Gliederung

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Familientherapeutische
Ansätze und Konzepte
Ein einführender Überblick
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Markus Marbaise
copyright 2001
www.sfh-wuerzburg.de
-2-
Gliederung
I.
Einleitung
Seite 3
II.
Schulübergreifende familientherapeutische Interventionstechniken
Seite 4
III.
Psychoanalytische Familientherapie
Seite 7
IV.
Strukturelle Familientherapie
Seite 8
V.
Erfahrungszentrierte Familientherapie
Seite 9
VI.
Systemische Familientherapie
Seite 10
VII
Schluß
Seite 14
VIII.
Literaturverzeichnis
Seite 15
IX.
Anhang
Seite 16
-3-
I. Einleitung
Was umfaßt nun der Begriff Familientherapie zu Beginn des 21. Jahrhunderts und welche sind
die zentralen therapeutischen Richtungen, bzw. Verfahren?
Das Psychologische Wörterbuch Dorsch gibt folgende Definition:
„Familientherapie kann auf der Basis unterschiedlicher therapeutischer Richtungen stehen
(humanistische
Therapie,
psychodynamische
Therapie,
systemische
Therapie,
und
Verhaltenstherapie), doch enthalten die meisten Familientherapien systemische Elemente. Typisch
ist die Auffassung, daß die einzelnen Familienmitglieder
>>Symptomträger<<
sind, die Probleme
aber eigentlich in der Familieninteraktion liegen.“1
Schlägt man in den Folgenden der sogenannten „nichtlexikonalen“ Standardwerken des
psychotherapeutischen Fachgebietes nach, erhält man keineswegs ein einheitliches Bild der
Einteilung:
a.) Jürgen Kriz gliedert in „Grundkonzepte der Psychotherapie“ das familientherapeutische
Gebiet wie folgt: Psychoanalytisch orientierte Familientherapie, Erfahrungsorientierte
Familientherapie, Strukturelle Familientherapie und Strategische Familientherapie.
b.) Schwertfeger / Koch treffen in „Der Therapieführer“ folgende Einteilung: Strukturell und
wachstumsorientierte
Familientherapie,
Kommunikationstherapie,
Paarsynthese
Integrative
und
Paar-
und
Systemische
Familientherapie,
Familientherapie
(Strukturaufstellungsarbeit).
c.) Kraiker / Peter reduzieren in dem „Psychotherapieführer“ ihre Darstellung der Formen der
Familientherapie auf die Psychoanalytische Familientherapie und die Systemische Therapie.
Im weiteren Verlauf dieser Ausarbeitung soll, der Einteilung von J. Kriz folgend,
schwerpunktmäßig die Systemische (oder auch Strategische) Therapie, sowie zuvor, in
skizzierender Form, die Psychoanalytisch orientierte Familientherapie, die Strukturelle
Familientherapie und die Erfahrungszentrierte Familientherapie dargestellt werden.
Vorangestellt werden familientherapeutische Konzepte und Interventionstechniken, die für alle
familientherapeutischen Richtungen von Bedeutung sind, erörtert.
-4-
II. Schulenübergreifende familientherapeutische Interventionskonzepte
1.) Joining (Therapeutisches Arbeitsbündnis)
Jürgen Kriz leitet mit folgender grundlegenden Feststellung aus systemischer Sicht ein:
„In dem Augenblick, wo ein Therapeut mit einer Familie zu arbeiten beginnt, findet unter
systemischen Gesichtspunkten bereits eine Transformation des Familiensystems S in ein neues
System S‘ – bestehend aus Familie und Therapeut - statt.“2
Joining umfaßt sowohl die Herstellung eines tragfähigen therapeutischen Arbeitsbündnisses
zwischen Therapeut und Familie als auch die Aufstellung von Regeln für alle am
therapeutischen Prozeß und Verlauf beteiligten Personen.
Schlippe wählt in seinem Buch „Familientherapie“ zur Verdeutlichung die Tanzmetapher:
„Joining bezeichnet den Prozeß, mit dem sich der Therapeut auf den Familientanz einstimmt und
schon in seinem Einstimmen die ersten Versuche macht, Schrittfolgen zu ändern, insofern ist
Joining als Kontakttechnik immer auch Veränderungstechnik.“3
2.) Umdefinition des Problems, vom Individuum zu System
Zentraler, therapeutischer Punkt ist eine Neudefinition des Problems gemeinsam mit der Familie.
Denn üblicherweise zeigt sich zu Beginn einer Familientherapie das Phänomen des
>>Kindlichen
Indexpatienten<<:
„Sämtliche Probleme in der Familie, das Unglück oder die Unzufriedenheit jedes Einzelnen sind
ausgeblendet, alle starren auf das Problem des Kindes, das gesamte Problemspektrum wird reduziert
auf diese eine Störung. Aufgabe des Therapeuten – besonders im Erstgespräch – ist es, schrittweise
die Probleme jedes einzelnen zu erheben.“4
So ist der therapeutische Fokus wieder mehr auf die Gesamtproblematik der Familie und die
Familienstrukturen zu richten, was gleichzeitig eine enorme Entlastung des „ehemaligen“
Indexpatienten bewirkt.
3.) Reframing (Umdeuten)
1
2
3
4
Dorsch Psychologisches Wörterbuch, Häcker / Stapf (Hrsg.), Hans Huber Verlag 1998, S. 270
Jürgen Kriz, Grundkonzepte der Psychotherapie, Beltz Verlag 1994, S. 269
Arist von Schlippe, Familientherapie, Jungfermann Verlag 1995, S. 82
ebd. S. 84
Reframing beschreibt die Umdefinition der Sichtweise der Probleme und der damit verbundenen
Bedeutung der Symptome: V. Schlippe verdeutlicht die Historie des Reframings am Märchen
von „Hans in Glück“:
-5„Was hat Hans gemacht? Er hat sich konsequent reframed: Er hat Bedeutungen von Ereignissen, die
ihm widerfuhren, in einen anderen Kontext gestellt als üblich. Er erlebte sie nicht in einem Kontext
von Besitz – wie für uns so selbstverständlich – sondern im Kontext von Freiheit. Innerhalb dieses
Kontextes war in der Tat jedes Ereignis ein Glück.“5
4.) Arbeit an Grenzen
Schlippe stellt zwei Ziele therapeutischer Interventionen gegenüber familiären Grenzen - nach
einer genauen Systemdiagnose - heraus: Die Aufweichung starrer Grenzen oder die Verfestigung
diffuser Grenzen. Als Indikatoren solcher Grenzen sieht Schlippe schon die Regulierung der Sitzordnung in der ersten Therapiestunde. „Andere sind die Art und Häufigkeit von
Unterbrechungen, Unterstützungen, Hilfen, die einzelne Mitglieder anderen geben.“6
Als Beispiel für eine diffuse Grenze zwischen Mutter und Kind gibt Schlippe folgendes Beispiel:
„Die Mutter setzte sich auf den Stuhl, auf dem ihr ca. 10-jähriger Sohn bereits saß, nahm ihn in den
Arm und zwar so, daß ihre Hand sein Gesicht zudeckte, und sagte: „Ihm geht es ja so schlecht, er
traut sich nichts zu, will nicht mit anderen spielen ...“7
Hier wird die diffuse Grenze zweifach deutlich: In der Sitzordnung der beiden auf einem (!) Stuhl
einerseits und in der Sprache (sie spricht für ihn) andererseits.
5.) Das Genogramm in der Familienanamnese
Kriz beschreibt die Bedeutung der Familienanamnese wie folgt:
„Die Familienanamnese kann auch als Technik des Joining gesehen werden, denn sie stellt ein gutes
Mittel dar, mit allen Familienmitgliedern in Kontakt zu kommen, ohne in eine bestimmte Koalition
gedrängt zu werden.“8
Eine einfache und direkte Form der Familienanamnese stellt das Genogramm (auch
Geneogramm) dar. Auch dieses ermöglicht neben der Anamnese die Kontaktaufnahme mit jedem
einzelnen Familienmitglied und wirkt so einer Isolierung des „Index-“ oder „Problempatienten“
entgegen.
5
6
7
8
Arist von Schlippe, Familientherapie, Jungfermann Verlag 1995, S. 86
ebd. S. 94
ebd. S. 94
Jürgen Kriz, Grundkonzepte der Psychotherapie, Beltz Verlag 1994, S. 272
„Es geht dabei um eine skizzenhafte Visualisierung wichtiger Familienereignisse und –daten.
Angefangen mit Namen, Alter und Heiratsdatum der Eltern, werden Namen und Alter der Kinder
auf einer Tafel aufgezeichnet. Hier können schon Gespräche über Geschwisterkonstellationen und
deren
-6Bedeutung beginnen. Dazu können für eine Familie und deren Geschichte so wichtige Ereignisse
wie z.B. Tod eines Familienmitgliedes, Scheidung, evtl. Wiederverheiratung der Eltern, Adoption,
Umzüge, Unfälle, schwere Krankheiten, Arbeitslosigkeit usw. aufgeführt und sichtbar gemacht
werden.“9
Besonders für isolierte, verschlossene und eher zurückhaltende Familienmitglieder erweist sich
diese Form der Anamnese als Chance „aufzutauen“ und sich aktiv zu beteiligen.
Der Bezug zum Joining zeigt sich weiterhin in der Einführung von basalen Regeln:
„Gleichzeitig werden bedeutende Gesprächsregeln etabliert, wie:
>>Die
Sichtweise von jedem ist
wichtig, jeder als Person ist wichtig<<, >>Hier wird keiner beschuldigt<< usw.“10
6.) Familienskulptur
Kriz faßt das, von Duhl und Kantor entwickelte und auf Ansätze des Psychodramas
zurückgehende, Konzept der Familienskulptur wie folgt zusammen:
„Es geht dabei darum, daß von Familienmitgliedern in Form eines pantomimischen Bildes
bestimmte familiäre Beziehungen und Haltungen dargestellt werden. Ein Familienmitglied fungiert
dabei als „Bildhauer“, die anderen Personen müssen sich entsprechend dessen Anweisungen
aufstellen und bestimmte Haltungen einnehmen.“11
Erweiterungsvarianten
des
Familienskulpturkonzeptes
sind
die
Möglichkeit,
jedes
Familienmitglied seine eigene Sicht der Familienskulptur darstellen zu lassen oder die statische
Form der Skulptur um choreographische Szenen zu erweitern.
7.) Der Gebrauch von Metaphern
Schlippe nennt als letzte schulübergreifende Interventionstechnik den Gebrauch von Metaphern
in der Familientherapie. Als Beispiel für eine Metapher, die nicht nur den Sinn von Therapie,
sondern auch den Sinn des Lebens „erhellt“, zitiert Schlippe Martin Bubers „Erzählungen des
Chassidim“:
9
10
11
Arist von Schlippe, Familientherapie, Jungfermann Verlag 1995, S. 97
ebd. S.97
Jürgen Kriz, Grundkonzepte der Psychotherapie, Beltz Verlag 1994, S. 271
„Die Frage der Fragen: Vor dem Ende sprach Rabbi Sussja: ‚In der kommenden Welt wird man
mich nicht fragen: Warum bist du nicht Moses gewesen? Man wird mich fragen: Warum bist du
nicht Sussja gewesen?‘ “
Bei dem therapeutischen Gebrauch von Metaphern verschmelzen therapeutische und (lebens-)
philosophische Ebenen in einem offenen und non-direktiven Charakter miteinander.
-7-
III. Psychoanalytische Familientherapie
Kriz leitet damit ein, daß sich die Familientherapie geradezu aus der Psychoanalyse entwickeln
mußte, da die überwiegende Mehrheit der Psychanalytiker zunächst als Kliniker begann. Als
Psychoanalytiker, die bereits zwischen 1930 und 1950 ihren Blick auf Familien richteten, nennt
er Erik Erickson, Rene Spitz, Erich Fromm und Harry Stack Sullivan.
Thea Bauriedl verdeutlicht die Wurzeln der analytischen Familientherapie bereits bei Freud:
„Auch die Familiendynamik war schon Gegenstand seiner Überlegungen, wenn er z.B. den
Ödipuskomplex in den Mittelpunkt seiner Theorie stellte oder die Übernahme elterlicher Normen
durch das Kind als prägend für dessen Über-Ich beschrieb.“12
Bauriedl nennt als bedeutende „Pioniere“ familientherapeutischer Analytiker des deutschen
Sprachraums in den 60er Jahren H. E. Richter („Rollentheorie“) und E. Sperlings
„Mehrgenerationen-Familientherapie“, sowie die von ihr selbst in den 70er Jahren entwickelte
„Beziehungsanalyse“ und beschreibt als übereinstimmende Grundannahmen:
„Den eben beschriebenen Ansätzen der psychoanalytischen Familientherapie im deutschen
Sprachraum ist gemeinsam, daß hier die Vorstellungen vom persönlichen Unbewußten mit
Vorstellungen eines gemeinsamen familiären Unbewußten verbunden werden. Man untersucht das
Zusammenspiel der individuellen Dynamik des einzelnen mit der interpersonalen Dynamik des
Paares bzw. der Familie. Gemeinsame Grundannahmen finden sich auch in der historischen
Dimension, was die Lebensgeschichte des einzelnen und die Tradition (Weitergabe) von
Beziehungsstrukturen
über die Generationen hinweg betrifft: Jedes Kind wächst in einem
familiären oder familienähnlichen Umfeld auf, aus dem es die für dieses Umfeld typischen
Konfliktmuster übernimmt, diese seinerseits in der eigenen Partnerschaft wiederholt und dabei an
die eigenen Kinder weitergibt.“13
Bauriedl betont, daß, wie auch bei anderen familientherapeutischen Konzepten, ebenfalls bei dem
psychoanalytischen Ansatz versucht wird, möglichst alle beteiligten Konfliktparteien in die
Therapie miteinzubeziehen. Der Therapeut wird dabei als wichtiger Teil des therapeutischen
12
13
C. Kraiker / B. Peter (Hrsg.), Psychotherapieführer, C.H. Beck Verlag 1998, S. 260
ebd. S. 261
Systems
verstanden.
Die
Autorin
will
dabei
analytische
Therapie
nicht
als
„Vergangenheitstherapie“ verstanden wissen:
„Bei der Einbeziehung der historischen Dimension jedes einzelnen Menschen und der psychischen
Traditionen geht es vielmehr darum, Wege zu finden, wie die aktuellen intrapsychischen und
intrafamiliären Vorgänge in ihrem historischen Gewordensein verstanden werden können.“14
Dabei wird der Patient als selbstverantwortliches Subjekt seines Lebens betrachtet.
-8-
IV. Strukturelle Familientherapie
Als Begründer der Strukturellen Familientherapie wird Salvator Minuchin angesehen, Jay Haley
gilt als einer der wichtigsten Vertreter, der seinen Ansatz allerdings als „strategisch“, bzw.
„problemlösend“ bezeichnete.
Minuchin legte seinem familientherapeutischen Modell folgende drei Axiome zugrunde:
1. Das geistig-seelische Leben ist kein ausschließlich interner Vorgang. Jeder Mensch steht zu
seiner Umwelt in einer Art Wechselbeziehung.
2. Veränderungen in der Familienstruktur tragen zu Veränderungen im Verhalten und den
innerpsychischen Prozessen der Mitglieder bei.
3. Das Verhalten des Therapeuten, der mit einer Familie arbeitet, wird Teil des Kontextes;
Therapeut und Familie bilden ein neues System.
Minuchin geht von einer normativen Struktur einer funktionierenden Familie aus, von
entscheidender Bedeutung ist dabei die Klarheit der Grenzen. Dies bedeutet ein ausgewogenes
Verhältnis zwischen Zugehörigkeit und Trennung innerhalb der familiären Subsysteme, die
Grenzen sollen weder einen starren Charakter haben („isolierte“ Familie) noch verwischen
(„verstrickte Familie“). Für Minuchin liegt die Funktion der Subsysteme z.B. darin, die einzelnen
Familienmitglieder zu schützen, sich Veränderungen anzupassen, aber auch Kontinuität zu
gewährleisten.
Er betont, daß es die Aufgabe des Therapeuten ist, direktiv vorzugehen. Der „Grundgedanke
lautet hier, daß eine Veränderung dadurch zustande kommt, daß sich der Therapeut der Familie
anschließt und sie nach einem sorgfältigen Plan neu strukturiert, so daß die dysfunktionalen
Transaktionsmuster umgewandelt werden“ (Minuchin 1977). Der Therapeut soll dabei, in einem
sich ständig wiederholendem Prozeß des Hypothesenaufstellens und –überprüfens, den einzelnen
Familienmitgliedern die reale Struktur ihres familiären Systems vor Augen halten.
Jürgen Kriz faßt den therapeutischen Prozeß des strukturellen Ansatzes wie folgt zusammen:
14
ebd. S. 263
„Der therapeutische Prozeß, sagt Minuchin, besteht aus drei wichtigen Schritten, die aber in der
Behandlung selbst untrennbar sind: (1.) schließt sich der Therapeut der Familie an und nimmt eine
Führungsrolle ein (z.B. laufen wichtige Kommunikationen über ihn, er hat die Verantwortung für
das, was geschieht) (2.) hat er die grundlegende Familienstruktur aufzudecken und (3.) soll er die
Umstände schaffen, die eine Transformation der Struktur möglich machen. Dazu greift der
Therapeut in die Homöostase der Familie ein, schafft Krisen, um die Familie in Richtung auf ein
neues Gleichgewicht zu drängen. Durch eine Reihe von Techniken fordert er die bisherige
Organisation des Systems heraus.“15
-9-
V. Erfahrungszentrierte Familientherapie
Die Erfahrungsorientierte Familientherapie umfaßt eine Reihe von Richtungen und Strömungen,
die nicht wirklich voneinander abgegrenzt werden können. Kriz ordnet dieser Richtung besonders
folgende Personen zu: Carl Whitaker, Virginia Satir, Walter Kempler und Peggy Papp.
J. Kriz sieht die Grundaspekte dieses Ansatzes wie folgt:
„Erfahrungszentrierte Familientherapie hat trotz der systemischen Perspektive durchaus auch die
Änderung (besser: das Wachstum) der einzelnen Personen im Auge. Entsprechend dem
humanistischen Menschenbild wird eine Person unter natürlichen, nicht behinderten Bedingungen
als grundsätzlich gesund angesehen – kreativ, produktiv und liebenswert.“16
In Verbindung mit dem Wachstum betont Satir den Selbstwert als zentralen Faktor und dessen
besondere Bedeutung für die familiären Kommunikationsstrukturen:
„Ich bin überzeugt, daß das Gefühl des Wertes nicht angeboren ist, es ist erlernt. Und es ist in der
Familie erlernt. Du hast dein Gefühl von Wert oder Unwert in der Familie gelernt, die Deine Eltern
gegründet haben, und Deine eigenen Kinder lernen es in Ihrer Familie gerade jetzt.“17
Als Resultat eines geringen Selbstwerts sieht Satir eine dysfunktionale Kommunikation. Satir
fand, in den von ihr untersuchten „gestörten“ Familien, vier typische Kommunikationsmuster, die
zur Abwehr der empfundenen Bedrohung eines zu schwachen Selbstwertes entwickelt wurden:
Beschwichtigen, Anklagen, Rationalisieren und Ablenken. Im Zusammenhang mit diesen
Kommunikationsmustern beobachtete Virginia Satir verfestigte körperliche Haltungen, welche
die Anpassung des Körpers an das gestörte Selbstwertgefühl ausdrücken.
Als erste wichtige Grundannahme Satirs über die menschliche Natur stellt von Schlippe heraus:
„Jeder Mensch trachtet danach, zu (über)leben, zu wachsen und nahe bei anderen zu sein. Alles
Verhalten drückt diese Ziele aus, unabhängig davon, wie gestört es erscheinen mag.“18
15
Jürgen Kriz, Grundkonzepte der Psychotherapie, Beltz Verlag 1994, S. 289
ebd. S. 279
17
Virginia Satir, Selbstwert und Kommunikation, Pfeiffer Verlag 1975, S. 42
16
Arist von Schlippe sieht in dieser und weiterer Grundannahmen Satirs folgende Verbindung etwa
zur kognitiven Verhaltenstherapie und auch zur rational-emotiven Therapie:
„...die Betonung der Eigenverantwortung eines jeden Menschen für seine Gedanken und für seine
Gefühle. Der Mensch ist frei zu denken und zu fühlen, was er will. Er muß den Weg in diese Freiheit
finden.“19
In der erfahrungsorientierten Familientherapie stehen therapeutische Techniken eher im
Hintergrund, von großer Wichtigkeit ist die Spontanität des Therapeuten, sowie Aspekte wie
Begegnung, Einzigartigkeit und Ganzheit.
- 10 -
VI. Systemische Familientherapie
Zu Beginn scheint eine allgemeine Definition der Begriffe „System“ und „Systemtherapie“ nötig:
„Allgemein gesprochen bestehen Systeme aus Elementen, die sich in Wechselwirkungen
(einschließlich Rückwirkungen auf sich selbst) befinden oder sich gegenseitig konstituieren
(erzeugen),
so daß sie ein strukturiertes, von der Umwelt unterscheidbares Gesamt bilden.“20
„Systemische Therapie kann zweierlei bedeuten: Den konkreten Einbezug des Systems, in der ein
>>identifizierter
Patient<< lebt - insbesondere der Familie – und das Einnehmen einer systemischen
Sicht, bei der die dynamischen Wechselwirkungen zwischen einem einzelnen Patienten und
Personen in seiner Umgebung unabhängig von der Therapieform (also auch in Einzeltherapie in den
Vordergrund gestellt werden).“21
Kriz betont, daß im Gegensatz zum strukturellen Ansatz Minuchins weniger theoretische
Überlegungen im Hinblick auf eine gut funktionierende Familie den systemischen Ansatz von
Familientherapie kennzeichnen „als vielmehr die Möglichkeiten direkten Einfluß auf Personen
und das System zu nehmen, um Änderung zu induzieren.“22 Die Intention des systemischen
Therapeuten liegt darin, daß System zu „verstören“, um so eine „gesundende Neukalibrierung“
des bestehenden Familiensystems regelrecht herauszufordern.
Die systemische Therapie gibt es allerdings nicht, genauso wenig wie die Systemtheorie. Folglich
können „unterschiedliche Varianten der systemischen Therapien als Übersetzungsversuche
unterschiedlicher systemtheoretischer Ansätze in die klinische Praxis gesehen werden.“23 Als
18
19
20
21
22
23
Arist von Schlippe, Familientherapie, Junfermann Verlag 1995, S. 61
ebd. S. 61
Nolting / Paulus, Psychologie lernen, Beltz Verlag 1999, S. 167
Dorsch Psychologisches Wörterbuch, Häcker / Stapf (Hrsg.), Hans Huber Verlag 1998, S. 856
Jürgen Kriz, Grundkonzepte der Psychotherapie, Beltz Verlag 1994, S.290
C. Kraiker / B. Peter, Psychotherapieführer, C.H. Beck Verlag 1998, S. 250
Gemeinsamkeit aller systemischen Ansätze wird die Perspektive dargestellt, daß Probleme und
Symptome nicht als Pathologie eines Individuums zu verstehen sind, sondern als jeweilige
Problemdefinition und Festschreibungen im Kontext eines sich entwickelnden sozialen, bzw.
familiären Bezugssystems.
„Ein zentraler Fokus systemischer Therapien ist die Annahme, daß kognitive und kommunikative
Konstruktionen wie auch die sprachlich in Geschichten gefaßten Erfahrungen (Narrationen) von
Individuen oder Familien in Zusammenhang mit der Erzeugung von menschlichen Problemen
stehen. Es wird angenommen, daß eine Veränderung dieser spezifischen Konstruktionen oder
Narrationen zu einem verändertem Erleben und auch Verhalten führen kann. Die mit Klienten
gemeinsam erarbeitete Thematisierung, Veranschaulichung und Veränderung des wechselseitigen
Bezugs von vorgestellten Problemen und Symptomen mit interpersonellen Beziehungs- und Deutungsmustern war
- 11 und ist daher ein wesentliches Mittel und Ziel systemischer Therapie.“24
Im Jahre 1980 beschrieben die Begründer der sogenannten Mailänder Schule Selvini-Palazzoli,
Boscolo, Cecchin und Prata erstmals Hypothesieren, Zirkularität und Neutralität als drei
Grundhaltungen von systemischen Therapeuten, wobei diese Grundhaltungen wiederum in einem
wechselseitig bedingten Verhältnis zueinander stehen.
1.) Hypothesieren
Martin Schmitt faßt die Grundhaltung des Hypothesierens wie folgt zusammen:
„Das Aufstellen von Hypothesen (Hypothesieren) ist eine Methode, aus Beobachtungen gewonnene
Daten miteinander zu verknüpfen. Dabei gilt, daß im therapeutischen Kontext Hypothesen weder
falsch noch richtig sind, sondern die Funktion eines nützlichen Arbeitsinstruments erfüllen. Eine
Hypothese wird als systemisch angesehen, wenn sie alle Komponenten des beobachteten Systems
berücksichtigt und eine Erklärung dafür bietet, wie diese sich aufeinander beziehen.“25
Kriz betont, daß bei der Grundhaltung des Hypothesierens innerhalb des therapeutischen
Prozesses Handlung als Datensammlung und Handlung als Intervention nicht mehr getrennt sind.
Denn das Aufstellen von Hypothesen bewirke an sich schon einen Eingriff in das (familiäre)
System und ziehe deshalb auch eine Veränderung dieses Systems nach sich.
2.) Zirkularität
Schmitt leitet wie folgt ein:
24
25
ebd. S. 251
ebd. S. 251
„Zirkularität meint Kreisförmigkeit. Zirkuläres Denken versucht die wechselseitige Bezogenheit der
Elemente eines Systems so zu beschreiben, daß die Eingebundenheit jedes Elementes in das Ganze
deutlich wird. Unter Zirkularität wird die Fähigkeit von Therapeuten verstanden, sich in der
Befragung von den Antworten der Klienten und den darin enthaltenen sprachlichen und
nichtsprachlichen Botschaften leiten zu lassen. Methodisch wird zirkuläres Denken durch zirkuläres
Fragen umgesetzt.“26
Dabei ist die Technik der Befragung von der allgemeingültigen Regel von Familien- und
Gruppentherapie abzuheben, daß jeder nur für sich sprechen kann. Vielmehr befragt der
Therapeut jedes Familienmitglied über bestimmte Beziehungsaspekte zwischen jeweils zwei
anderen Familienmitgliedern. Dabei werden auch nicht anwesende Personen und hypothetische
Situationen angesprochen.
- 12 -
Jürgen Kriz führt dafür folgende Beispiele an:
„Zum Beispiel: Wer mischt sich mehr in den Streit Deiner Eltern ein, Dein Großvater oder Deine
Großmutter?, oder : “Wenn eines von Euch Kindern zu Hause bleiben würde ohne zu heiraten, wer
wäre da wohl am besten für Euren Vater. Und wer wäre am besten für Eure Mutter?“.27
Weitere Beispiele für zirkuläre Fragen sind im Anhang (Seite 16) aufgeführt.
Kriz beschreibt das Grundschema zirkulären Fragens in der Grundformel: „Wenn X a tut, wie
reagiert dann Y? Und wie reagiert Z?“28 Es gehe eben nicht darum, sich als Therapeut in
langwierigen Symptomaufzählungen verstricken zu lassen, sondern die Reaktion jedes
Familienmitgliedes auf das Symptom herauszuarbeiten.
Steve de Shazer hat in der von ihm entwickelten Lösungsorientierten Kurztherapie eine
systemische Frageform geprägt, die besonders die Konstruktion neuer Möglichkeiten betont.
Diesen aus der Hypnotherapie des amerikanischen Psychiaters Milton Ericksons entstandenen
Ansatz charakterisiert Martin Schmitt wie folgt:
„Dabei wird angenommen, daß es sich für die Lösung eines Problems nicht wichtig ist, das Problem
als solches zu kennen. In der Konsequenz dieser Annahme zielen Fragestellungen dieses Ansatzes
insbesondere auf die Stärken und Ressourcen der Klienten.“29
Zwei grundlegende therapeutische Interventions- und Fragetechniken sind die Frage nach
Ausnahmen und die sogenannte Wunderfrage:
26
27
28
29
ebd. S. 254
Jürgen Kriz, Grundkonzepte der Psychotherapie, Beltz Verlag 1994, S. 297
ebd. S. 297
C. Kraiker / B. Peter, Psychotherapieführer, C.H. Beck Verlag 1998, S. 255
Die Frage nach Ausnahmen zielt auf Zeiten und Situationen, in denen das Problem nicht oder nur
abgeschwächt auftritt. Die Bewußtwerdung dieser Ausnahmen bewirkt einerseits bei den
Klienten bereits ein Gefühl der Erleichterung und schafft andererseits die therapeutische
Grundlage für eine Aufforderung und Ermutigung an die Klienten im Sinne eines „Macht mehr
davon (von den Ausnahmen).“
Die Wunderfrage („Angenommen es würde nachts ein Wunder geschehen und ihr Problem wäre
gelöst, Wie / woran würden sie das merken? Woran würden dies ihr Mann und ihre Kinder
merken, ohne daß sie ein Wort darüber sprechen?“) verknüpft die von den Klienten imaginierte
Lösung mit deren konkreten Umsetzung im familiären und sozialen System.
Eine weitere therapeutische Interventionstechnik in diesem Zusammenhang wäre die der
„beobachtenden“ Hausaufgabe: „Beobachten Sie bis zur nächsten Therapiestunde doch einmal,
was in der Familie bereits gut geht und mehr werden sollte?“
- 13 -
Der Familien- und Hypnotherapeut Gunther Schmidt focussiert in einem veröffentlichten Vortrag
das Problem des kindlichen Indexpatienten in Erziehungsberatung und Familientherapie. Er
verdeutlicht dieses an der lapidaren Antwort vieler Eltern auf die therapeutische Frage „Wo ist
denn das Problem in ihrer Familie?“ – Antwort der Eltern „Da sitzt es“ (Eltern zeigen auf das
Kind). Vielmals seien Eltern auch überhaupt nicht bereit sich an dem therapeutischen Prozeß zu
beteiligen und versuchen sich gänzlich der Therapie zu entziehen.
An dieser Stelle sei noch einmal Arist von Schlippe zitiert: „Sämtliche Probleme in der Familie,
das Unglück oder die Unzufriedenheit jedes Einzelnen sind ausgeblendet, alle starren auf das
Problem des Kindes, das gesamte Problemspektrum wird reduziert auf diese eine Störung.“30
Während Arist von Schlippe aber die Aufgabe des Therapeuten primär darin sieht, die Probleme
jedes einzelnen Familienmitgliedes schrittweise zu erarbeiten und vom kindlichen Indexpatienten
wegzulenken, schlägt Gunther Schmitt ein grundsätzlich anderes therapeutisches Vorgehen vor:
Er bietet den Eltern eine „Co-Therapeutenrolle“ an und will damit einer Tribunal- oder
Verhörkonstellation vorbeugen, welche ausschließlich die Fehler der Eltern aufdecken soll. Er
sieht die Expertenrolle im familientherapeutischen Setting gesplittet und spricht diese Auffassung
gegenüber den Eltern auch offen an: Der Therapeut sei zwar der Experte für gute, strukturierte
Fragen, aber nur die Eltern könnten Experten für ihr einzigartiges familiäres System sein. Die
Eltern würden dabei eine positive Entwicklung des Kindes innerhalb des therapeutischen
Prozesses am meisten fördern, indem sie sich in ihrer Elternrolle gegenseitig unterstützen und
30
Arist von Schlippe, Familientherapie, Jungfermann Verlag 1995, S. 84
sowohl durch Selbstachtung als auch durch gegenseitige Wertschätzung das familiäre System
stärken.
Gunther Schmitt versucht also keineswegs, wie etwa die traditionellen systemischen Ansätze der
Familientherapie, den Fokus vom kindlichen Indexpatienten wegzulenken. Er betont vielmehr die
zentrale Rolle der Therapiemotivation der Eltern und lehnt aktive therapeutische Interventionen
zur Änderung dieses elterlichen Verständnisses der „Problemursache“ (in Person des Kindes) ab.
Auch Schmitt schlägt wie de Shazer einen lösungsorientierten Weg vor, indem er die Frage an
die Familie stellt, woran die Familienmitglieder denn merken würden, daß das jetzige Problem
gelöst sei. Die Antworten auf diese Fragen könnten dann dem Therapeuten wertvolle Hinweise
auf
individuelle Lösungsmöglichkeiten der familiären Problematik geben. Die Frage nach
Ausnahmesituationen und Ausnahmezeiten, wann das Problem nicht oder weniger vorhanden sei,
zeige dem Therapeuten sogar bereits realisierte Lösungsmöglichkeiten im familiären System auf
und ermögliche eine therapeutische Intervention „doch mehr von den Ausnahmen zu machen“.
- 14 -
VII. Schluß
Der Familientherapie scheint es seit Beginn der 90er Jahre genauso zu ergehen wie der
Psychotherapie allgemein: Die Vielheit an Richtungen und Verfahren wächst stetig bis ins nicht
mehr Überschaubare und auch teilweise kaum noch Differenzierbare an. Die Systemische
Familientherapie
scheint
zum
Jahrtausendwechsel
ein
gewisse
Vorrangstellung
am
„Psychomarkt“ innerhalb der Familientherapie erreicht zu haben, hat aber ihrerseits weder einen
erkennbaren Basiskonsens innerhalb der systemischen Subrichtungen noch einen erkennbaren
Abschluß ihrer Weiterentwicklungen erreicht. Der Bogen spannt sich von der Mailänder Schule
über die Heidelberger Ansätze von Gunther Schmidt bis zu der Strukturaufstellungsarbeit Bert
Hellingers, welche therapeutische Elemente mit magischen, mystischen und religiösen Ebenen
verschmelzen läßt.
- 15 -
VIII. Literaturliste
1.) Jürgen Kriz, Grundkonzepte der Psychotherapie
Beltz Psychologie Verlags Union Weinheim, 4.Auflage 1994
2.) Arist von Schlippe, Familientherapie
Junfermann Verlag Paderborn, 11.Auflage 1995
3.) B. Schwertfeger / K. Koch, Der Therapieführer
Wilhelm Heyne Verlag München, 1.Auflage 1995
4.) C. Kraiker / Burkhard Peter (Hrsg.), Psychotherapieführer
C.H. Beck Verlag München, 5.Auflage 1998
5.) Virginia Satir, Selbstwert und Kommunikation
Pfeiffer Verlag München, 1975
6.) Elsa Jones, Systemische Familientherapie
Verlag Modernes Lernen Dortmund, 1.Auflage 1995
7.) Gunther Schmidt, Kindliche Indexpatienten als Zugpferde für elterliche Co-Therapeuten
Carl Auer Systeme Verlag Heidelberg, Vortrag 1995
8.) Häcker / Stapf, Dorsch Psychologisches Wörterbuch
Hans Huber Verlag Bern, 13. Auflage 1998
9.) Nolting / Paulus, Psychologie lernen
Beltz Verlag Weinheim, Neuausgabe 1999
- 16 -
IX. Anhang
Beispiele31 für zirkuläre Fragen:
a.) Fragen nach Unterschieden
- Unterschiede in der Zeit
Wann begann das Problem?
- Unterschiede zwischen Personen
Wer hat das Problem von Ihnen beiden zuerst bemerkt?
- Unterschiede zwischen Teilen einer Person
Wenn Sie an ihren Verstand und an ihr Herz denken, welcher Teil sagt Ihnen, Sie sollten in der
Beziehung bleiben, welcher Teil möchte, daß sie gehen?
- Unterschiede zwischen Situationen
Ist er eher zu Hause oder in der Schule gewalttätig?
b.) Fragen nach Folgen von Verhalten und Mustern, die verbinden:
- Ebene von Verhalten
Wie hat sie reagiert, als sie ihr sagten, Sie wollten sich scheiden lassen?
- Ebene der Gefühle
Als sie Ihnen daraufhin sagte, sie liebt sie auch nicht mehr, welche Gefühle haben sich da bei
Ihnen entwickelt?
31
C. Kraiker / B. Peter, Psychotherapieführer, C.H. Beck Verlag 1998, S. 253
- Ebene der Glaubenssysteme
Wenn Sie denken, Streit in der Ehe ist eher schädlich, ist dies ein Gedanke, der ihre Ehe eher
zusammenhält oder sie beide trennt?
- Ebene der Bedeutungen
Wie verstehen sie es, wenn er sagt, er liebe Sie, und immer dann, wenn sie Ihn brauchen, ist er
nicht da?
- Ebene der Beziehungen
Wenn sie sagt, sie kommt gleich nach der Arbeit nach Hause, und erscheint erst Stunden später,
welchen Einfluß hat dies auf ihre Beziehung?
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