Der horizontale Schwindel Mythen, Krisen, Fragmente einer Stadt COLOR DE LEÓN. Man ist sich unter Literaten nicht einig geworden, welche Farbe der Río de la Plata hat. Eine so spezifische Tönung, dass sie Benennungen herausfordert. Jorge Luis Borges hat in der chromatischen Streitfrage mit dem Wort »löwenfarben« nachhaltigen Erfolg gehabt, zweifellos mehr aus Gründen der Schmeichel- denn der Wahrhaftigkeit. Tatsächlich rührt der Farbton des enormen Flusses, den wir in einem Propellerflugzeug überqueren, von den aus dem Mato Grosso, aus Paraguay und den nördlichen Provinzen angeschwemmten Schlickmassen her, ein trübes Ocker, das je nach Tageslicht ins Ölige oder Kupferne spielt. Die Maschine ist auf einem Flugfeld am uruguayischen Ufer gestartet. Eine Schar Geschäftsreisender aus Montevideo sind hineingeklettert – Attaché-Case-schlenkernde Herrschaften, die an den Kursschwankungen des Dollars (oder vielmehr der lokalen Währungen) laborieren und denen nicht einmal die förmliche Mitteilung des Kapitäns ein Lächeln entlockt, die Flugzeit betrage acht Minuten; Flughöhe: 400 Meter. Eine Zigarettenlänge, und wir sind über Buenos Aires. So ein kleines Flugzeug für so eine große Stadt! Der argentinische Schriftsteller David Viñas hat sie mit einer in der Sonne zum Trocknen ausgelegten Kuhhaut verglichen. Drieu la Rochelle, einer der zahlreichen europäischen Intellektuellen, die sie in den zwanziger und dreissiger Jahren besuchten, sprach von einem »vertige horizontale«, der ihn in der damals schon weit in die Pampa hinausgewachsenen Stadt ergriff. Andere nennen sie das Symbol dieser Landschaft, ein bis auf seinen allein schon weitläufigen Kern flaches, wie ausgewalztes Stadtphänomen von einstweilen fast dreizehn Millionen Einwohnern (ein Drittel davon porteños, wie die Einwohner der Hauptstadt heissen; der Rest im Gran Buenos Aires). Fortsetzung der Ebene mit andern Mitteln, und nur aus ihr heraus zu verstehen, einem immer gleichen Horizont, vor dem flüchtige, spasmische Eindrücke spurlos verwischen. SYMBOLSÜCHTIG. Die Stadt wäre demnach als Ganzes ein Symbol, das seinerseits dazu neigt, aus seinen Teilen bedeutsame Erscheinungen zu destillieren, sie zu fetischisieren, Fiktionen, Legenden zu bilden. Das bisschen Geschichte, 180 Jahre seit der Unabhängigkeit, ein knappes Jahrhundert, seit Buenos Aires zur Großstadt aufsteigt, liefern den Stoff, an dem sich der Mythenhunger nährt. Zur Oberflächlichkeit verurteilt, mit einer dünnen Vergangenheit und einer betäubenden Gegenwart, hat der Argentinier zwar seine Zugehörigkeit (denn Volk, das ergibt sich leicht); aber die Gewissheit einer Identität? Die Wesensart der Landesbewohner selbst erschien dem Nordamerikaner Waldo Frank horizontal. Da entstand ein Bedürfnis, der Monotonie, der Einfalt entgegenzuwirken. Auf dieser Fläche erscheinen die Leitbilder Argentiniens, der Gaucho und der Befreier San Martín, Gardel, Perón (und Evita), Borges und Che Guevara, zuletzt ein drogensüchtiger Fußballspieler: Maradona. Und unterhalb der platten Realität – als gelte es, ihr Geheimnisse abzugewinnen, die sie anscheinend nicht birgt – erfindet die argentinische Literatur Labyrinthe, Verschwörungen, Tunnelsysteme. Schon dieser Romantitel von Sabato: »Über Helden und Gräber«... Denn auf Anhieb sagen die endlosen Straßenfluchten nur eines: dass sie eine Stadt bilden, Stadt überhaupt, eine Stadt ohne Eigenschaften, allenfalls eine Collage, halb Barcelona, halb Chicago. Buenos Aires erinnert an alles mögliche, an Paris und London, an ein verwunschenes Italien und an zweierlei Galizien und manchmal sogar, von Stadtteil zu Stadtteil, an sich selbst. Mögen auch einzelne Viertel – La Boca, Palermo, Belgrano – ihr unverwechselbares Gepräge haben, so liegt doch über dem Ganzen eine kräftige Beliebigkeit, die sich innerhalb des immer gleichen städtebaulichen Rasters entfaltet: aus der Vogelschau ein unermessliches Gefüge annähernd quadratischer Blöcke, von cuadras. LA CUADRA. Verlässt man Buenos Aires, so findet man sie als Modul und Wegemaß (ungefähr 100 Meter) in jeder argentinischen Stadt, in jedem Dorf wieder; ja das Land selbst ist so kariert. Die cuadra ist das A und O jeder Fortbewegung. Aufgeteilt in lotes, Parzellen von je 8,66 Meter Breite, ist sie seit der spanischen Kolonisierung der Schauplatz der argentinischen Architektur. Vom Buenos Aires des 16. und 17. Jahrhunderts ist buchstäblich nichts erhalten: das waren Lehmhäuser mit Strohdächern. Die 1535 angelegte Siedlung konnte gegen die Querandíes nicht gehalten werden und die spätere, zweite Gründung war lange Zeit kaum viel mehr als eine Festung, denn die Handelsrouten der Kolonisten führten über andere Häfen, hauptsächlich Lima. Das 18. Jahrhundert hat einige schmucklose Backsteinbauten hinterlassen. Seither gibt es in der Baugeschichte von Buenos Aires keine Brüche, oder besser gesagt, es gibt nur Brüche. Noch um 1850, zu Beginn der Einwanderungswelle, war es eine Kleinstadt in einem Riesenland von 800’000 Einwohnern (heute 33 Millionen). Die Wende kam mit dem Vernichtungskrieg gegen die Indianer 1878-1883, der die Pampa erst für die Weißen sicher machte. Zum Segen des fruchtbaren Landes kam jener der Immigration: sechs Millionen Europäer siedelten sich zwischen 1857 und 1930 in Argentinien an. Buenos Aires wurde zum »port de l`Extrême-Europe«, zum europäischen Brückenkopf auf dem südamerikanischen Kontinent. Das typische Haus jener Zeit ist das in eine Mietskaserne verwandelte Stadtpalais mit seinen zwei oder drei galeriengesäumten Patios, wo die überwiegend italienischen und spanischen Einwandererfamilien auf engem Raum zusammengepfercht hausten. Diese conventillos wurden auch eines der bevorzugten Themen der argentinischen Literatur, in scharfem Kontrast zum Mythos des Gaucho, den es ablöste. In weiten Teilen von Buenos Aires sind meist zweigeschoßige Häuser aus der Einwanderungszeit erhalten, die mit ihrer allerdings oft zerstörten Symmetrie, ihren Balustraden, Pfeilern und Giebelwänden die Ahnung einer Stadt voll palladianischer Harmonie vermitteln. Niemandem, es sei denn aus ästhetischer Extravaganz, fiele es heute ein, sie schön zu nennen. Seit der Jahrhundertwende hat, bis in die einzelne cuadra hinein, eine oft phantastisch anmutende Fragmentierung stattgefunden und ein Konglomerat, ein anarchisches Durcheinander der Baustile entstehen lassen. Die Gebäudehöhen gleichen der Aufzeichnung der Hirnströme eines Epileptikers, und kahl aufragende, wenn nicht mit großen Reklamebildern bemalte Seitenmauern hoher Gebäude (in die allenfalls illegal die eine oder andere Fensteröffnung gebrochen wurde), sind nun vielleicht das sicherste Merkmal des Stadtbilds. »PALERMO DE BUENOS AIRES« heißt ein früher Aufsatz von Borges, worin er die Metaphysik der Gewalt in einem rauhen, vorstädtischen Viertel beschwört. Heute ist Palermo ein weitläufiger, zentraler und teils wohlhabender Stadtteil, vom Rio de la Plata durch großzügige Parkanlagen getrennt (romantische Öffentlichkeit, in welcher der 1989 gescheiterte Putschist Seineldín, kaum aus dem Hausarrest befreit, waffenrasselnd seine Getreuen drillte, bevor er wieder mit seiner Botschaft »Gott und Vaterland« die Provinz bereiste). Palermo hat Tenniscourts, japanisches Teehaus, neue Shopping Centers, postkoloniale Architekturen und vierzigstöckige Apartmenthäuser, hat künstliche Seen und Botschaftervillen, Poloclub und Galopprennbahn und sogar auch (wo halb zwischen Reitwegen, Autobahnen und der Uferstraße die kleine Maschine aus Uruguay aufsetzt) einen verkehrsreichen Flughafen, keine 40 cuadras vom Retiro entfernt. EUROPA/AMERIKA. Vom Flugzeug steigt man auf den Bus der Linie 33 um und verliert sich beim Retiro augenblicklich in der Menge. Welche Erleichterung: dem Totenhauch von Montevideo entronnen und wieder in einer Stadt, die ein Aufputschmittel ist. Der Retiro, einer der großen alten Bahnhöfe, von denen aus sich der Fächer des argentinischen Schienennetzes entfaltet, ist ein Angelpunkt von Buenos Aires und seiner Geschichte. Zum einst so tumultuosen Hafen sind es nicht mehr als drei Blöcke. Linkerhand das Immigrantenhotel, das Arsenal. Irgendwo hier auch muss die South Sea Company ihren Sklavenmarkt betrieben haben. Gegenüber der Engländerturm (nach dem Südatlantikkonflikt 1982 in »Turm der Luftstreitkräfte« umbenannt), und einige peinliche, anstelle eines verruchten Hafenviertels gebaute Wolkenkratzer. Hinter dem Bahnhof verborgen eine villa miseria, ein wie aus den Suburbien ins Zentrum verirrtes Bidonville, lediglich durch die Gleisanlagen von der Avenida del Libertador getrennt, an die das Barrio Norte anschließt, Inbegriff des pariserischen Buenos Aires. Die Plaza San Martín, Verbindungsstück zum Zentrum, ist eine elegante und unergründliche Anlage. Ich sehe sie vom Retiro, vom Hafen her wie ein dunkles, feuchtes Tor zur Stadt hin ansteigen. Hier wirken die Steine selbst so europäisch, dass nur die Ombús und Magnolien, die Palmen und Gummibäume, Myrikazeen und Meliazeen und Bombakazeen (jene dickbauchigen Stämme, die den Namen palos borrachos tragen) ein Hinweis darauf sind, dass man sich in Amerika befindet. DIE UNSICHTBARE KRISE. Argentinien ist das Land, das einmal reich war und – in einem Maß, wie es sonst nur dekadente Familien trifft – wieder arm wurde. Ein Niedergang ohnegleichen: vom 6. auf den 34. Rang in der Liste des Prokopfeinkommens. Aber die Krise, wie sehr auch Wirklichkeit, ist selbst ein Fetisch geworden (denn sie dauert in mehr oder weniger akuten Ausprägungen schon Jahrzehnte, und man ist versucht, sie für ein Hirngespinst zu halten, wenn man durch Straßen wie Santa Fé oder die Avenida Alvear geht. Nur die Fahrbahnen und Trottoirs sind in argem Zustand und die unzähligen Baugruben werden offenbar auf alle Zeiten mit Holzplanken überbrückt (würde man sie alle zusammenlegen, der Strand von Deauville könnte damit bedeckt werden). Dann schlägt man die Zeitung auf und liest, dass im Juni 1990 im Irrenhaus Moyano, einige Blöcke südlich von hier, 32 Frauen hungers gestorben sind (nachdem vor einem Jahr ein Wohltätigkeitsspiel mit Maradona und Präsident Menem eben zugunsten dieser Anstalt stattgefunden hatte; das Geld sei nie eingetroffen, heißt es lakonisch). Man kauft sich um neunzig Dollar ein Paar schlangenlederne Schuhe und rechnet nach, dass der monatliche Mindestlohn eben auf diese Höhe angehoben wurde, abgesehen davon, dass Hochschullehrer mit zweihundert Dollar auskommen müssen. Zwischen dem Schein (dem Widerschein, dem Abglanz des alten Reichtums), und den nackten Zahlen eine Diskrepanz, auf die das starke Wort unheimlich zutrifft. Den der argentinischen Mittelklasse einst natürlichen Lebensstil kann sie sich gar nicht mehr leisten. Niemand stellt in Abrede, dass ein Drittel der Bevölkerung in der vollkommensten Misere lebt. Wenn es, wie verschiedentlich in den Elendsvierteln des Gran Buenos Aires und in der Industriestadt Rosario, zu Plünderungen kommt, werden eilends mit vollen Händen Lebensmittelbons verteilt. Aber auf die Frage, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, zucken viele mit den Schultern, als sei sie ein für den Verstand nicht durchschaubarer Fluch. Dennoch gibt es Erklärungen für den Niedergang. Seit dem Putsch von 1930, mit dem er einsetzt, hat das Land ein ununterbrochenes Wechselbad von Militärregimes und lauen Zivilregierungen erlebt. Allen gemein waren die Schwäche der demokratischen Institutionen und eine nahezu feudalistisch anmutende Wirtschaftsordnung, ein Filz von Pfründen, der eine Modernisierung und vernünftigere Verteilung von Einkommen und Wohlstand verhinderte. 1945, als Europa in Trümmern lag, präsentierte sich Perón seinem Volk in vollem Wichs und mit dem Habitus des wohltätigen Retters vor den Goldbarren des Staatsschatzes und begann den zuvor aufgehäuften Reichtum zu verteilen, ohne jedoch neuen zu schaffen. Seit den sechziger Jahren wurde versucht, mit Steuerprivilegien, protektionistischen Maßnahmen und enormen staatlichen Subventionen eine »unabhängige« Industrie aufzubauen. In den siebziger Jahren kam die schlecht genutzte Devisenhilfe aus dem Ausland hinzu (die Außenschuld beläuft sich auf 62 Milliarden Dollar, nicht zufällig wenig mehr als die Summe, auf welche die Kapitalflucht beziffert wird). Seit 1982 ist das Land nicht mehr in der Lage, seinen Schuldverpflichtungen nachzukommen. Die überbordenden Haushaltsdefizite ließen die Inflationsraten und die Zinsen in die Höhe schnellen, Spekulieren wurde für eine finanzkräftige und politisch einflussreiche Minderheit einträglicher als Produzieren. Heute krankt das Land, das sich so europäisch gibt, an denselben Übeln wie die meisten lateinamerikanische Nationen. Die mächtigen Clans placieren ihre Wirtschaftsminister, und jeder bringt sein Scherflein ins Trockene. Derweil verrotten die Infrastrukturen und das argentinische Bildungswesen, lange Zeit eines der weltbesten (noch heute gilt das Hochschulgesetz von 1918 als vorbildlich), geht mit den Hungerlöhnen, die der Lehrkörper bezieht, zuschanden. Nun erst, da auch dieser Pfeiler zusammenbricht, durch den sich Argentinien bisher von andern Ländern der Dritten Welt abhob, ist es selbst vollends eines geworden. »UNSER ARMER INDIVIDUALISMUS«. Kurz nach Peróns Machtübernahme befasste sich Jorge Luis Borges in einem kurzen Aufsatz mit dem Wesen des Argentiniers: »Nuestro pobre individualismo«. Wie bei anderer Gelegenheit, machte er sich darin über den Chauvinismus seiner Landsleute lustig, ein Laster, das freilich nicht exklusiv argentinisch ist. Aufschlussreicher ist die Beobachtung, dass sich der Argentinier, »im Gegensatz zu den Nordamerikanern und nahezu allen Europäern, nicht mit dem Staat identifiziert«. Ein Aphorismus wie jener Hegels – »Der Staat ist die Wirklichkeit der moralischen Idee« – müsse ihn, schreibt Borges, wie ein finsterer Scherz anmuten. Der Staat als unpersönliche Abstraktion ist dem Argentinier nicht begreifbar. Ihn zu bestehlen, mithin kein Verbrechen, allenfalls ein Vergehen. Argentinien ist ein Land voll nachsichtiger, apathischer Menschen. Undenkbar eine Fernsehsendung im Stil jener deutschen und angelsächsischen Programme, die den Bürger zur Hatz auf Missetäter auffordern und die Denunziation als Tugend feiern. Was soll man sich über kleine Schwindler und beamtete Halunken aufregen, wenn die ersten, die den Staat mit der immer gleichen Unverfrorenheit seit Jahrzehnten plündern, die Regierenden selbst sind? Der wirtschaftspolitische Irrsinn hat Methode, aber der Einzelne nimmt das Missgeschick so persönlich wie eh und je. »1500 Australes für einen Fahrschein, und gestern bezahlte ich dafür noch 1000!« Man hört einander geduldig zu. Jeden trifft die Inflation gleich – nur nicht jene, die mit dem »dólar« Geschäfte machen. EL DÓLAR. Wie den Tonfall wiedergeben, in dem aus dem Stimmgewirr der Straße der Name der Devise herausklingt, welche durch die unablässige Entwertung der Landeswährung der Götze der vielen ist, die mit ihm spekulieren? Die Aussprache selbst, dieses geschlossene, münzenrunde O, verheißt ein Dorado. Setzt er sich nach einigen Wochen schon nicht mehr geheuer wirkender Stabilität in Bewegung, so erfasst ein wütendes Fieber die City, jene engen Straßenzüge, in denen sich das Finanzwesen der Nation drängt und in denen eine Stimmung herrscht, als wäre ganz Buenos Aires ein gigantisches Monopoly. Denn hier liegt ja einer der Gründe des Übels, der Krise dieser ganzen Jahre: dass Schieberei, hysterische Spekulation, kurzfristige Anlagen, schnelles Geld die Produktivität des Landes gebrochen haben. Vor den Banken und Wechselstuben drängen sich die Leute, fliegend werden in den Schaufenstern die Chiffren ausgetauscht oder erscheinen flickernd auf großen Bildschirmen, während am Straßenrand die silbergrauen Geldtransporter bereitstehen, um die Reichtümer dahin zu verschieben, wo sie die bessere Rendite versprechen. CRIOLLOS. Im Gehabe der besitzenden Klassen in Buenos Aires glaubt man manchmal Spuren einer Mentalität zu erkennen, welche jener des estanciero auf seinem Gut im Hinterland verwandt ist, dem Geld nichts bedeutet, weil all sein unwahrscheinlicher Reichtum im Lande selbst liegt. Der Krämer, der mit unerschütterlicher Miene stets zuerst die schlechte Ware hervorholt, behandelt seinen Laden, als wär’s ein Anwesen, das ihm ein für allemal ein feudales Dasein sichert. Aber kein Same geht in der staubigen Luft seines Kontors auf. Zum Bild des criollo, wie der wohlsituierte »Einheimische« traditionell heißt, gehört sicher seine selbstgefällige Trägheit. Das sind Mehrbessere, und haben nie daran gezweifelt. Ein psychologisches Erbe, das als hemmende Kraft noch auf den modernen Großstadtbewohner einwirkt. Daher auch macht kaum eine Metropole einen schläfrigeren Eindruck als diese. Sie ist so aller Dynamik bar, dass sie selbst Liebhabern des Landlebens bewohnbar erscheint. PORTEÑAS. Am Anfang des Jahrhunderts sank mit der Einwanderungswelle der Anteil der weiblichen Bevölkerung auf unter dreißig Prozent. Liegt letztlich darin einer der Gründe, weshalb uns die Frauen in Buenos Aires all die kleinen Ekstasen europäischer Städte vorenthalten, welche in der Begegnung flüchtiger Blicke liegen? Auf dem Trottoir wird nicht geflunkert. Diese Weiblichkeiten gehen ihrer Wege, lassen sich begutachten und mehr oder weniger verblümte Komplimente machen, ohne auch nur zurückzuschielen, und nicht selten treffen sich hinterrücks die am Objekt gescheiterten Blicke zweier Männer verständnisinnig: »Schöne Beine für einen Winterabend!« Welche Frau wäre der Inbegriff der Porteña? Die Politik scheint zu beweisen, dass ethnische Vorurteile in Lateinamerika überwunden sind. Ein Japaner wird peruanischer Präsident – und ist nicht Carlos Saúl Menem ein Kind syrischer Einwanderer, genauso wie seine Frau Zulema, die im Gegensatz zu ihm Mohammedanerin geblieben ist? So gibt es Porteñas zum Beispiel kalabrisch-walisischen Geblüts, oder sie sind halb asturisch, halb anatolisch mit einem Verdacht schlesischen Einschusses, oder Andalusierinnen, bei deren Zeugung die Gascogne mit im Spiel war, sowie natürlich, wenn auch seltener als in andern lateinamerikanischen Ländern, Mestizinnen. Die halbe Welt; und trotzdem hat Buenos Aires einem Typ ein Prestige verliehen, das all die Unerforschbarkeiten in den Schatten stellt. »Gehen Sie in die Recoleta, da finden Sie weißhäutige Blondinen«, empfiehlt ein Taxifahrer. Ausgerechnet das eher fade, möglicherweise deutsch- und jedenfalls stämmige Weib, wohnhaft in Belgrano oder im Barrio Norte und dessen exquisiten Akzent lispelnd, genießt in der Stadt das höchste Ansehen. Abkömmling von Eva Perón (die Variétékünstlerin war), ist dieser Frauentypus heute auf dem Bildschirm allgegenwärtig und unentbehrlich für die Nächte, die auch in Fleisch und Blut gefeiert werden. Er straft jene an sich zutreffende Behauptung Lügen, die Argentinier unterschieden sich von den Spaniern dadurch, dass ihr Lächerlichkeitssinn schärfer ausgebildet sei: Mirtha Legrand, das große alte Idol des argentinischen Entertainment Business, gebärdet sich in ihrer Fernsehshow so unsäglich affektiert, dass man sie für eine Parodie ihrer selbst hält; das Publikum ist trotzdem ganz hin, wenn sie minutenlang ihre Broschen herzeigt. Eine jüngere und nicht ganz so gezierte Repräsentantin dieses Frauentyps ist die Fernsehmoderatorin Susana Giménez, Ex-Gattin des wegen Mordes an seiner dritten Frau verurteilten Boxers Carlos Monzón. »Kein Zweifel, er ist unschuldig«, ereifert sich die Künstlerin Silvia Sanguinetti, selbst blond und edel, aber zu wenig zimperlich für die Rolle. »Der Beweis ist, dass Monzón vorher fünf Jahre mit der Gímenez verheiratet war, ohne sie umzubringen.« MUCAMAS. Noch vor kurzem waren Stromausfälle die Regel. Und plötzlich nur mehr selten. Ist die Versorgung verbessert worden? Nein, in den letzten Jahren ist der Verbrauch so stark gesunken, dass eine weitgehend problemlose Versorgung gewährleistet ist. Ich will aber von etwas anderem sprechen: Borges’ langjährige Haushälterin hat kürzlich erstmals seit Jahren abends die alte Wohnung des Dichters an Charcas und Maipú verlassen und nachher gesagt: »Nie hätte ich geglaubt, dass die Stadt mit ihren Lichtern so schön sein kann.« Die mucamas, die Dienstmädchen! In Europa gibt es keine Dienstmädchen mehr. In Buenos Aires sind es Hunderttausende: Paraguayas, Bolivianerinnen, Töchter aus den nördlichen Provinzen. Die besseren Häuser haben Dienstboteneingänge, und eine junge Frau, die nicht den Vorstellungen einer zufällig im Lift mitfahrenden Dame entsprechend gekleidet ist, muss damit rechnen, in tadelndem Ton darauf hingewiesen zu werden, sie habe sich offenbar im Fahrstuhl geirrt. FLORIDA. Die Grundstückpreise an der Calle Florida, heißt es, übertreffen jene der Fifth Avenue. Früher habe hier so gut wie Krawattenzwang geherrscht. Wehe der Dame, deren Foulard nicht zu den bas de soie assortiert war. Viel von dieser Förmlichkeit ist erhalten, wenn auch die Mädchen die Strümpfe jetzt auf den Knöcheln tragen, was aber vielleicht nur auf den Pfusch der argentinischen Industrie zurückzuführen ist. Das nahe Bankenviertel spuckt Heerscharen vorzüglich gekleideter Geschäftsleute auf die Straße: die korrekt geknöpfte Weste ist hier ein Massenphänomen. Dazwischen heulen Straßenhändler und Bettler ihre monotone Botschaft ins Gewimmel. Mit unerklärlicher Gleichmut nimmt das Lumpenpack den Luxus hin, der in den Geschäften zur Schau gestellt wird. Da schmeißt sich einer in einen Scherbenhaufen, ein anderer ruft eine Zeitschrift über UFOS aus, ein kleines Mädchen entzückt mit einem koketten Lied und einige Herren verbringen den lieben langen Tag damit, jedem, der ein wenig ausländisch aussieht, verschwörerisch ins Ohr zu flüstern: »Leather jacket, Sir?« DORT DRAUßEN. An einem Junimorgen erwachte Buenos Aires mit einem neuen Mythos: dem des Ingenieurs Santos. Der Mann hatte zwei Jugendliche ertappt, die eben sein Autoradio ausbauten, ihnen über zwölf Blöcke hinweg nachgesetzt und sie aus nächster Nähe erschossen. Am nächsten Tag liess der einflussreiche Fernsehjournalist Bernardo Neustadt verlauten, er hätte »gleich gehandelt«. Präsident Menem, der zwar »als ausgebildeter Jurist« seine Vorbehalte hatte, mochte sich dennoch nicht festlegen, was er in der Haut des Ingenieurs getan hätte. Laut Meinungsumfragen war sich eine klare Mehrheit darüber einig, dass der Mörder ungestraft davonkommen sollte (dieselben Umfragen lieferten so aufschlussreiche Daten wie jene 5,7 Prozent der Bevölkerung, die sich durch die Polizei geschützt fühlen). Die sinnlose Gewalt ist ein argentinisches Faszinosum. Borges hat sich verschiedentlich mit dem Rächer beschäftigt, dem Mann, der um des Mordes willen mordet oder stirbt, so in der Erzählung »El Sur«. »Nadie ignora«, heißt es darin, »que el Sur empieza del otro lado de Rivadavia« – jenseits jener Avenue, welche die Stadt in zwei Hälften teilt, Grenzlinie, an der die Querstrassen ihren Namen wechseln und ihre Numerierung bei 0 beginnt, während Rivadavia selbst sich als belebter Strang westwärts zieht, bei der Nummer 12’000 auf der Höhe der Schlachthöfe die Stadtgrenze erreicht und weiterführt bis über die Hausnummer 30’000 hinaus; möglicherweise die längste Straße der Welt. Irgendwo dort draußen spielte sich das Selbstjustizdrama des Ingenieurs ab. Im Gran Buenos Aires bewegt man sich nicht mit derselben Sorglosigkeit wie im Zentrum. Auf der Panamericana muss nachts mit Überfällen gerechnet werden, wobei einem zuerst die Pneus durchlöchert werden. In den sensationslüsternen Nachrichten auf Canal 7 sehen wir die faits divers der Vorstädte, aber im Barrio Norte kann man auch um vier Uhr früh gefahrlos spazierengehen. Noch ist es eine vergleichsweise sichere Stadt; der Fall des Ingenieurs zeigt nur, wie gereizt die Bevölkerung ist, und Journalisten wie Neustadt schüren die Stimmung der Gewalt. Neustadt hat mehrere Strafklagen wegen »Aufforderung zum Mord« zu gewärtigen, während auf den Windschutzscheiben der Autos sofort neue Kleber mit der drohenden Botschaft auftauchten:: »Tengo pasacasetes y soy ingeniero«. VILLA FREUD. Zu all dem Unwahrscheinlichen, das in der patria surrealista der Fall ist, kommt die sonderbare Tatsache hinzu, dass Buenos Aires verrückt ist nach Psychoanalyse. Als zum Beweis, dass – Krise hin oder her – viele Porteños an der Seele immer noch feinfühliger sind als am Geldbeutel. An jedem Kiosk liegen mehrere Periodika zu seelenkundlichen Fragen aus, und Freuds Gesamtwerk ist in drei verschiedenen Übersetzungen erhältlich, was manche Studenten nicht davon abhält, der Texttreue wegen Deutsch zu lernen. In Palermo sind einige Straßenzüge mit besonders hoher Analytikerdichte als Villa Freud bekannt. Weshalb diese Manie? Sie passt jedenfalls ganz gut zu einer gewissen Nüchternheit oder Skepsis, die den Porteños eigen ist. Auch dazu, dass Buenos Aires der intellektuelle Vorposten Europas in Lateinamerika immer zu sein beanspruchte und immer noch ist, die Stadt, wo die Frankfurter Schule fünfzehn Jahre vor Paris Furore machte und die den Zeitgeist lange ins Mutterland Spanien zurückexportierte; aber auch Brutstätte aller möglichen obskuren oder totgeglaubten Schulen und Ideologien. Hier findet man noch heute standhafte Trotzkisten genauso wie bleiche Anthroposophen. (Daneben ein Boom von vielerlei ganz unakademischer Lebenshilfe. Nachts um drei wird an der Calle Corrientes, dem Broadway Südamerikas, wird die Krise offensichtlicher als anderswo: noch sind alle Cafés offen, aber außer im »de la Paz«, wo ein vielbärtiges Publikum (die psicobolches) seinen Lacan diskutiert, ist es ein schwelendes, sporadisches, verdrossenes Nachtleben. Da endlich an der Ecke Maipú eine Menge Nachtschwärmer: sie drängen sich vor einem Theater, auf dessen Art-DécoFassade auswechselbare Neonlettern vom Auftritt eines brasilianischen Predigers künden. Und heraus schallt’s »hallelujah«. MELANCHOLIE, Verlassenheit, die Untröstlichkeit über Verlorenes werden im Tango zur Kunst erhoben. Der Argentinier kommuniziert durch die Klage. Der malevo, der Tangosänger, der mit übereinandergeschlagenen Beinen an einem Pfeiler lehnt, den Hut tief ins Gesicht gezogen, das seidene Foulard um den Hals drapiert, verleiht dem Unglück die Miene arroganter Würde, bis er mit dramatisch gebreiteten Armen das Lied von dem verruchten Weib hersingt, dessen blauer Traum einer tollen Jugend er nicht mehr ist. Auf den bitter-süßen Trottoirs geht jeder mit seiner Bagage verscherzter Träume. Das Gesetz der Stadt lautet, dass es stets zu spät ist. Ich selbst bin zu spät gekommen, und mit gleichem Recht lässt sich sagen, ein Jahr zu spät oder sieben, und eher fünfzig, oder siebzig. ALS. Als Perón vor den Goldbarren... Als die plata dulce... Als im Taumel der wiedergewonnenen Demokratie... – stets irgend einmal früher. Und erst die zwanziger Jahre kann man sich nur mit Wehmut vorstellen. Die Cafés, der Tango, die ungeduldigen Nächte... Als Graf Keyserling in Buenos Aires landete... Als der Gutsbesitzer Paz sich mit seiner Kuh zur Überfahrt nach Europa einschiffte, um täglich frische Milch zu haben... Als das Orchester von Aníbal Troilo im Palais de Glace aufspielte... Noch steht übrigens diese noble, mit einer Rosette überdachte Architektur; aber sie ist nun – unter dem Namen »Salas Nacionales de Artes Plásticas« – durch Stellwände verschandelt, an denen zweitrangige Kunstwerke hängen, wenn sie nicht gleich mit Reproduktionen europäischer Malerei tapeziert werden. BIFE. Das argentinische Steak wird – im Gegensatz zu französischen Gepflogenheiten – meist gar gebraten. Es ist so schmackhaft, dass sein Goût noch nach Stunden den Gaumen beherrscht. Kein Kaffee, kein Branntwein, kein Mundwasser, kein Kuss kommen dagegen auf. In Liniers im Westen der Hauptstadt werden jeden Tag ungefähr 20’000 Rinder gehandelt und geschlachtet. Abgesehen von den rückläufigen Exporten wird dieses Fleisch in Buenos Aires verzehrt. Aber natürlich blieb auch der asado, dieses sakrosankte Stück der argentinischen Küche, der oft im Freien auf dem Grill zubereitet wird, nicht von der Krise verschont: der Fleischkonsum ist binnen eines Jahres um 30 Prozent zurückgegangen. LOS COLECTIVOS. Unvermeidlich zum Inventar der Stadt gehören die Busse, die in Rudeln durch die engen Gassen des Zentrums rattern und sich von hier in all ihre Teile verbreiten, charmante Monster mit bauchigen Motorhauben, farbigen Karosserien, auf ein Mercedes-Chassis geschraubt und seitlich mit der Fahrroute beschriftet. Das Streckennetz der verschiedenen Linien, die von privaten Gesellschaften betrieben werden, misst 11’000 Kilometer, und einige von ihnen bieten epische Busreisen, die über zwei Stunden dauern. In Argentinien gilt es als ausgemachte Sache, dass die beiden großen Erfindungen und Beiträge des Landes zur Verbesserung des menschlichen Daseins das Croissant (medialuna genannt) und eben der colectivo sind, wie die Busse heißen, was um so seltsamer anmutet, als wir uns in einer Hochburg des Individualismus befinden. Ein Exempel dafür bieten gerade die Busfahrer, deren manche ihre Kabine mit Photos (die Angetraute, Madonna, Maradona) sowie mit Spiegeln, Tapisserien und mancherlei Tand zu regelrechten Boudoirs oder Discotheken (denn meist haben sie auch Musik) ausgestattet haben, und die gleichzeitig, während sie das Fahrzeug unter methodischer Betätigung des persönlichen Sortiments Hupen durch den Verkehr steuern, Fahrscheine ausgeben, Wechselgeld abzählen, zum Aufschließen auffordern und vielleicht noch einen neuen Radiosender suchen, am liebsten bitte FM Tango, der 24 Stunden Gardel, Goyeneche, Julio Sosa, Pugliese und Piazzola bringt. EL FALCON. Automobilistisch wird Buenos Aires durch den Ford Falcon repräsentiert. Das Modell stammt aus der Zeit, als Argentinien noch mehr Autos als Japan produzierte (bis 1963), und auf die Frage, ob es – mit Sechszylindermotor, Lenkradschaltung und vorderer Sitzbank – wirklich noch heute hergestellt wird, antwortet man mit einem milden Kopfnicken. Immerhin ist es eine Limousine, deren Präsenz das Straßenbild massiv verschönert. Ihre Vorzüge sind aber nicht nur ästhetischer Natur. Als robustes Fahrzeug, schwarz lackiert mit gelbem Dach, wird der Falcon von vielen der 35’000 Taxifahrer – Weltrekord! – in der Capital Federal benutzt. In zweierlei Blautönen stellt er einen ordentlichen Streifenwagen vor, in Grün jedoch ist er zum Symbol einer dunklen Zeit der argentinischen Geschichte geworden: in solche Autos wurden in den siebziger Jahren die Opfer der guerra sucia, deren Zahl niemand genau kennt, von ihren Häschern gezerrt. DIE BEGNADIGUNG. Offiziell sind es 10’000, wahrscheinlicher an die 30’000, wie die Madres de Mayo schätzen, die zwischen 1976 und 1982 in Argentinien verschleppt und gemordet wurden. Wer durch die Stadt fährt, wird gelegentlich auf die Tatorte des makabern Geschehens hingewiesen. Der herrschaftliche weisse Gebäudekomplex am Flussufer? »Die Escuela de Mecánica de la Armada, Folterkammer der Generäle, ein Ort zum Verschwinden.« Andere grausliche Ereignisse liegen noch weniger weit zurück und sind doch schon nur noch eine Fußnote der Geschichte. Jenes Militärareal neben dem Autobahnring um die Hauptstadt? »Das Cuartel Villa Martelli, wo 1989 Seineldín meuterte« – der bisher letzte Versuch eines Militärs, einer Regierung den Boden heiß zu machen. Die für die guerra sucia verantwortlichen Armeeführer und ExPräsidenten sind 1986 wegen Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt worden. Kaum im Amt, hat Präsident Menem ihre Begnadigung angekündigt. »In Anerkennung ihres Kampfs gegen die Subversion«, wie der oberste Heerführer General Bonnet sich brüstete, was zwar von der Regierung dementiert wurde. Sie möchte die Begnadigung als Versuch zur »Befriedung des Landes« verstanden wissen. Tatsächlich erscheint sie als ein so irrationaler Akt – ein Schlag ins Gesicht der Justiz, der Angehörigen der Opfer und der Gesellschaft insgesamt –, dass nur die Angst vor einem neuen Staatsstreich ihn zu erklären vermag: Befriedung der Nation ist ein Euphemismus für Beschwichtigung der Militärs. Vielleicht kommt noch etwas hinzu: die argentinische Manie, zu vergessen. »Die Argentinier wollen keine Geschichte«, sagen manche, »sie wollen vergangenheitslos leben«. In Schüben von Wochen, allenfalls Monaten, gewohnheitshalber am besten mit dem Kalender der Inflation (und Jahre sind da schon so abstrakt wie der Staat – seit 1976 beläuft sich die Geldentwertung auf 400 Milliarden Prozent). Unter diesem Gesichtspunkt, wie ungeheuerlich die Begnadigung auch für viele ist, kann sich Vizepräsident Duhalde in einem Interview die Äußerung erlauben: »Ob die Ex-Befehlshaber gefangenbleiben oder nicht, ist den Leuten vollkommen egal. Am Tag nach ihrer Freilassung wird sich keiner mehr daran erinnern.« DR. MENEM. Der politische Alltag gleicht einer Groteske, einem Schwank. Präsident Menem manövriert sich durch das Kräftespiel wie durch eine Familienintrige, und manche Affäre scheint einem Drehbuch für »Dallas« entnommen, das wegen Unglaubwürdigkeit abgelehnt wurde. Die Popularitätsquote der Regierung macht die Sprünge des Dollars mit und steht in umgekehrtem Verhältnis zur Inflationsrate, die es immerhin nach der letzten Hyperinflation im Februar auf monatliche zehn bis fünfzehn Prozent zu senken gelang. Menem paukt die Privatisierung der staatlichen Telefon-, Eisenbahn- und Fluggesellschaften voran, die unter Aufsicht der ausländischen Gläubigerbanken an private Monopole verschachert werden. Dem Präsidenten ist empfohlen worden, gelegentlich auch seinen Ehezwist zu privatisieren. Er wurde endgültig zum öffentlichen Skandal, als Zulema in ihrem Ehrgeiz, Eva Perón zu reinkarnieren, mit den politischen Gegnern Menems (darunter Seineldín und Gewerkschaftsführer Ubaldini) zu scharwenzeln begann, die Verderbtheit der Mitarbeiter ihres Mannes anprangerte und auf die Frage, wer genau bestechlich sei, ausrief: »Alle, alle sind sie korrupt!« Einer der Hintergründe des Gezänks sind die Revierkämpfe zweier arabischer Familienclans aus Santa Fé, der Heimatprovinz der beiden. Dass die argentinischen Regierungen ihre Macht für private Zwecke missbrauchen, und um so eiliger, als sie meist mit einer kurzen Zeit Amtszeit rechnen, darüber hält sich kaum mehr jemand auf. Aber Menem ist ein besonders wunderlicher Fall. Nicht nur der New York Times erschien er »unerforschlich«, denn in seinem ersten Regierungsjahr hat er Freund und Feind mit einer Abkehr von den peronistischen Prinzipen überrascht, sich mit den Wahlverlierern von der Liberalen Partei verbündet und eine rein marktwirtschaftliche »produktive Revolution« angekündigt. Ob aber der argentinische Kapitalismus, der genauso ineffizient und korrupt ist wie die Staatsunternehmen und eher an den Merkantilismus des 18. Jahrhunderts erinnert, für diese Politik reif ist, wird vielenorts bezweifelt. 1990 ist die Produktivität weiterhin gesunken, die Kaufkraft der Löhne weit unter dem Niveau der achtziger Jahre geblieben, und Menem braucht dringend Ergebnisse, wenn ihm sein publikumswirksames Lächeln nicht gefrieren soll. AUSWANDERN. Morgens um fünf stehen vor der italienischen und der spanischen Botschaft Auswanderungswillige Schlange. Das Phänomen ist nicht neu: schon in den sechziger Jahren zogen viele der besten Köpfe weg (eine kleine Namensliste bekannter Künstler allein gibt einen guten Begriff von der ethnischen Zusammensetzung des argentinischen Volks: Jorge Lavelli, Daniel Barenboim, Jérôme Savary, Atahualpa Yupanqui, Margarita Zimmermann); Ende der siebziger Jahre exilierten sich jene, die ihren Kopf retten mussten, und heute endlich macht die Wirtschaftsmisere die halbe Bevölkerung zu potentiellen Emigranten. Ihre Großväter kamen aus Georgien, aus Sizilien, woher immer, um dem Hunger zu entgehen. Und etliche ihrer Kinder werden, aus denselben Gründen, Australier oder Kanadier, wenn nicht wieder Italiener sein. EL HOMBRE DE CORRIENTES Y ESMERALDA. Borges’ Liebe zur Stadt, obwohl er dann nach Genf, in »seinen Kanton« sterben ging, steigerte sich bis zum »Fervor de Buenos Aires« (Titel seines ersten Buches). Und nebst den lokalen Autoren – Cortázar, Sabato, Bioy Casares sind nur die bekanntesten – haben Hergereiste und zeitweilig Ansässige wie Ortega y Gasset, Gómez de la Serna, Gombrowicz, Caillois und Malraux in diesem Jahrhundert das Pflaster literarisch abgeschritten. Ein langer Essay mit dem Titel »Der Mann, der allein ist und wartet«, 1931 erstmals erschienen, ist zum Klassiker geworden als Versuch, den »trägen, mundfaulen, duldsamen und hochmütigen« Menschen zu durchleuchten, den der Autor Scalabrini-Ortíz im Porteño erkannt hat und den er an der seither sprichwörtlichen Ecke von Corrientes und Esmeralda ansiedelt, wenn auch dessen Sehnsucht es gerade ist, überall gleichzeitig zu sein um zu sehen, einfach nur zu sehen, diese amerikanische Hingabe an das Ereignis, das in jeder Türklinke und in jedem Stöckelabsatz lauert. Europäisch in Buenos Aires ist nur die Form, schreibt Scalabrini-Ortíz; der Puls ist ein anderer. NÄCHTE. Wenn der Tag sich im »hombre de Corrientes y Esmeralda« resümieren lässt, in der Stadt ohne Eigenschaften, im horizontalen Schwindel, so splittert die Nacht in vielerlei Ursprünge und Formen sich auf. In einer irischen Bar summt ein göttlicher Sänger »Making Whoopee«, in einem libanesischen Restaurant winden sich die Bauchtänzerinnen, in einer griechischen Spelunke wird mit Tellern geworfen, an einem Fest in einem Penthouse an der Avenida Libertador wird deutsch gesprochen, in einer karibischen Discothek singt das Publikum die Refrains im Chor mit, im syrischen Club zieren sich Töchter gemischten Geblüts, im »Bunker« torkeln tausend Tunten, in San Telmo liegen Tango-, Tingeltangel- und Punklokale beieinander, in »Trump’s« werden die Knie junger Dinger betätschelt, »Cinema« gleicht Barcelona und »Heaven« Madrid, die Nacht ist amerikanische Vielfalt. Niemand in Buenos Aires, der nicht ihren Niedergang beklagen und beteuern würde, wie viel ungestümer alles noch vor wenigen Jahren war. Jede Nacht geht in hundert Theatern der Vorhang auf, aber wie oft vor einem leeren Saal. Vor zwei Uhr nachts in der »Fechoría« oder im »Edelweiss« zum Essen zu erscheinen, grenzt an eine Geschmacklosigkeit, aber im Zentrum sind die vieltausendplätzigen Kinopaläste außer an den Wochenenden gespenstisch leer. Die Buchhandlungen an Corrientes schließen weit nach Mitternacht, und unzählige Kioske, Blumenstände, Bars und Cafés in der ganzen Stadt, wenn überhaupt, erst gegen Morgen; aber wenn »Angie« aus einem Musikgeschäft auf die Kino- und Gesindelstrasse Lavalle hinausdröhnt und ein Betteljunge glückstrahlend mit einem eroberten Stück Pizza aus einem Lokal springt und ein zehnjähriges Blumenmädchen beim Obelisken unter den großen Neonreklamen mit einem Rosenstrauß über die 130 Meter breite Avenida 9 de Julio rennt, so ist es doch ein schwermütiges Nachtschwärmen. Die Jungen, die mit Müllsäcken Fussball spielen, wirken pittoresk; aber die Truppe dunkler Gestalten, die um vier auf den frisch herausgeräumten Kehricht vor den Restaurants sich stürzen, das ist nicht mehr Folklore. EL TELO. In der Recoleta im Barrio Norte übertrumpfen sich die Mausoleen der argentinischen Oligarchie gegenseitig. Generäle, Präsidenten, nationale Erzieher liegen in dieser Nekropolis begraben. Um den Friedhof herum aber reihen sich Lokale (Fülle von Geschmacksverirrungen des paquete, wie die Oberschicht genannt wird) für nächtliche Begehrlichkeiten und Frivolitäten. Die Recoleta, das sind die Mehrbesseren, die sich um die Gräber nobler Vorfahren herum eitlen Vergnügungen hingeben. Wie überall in der Stadt gibt es auch hier schummrig beleuchtete Etablissements mit der Aufschrift Albergue transitorio – im lokalen Verlan telo genannt (tel-Ho) –, Stundenhotels voller zweirückiger Biester, mit allen möglichen der Liebe förderlichen Apparaten und Kunstgriffen und Balkons auf das Grab von Eva Perón... [NZZ, 1990]