Seminar Borderline- Persönlichkeitsstörungen Wutke WS 2005/06 Universität des Saarlandes Familientherapie bei Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung Judith Ziegler E-Mail: [email protected] Inhaltsverzeichnis 2 A. Einleitung 3 B. Familientherapie bei Patienten mit Borderline- Persönlichkeitsstörung 4 I. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung 4 1. allgemeine Grundlagen 4 2. klinische Beobachtungen zur Entstehung von BorderlinePersönlichkeitsstörungen 5 II. Drei klinische Typen der Borderline-Patienten und ihrer Familien 7 III. Die Familientherapie 8 1. Überblick 8 2. Indikation 10 3. Der Mehrgenerationen-Ansatz 11 IV. Erläuterungen anhand eines Fallbeispiels C. Diskussion 12 16 Literaturverzeichnis A. Einleitung Die nähere Betrachtung der Familienstrukturen eines Borderline-Patienten als auch die Einbeziehung der Familienmitglieder in den therapeutischen Prozess kann aus mehreren Gründen interessant und auch von Bedeutung sein. Ein wichtiger Punkt liegt darin, dass die 3 Borderline-Persönlichkeitsstörung durch Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen gekennzeichnet ist. Dies gilt nicht nur für die Kernfamilie und die aktuellen Beziehungen des Patienten. Diese konflikthaften Beziehungsmuster werden auch auf nachfolgende Generationen tradiert, was sich in der familiären Häufung der BorderlinePersönlichkeitsstörung zeigt. Laut DSM IV tritt diese Störung fünfmal häufiger bei erstgradigen biologischen Verwandten als in der Allgemeinbevölkerung auf. Dies legt die Vermutung nahe, dass genetische Faktoren bei der Weitergabe von BorderlinePersönlichkeitszügen eine Rolle spielen. Dies ist aber nicht sicher, wie wir bereits im Rahmen des Seminars erfahren haben. Cierpka und Reich gehen davon aus, dass eine Persönlichkeitsstörung der Eltern, verbunden mit konfliktgeprägten Beziehungen und Traumatisierungen in der Familie, mit einer größeren Wahrscheinlichkeit zu einer Borderline- Diagnose führt. Die Übertragung auf die nächsten Generationen zeigt sich außerdem darin, dass Borderline- Patienten häufig Opfer von Traumatisierungen sind und später dann nicht selten selbst zu Tätern werden. In einer Metaanalyse verschiedener Studien fanden Dulz & Jensen (2000), dass im Durchschnitt 72% der Borderline-Patienten über sexuellen und 59 % über körperlichen Missbrauch berichten. Und mit einer Wahrscheinlichkeit von 25-30% werden misshandelte Kinder später in ihren Familien selbst zu Tätern (Diephold & Cierpka, 1997). Im Folgenden sollen diese und weitere Aspekte der Borderline-Persönlichkeitsstörung näher erläutert werden, sowie drei verschiedene Typen der Borderline-Patienten und ihrer Familien vorgestellt werden. Es werden die Grundlagen der Familientherapie erläutert, wobei der psychoanalytische Mehrgenerationenansatz von Reich, Massing und Cierpka (1996) im Vordergrund steht. Das genaue Vorgehen bei einer Familientherapie mit Borderline- Patienten wird anhand eines Fallbeispiels dargestellt. 4 B. Familientherapie bei Patienten mit Borderline- Persönlichkeitsstörung I. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung 1. allgemeine Grundlagen. Laut DSM IV liegt der Beginn der Störung im frühen Erwachsenenalter. Sie wird überwiegend bei Frauen diagnostiziert (ca. 75%). Die Prävalenz wird auf ungefähr 2% in der Allgemeinbevölkerung geschätzt. Für eine Borderline-Diagnose müssen mindestens fünf der folgenden Kriterien erfüllt sein: Zunächst das verzweifelte Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Des weiteren ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist sowie eine Identitätsstörung, das heißt eine ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. Kriterium Nummer vier und fünf bestehen in Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen und wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten. Weitere Kennzeichen können affektive Instabilität sowie ein häufig beschriebenes chronisches Gefühl von Leere sein. Zur Symptomatik kann des weiteren unangemessene, heftige Wut gehören und auch vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome. 2. klinische Beobachtungen zur Entstehung von Borderline- Persönlichkeitsstörungen. Reich (2003) stellt die folgenden klinischen Beobachtungen zusammen, die für das Verständnis der Familiendynamik bei Borderline- Persönlichkeitsstörungen von Bedeutung 5 sind: Zunächst ließe sich festhalten, dass schwere Störungen in der Familiendynamik über mehrere Generationen entstehen. Wie bereits erwähnt werden Traumatisierungen über mindestens drei Generationen weitergegeben, was eine Überstimulierung des späteren Patienten durch aggressive und sexuelle Affekte und Impulse zur Folge habe. Bereits bei den Eltern gibt es häufig Konflikte in der Ursprungsfamilie, die mit Autonomie, Ablösung oder symbiotischen Wünschen zu tun haben. Schon deshalb könnten sie dem Patienten nicht das notwendige stabile Umfeld bieten. Eine weitere häufige Beobachtung bezieht sich darauf, dass die Grenzen zwischen den Generationen oft gestört sind. Der Patient kann von den Eltern teilweise als Erweiterung des eigenen Selbst wahrgenommen werden oder wird von diesen auf die gleiche Generationenebene gestellt. Des weiteren werde der Patient oft Substitut des „negativen Selbst“ der Eltern, indem er offen oder verdeckt dazu gebracht wird, unintendierte aggressive, sexuelle oder sadomasochistische Phantasien oder Impulse der Eltern auszuleben (Cierpka & Reich, 2000). Daraufhin entwickelt sich eine ambivalente Bindung des Patienten an einen oder beide Elternteile, besonders auf der Affekt- und Triebebene. Die häufig gestörte sexuelle Identität bei Borderline- Patienten werde durch ödipale Bindungen an beide Elternteile verstärkt. Die Eltern reagieren auf Autonomiebestrebungen des Patienten oft aggressiv, da sie so wieder mir ihren eigenen Ablösungskonflikten konfrontiert werden. Die nächste Beobachtung bezieht sich auf die Entstehung einer „Als-ob-Welt“ innerhalb der Familie. Diese wird dadurch hervorgerufen, dass aggressive und sexuelle Impulse verleugnet werden, obwohl sie ausgeführt wurden. Nach Reich verstärkt dies bei den Patienten die Spaltung im Erleben und das für die Borderline-Persönlichkeitsstörung typische „als-obVerhalten“. Zu diesem Punkt gehört außerdem die Beobachtung, dass die in der Familie 6 herrschenden Normen und Werte oft nicht mit denen in der außerfamiliären Umwelt übereinstimmen. Was zumindest in der „doppelten Wirklichkeit“ der Familie des Patienten als normal angesehen wird, kann in der Gesellschaft als eine abweichende Verhaltensweise betrachtet werden. Des weiteren wurde festgestellt, dass es in solchen Familien oft Familiengeheimnisse gibt, die den Alltag der Familienmitglieder und die Atmosphäre innerhalb der Familie prägen. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass häufig ein intrafamiliäres Ungleichgewicht zwischen Geben und Nehmen vorhanden ist. Zwischen den Familienmitgliedern besteht oft ein Ausbeutungsverhältnis und die Loyalitätsbeziehungen sind gestört, auch zur Außenwelt. Diese fehlende Balance, sowie die „doppelte Wirklichkeit“, verzerrte Wahrnehmungen und unangemessene Beurteilungen von Verhaltensweisen verstärken die dysfunktionalen Beziehungsmuster. Darüber hinaus entstehen beim späteren Patienten sadomasochistische Phantasien, die dazu diesen sollen, Gefühle der Bedrohung innerhalb der Familie abzuwehren, da er weiter mit den traumatisierenden Eltern leben muss. Eine ebenfalls häufige Beobachtung in den Paarbeziehungen der Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung ist der Zwiespalt zwischen der Angst, verlassen zu werden und andererseits der Angst, beherrscht zu werden, unter dem die Patienten leiden. Sicherlich treffen nicht alle dieser Beobachtungen auf jeden Borderline- Patienten und seine Familie zu, sie legen aber den Schluss nahe, dass sowohl gestörte Beziehungsmuster innerhalb der Familie als auch traumatische Erlebnisse und deren Tradierung über mehrere Generationen für die Entstehung einer Borderline- Persönlichkeitsstörung von zentraler Bedeutung sind. II. Drei klinische Typen der Borderline-Patienten und ihrer Familien 7 Cierpka und Reich (2000) nehmen an, dass es zumindest drei unterschiedliche Subtypen von Familien gibt. Sie betonen, dass der spätere Borderline-Patient die Familiendynamik entscheidend mitbeeinflusst. Der erste Untertyp wird als vernachlässigende und emotional missbrauchende Familie beschrieben. Sie ist charakterisiert durch eine emotionale Mangelsituation, mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebte der spätere Patient frühe Verluste oder eine Trennung der Eltern bzw. eine Trennung von ihnen. Die Eltern leiden häufig selbst unter einer psychischen Störung, wie z.B. einer Persönlichkeitsstörung oder einer depressiven Erkrankung. Die Kinder werden oft durch manipulative Parentifizierung in eine „Fürsorger-Rolle“ gedrängt und so an die Eltern gebunden. Damit verbunden ist auch der emotionale Missbrauch, beispielsweise wenn das Kind als „Lebenslicht“ für eines der Elternteile oder die Familie gilt. Diese Überstimulierung steht oft im Wechsel mit Phasen des Alleinseins. In der chaotisch-instabilen Familie herrschen ständige Krisen und ein Chaos in den Beziehungen vor. Sie ist geprägt von ehelichen Auseinandersetzungen, außerehelichen Beziehungen und antisozialen Verhaltensweisen. Nicht selten liegt in solchen Familien auch eine Drogenproblematik vor, wie zum Beispiel Alkoholsucht, was sich auf die Verhaltensweisen des späteren Patienten auswirkt. Wie bereits im Seminar zur Sprache kam, liegt oft eine Komorbidität von Borderline- Persönlichkeitsstörung und Drogensucht vor. Es kommt auch häufig zu suizidalen Handlungen. Das Kind, also der spätere Borderline-Patient, kann dabei entweder in die Rolle des Retters oder in die des Sündenbocks geraten. Diese häufigen, impulsiven emotionalen Wechselbäder prägen die psychische Struktur der Kindes und bilden die Grundlage für die affektive Instabilität und die verzerrte Selbstwahrnehmung der späteren Borderline- Persönlichkeitsstörung. Zu diesen unvorhersehbaren Erlebnissen in der Kindheit des Patienten gehören in der chaotisch-instabilen Familie auch häufig sexueller Missbrauch und/ oder körperliche Misshandlungen. 8 Die dritte Kategorie stellt die Mischgruppe dar, die durch die Verbindung von Misshandlung und Vernachlässigung charakterisiert ist. Aus den beiden bereits erwähnten Subtypen sind die Elemente der schweren Traumatisierung, oft durch sexuellen Missbrauch und körperliche Misshandlungen, sowie die mangelnde Empathie der Eltern vorhanden. Neben der emotionalen Vernachlässigung kommt es in der Mischgruppe aber auch häufig zu einer Vernachlässigung der grundlegenden Bedürfnisse des Kindes. Die autonomen Bestrebungen des Kindes werden von den Eltern als Bedrohung angesehen und unterdrückt. Der Vernachlässigung gegenüber steht eine gleichzeitig auftauchende manipulative Überfürsorglichkeit. Das Kind erfährt, dass Krankheit, Elend oder Behinderung die Fürsorge der Familie nach sich zieht. Dies unterstützt das passive oder selbstzerstörerische Einfordern von Zuwendung. Hier könnte eine Ursache für das häufige autoaggressive Verhalten bei Borderline-Patienten liegen. III. Die Familientherapie 1. Überblick. Stellt man sich die Frage, was mit dem Begriff der Familientherapie eigentlich gemeint ist, bzw. worin der Sinn einer solchen Therapie liegt, könnte man schnell darauf schließen, dass es dabei um Familien geht, in denen ein Mitglied psychisch erkrankt ist und somit eine Belastung für alle Familienmitglieder darstellt. Aber gibt es wirklich immer einen „Sündenbock“, der den Rest der Familie „krank macht“? Vielmehr geht es bei der Familientherapie darum, die Familie als System zu betrachten, welches eine Behandlungseinheit darstellt. Die Symptome eines Familienmitglieds werden als Ausdruck krankmachender Familienprozesse gesehen statt als Ursache für die Probleme der Familie. Neben tiefenpsychologischen, humanistischen und verhaltenstherapeutischen Therapieansätzen stellt die Familientherapie heute die vierte große Therapieklasse dar. Sie 9 entwickelte sich in den 50er Jahren, als Therapeuten an verschiedenen Orten in den USA begannen, zunehmend die Familien von jugendlichen psychotischen Patienten in die Behandlung mit einzubeziehen. Bei vielen Patienten waren die Symptome der psychischen Störung stark mit den familiären Interaktionsstrukturen und Beziehungsmustern verbunden. Es entstanden vier zentrale Richtungen der Familientherapie, je nachdem welche besonderen Aspekte und Sichtweisen im Vordergrund standen. Zum einen die psychoanalytische Familientherapie, bei der die Konzepte der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie auf den Umgang mit Familien erweitert wurden. Dies erscheint naheliegend, da die ursprüngliche psychoanalytische Theorie in den Erfahrungen des Patienten in seiner Familie begründet ist. In der psychoanalyischen Theorie geht es – sowohl bei einem Einzelsetting als auch im Familiensetting - darum, früher entstandene Fixierungen durch die Aufarbeitung der Psychogenese des Betroffenen aufzuheben. Des weiteren gibt es die strukturelle Familientherapie, deren Grundlage die normativen Konzepte einer gut funktionierenden Familie bilden. Sie fordert zum Beispiel klare Grenzen zwischen Eltern und Kindern, es soll möglichst keine "Koalitionen" zwischen Eltern und dem Kind gegen andere Personen geben. Einen dritten Ansatz stellt die entwicklungsorientierte Familientherapie dar, die sich an den Vorstellungen der humanistischen Psychotherapie orientiert und in deren Zentrum Wachstum, Kreativität und Flexibilität der Einzelnen und des Miteinanders stehen. Dabei werden auch individuelle Aspekte, wie der Selbstwert der Beteiligten, besonders berücksichtigt. Die strategische Familientherapie beachtet besonders die Veränderung der Interaktionsregeln und verfügt über spezifische Techniken wie zum Beispiel die paradoxe Intervention (= Symptomverschreibung) und zirkuläre Fragen (jeder wird über seine Wahrnehmung von Beziehungsaspekten zwischen anderen befragt). Außerdem besteht das 10 Setting typischerweise aus Therapeuten-Teams, die vor oder hinter einer Spiegelwand intervenieren. Heute wird Familientherapie häufig mit dem Begriff Systemische Therapie gleichgesetzt. Diese kann als Einzelsetting, Paartherapie oder Familientherapie stattfinden, wobei die interpersonellen Beziehungen in der Gruppe als Grundlage für Diagnose und Therapie der psychischen Erkrankung oder der interpersonellen Konflikte dienen (Lexikon der Psychologie, 2002). 2. Indikation. Bei einem Patienten mit Borderline- Persönlichkeitsstörung halten Nach Cierpka und Reich (2000) ist eine regelmäßige Einbeziehung der Familie dann angebracht, wenn zumindest einer der folgenden Punkte zutreffend ist: Zunächst sollte man generell weitere Familienmitglieder miteinbeziehen, wenn der Patient ein Kind oder ein Jugendlicher ist. Der Therapeut kann dabei helfen intrafamiliäre Konflikte zu lösen, die zum Beispiel die Loslösung des Kindes vom Elternhaus oder die Berufsfindung betreffen. Wenn die ganze Familie unterstützt wird kann sich dies positiv auf eine Verhaltensänderung des Kindes auswirken. Des weiteren sollte der Therapeut mit der gesamten Familie arbeiten, wenn diese sich in einer aktuellen Krise befindet, die alle Familienmitglieder betrifft. Wie bereits erwähnt kann es sein, dass in einer Familie mehrere Personen unter einer psychischen Störung leiden oder häufig andere Probleme haben. Außerdem ist eine Behandlung der Familie indiziert, wenn dieser Therapie im Rahmen einer anderen (psycho)therapeutischen Maßnahme eine unterstützende Funktion zugeordnet wird, oder sie diese vorbereiten soll. Befindet sich ein Patient bereits in Einzelbehandlung und es kommt immer wieder zu Schwierigkeiten mit dessen Familie, zum Beispiel indem diese sich ständig einmischt, sollte 11 der Therapeut die Familie nur für einige Sitzungen hinzuziehen um die Probleme zu besprechen und versuchen, das Einzelsetting aufrechtzuerhalten. 3. Der Mehrgenerationen-Ansatz. In ihrem Artikel zur Familientherapie bei Patienten mit Borderline- Persönlichkeitsstörung beziehen sich Cierpka und Reich (2000) auf die Mehrgenerationen- Familientherapie. Diese hat ihren Ursprung in der Psychoanalyse. Während Freud noch von der Behandlung einzelner Familienmitglieder absah und schon früh seine völlige Ahnungslosigkeit im Umgang mit den Angehörigen seiner Patienten zum Ausdruck brachte, veröffentlichte Jones 1913 „Die Bedeutung des Großvaters für das Schicksal des einzelnen“, eine der ersten Arbeiten zu einer psychoanalytischen Mehrgenerationenbetrachtung der Familie (Massing, Reich & Sperling, 1992; S. 30). Den entscheidenden Aufschwung erlebte die familientherapeutische Entwicklung jedoch erst ab Mitte der 50er Jahre. Mendell und Fisher lieferten 1956 den ersten Versuch einer Therapie von neurotischem Verhalten unter Berücksichtigung eines Drei-GenerationenAnsatzes. Es wurde eine Ähnlichkeit der Grundkonflikte bei der ursprünglichen Patientin und ihren Eltern und Großeltern herausgearbeitet und deren verschiedene Verhaltensweisen analysiert. Massing, Reich und Sperling (1992) betonen die entscheidende Rolle, die die 1973 erschienene Monographie von Boszormenyi-Nagy und Spark bei der Entwicklung des mehrgenerationalen Gedankens spielte. Darin wird davon ausgegangen, dass Verdienste, die Familienmitglieder für die Erhaltung der Familie erworben haben und die über Generationen weitergegeben werden können, sogenannten Schuldenkonten von anderen Mitgliedern gegenüberstehen. Demnach muss in der Familientherapie zunächst der Großeltern- ElternKonflikt bearbeitet werden, um den Druck unerfüllbarer Ansprüche und Anforderungen von der nachfolgenden Generation zu nehmen. 12 Dem heutigen Mehrgenerationen- Ansatz liegen folgende zentrale Annahmen zugrunde. Zunächst wird davon ausgegangen, dass sich Störungen und Konflikte der jeweiligen Kindergeneration aus unbewussten Konflikten zwischen Eltern und Großeltern beziehungsweise den Partnern und ihren Eltern ergeben. Es findet eine Tradierung dieser Konflikte durch vielfache intrafamiliäre Übertragungsprozesse statt. Daraus ergibt sich ein sogenannter intrafamiliärer Wiederholungszwang. Dieser besteht darin, dass sich über die Generationen hinweg in einer Familie immer wieder die gleichen Konflikte abspielen. Das Konzept der psychoanalytischen Mehrgenerationen- Familientherapie verfolgt also zwei Ebenen: Neben der horizontalen, d.h. gegenwärtigen Interaktionsstruktur der Familie wird auch die vertikale Richtung beachtet, also die historische Entwicklung dieses Familiensystems, welche sich der Theorie nach auf die Gegenwart auswirkt. Der intrafamiliäre Wiederholungszwang soll durch die Mehrgenerationen- Familientherapie aufgebrochen werden, indem die Betroffenen den historischen Entstehungsort des Grundkonfliktes erkennen und ihn dort bearbeiten. Wichtig ist, dass alle betroffenen Familienmitglieder diesen Grundkonflikt emotional anerkennen, darüber trauern, dass die damaligen Verhältnisse keine andere Lösung möglich machten, und nun aber gemeinsam einen neuen Lösungsweg, der für alle akzeptabel ist, suchen (Massing, Reich & Sperling, 1992; S. 22). IV. Erläuterungen anhand eines Fallbeispiels Im Folgenden sollen verschiedene Stationen einer Familientherapie eines BorderlinePatienten exemplarische dargestellt werden (siehe Cierpka & Reich, 2000). Der Patient ist der 31 Jahre alte Student Mark, der aufgrund depressiver Verstimmungen, Alkoholmissbrauch und Arbeitsstörungen zu einer Beratung kam. Im Studium hatte er große Probleme und führte dieses nur noch pro forma weiter. Seine Eltern finanzierten dies, glaubten aber, dass Mark das Studium eines Tages abschließen würde. Mark zeigte nicht nur sehr hohe 13 Perfektionsansprüche an sich, sondern auch an die Menschen in seiner Umgebung, die er häufig kritisierte. Die aktuelle Krise wurde dadurch ausgelöst, dass seine Freundin sich von ihm trennte. Diese Beziehung war durch Marks Jähzorn geprägt, welcher auch zu körperlichen Auseinandersetzungen führte. Mark zeigte zu Beginn der Therapie nicht die Absicht, sein eigenes Verhalten zu untersuchen und zu ändern, vielmehr suchte er Bestätigung für seine Ansichten, nämlich dass die Schuld für seine Probleme bei der Ex-Freundin, den Eltern oder den Kollegen liege. Die Familie wird als eher kleinbürgerlich beschrieben, die sehr darauf bedacht war, nach außen die Fassade von Wohlanständigkeit und Rechtschaffenheit aufrechtzuerhalten. Mark habe in seiner Kindheit viele Traumatisierungen erlebt, beispielsweise seien ihm wegen Nägelbeißens die Hände verbunden worden oder man habe ihn ans Bett gebunden. Beide Elternteile seine sehr streng gewesen, vor allem der Vater, der berufliche Schwierigkeiten hatte und deshalb viel trank. Dieser neigte zum Jähzorn und schlug Mark auch, andererseits sei er ihm in manchen Momenten auch sehr zugewandt gewesen. Nach einer von Reich (2003) zitierten Studie von Berziganian et al (1993) stellt unvorhersehbares, inkonsistentes Verhalten der Eltern (besonders der Mutter) einen wesentlichen Prädiktor für die Ausbildung einer Borderline- Persönlichkeitsstörung dar. Dies passt zu den von Mark beschriebenen Launen seines Vaters. Die Mutter habe unter depressiven Verstimmungen gelitten und machte ihren Sohn zu ihrem Vertrauten, in dem sie mit Mark nicht nur über ihre Eheprobleme, sondern auch über ihre Selbstmordgedanken sprach und ihm vermittelte, dass sie sich nur seinetwegen nicht das Leben nehme. Nicht nur Marks Eltern, auch sein Großvater väterlicherseits hatten große Erwartungen in ihn. Mark sollte beruflich das erreichen, was sie selbst nicht geschafft hatten. Seiner drei Jahre jüngeren Schwester gegenüber fühlte er sich auf der einen Seite überlegen, auf der anderen Seite aber auch benachteiligt. In seiner Jugend hatte er kaum Kontakt zu Gleichaltrigen, aufgrund seiner Angst, in einer zu engen Beziehung oder Freundschaft verletzt zu werden. In seiner Welt herrschte eine Verachtung anderer, die 14 seine geistigen Interessen nicht teilten, und Größenvorstellungen. Während seines Studiums zeigten sich dann eine zwangsneurotische Arbeitsstörung, Rivalitätsängste und Schamgefühle. Vergleicht man Marks Vorgeschichte mit den bereits erwähnten klinischen Beobachtungen und den bekannten Symptomen, stellt man fest, dass in dieser Familie viele Faktoren auftreten die sich häufig bei Borderline- Patienten finden, wie z.B. Alkoholprobleme, Gewalt und Traumatisierungen, Depressionen der Mutter, impulsives, aber auch inkonsistentes Verhalten, eine gespaltene Loyalität des späteren Patienten seinen Eltern gegenüber, vielfältige Abwehrmechanismen wie Größenvorstellungen, Projektion der Schuld, Verleugnungen etc. Im Rahmen der Therapie fanden zunächst nur Einzelgespräche mit Mark statt. Eine erste klinische Hypothese wurde aufgestellt, nach der Mark einen „inneren Zwerg“ besitzt, wie er von Wormser (1987) beschrieben wird. Damit ist gemeint, dass der Patient von einem inneren Objekt bestimmt zu sein scheint, welches sich von anderen übervorteilt fühlt, neidisch und rachsüchtig ist, und dies mit dem Gefühl, voll im Recht zu sein. Kam dieser „innere Zwerg zum Vorschein, zeigte Mark Impulsdurchbrüche, es kam zu Beziehungsabbrüchen, Arbeitsstörungen und Sucht. Der Therapeut schlug zur Klärung der aktuellen Schwierigkeiten ein Familiengespräch vor, welches trotz Marks Zustimmung zu einer Zuspitzung der Krise führte. Bei diesem ersten Familiengespräch waren Mark, seine Eltern, seine Schwester, der Therapeut sowie ein CoTherapeut anwesend. Die Eltern forderten Klarheit bezüglich Marks Studium und der finanziellen Konsequenzen, zeigten neben Vorwürfen und Rechtfertigungen aber auch Sorge über die Entwicklung ihres Sohnes. Die Schwester bot an zu vermitteln, was Mark aber zutiefst kränkte und er entschieden ablehnte. Schließlich kam es zum Eklat, als die Eltern Mark ein Ultimatum setzen wollten, dies aber dann doch unterließen. Zur Krisenintervention und Stabilisierung wurde zunächst auf weitere Familiengespräche verzichtet und die Einzelbehandlung fortgeführt. Allerdings brach der 15 Therapeut bald darauf die Therapie ab, da Mark zum wiederholten Mal die Grenzen des Behandlungsrahmens nicht respektierte und die gesetzten Bedingungen nicht beachtete. Diese Reaktion schien Mark sehr zu überraschen. Nach einem dreiviertel Jahr erschien er aufgrund eines Beziehungskonfliktes mit seiner neuen Freundin wieder. Mit dem Trinken hatte er weitgehend aufgehört und er hatte einen Job gefunden, was dadurch erklärt wurde, dass der Therapeut durch das Setzen einer klaren Grenze die Entwicklung von Verantwortlichkeitsgefühl sich selbst und anderen gegenüber bei Mark auslöste. Es wurden erneute Familiengespräche geführt, da die Eltern vorhatten ihr Haus zu verkaufen und Mark fürchtete, sein Zuhause zu verlieren. Gemeinsam mit den Familienmitgliedern wurden ihre Verdienste umeinander und um die Herkunftsfamilien ausgearbeitet, wie es von Boszormenyi-Nagy und Spark (1973) beim „Ausgleich der Verdienstkonten“ in den familiären Beziehungen beschrieben wird. Erstmals kamen jetzt auch die Konflikte von Marks Vater zur Sprache, der unter den Verstrickungen seines Vaters in das Nazi-Regime gelitten hatte. Marks Großvater habe ebenfalls viel getrunken und die Großmutter geschlagen. Auf Mark hielt der Großvater im Gegensatz zu seinem Sohn große Stücke, was Marks Vater wiederum wütend machte. Es wurde deutlich, dass in der männlichen Linie der Familie eine Tradierung von Gewalt, Impulshandlungen, Größenideen und traumatisierenden Misshandlungen stattfand, sowie das Scheitern der beruflichen Ambitionen in den letzten Generationen. In der Familie von Marks Mutter war es mehrfach zu Suiziden gekommen, welche diese teilweise selbst miterlebte. Zur Verdeutlichung wurde ein Genogramm erstellt, welches die Familienkonstellation bis in die Großelterngeneration graphisch darstellt, wobei neben Sozialdaten auch wesentliche Beziehungsaspekte festgehalten werden. Ein Vorteil dieser Methode besteht darin, dass dem Therapeuten hier Kenntnislücken auffallen, die nur durch Gespräche zwischen den Generationen zu füllen sind (Massing, Reich & Sperling, 1992). 16 Es folgten in einem Zeitraum von ca. einem Jahr acht weitere sehr intensive Familiengespräche, die parallel zu Marks Einzelbehandlung geführt wurden. Während des Verlaufs relativierte sich Marks Hass auf seine Eltern, und er konnte sogar die Hilfe seiner Schwester bei einem Umzug annehmen. Die Beziehungen blieben zwar distanziert, aber es kam wesentlich seltener zu Konflikten. Mit seiner Freundin konnte er sich darauf einigen, in getrennten Wohnungen zu leben. Zusammenfassend betonen die Autoren die Bedeutung der zentralen Faktoren des Mehrgenerationen- Ansatzes für die Erfolge in dieser Familientherapie, nämlich die Relativierung einiger destruktiver Beziehungsmuster von Mark sowie seine positiven beruflichen und sozialen Entwicklungen. Zu diesen Faktoren gehören das Ansetzen an den Stärken der Beziehungen und nicht an den Traumatisierungen, die Betonung der wechselseitigen Verdienste im Sinne eines Beziehungskonten- Ausgleichs und eine nichtverurteilende Haltung der Therapeuten. In der Familientherapie werden durch Übertragung wesentliche Aspekte der Familienkonflikte reinszeniert und bearbeitet. Dies erfordert vom Therapeuten, mit heftigen libidinösen und aggressiven Affekten umzugehen und sich in eine Beziehung emotional einzulassen. Cierpka und Reich (2000) zufolge können die durch den Therapeuten induzierten Beziehungsmuster im Therapeut- Familien- System so zu Veränderungen der intrapsychischen Struktur des Patienten beitragen. C. Diskussion Wie wir gesehen haben gibt es eine große Anzahl an Merkmalen, die anscheinend auf eine Vielzahl von Borderline- Patienten und ihre Familien zutreffen. Bei einer näheren Betrachtung der familiäre Vorgeschichte scheint eine Einbeziehung der Familienmitglieder in die Therapie bei vielen Patienten sinnvoll. Die dysfunktionalen Beziehungsmuster werden oft tradiert, was in dem beschriebenen Mehrgenerationen- Ansatz besondere Beachtung findet. 17 Allerdings sind mit dieser Form der Therapie auch einige Schwierigkeiten verbunden, die hier kurz erläutert werden sollen. Zunächst kann man anmerken, dass bei Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, also auch Borderline- Patienten, die Fähigkeit zu erkennen, wie sie und ihre Handlungen von Anderen wahrgenommen werden, nicht sehr ausgeprägt ist. Des weiteren haben sie meistens Probleme damit, die Gefühle und Motive der Menschen in ihrer Umgebung anzuerkennen und zu verstehen. Auf dieser Perspektivität, d.h. der wechselseitigen Wahrnehmung der intrapsychischen Zustände der Beteiligten, bauen psychoanalytische beziehungsweise mehrgenerationale familientherapeutische Interventionen auf. Ein weiterer Problemfaktor könnte darin bestehen, dass der Patient oder die Angehörigen sich durch die Familientherapie auf die Anklagebank gesetzt fühlen können. Auch im Fall von Mark gab es zu Beginn der Familiengespräche solche Schwierigkeiten, da dieser zunächst den Vorwürfen der Eltern ausgesetzt war. Hier ist es wichtig, dass der Therapeut klare Grenzen zieht und den Beteiligten klarmacht, dass eine Wiedergutmachung im Rahmen der Therapie nur schwer zu erreichen ist. Nicht unerheblich ist sicher auch die Gefahr der Retraumatisierung des Patienten durch die Konfrontation mit möglichen Tätern. Wie bereits beschrieben sind viele der späteren Borderline- Patienten in ihrer Kindheit körperlicher Gewalt, sexuellem Missbrauch oder Vernachlässigung ausgesetzt. Vor allem in solchen destruktiven Familien sollte die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, zunächst mit den „Parteien“ in getrennten Sitzungen zu arbeiten um gemeinsame Gespräche vorzubereiten. Nicht außer Acht lassen sollte man außerdem die Tatsache, dass sich dieser familientherapeutische Ansatz auf die „klassische“ Familienform bezieht, in der Vater, Mutter und Kinder oft sogar noch mit Großeltern unter einem Dach leben. Dies hat sich bis heute sehr verändert, betrachtet man die vielen unterschiedlichen Konstellationen, in denen 18 Menschen heute zusammen leben. Man kann sich also die Frage stellen, inwiefern die Mehrgenerationen- Familientherapie bei alleinerziehenden Elternteilen oder Patchworkfamilien umgesetzt werden kann. Literaturverzeichnis Cierpka, M. & Reich, G. (2000). Familientherapie bei Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörungen. In Kernberg, O., Dulz, B. & Sachsse, U. (Hrsg.), Handbuch der Borderline-Störungen (S. 613- 623). Stuttgart, New York: Schattauer Dulz, B. & Jensen, M. (2000). Aspekte einer Traumaätiologie der BorderlinePersönlichkeitsstörung: psychoanalytisch- psychodynamische Überlegungen und empirische Daten. In Kernberg, O., Dulz, B. & Sachsse, U. (Hrsg.), Handbuch der Borderline-Störungen (S. 167- 194). Stuttgart, New York: Schattauer Lexikon der Psychologie (2002). Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag Massing, A., Reich, G. & Sperling, E. (1992). Die Mehrgenerationen- Familientherapie (2. neubearbeitete Aufl.).Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Reich, G. (2003). Familien- und Paarbeziehungen bei Persönlichkeitsstörungen- Aspekte der Dynamik und Therapie. Zeitschrift für Persönlichkeitsstörungen, 7, 72-82 Sass, H., Wittchen, H.-U. & Zaudig, M.. Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM IV. Göttingen: Hogrefe (CD-Rom- Version)