rahmen der Institutionalisierung des Bündnisses
zwischen der Besatzungsmacht und den kurdischen Kräften sowie
der ehemaligen irakischen Exilopposition im Rest des Landes. Denn
das Hauptgewicht im Parlament und in der Exekutive haben Parteien
(Patriotische Union Kurdistans, Demokratische Partei Kurdistans und
die Allianz, die Einheitsliste der schiitischen Parteien u.a.), die die
Repräsentanten der neuen herrschenden Klassen und Gruppen sind.
Der Wahlmodus wirkte fraktionierend auf die Kräfteverhältnisse im
Parlament und schwächte die Zentralregierung. Auf diese Weise
wurde es für die Regierung so gut wie unmöglich, den Abbau von
Militärbasen und einen Truppenabzug zu fordern. Im Gegenteil, „aus
Furcht vor einem Bürgerkrieg“ baten die regierenden Gruppen die
Besatzungstruppen, „noch eine Weile“ im Land zu bleiben.
Der Verfassungsprozess wurde nicht landesweit, öffentlich und
transparent organisiert; damit verfestigte sich die Gefahr, das Land
weiter zu fraktionieren. Eine aus handverlesenen Mitgliedern der
Nationalversammlung zusammengesetzte Verfassungskommission,
die formal für den Verfassungsentwurf verantwortlich war, wurde
nicht
von
außerparlamentarischen,
politischen
wie
zivilgesellschaftlichen Akteuren, Institutionen und öffentlichen
Debatten getragen. Eine breitere, demokratische Partizipation, die für
mehr Legitimität der neuen Verfassung gesorgt hätte, war nicht
gewährleistet. Nicht das Dokument, der Verfassungstext, sondern die
Art und Weise, wie er durch einen breiten nationalen Konsens
zustande gebracht wird, garantiert eine friedlich-demokratische
Entwicklung, ihre institutionelle Verankerung und eine legitime
Repräsentation.
Verdächtigungen und Skepsis (nicht nur) seitens konkurrierender
politischer Gruppen begleiteten die Debatte und sorgten für eine
Eskalation des Konflikt. In diesem Kontext wären ein durch
Vermittlung der UNO oder eines neutralen Dritten vereinbarter
Waffenstillstand und die Ausarbeitung eines Zeitplans für den
Rückzug der Besatzungstruppen Schritte in die richtige Richtung
gewesen, wodurch jene Akteure, die die Wahlen boykottierten und
die Besatzung ablehnen, hätten eingebunden werden können.
Doch so blieb die Ausarbeitung der Verfassung eine interne,
intransparente
Angelegenheit
von
politischen
Eliten
und
Technokraten, die das Risiko der Gewalttätigkeit erhöhte. Mächtige
Governance im Zeitalter des Terrors
15
Parteigruppen spielten eine große Rolle in jenem Übergangsprozess
der Verfassungsbildung, und die Verfassung verkümmerte einfach zu
einer Beute dieser Gruppierungen. Die Verfassung wurde von vielen
als ein ihnen auferlegter Zwang empfunden und nicht als das Produkt
eines offenen und einschließenden Dialogs, das die Rechte und
Interessen aller Gruppen im Land schützt. Damit wurde für eine
undemokratische und instabile Entwicklung und für eine wenig
legitime und kaum handlungsfähige Regierung gesorgt.
Ein Prozess der Verfassungsbildung erfordert Zeit, besonders wenn
er öffentlich-demokratisch organisiert wird. Die vorgesehene
Zeitspanne war jedoch zu kurz, insbesondere wenn man bedenkt,
dass fast drei Monate nach der Wahl vom Januar 2005 immer noch
keine Regierung gebildet worden war, so dass die Ausarbeitung
eines demokratischen Verfassungsentwurfs bis Mitte August 2005
utopisch erschien. Eine auf die Schnelle, elitär-technokratisch und unter
dem Vorzeichen der Besatzung entworfene Verfassung hat die
Situation noch mehr angeheizt, die Lage destabilisiert und
antidemokratische Tendenzen forciert.
In diesem Kontext hatte nicht nur die regionale Regierung in
Kurdistan einen Verfassungsentwurf entwickelt und vorgeschlagen,
der aus der Perspektive und der Interessenlage der zwei dort
dominierenden Parteien konzipiert worden war. Es konnte nicht
verhindert werden, dass die öffentliche Debatte durch solche
Entwürfe verengt wurde und dass die Entwürfe negative
Auswirkungen zeitigten. Dadurch verfestigte sich die oligopolistische
Stellung mächtiger Gruppen, die die Institutionalisierung von
vorgefertigten Entwürfen erleichterte.
Die Wahlen am 15.12.05 sollten im Rahmen der neuen, bis dahin
erarbeiteten und qua Referendum bis zum 15.10.05 angenommenen
Verfassung stattfinden. Insofern war die Verfassungsfrage zentral:
welcher Wahlmodus, welche Kammern, welche Form des
Föderalismus sollte eingerichtet werden? Welche Rolle sollte die
Religion im Rechtssystem spielen? Wie sollte die Geschlechterfrage
und die Frage des gesellschaftlichen Eigentums gelöst werden? All
dies musste geklärt werden. So wird von etlichen Seiten kritisiert,
dass Minderheiten quasi ein Vetorecht in allen relevanten Fragen
innehaben, wodurch sie Entscheidungen, Gesetze etc., die die
Mehrheit betreffen, verhindern und somit eine Kontrollfunktion der
Mehrheit gegenüber ausüben können. So wird der Präsidialrat mit
Zweidrittelmehrheit und nicht wie üblich mit einfacher Mehrheit
gewählt; der Rat hat ein Vetorecht in Bezug auf Gesetzentwürfe des
Parlaments, dieses Veto kann nur mit Zweidrittelmehrheit im
16
Sabah Alnasseri
Parlament überstimmt werden. Bedenkt man die ethnisch-religiöse
Zusammensetzung der Räte (Präsidenten und Minister), so wird die
Problematik deutlich. Somit wird der Fraktionierung und nicht der
Einheit der Gesellschaft und des Staates Vorschub geleistet, d.h.
ethnisch-religiöse und räumliche Markierungsgrenzen werden
institutionell zementiert; und dies wirkt wiederum verschärfend auf
die bestehenden Konflikte.
Man könnte dagegen halten, dass durch diese Pluralisierung ein
einmaliges Experiment eröffnet wird, an dessen Ende eine neue,
multinational-multikulturelle Form der Staatlichkeit entstehen könnte,
die ein historisches Ereignis, einen Bruch mit der bisherigen
Entwicklung in diesem Raum darstellen würde. Doch weder das
pessimistische noch das optimistische Szenario, so sehr diese die
politische Denk- und Handlungsweise bestimmter Akteure beeinflussen
mögen, sagen viel über die gegenwärtige Situation aus. Der
Verfassungsentwurf
ist
einerseits
ein
Dokument,
eine
Artikulationsform widersprüchlicher und konflikthafter Interessen,
Vorstellungen und Erwartungen diverser Akteure. Anderseits zeigt
sich in ihm ein ungleichgewichtiges Kräfteverhältnis von strategischen
Bündnissen und Allianzen, die fortan als Überwacher der Verfassung
fungieren.
Die Verfassungsfrage ist also nur vor dem Hintergrund der
vergangenen Erfahrungen, die immer noch den Denkhorizont der
Akteure bestimmen, und dem durch den Krieg, den Sturz des
Regimes und die krisenhafte Situation eingeführten Bruch im Gefüge
des Staates und dessen bisheriger Entwicklung zu begreifen. In
diesem Sinne ist die neue „permanente“ Verfassung auch
provisorisch. Es war nicht allein die Zeit, die zu knapp war, um alle
Probleme lösen und einen tragfähigen Kompromiss finden zu
können. Es sind die widersprüchlichen, politischen Projekte diverser
Akteure, einschließlich der Besatzungsmächte, die einen tragfähigen
und nachhaltig wirkenden Verfassungskompromiss erschwerten.
Die am 15.10.2005 qua „Referendum“ angenommene, so genannte
Verfassung – tatsächlich liest sie sich mehr wie ein Anti-TerrorBekenntnis – war ein Meisterstück der demokratischen Missachtung,
denn diese Verfassung ist in rechtlich-formaler Hinsicht in dreierlei
Weise nicht nur bedenklich, sondern illegitim:
1. Die von der so genannten provisorischen Verfassung vom März
2004 vorgeschriebene Frist für das Referendum, der 15.8.2005
wurde nicht eingehalten.
2. Der zur öffentlichen Debatte bis zum Referendum am 15.10.2005
vorgelegte Entwurf ist nicht der, der vor diesem Termin
Governance im Zeitalter des Terrors
17
verabschiedet wurde. Im Entwurf wurden einige Veränderungen
vorgenommen, die im ursprünglichen Text nicht enthalten waren.
3. Über diese Veränderungen am Text wurde im Parlament nicht
abgestimmt, sondern sie wurden partikularistisch und klientelistisch
dekretiert.
Insofern ist die ganze Veranstaltung formal-rechtlich absurd. Politisch
ist das natürlich höchst problematisch, denn immerhin geht es hier
um grundsätzliche Fragen der Regierungs- und Staatsbildung, die die
Zukunft des Landes und damit die gesamte Region betreffen.
Außerdem ist der Text in einem patriarchalisch-theologischen Duktus
verfasst, in dem „das andere Geschlecht“ historisch wie politisch
abwesend ist. Die Konstruktion der islamischen Demokratie ist der
Hauptwiderspruch, der den gesamten Text durchzieht und der für
Konfliktstoff auf allen Ebenen und in unterschiedlichen Dimensionen
13
sorgt und sorgen wird (vgl. Alnasseri 2004).
Wie die Verfassung des US-Verwalters Bremer (des Kalif von
Bagdad, wie er im Irak genannt wird) ist auch die irakische
Verfassung nur provisorisch, denn nach den Wahlen am 15.12.2005
wurde ein Ausschuss gebildet, der weitere Verfassungsänderungen
erarbeiten soll. Über den neuen Entwurf soll dann erneut ein
Referendum stattfinden. Der Übergang in Permanenz ist der
politischen Situation also immanent.
Des Kaisers alte Kleider!
Regierungsfähigkeit konnten bislang weder der ehemalige
Ministerpräsident Allawi, noch sein Nachfolger al-Jaafari und schon
gar nicht der jetzige Ministerpräsident al-Maliki unter Beweis stellen.
Je mehr die Regierung ihre Handlungs- und Ratlosigkeit
demonstriert, desto heftiger wird der Widerstand, desto geringer
werden ihre Machtstützpunkte in der von ihr geschaffenen politischen
Gemeinschaft sein und desto schneller werden ihre Anhänger die
Lager wechseln. Die wachsende Stärke und die zunehmende
Wirksamkeit des Widerstandes, die offensichtliche Niederlage der
Besatzung, die zweifelhafte Legitimität der Regierung und die
Wirkungslosigkeit der gesetzgebenden Versammlung, die Proteste
größerer Teile der Bevölkerung gegen die Besatzung, die drastische
Verschlechterung der Lebensbedingungen,. - unter diesen
13 Die neue Verfassung halt ausdrücklich fest, dass „the Supreme Federal Court will
be also made up of judges and experts in Sharia (Islamic Law)“, und unter dem
Artikel (101), „the offices of (religious) endowments are considered financially and
administratively independent associations.“
18
Sabah Alnasseri
Bedingungen blühten die Gerüchte des Bürger- und Religionskrieges
in den USA und im Irak.
Das Resultat ist der zunehmende Gebrauch von Gewalt. Genau dies
kennzeichnet die gegenwärtige Phase, mit Hunderttausenden von
14
Toten , Verletzten und Verstümmelten, der zunehmenden Migration
und den Flüchtlingswellen. Über 2 Millionen Menschen haben den
Irak in Richtung der Nachbarstaaten verlassen, und genau so viele
wurden aufgrund des massiven Bombardements der Städte
vertrieben bzw. zur Binnenmigration gezwungen. Inzwischen wurden
im Irak mehr Bomben abgeworfen als im gesamten Vietnamkrieg.
Das ist das Resultat von vier Jahren Befreiungsimperialismus.
Was tun? Nicht einmal Ketten sind zu verlieren
Es ist illusionär, an Veränderungen innerhalb des Rahmens dieser
imperialen Institutionen zu denken. Welche Möglichkeiten der
Veränderung und welche politischen Kräfte gibt es dennoch?
1. Wegen den Hunderttausenden von ermordeten Zivilisten, den
Unzähligen, die in Abu Ghraib gefoltert wurden, haben sich
Tausende von irakischen Opfern zusammen mit Hunderttausenden
von arbeitslosen Armeemitgliedern dem Widerstand angeschlossen.
Der Widerstand hat einen säkularen Charakter und nimmt
verschiedene Formen (politisch, militärisch, ökonomisch, kulturell)
an, vom bewaffnetem Kampf bis zu zivilem Ungehorsam, Streiks,
Sabotage usw. Die Mehrheit der Protagonisten ist liberal (Mitglieder
des alten Mittelstands, deren Existenz durch die neoliberale
Wirtschaftspolitik zerstört wurde), Nationalisten, Panarabisten,
15
Sozialisten, Kommunisten, Leninisten und Trotzkisten.
Die so
14 Nach einer Befragung der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health und
Al Mustansiriya University in Bagdad kamen wahrscheinlich 654.965 Zivilisten
zwischen März 2003 und Juli 2006 ums Leben (vgl. Burnham u.a. 2006, Horton
2007).
15 Die irakische kommunistische Partei (IKP) erfuhr seit den 1950er Jahren viele
Fraktionierungen wegen politischen und strategischen Fehlern und
problematischen Entscheidungen der Führung, so dass es heute mehrere
einzelne Parteien und unabhängige Gruppen gibt. IKP (mit ihrer nahestehenden
Gewerkschaft, IFTU), KP Kurdistan, irakische kommunistische Arbeiterpartei
IWCP (trotzkistisch, steht den Arbeiterräten FWCUI nahe, der Gewerkschaft der
Arbeitslosen UUI und der Frauen Organisation OWFI mit ihrem berühmten
Mitglied
Yanar
Mohammed),
IKPGeneralkommando,
IKP-Kader,
kommunistische Volksunion (Schwesterpartei der spanischen kommunistischen
Partei),
marxistische
Guerillagruppen
(Irakische
marxistische
Widerstandsgruppe). Außer der IKP und der KPK haben alle anderen Parteien,
Organisationen und Gruppen eine Antibesatzungsposition. Als die Führung der
IKP, wieder aus falscher Berechnung heraus, von Anfang an am
Besatzungsregime aktiv teilnahm, wiederholte sie die alten politisch-strategischen
Governance im Zeitalter des Terrors
19
genannten Gotteskämpfer (Jihadisten, Salafisten, Wahabbiten,
Anhänger Bin-Ladens usw.) sind eine verschwindende Minderheit,
deren Taten durch die Medien und Politik aufgebauscht werden.
Den Widerstand als ein in erster Linie religiöses Ereignis
darzustellen, nutzt vor allem der Regierung in ihrem Anspruch auf
politische Macht. Zugleich dient das mittelalterliche Szenario auch
den ideologischen Zwecken der Neocons in den USA, da sie ihren
Krieg als einen clash of civilisations verkaufen können.
Demgegenüber zu behaupten, dass der Widerstand säkularen
Charakter hat, heißt nicht, dass alle Gruppen fortschrittlich wären und
dass eine gegen die Besatzung gerichtete Einstellungen per se
emanzipatorisch wäre oder dass die Widerstandsgruppen keine
widersprüchlichen Projekte verfolgen würden. Es sollte aber deutlich
werden, dass das Grundübel die Besatzung ist.
Wegen der neuen Kriegssituation konnten die einzelnen Gruppen
des Widerstandes keine gemeinsame Strategie entwickeln.
Deswegen ist der Widerstand bis heute fraktioniert geblieben. Diese
Schwäche hat verschiedene Gründe: kontinuierliche Verschiebungen
der Kräfte innerhalb des Widerstands, die internen Konflikte um
inkompatible Partikularinteressen und politische Projekte, die
kriegsbedingten sozialstrukturellen Verwerfungen etc. Und nicht
zuletzt kommen regionale und internationale Einmischungsversuche
dazu.
Andererseits erfordern ein dezentralisierter und fragmentierter
politischer Raum, der veränderte Kontext von globaler, regionaler
und lokaler politischer Praxis sowie die überholten Formen der
nationalen Befreiungsbewegungen unterschiedliche Formen der
Organisation und des Widerstandes. Folglich könnte das Fehlen
einer zentralisierten und vereinheitlichten Führung genau die Stärke
der Bewegung darstellen (vgl. zum irakischen Widerstand auch
Watkins 2004). Die Frage ist nicht, wie man multiple politische
Energien zentralisiert, sondern wie man sie in programmatischpolitische Fragen und Forderungen übersetzt. Vor allem ein
bedingungsloses und sofortiges Ende der Besatzung muss die
oberste Forderung sein.
2. Insbesondere im letzten Jahr, also genau zu der Zeit als behauptet
wurde, ein Religionskrieg fände statt, gab es eine Zersplitterung
innerhalb der Tribalkräfte zwischen denen, die hinter dem Regime
Fehler der 50er, 60er und 70er Jahre. Aber diese Fehler sind momentan
strukturell verständlich, da die Partei sozialdemokratisch geworden ist. Die
Transformation ist in erster Linie durch die Verschiebung der früheren sozialen
Basis der Partei von der Arbeiterklasse zu einem neuen Mittelstand verursacht.
20
Sabah Alnasseri
stehen und denen, die eine breite und nicht exklusive Politik
unterstützen. Diese Verschiebung ist entscheidend, da diese Kräfte
16
die ländliche Bevölkerung
mobilisieren können. Diese Kräfte zu
gewinnen, ist für die Legitimität eines breiten politischen Projektes
unentbehrlich.
3. Obgleich Gewerkschaften und Arbeiterräte entlang den regionalen
und politischen Linien fraktioniert waren, teils unvereinbare politische
Strategien verfolgten - vor allem hinsichtlich der Besatzung und der
Privatisierung - und unterschiedliche Formen der Organisation
aufwiesen (demokratisch und autonom vs. hierarchisch und
paternalistisch), und obgleich diese Unterschiede die Formierung von
politischen Bündnissen gefährdeten, zeichnete sich dennoch eine
positive Verschiebung im Januar 2006 (gemeinsame Ablehnung
neoliberaler Strukturanpassungsmaßnahmen der Weltbank und des
Internationalen Währungsfonds) und bei der gemeinsamen
Ablehnung des Entwurfs des Öl- und Gasgesetzes im Dezember
17
2006 ab. Dies deutet auf ein neues politisches Denken hin und auf
die Möglichkeit, parteiübergreifend zusammenzuarbeiten.
4. Trotz der schlechten Situation der Frauen erzielten die wenigen
kämpferischen Versuche zu Verbesserungen dennoch einen
16 Bevor der ehemalige US-Verwalter Bremer im Juni 2004 den Irak verließ, vergaß
er nicht, noch ganz schnell Einhundert neoliberale Dekrete zu erlassen. Nach
dem Dekret Nr. 81 „Patent, Industrial Design, Undisclosed Information, Integrated
Circuits and Plant Variety“ sind die Jahrtausende lang praktizierte, kollektive
Kultivierung der Landwirtschaft und das angeeignete Wissen illegal. Saatgut
gehört nicht mehr den irakischen Bauern, sondern ist jetzt Privateigentum der
Multis. „The new law is presented as being necessary to ensure the supply of
good quality seeds in Iraq and to facilitate Iraq’s accession to the World Trade
Organization (WTO). What it will actually do is facilitate the penetration of Iraqi
agriculture by the likes of Monsanto, Syngenta, Bayer, and Dow Chemical - the
corporate giants that control seed trade across the globe.” Die Horrorgeschichte
geht weiter, weil das „new patent law also explicitly promotes the commercialization of genetically modified (GM) seeds in Iraq” (Foreign Policy in Focus, Iraq’s
New Patent Law: A Declaration of War against Farmers, November 2004,
http://www.fpif.org/papers/0411grain.html; siehe auch Stone 2006).
17 Im Januar 2006 bezogen die irakischen Gewerkschaften - General Federation of
Iraqi Workers, Oil Unions Federation in Iraq (Basra), Federation of Workers
Councils and Unions in Iraq, Kurdistan General Workers Syndicate Union (Erbil),
Iraqi Kurdistan Workers Syndicate Union - gemeinsam Stellung gegen das für
den Irak vorgesehene Anpassungsprogramm der Weltbank und des
internationalen Währungsfonds. Im Dezember 2005, kurz vor den Wahlen, hatte
die damalige al-Jaafri Regierung ein so genanntes „stand-by arrangement“ mit
dem IWF unterzeichnet, wonach u. a. die öffentliche Subventionen für das Öl
abgebaut werden sollten. Danach stiegen die Ölpreise und mit ihnen alle anderen
Preise
astronomisch.
Inflation
und
weitere
Verschlechterung
der
Lebensbedingungen der Bevölkerung waren die Folgen (siehe Leys 2006;
Rothschild 2006).
Governance im Zeitalter des Terrors
21
beträchtlichen Erfolg (1/4 der Parlamentsitze wurden für die Frauen
18
reserviert).
5. Die andauernde Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der
Staatsapparate, insbesondere innerhalb des Parlaments, kann freie
Räume schaffen, die für politische Manöver ausgenutzt werden
könnten, wenn sie gleichzeitig durch politische Kräfte außerhalb
dieser Apparate unterstützt werden. Außer ideologischen Slogans
wie Demokratie, Menschenrechte etc. sind aber bisher keine
konkreten programmatischen Forderungen erarbeitet und artikuliert
worden, weder durch außerparlamentarische Kräfte noch durch die
selbst ernannten Repräsentanten des Volkes.
Es ist für ein alternatives politisches Projekt entscheidend, dass
Forderungen hinsichtlich der materiellen Bedürfnisse der Subalternen
nicht nur konkret entwickelt, sondern vor allem durchgesetzt werden
(z.B. durch Fabrikbesetzungen), anstatt permanent nur auf die Politik
der Exekutive zu reagieren. In diesem Sinne wären konkrete
Forderungen im Hinblick auf die Ölfrage zu stellen: die
Institutionalisierung von „assoziativen Besitzanteilen“, die allgemein
und nicht ethnisch oder regional beschränkt sind und die zu
gesellschaftlichen Rechtsansprüchen führen sollten: Recht auf
würdige Arbeit, auf kostenlose Bildung, Gesundheit und soziale
Sicherung etc. Dies wäre der beste Garant gegen autoritäre,
paternalistisch-klientelistische Formen der Abhängigkeit und gegen
selektive Kohabitation, die verheerende Auswirkungen haben:
Nepotismus, Korruption, intensive Ausbeutung und ungerechte
Verteilung. Das Öl wie das Land gehört allen.
In diesem Sinne müssten auch geschlechtsspezifische Fragen der
Arbeit, des Einkommens und der sozialen Sicherung politische
Priorität haben. Ohne eine breite demokratische Partizipation an
Entscheidungsfindungsprozessen
kann
es
keine
gerechte
Entwicklung geben. Eine stabile und nachhaltige demokratische
Entwicklung ist im peripheren Kontext ohne demokratische
Ökonomie aber ein Ding der Unmöglichkeit.
Damit sind einige der realisierbaren Forderungen genannt, die der
Politisierung und der freien Initiative der unterdrückten Mehrheit im
Irak einen Schub geben könnten. Doch den weiteren Verlauf und den
Ausgang der Entwicklung bestimmen die Menschen im Irak selbst.
Ein Leben in Würde kann es nur geben, sobald sie aus ihrer
18 Zur
gegenwärtigen
Lage
der
Frauen
im
Irak
vgl.
http://www.peacewomen.org/news/Iraq/ news.html; Act Together. Women action
for Iraq, http://www.acttogether.org/codepink.htm.
22
Sabah Alnasseri
Passivität ausbrechen und kollektiv der Barbarei ein Ende setzen.
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