Inhalt Inhalt ______________________________________________________ 1 Vorbemerkung ______________________________________________ 5 1. Auf den Schultern der Aufklärung_________________________ 9 Der Gedanke ________________________________________________________ 9 Die Renaissance des Subjekts __________________________________________ 11 2. Sozialismus oder Barbarei: Der Scheitern des Liberalismus – Das Ende der bürgerlichen Subjektivität ____________________________ 17 Der historische Hintergrund 17 Die Heideggerjahre Marcuses 19 Die Grundlage: Sein und Zeit __________________________________________ 19 Philosophie als Schutz vor der Wirklichkeit 24 Marcuses: Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus ____ 24 Konkrete Philosophie abstrakt 25 Marcuses: Über konkrete Philosophie ____________________________________ 25 Sartre vor den Frühwerken 26 The proof of the pudding is in the eating 27 Marcuses: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit _____________ 27 Die Entdeckung: Die Veröffentlichung der Pariser Manuskripte – Marcuses Wandel von Heidegger zu Marx 29 Marcuses: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus_______ 29 Übergänge: Marcuse Emigration aus Deutschland und Sartres Jahr in Berlin 32 Die Machtergreifung des Faschismus: Marcuses kritische Theorie / Sartre und die Phänomenologie 33 Rudimentierte Subjekte 33 Marcuses: Die philosophischen Grundlagen des Arbeitsbegriffes ______________ 33 Kontinuitäten im Bruch: Der Faschismus als Erbe und Kämpfer gegen den Liberalismus 35 Marcuses: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung _ 35 Die neuen Träger der Theorie 36 Marcuses: Zum Begriff des Wesens _____________________________________ 36 Die Welt als Konstruktion 38 Sartres: Die Transzendenz des Egos _____________________________________ 38 Das Imaginäre als Frage des Bewußtseins 40 Sartres: Die Imagination / Das Imaginäre _________________________________ 40 Philosophie als Gesellschaftskritik 41 Marcuses: Autorität und Familie ________________________________________ 41 Kultur als Beschneidung 44 Marcuses: Über den affirmativen Charakter der Kultur ______________________ 44 Der Mensch als absurde Situation 47 1 Sartres: Der Ekel (La nausee) __________________________________________ 47 Das „Grundsatzprogramm“ 49 Marcuses und Horkheimers: Philosophie und kritische Theorie ________________ 49 Wider unkritische Glücksvorstellungen 51 Marcuses: Zur Kritik des Hedonismus ___________________________________ 51 Das Ende des liberalistischen Subjekts 54 3. Die ungeheure Verdunklung: Der Kampf gegen den gemeinsamen Feind - Subjektivität im Zeichen der Vernichtung ____ 56 Die Ausgangssituation 56 Zwei Intellektuelle, die nicht ihren Kampf gegen den Faschismus kämpfen können 56 Kriegsausbruch in Frankreich / Sartre als Soldat ____________________________ 58 Essenz des Abschieds vom Institut mit Hegels Ehrenrettung 59 Marcuses: Vernunft und Revolution _____________________________________ 59 Auf dem Weg zu einer Philosophie Nachkriegsfrankreichs 67 Sartres Kriegsgefangenschaft und Widerstandsbewegung ____________________ 67 Die einsame Freiheit 69 Sartres: Das Sein und das Nichts ________________________________________ 69 Die Freiheit wird gesellschaftlich 83 Sartres: Paris unter der Besatzung (1944) _________________________________ 83 Im Kampf gegen den Nationalsozialismus 87 Marcuses: Feindanalysen. Über die Deutschen _____________________________ 87 Schluß 91 4. Die bipolare Welt: Der “dritte Weg” wider den Krieg im Frieden – Subjektivität im Kampf unter dem Banner der Freiheit __________ 93 Die historische Situation – Die zwei Blöcke 93 Zwischen einsamem Subjekt und Engagement: Der Existentialismus wandelt sich. 96 Sartres: Der Existentialismus ist ein Humanismus __________________________ 96 Vorbereitung des 3. Weges 98 Sartres: Materialismus und Revolution ___________________________________ 98 Gesellschaftlicher Zwang und freie Wahl: Portrait des Antisemitismus 102 Sartres: Überlegungen zur Judenfrage ___________________________________ 102 Exemplierte existentialistische Psychoanalyse 107 Sartres: Baudelaire__________________________________________________ 107 Der dritte Weg: Sartres politisches Engagement bis 1952 ____________________ 109 Zu spät besprochener Sartre 113 Marcuses: Rezeption von „Das Sein und das Nichts“ _______________________ 113 Statt eines Vorwortes: 900 Seiten Jean Genet 117 Sartres: Saint Genet _________________________________________________ 117 Der „Compagnon des routes“ 119 Sartre als Weggefährte der KPF von 1952-1956 ___________________________ 119 Der Bruch mit Camus _______________________________________________ 122 Dem Weltgeist in die Nüstern spucken 2 126 Marcuse und der Traum von der Rückkehr zum Institut für Sozialforschung _____ 126 Marcuses: Eros and Civilization 1955 ___________________________________ 127 Der Bruch mit den Kommunisten: Ungarn 1956 133 Unabhängiger Sartre 135 Der Kampf für die Befreiung in der Dritte Welt. __________________________ 135 Marx und die UdSSR 140 Marcuses: Soviet Marxism: A Critical analyses ___________________________ 140 Intermezzo: Sartre entdeckt Freud 144 Sartres: Freud. Ein Drehbuch _________________________________________ 144 Das Subjekt im Marxismus – Sartres Revision des Marxismus 145 Sartres: Marxismus und Existentialismus ________________________________ 145 Sartres: Kritik der dialektischen Vernunft ________________________________ 152 Der außerparlamentarischer Botschafter 160 Sartres: Die Unabhängigkeit Algeriens und das Vorwort zu Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ _______________________________________________________ 160 Das Ende der Restaurationszeit 162 5. 1968 und die Folgen: Kulturkampf zwischen Revolution und Reform - Rebellische Subjektivität ____________________________ 165 Die Welt im Wandel 165 Das Buch einer Bewegung 168 Marcuses: Der eindimensionale Mensch _________________________________ 168 Die Anfänge der 68er Bewegung 177 Marcuses Solidarität ________________________________________________ 177 Von Naturrecht auf Widerstand 180 Marcuses: Repressive Toleranz und ein Nachwort auf Walter Benjamin ________ 180 Praktische Solidarität 183 Marcuse in Deutschland _____________________________________________ 183 Sartre und die Studentenbewegung 186 Der Prager Frühling und der Vietnamkrieg 188 Sartres ungebrochenes Engagement ____________________________________ 188 Sartre und die Maoisten 189 Marcuse nach ’68: Rückkehr zur Kunst 191 Marcuses: Versuch über die Befreiung und Konterrevolution und Revolte ______ 191 Subjekt Mann - Subjekt Frau: Die Frauenbewegung 194 Sartre und Marcuse zur Frauenbewegung ________________________________ 194 Das unterschlagene Subjekt der Revolutionäre - Ein letztes Gefecht für die freie Subjektivität: 196 Marcuses: Die Permanenz der Kunst ____________________________________ 196 Sartre nach ´68: Rückkehr zu Flaubert oder was kann man heute von einem Mensch wissen? 198 Sartres Flaubert ____________________________________________________ 198 Der letzte Gang 202 Sartre und Marcuse: Alter und Tod _____________________________________ 202 3 6. Das Ende der bipolaren Welt: Globalisierung und Neoliberalismus als Totengräber des Subjekts – Subjektivität nach Marcuse und Sartre ________________________________________ 207 Sartre and Marcuse revisited 212 Die Übermacht der Gesellschaft _______________________________________ 212 Freiheitliches, Gemeinsames __________________________________________ 217 4 Vorbemerkung Abendvorstellung im Kino. Das Licht geht aus, das Kino ist voll. Der Filmvorführer spannt den Film in den Projektor ein, wie er es unzählige Abende vorher auch tat. Eineinhalb Stunden später. Kurz vor dem tragischen Ende der Geschichte reißt der Film. Die Scheinwerfer werden umgedreht und der Blick aufs Publikum gerichtet. Betroffene, weinende Gesichter sind zu sehen – alle von der Handlung des Filmes zu tiefst ergriffen. Ein gros des Publikums ist emotional aufgewühlt und starrt nun auf die große, weiße, kalte Leinwand. Einige wischen sich die Tränen von den Augen und registrieren, daß neben ihnen ein Fremder sitzt. Scham und Unverständnis ist in den Blicken der Menschen zu sehen. Wie ist es möglich, daß Gefühlregungen, die im Alltagsverständnis höchst privat sind, auf die Minute genau vorausberechnet werden können? Handelt es sich um Subjekte mit freiem Willen oder verwaltete Individuen? Entscheiden sich die Menschen mit dem Kinobesuch bereits für ihre zu zeigenden Gefühle? Welche Rolle spielt die Dunkelheit des Kinos, für die gezeigten Gefühle? Die Subjektivität, die im Alltagsbewußtsein als individuell, also unteilbar und persönlich empfunden wird, scheint im selben Moment ein Massenphänomen zu sein. Die Aufgabe des Wissenschaftlers an der Subjektivität ist nun die des Filmvorführers, der beim abendfüllenden Spielfilm den Projektor ausschaltet und weiß, wann die Zuschauer, Tränen in den Augen, ob der tragischen Handlung, den Kulminationspunkt ihrer Gefühle vor einer weißen Betonwand, umgeben von Wildfremden, erreicht haben – vor der Frage stehend, ob all diese Gefühle bereits von solch normierter und abrufbarer Subjektivität zeugen oder ob nicht vor dem Eintritt ins Kino eine Entscheidung der Subjekte zur Bereitschaft des Empfindens solcher Gefühle gefällt wurde. Der philosophierende Filmvorführer sucht nach einer Erklärung, warum es möglich ist, Gefühle in solch einen Maß zu produzieren und abzurufen und warum die Einzelnen Gefallen daran finden, sich gar dafür entscheiden. Herbert Marcuse und Jean-Paul Sartre waren so etwas wie diese Filmvorführer, die danach suchten Instrumentarien und Bedingungen des Verstehens von Subjektivität und Objektivität erarbeiten. Mit ihnen traten zwei Theoretiker auf den Plan, in deren Werk die Subjektivität wieder eine zentrale Rolle einnahm und die zu den einflußreichsten Denkern der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts gehörten. Wer sich mit Sartre und Marcuse auseinandersetzt, läuft Gefahr den Überblick zu verlieren. Die Fülle der Literatur ist gigantisch. Allein über Herbert Marcuse lassen sich mehr als 400 deutschsprachige Titel zusammentragen.1 Hinzu kommen Publikationen aus anderen Ländern. Die Liste der Literatur, die sich mit Sartre beschäftigt ist nicht geringer. Im Gegenteil: Da Sartre sowohl Philosophie wie auch Literatur publizierte, finden sich in fast allen geisteswissenschaftlichen Bereichen Auseinandersetzungen mit ihm. Da Sartre 1964 den ihm zugedachten Nobelpreis für Literatur ablehnte, gab es wohl kaum ein Land, in dem sein Name nicht bekannt war. Ebenso gab es kaum ein Land, das eine 68er Bewegung erlebte, ohne daß der Name Herbert Marcuse gefallen wäre. Um so erstaunlicher ist das völlige Fehlen eines Bezuges in der Literatur, obwohl sie beide in der bürgerlichen Öffentlichkeit 1 Vgl. Görzen, Réne: Herbert Marcuse, Kommentierte Sekundärliteratur, www.erz.uni-hannover.de/~horster/lit/marcuse.pdf, Stand: August, 2003 5 als Vordenker und geistige Väter der Bewegung angesehen wurden. Lediglich eine einzige Publikation widmet sich auf ein paar Seiten dem Versuch Marcuse und Sartre zu vergleichen. Der Aufsatzsammlung „Die geteilte Utopie. Sozialisten in Frankreich und Deutschland“2 wird das Verdienst zu teil die beiden als Erste (und bisher als Letzte) publizistisch nebeneinander gestellt zu haben. Zwar tauchten beide nur im Kontext eines Sammelbandes mit 30 weiteren Biographien auf, doch immerhin Seite an Seite auf. Sollte es weitere Literatur geben, die sich explizit mit den beiden beschäftigt, dann ist sie in den angeschwollenen Bergen von Literatur verborgen. Auch gab es wohl keine direkte Kommunikation zwischen Sartre und Marcuse. Auf meine Anfrage hat der Enkel Herbert Marcuses, Harold Marcuse, mir geantwortet, daß ihm keine Korrespondenz zwischen Sartre und Marcuse bekannt sei. „Das Herbert Marcuse-Archiv“ in Frankfurt schrieb mir ähnliches. Die entsprechenden Stellen in Paris haben leider nicht geantwortet. Die vorliegende Arbeit betritt also Neuland. Nicht alle Schriften konnten ausreichend berücksichtigt werden. Sartres Werk umfaßt mit Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Aufsätze in Zeitungen, Interviews, etc. schätzungsweise um die 15.000 Seiten. Das Volumen des Werkes von Marcuse ist etwas geringer, doch schon über Marcuse zu schreiben und der Fülle der Sekundärliteratur gerecht zu werden, stellt ein Unterfangen dar, daß den Rahmen einer Diplomarbeit weit überschreiten würde. So konnte in der vorliegenden Arbeit vieles nicht berücksichtigt werden, was mehr Gehör hätte finden sollen. Die Theaterstücke, kunsttheoretischen Schriften und Romane konnten, bis auf Sartres „Der Ekel“, nicht gesondert berücksichtigt werden. Die Arbeit beschränkt sich auf den Versuch die philosophischen Arbeiten der Beiden gegenüberzustellen und darin Sartres und Marcuses Begriff des Subjekts und der Subjektivität zu untersuchen. Dabei habe ich vornehmlich Primärquellen benutzt, da meiste Sekundärliteratur sich immer mehr auf infenitesimale Fragen konzentriert, anstatt den Gesamtkontext des Werkes zu erfassen. Die Beschäftigung mit Marcuse und Sartre brachte ein weiteres Problem auf: Mit welcher Methode sollte man die Werke der beiden untersuchen, ohne eine Entscheidung zugunsten des einen oder anderen Theorie zu fällen? In den Fällen, in denen sich die Literatur mit der kritischen Theorie und dem französischen Existentialismus auseinandersetzte, gehörten die Verfasser meist der einen oder der anderen Denktradition an, so daß die Analyse zu meist auf Kosten der anderen theoretischen Schule ging. Wenn es stimmt, daß die Wahrheit einen Zeitkern besitzt, – und davon ist der Autor dieser Arbeit überzeugt – dann muß auch der Subjektbegriff einem solchen Zeitkern unterliegen. Daher lag es nahe, Sartre und Marcuse durch die verschiedenen historischen Epochen zu begleiten. Die Einteilung fiel schwer, da beide mit dem Beginn einer neuen historischen Strömung nicht aufhörten auf ihre Thereme zu rekurrieren, die sie zu früheren Problemen erarbeiteten hatten. Beispielsweise arbeitete Sartre immer noch mit Heideggerschen Kategorien, als Marcuse dies längst aufgegeben hatte. 2 Siehe: Christadler, Marieluise: Die geteilte Utopie. Sozialisten in Deutschland und Frankreich, Opladen, 1985 6 So widmet sich das zweite Kapitel der Arbeit der Phase zwischen den beiden Weltkriegen, um die theoretischen Fundamente Marcuses und Sartres zu beleuchten. Das Kapitel über ihre Schriften während des Zweiten Weltkrieges analysiert die theoretischen Veränderungen und Neuerungen der Philosophien der beiden während dieser Zeit. Der vierte Abschnitt betrachtet die Epoche von der Restauration bis zum Beginn der zweiten Phase des Vietnamkrieges im Jahr 1964, während das fünfte Kapitel versucht, die Brüche und Kontinuitäten im Begriff der Subjektivität aufzuzeigen, die während der 68er Bewegung auftraten. Ein Schlußkapitel widmet sich der Frage der Aktualität Sartres und Marcuses nach deren Tod. Vor allem anderen aber sind es immer wiederkehrende Fragen, die die Arbeit bestimmen: Wie reagierten Sartre und Marcuse auf die historischen Veränderungen? Welche Auswirkungen hatten sie auf ihren Begriff von Subjektivität. Wo verorteten sie den Einzelnen? Wie mächtig schätzten sie die unterschiedlichen Gesellschaften ein? Welche Perspektiven auf Glück hatte das Subjekt für Marcuse und Sartre in den verschiedenen Gesellschaftstypen? 7 „Subjekt n. ( < 16. Jh.) Entlehnt aus 1. subicere (subiectum) ’unterlegen, unterstellen, darreichen’, zu 1. iacere ‚werfen’ und 1. sub-. Gemeint ist wie bei Entwurf u.ä. das Vorgegebene.“ „Objekt n. ( < 14.Jh.) Entlehnt aus ml. objectum‚ das (dem Verstand) Vorgesetzte’, dem substantivierten PPP. Von 1. obicere (obictum) ‚entgegenwerfen, vorsetzen’, zu 1. iacere ‚werfen’ […]“ Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 806 und S. 596 8 S. 1. Auf den Schultern der Aufklärung „DASSELBE SUBJEKT KANN MEHRERE DEFINITIONEN HABEN; UM ABER ZU WISSEN, WELCHE EINEM UND DEMSELBEN DINGE ZUKOMMEN, MUß MAN DARÜBER VON DER VERNUNFT BELEHRT WERDEN, INDEM MAN EINE DEFINITION DURCH DIE ANDERE BEWEIST, ODER DURCH DIE ERFAHRUNG, INDEM MAN ERPROBT, WELCHE BESTÄNDIG ZUSAMMENGEHEN.“ LEIBNIZ DER KRITIKER IST EIN ANDRES SUBJEKT ALS DIE KRITIK, UND DIE KRITIK EIN ANDRES SUBJEKT ALS DER KRITIKER. KARL MARX Der Gedanke Seit die Menschen sich mit philosophischen Fragen beschäftigen, stand eine zentrale Frage stets im Vordergrund: „Was ist der Mensch?“ – Das Primat des nosce te ipse (Erkenne Dich selbst), welches schon die antike Philosophie anleitete, berührte das Verhältnis von Subjekt und Objekt, die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zum gesellschaftlichen Ganzen sowie zu seinen Teilen. Bei Sokrates, Platon und Aristoteles fand diese Frage ihre Konkretisierung in der Verortung des Einzelnen gegenüber dem Staat und den Göttern. Während die Antike die Frage nach dem Subjekt noch als eine ohne das “Ich” behandelte und den Einzelnen als kosmischen Teil eines Ganzen begriff, so begann mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft auch die Individualisierung des Subjekts in der modernen Form. Descartes Formel des cogito ergo sum, in der das Denken des Einzelnen zum Konstituens von Sein gemacht wurde, mündete in Kants Positionierung des Subjekts als alleinigem Träger von Wahrheit. Mit dem Übergang von der Sklaverei zur freien Lohnarbeit traten Subjekte im gesellschaftlichen Kontext als Verkäufer ihrer Arbeitskraft auf. Durch den Vertrag war die Transformation des Subjekts in der bürgerlichen Gesellschaft eingeleitet. Es wurden zwischen frei geltenden Subjekten Verträge unterzeichnet und deren Einhaltung durch die Institutionen bürgerlichen Rechts garantiert – die Wandlung vom Untertan zum bürgerlichen Individuum war begonnen. Der Vertrag brachte die doppelte Freiheit mit sich: Freiheit von der Leibeigenschaft und die Freiheit, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen. Mit der Durchsetzung dieses neuen Typs von Herrschaft definierte die Aufklärung und die mit ihr verbundene französische Revolution die moderne Subjektivität. Die Philosophie folgte ihr: Bei Hegel erschien das Subjekt in einer Subjekt-Objekt Dialektik, deren Spannungsfeld zwischen Freiheit und Notwendigkeit angelegt war. Doch Hegels Subjekte waren 9 durchweg philosophierende, also solche, die Kinder und Geister der Aufklärung waren: reflektierende, bewußte und vor allem bürgerliche Subjekte. Zu guter letzt löste sich bei Hegel das Spannungsfeld im bürgerlichen Staat auf, d.h. im absoluten Begriff, auf den der Weltgeist teleologisch die Geschichte herunterleiten läßt. Dieser idealistischen Variante der Auflösung im Geiste, stellte Marx die Analyse einer widersprüchlichen Gesellschaft entgegen, die die Herbeiführung gerechter gesellschaftlicher Zustände und damit die Lösung des Spannungsfeldes von Subjekt und Objekt verhindere. Der einstigen Erhöhung des Subjekts als Träger von Wahrheit stand nun eine Objektwelt entgegen, die den Vorrang gegenüber den Subjekten in Anspruch nahm. Marxens Theorem, daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimme, also die Objektwelt das Bewußtsein des Subjekts, fand in der späten Theorie Freuds noch einen anderen Ausdruck: “Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus” sagte Freud und entwickelte eine psychoanalytische Theorie des Subjekts, die an der bewußten und vernünftigen Wahrnehmung des Einzelnen zweifelte. Auch Freud hielt am Subjekt und an der Vernunft fest: „Wo Es ist, soll Ich werden.” Die Kategorie des Subjekts war kein starrer ahistorischer Begriff jenseits des gesellschaftlichen Wandels. Er war stets ein Verhältnisbegriff, der ohne das, sich im Wandel befindliche, Objekt nicht denkbar gewesen wäre. So wie sich das Objekt im geschichtlichen Prozeß veränderte, durchlief auch das Subjekt Transformationen. Für Kant war das Objekt „das Andere“, formuliert als Antipode zum Eigenen. Bei Hegel dagegen traten die Subjekte von den Objekten getrennt auf: Das Verhältnis beider, galt ihm als gespaltenes und zukünftig zu versöhnendes. Damit wurde der hegelsche Begriff des Subjekts ein kritischer, weil er mit einem Telos ausgestattet war. Er implizierte zumindest die Möglichkeit der Versöhnung mit dem Objekt im bürgerlichen Staat. Die Aufgabe der Philosophie, wie auch der Wirklichkeit, die nach der Philosophie zu gestalten sei, sollte eben die Bedingung der Möglichkeit auf einer solchen ausloten. Erst Marx gab den Verhältnissen, die Hegel immerhin als gespaltene diagnostizierte, den Boden unter den Füßen zurück. Die wirkliche Welt mit ihrer Organisation der politischen Ökonomie war für die Spaltung des Einzelnen von der ihn umgebenden Welt verantwortlich zu machen. Folgte man Marx, war das Eigentum Grundlage der freien Personen in der bürgerlichen Gesellschaft. Dieses implizierte aber auch die Möglichkeit des Besitzes monetärer Äquivalente, also über von Arbeit und der Zeit anderer. Die Entwicklung des Kapitals basierte auf dem Kauf von Arbeitszeit, um daraus mehr Kapital zu erwirtschaften. Auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit war die Spaltung des Subjekts zurückzuführen: Auf der einen Seite das bürgerliche Subjekt des Kapitalismus, während auf der anderen Seite das davon getrennte Subjekt, der Arbeiter, davon lebte seine Arbeitskraft zu verkaufen. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts garantierte diese ökonomische Ordnung, weshalb für die proletarischen und kleinbürgerlichen Massen galt, daß sie eine andere Form der Subjektivität inne hatten, als das freie, philosophierende Subjekt. Die Mehrheit der Bevölkerung besaß ein gespaltenes Verhältnis zur bürgerlichen Ordnung. Übertragen auf jene Menschen, die nichts anderes als ihre Arbeitszeit zu verkaufen hatten, konnte der Begriff des Subjektes analog zu dem des Individuums gedacht werden. Das „Individuum“ bedeutete lateinisch „das Unteilbare“, während das Subjekt in der Philosophie für „das erkennende, mit Bewußtsein ausgestattete, 10 handelnde Ich“ stand. Dabei war das Subjekt dem Individuum überlegen, da es über Selbstbewußtsein verfügte. Das Individuum markierte das Unteilbare der bürgerlichen Freiheiten – ihm kamen die unveräußerlichen Freiheitsrechte, wie die Veräußerbarkeit seiner Arbeit und Zeit durch den Vertrag zu. Das Subjekt bei Hegel hingegen war der bewußte Träger der bürgerlichen Philosophie. Mit Hegels Verlagerung der Dualität von Subjekt und Objekt in den Geist, während auf der Welt die Teilung weiter existierte, verlor auch die bürgerliche Unterscheidung zwischen Individuum und Subjekt ihre Grundlage. Den Begriff des Individuums von dem des Subjekts abzugrenzen, ergab immer weniger Sinn, da in der verwalteten Welt Subjekt und Individuum eins wurden. So sah die marxistische Philosophie Marxens das Subjekt wie das Individuum als real zu befreiendes. Dabei wurde es zunehmend schwieriger von einem bewußten Subjekt auszugehen. Das Proletariat – das marxsche Subjekt der Befreiung – wandelte seinen Charakter. Von der ihm einst zugedachten Rolle der Befreiung transformierte es sich in den industrialisierten Ländern zu einem verbürgerlichten Subjekt. So konnten Sartre wie Marcuse die Begriffe von Subjekt, Individuum und dem Einzelnen auch als gleichbedeutende begreifen. In dem Maße in dem das Proletariat im Faschismus millionenfach seine eigene Unterdrückung bejahte, verlor der Begriff des Subjekts als dem Individuum überlegenes, mit Selbstbewußtsein ausgestattetes, seine Bedeutung. Die Äquivokation verschwand. Die Formel: „Kein Subjekt ohne Bewußtsein, kein Bewußtsein ohne Subjekt“ war zweifelhaft geworden. Das geistige Subjekt war nicht mehr identisch mit dem »reinen Ich«. Statt dessen stand die Philosophie vor dem Problem ein Subjekt befreien zu wollen, daß zwischen „Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“ (Adorno), zwischen falschem Bewußtsein und Freiheitsdrang, neu verortet werden mußte. Die Renaissance des Subjekts Zu Beginn ihrer philosophischen Karriere waren Sartre und Marcuse von Martin Heidegger und der deutschen Existentialphilosophie fasziniert, einer Philosophie, die das Subjekt wieder ins Zentrum von Sein und Wahrheit rückte; einer Theorie die, stark auf Kant rekurrierend, dem Subjekt einen ontologischen Vorrang einräumte. Dieser vermeidliche Rückschritt der Philosophie versuchte eine theoretische Neubestimmung vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges und der darauffolgenden Wirtschaftskrise des Kapitalismus. Durch die Rückverlegung des Subjekts ins Zentrum der Theorie und durch das Postulieren seines ontologischen Vorrangs stand der Einzelne scheinbar höher als jede Ideologie, die den Tod oder die Unterdrückung des Einzelnen für “die große Sache” billigend in Kauf nahm. In einer Zeit, in der die zweite Internationale aufgelöst war und der Stalinismus das Scheitern der russischen Revolution besiegelt hatte, während in den kapitalistischen und staatskapitalistischen Nationalstaaten das Vaterland über alles gesetzt wurde, stand eine Theorie vom Vorrang des Subjekts jenseits der Theorien, die den Einzelnen für die Sache opferten, auf fruchtbarem Boden. Darin bestand die große Faszination von Heideggers „Sein und Zeit“. 11 Doch während Heidegger, der nie der Philosoph der Vernunft war3, auf seine braunen Füße fiel und den Machtantritt der Nazis freudig begrüßte, mußte Marcuse nach Amerika emigrieren, derweil seine Habilitationsschrift von Heidegger blockiert wurde. Sein Anschluß an das Frankfurter Institut für Sozialforschung bot ihm die Möglichkeit, wieder theoretisch zu arbeiten und aus Deutschland zu flüchten. Seine ehemalige Verbundenheit wandelte sich in dem Maße in Gegnerschaft zu Heidegger, wie dieser die Nazis hofierte. Als Sartre in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, schmuggelte ein befreundeter Pastor eine Ausgabe von „Sein und Zeit“ in das Gefangenenlager, in dem Sartre Heidegger das erste Mal las. Während Marcuse die Person Heideggers zunehmend mit dem Nationalsozialismus identifizierte, faßte Sartre seine geheime Heideggerlektüre als einen Widerstandsakt auf. Dementsprechend anders interpretierte er dann auch Heidegger. Die Vorüberlegungen zu „Das Sein und das Nichts“ entstanden während seines Lageraufenthaltes und es war nicht verwunderlich, daß Sartre, der Heidegger nicht kannte, aus seiner Lektüre andere Schlüsse zog, als Marcuse. Während die Heideggerlektüre für Sartre also ein Widerstandsakt war, war sie für Marcuse das exakte Gegenteil. So erklärte sich die paradoxe Situation, das Sartre 1944 sein erstes Hauptwerk mit dem Titel „Das Sein und das Nichts“ publizierte und darin eine Freiheitsphilosophie auf der Basis von Heidegger entwickelte, während Marcuse in den USA an einer philosophischen Ehrenrettung Hegels arbeitete, vielleicht sogar nur deshalb um das Erbe Hegels nicht Heidegger zu überlassen. Doch Marcuses „Reason and Revolution“ war weit mehr als nur ein Hegelbuch, vielmehr war es eine fundamentale Positivismuskritik, in der das Verhältnis von Subjekt und Objekt, nicht wie von Hegel postuliert als im Geist verwirklicht, sondern als real Zerrissenes, als Getrenntes bestimmt wurde. Das abstrakte Subjekt verlagerte sich bei Marcuse in Anlehnung an Marx in die Klasse. Dieser Verlagerung sollte sich auch Sartre zwischen 1952-1956 anschließen. Welche Auswirkungen die Aufgabe des Einzelnen zugunsten der Klasse hatte, sollte sich in den verschiedenen Fehleinschätzungen Marcuses, vor allem aber Sartres noch zeigen. Bei aller späteren Abkehr von Heidegger, sollte der existentialistische Hintergrund Sartre und Marcuse dennoch an einem ganz bestimmten Punkte einen: In der Sorge um das Subjekt. Sartres Werk war geprägt von tiefem Mißtrauen gegen die Inanspruchnahme des Einzelnen durch die Ideologien. Er ging sogar soweit, zu schreiben, daß der Einzelne zur Freiheit verurteilt sein. Im Kontext von Auschwitz war damit die Verantwortlichkeit jedes Einzeln verortet. Die Begriffe des Handelns, der Freiheit und der Entscheidung wurden zu seinen zentralen philosophischen Kategorien. Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn der 68er Bewegung begann für beide Theoretiker die Hochzeit ihres Schaffens: Marcuse wurde nach einigen Jahren beim OSS (Office of Strategic Services) Professor an der Brandeis University in den USA. Im Jahr 1948 veröffentlichte er in der Zeitschrift des Institutes für Sozialforschung – als einzigen Text zwischen 1948 und 1955 – eine Besprechung von Sartres „Das Sein und das Nichts“, in der er die grundlegenden Widersprüche zwischen dem französischen Existentialismus und der kritischen 3 vgl. Brunkhorst, Hauke und Koch, Gertrud, Herbert Marcuse, Zur Einführung, Hamburg, 1990, S. 22ff 12 Theorie herausarbeitete. Anfang der fünfziger Jahre begann seine Arbeit an „eros and zivilasation“, die 1954 publiziert wurde. In seinem großen Freud-Buch analysierte er die Schnittstellen zwischen der verwalteten Welt, der Herrschaft durchs Objekt, und dem Kern des Subjekts, seinen gesellschaftlich vermittelten Trieben, um zu einer Neubestimmung der Kategorien des Lustprinzips und des Realitätsprinzips zu gelangen. Sartres Bekanntheit wuchs in der 50er Jahren rasant: Hatte die mehr als tausend Seiten umfassende philosophische Abhandlung „Das Sein und das Nichts“ seinen Autor in Frankreich, der nach der Veröffentlichung des Romans „Der Ekel“ schon einen gewissen Ruf genoß, mittlerweile berühmt gemacht. Mit seinem Romanzyklus „Wege zur Freiheit I-III“ und „Geschlossene Gesellschaft“ sowie dem 1946 veröffentlichten Text „Überlegungen zur Judenfrage“ gelang ihm der endgültige Durchbruch als anerkannter Schriftsteller und Philosoph. Die „Überlegungen zur Judenfrage“ war seine erste Schrift, die seine im „Das Sein und das Nichts“ entfalteten Methoden anhand der konkreten Geschichte analysierte. Durch seine Hinzunahme der marxschen Theorie, schien eine Annäherung der beiden Theoretiker hinsichtlich ihres Subjektbegriffes wieder leistbar, da Sartre mittlerweile verstärkt die Kategorie der “Situation” der Freiheit zur Seite stellte. In seinem kurzen Text „Zum Existentialismus – Eine Klarstellung“ definierte er den Menschen als “Freiheit in Situation”. Dadurch erhielt das Subjekt den dialektischen Kontakt zum Objekt, den es bei Marcuse schon längst hatte. Dennoch blieben Unterschiede zwischen den beiden: Der größte bestand in der Interpretation und Gewichtung der Freudschen Psychoanalyse. Während Marcuse seine eigene Interpretation Freuds publizierte, mißtraute Sartre elementaren freudschen Begriffen. Sowohl mit einer biologisch fundierten Triebstruktur wie mit der Kategorie des Unbewußten konnte Sartre zu nächst nichts anfangen. Erst als er den Auftrag des befreundete Regisseurs John Huston annahm, um ein Drehbuch über Freud zu schreiben, änderte sich eine Haltung. Allerdings teilte er mit Marcuse die Auffassung über den herausragenden Stellenwert der Psychoanalyse – jedoch unter anderen Vorzeichen. Marcuse akzeptierte Freuds Begriffe und Kategorien, während Sartre diesen seine „existentialistische Psychoanalyse“ entgegenstellte. Sowohl Sartre wie Marcuse konnten dem Fernsehen wie dem Kino wenig abgewinnen. Marcuse arbeitete nie für das Fernsehen oder das Kino, und Sartre war nicht gewillt Kompromisse einzugehen. Sein Freud-Drehbuch war an Umfang so enorm, daß die Realisierung eines Films sieben Stunden Spielzeit ausgemacht hätte. Sartre bekam die Auflage, es zu kürzen. Seine Reaktion? Die Anfügung weiterer Seiten. 1960 publizierte Sartre sein zweites großes Hauptwerk: „Zur Kritik der dialektischen Vernunft“. Dieses Werk war nicht weniger als der Versuch, eine Theorie der gesellschaftlichen Praxis zu liefern. Einige meinten sogar, es sei die Fortsetzung Marxens „Pariser Manuskripte“4. Darin versuchte Sartre nachzuweisen, daß die gesellschaftliche Realität eine dialektische sei. Auch das Subjekt war nun für ihn ein gesellschaftlich vermitteltes. 4 Siehe: Hillmann, Günther, Zum Verständnis der Texte, in: Marx, Karl, Texte zur Methode und Praxis II, Leck/Schleswig, 1966, S. 203 13 Anhand eben jenes hegelschen Begriffs der Vermittlung gelangen Sartre und Marcuse Theorien, die es vermochten, die Schnittstellen des Subjekts mit den sie umgebenden politischen Systemen offenzulegen. Während beide nach dem Zweiten Weltkrieg schon einen ähnlichen Typus des Intellektuellen lebten, so kamen sie sich mit dem Beginn des Vietnamkrieges auch tatsächlich näher: Marcuse übernahm einige Kategorien Sartres in seinem Werk und auch Sartre setzte sich mit Beginn der 68er Bewegung, zumindest in Interviews, mit Marcuses kritischer Theorie auseinander. Die Stimmen der an `68 Beteiligten waren unterschiedliche: “Man hat uns Marcuse als Lehrmeister »anhängen« wollen [...] Purer Unsinn Keiner von uns hat Marcuse gelesen [...] Die politischen Militanten der Bewegung 22. März haben fast alle Sartre gelesen”5, sagte beispielsweise Daniel Cohn-Bendit, während Sartre bei einem Vortrag in der besetzten Sorbonne wohlwollend auf die theoretische Präsenz Marcuses als großen theoretischen Vater der `68er stieß. Die großen Sartre-Jahre und das Aufkommen des Existentialismus als Modeerscheinung lagen vor 1968; es waren zu allererst die Theaterstücke und das Lebensgefühl der französischen Nachkriegsgeneration, die Sartre zu der wichtigen öffentlichen Persönlichkeit Frankreichs machte, der 1964 sogar den Nobelpreis für Literatur verliehen werden sollte. Durch Marcuse, der während der ´68er Bewegung zu außerordentlicher Popularität kam, fand eine Art “Wachablösung” unter den kritischen Linken statt, und Marcuse wurde als Vordenker der Studentenbewegung gefeiert. Marcuse war auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, Sartre hatte ihn schon überschritten – galt aber dennoch, auch für Marcuse, als eine Art Weltgewissen. Auch in den letzten Jahren ihres Lebens – der 7 Jahre jüngere Sartre überlebte Marcuse nur ein Jahr – blieben beide engagierte Philosophen. Auch im Alter setzten sie sich mit den sozialen Bewegungen auseinander: Beispielweise mit der Frauenbewegung oder der beginnenden Ökologiebewegung – niemals das Ziel aus den Augen verlierend, daß die Menschen doch in einer besseren Welt leben könnten. Marcuse wurde auch in den letzten Jahren seines Lebens nicht müde immer wieder den Stellenwert des Subjekts zu betonen. Dagegen leistete sich Sartre eine letzte – für ihn so typische – Eskapade, in der Auseinandersatzung und mit der partiellen Annahme des Judentums. Nur ein Jahrzehnt nach ihrem Tod sollte der kalte Krieg zu Ende gehen – beide erlebten den Untergang der UdSSR nicht mehr. Was hätten sie darüber gedacht und geschrieben? Das Gefühl der Freiheit währte nicht lang. Mit dem Untergang der UdSSR verschärfte sich auch die soziale Kälte in den Ländern des Westens. Die Profiteure des Zusammenbruchs waren meist jene, die auch zu Zeiten der Existenz der Blöcke nicht zu den Schwachen gehörten und mit dem Paradigmenwechsel vom Keynesianismus zum Neoliberalismus verschärfte der Kapitalismus seine Gangart: Im Westen war die Notwendigkeit, der eigenen Bevölkerung ein besseres Leben als auf der anderen Seite der Eisernen Vorhanges zu bieten, weggefallen. Der historischen Bezugsrahmen ist aus Marcuses und Sartre Subjektbegriffen nicht wegzudenken. Während des Zweiten Weltkrieges konzipierte Sartre einen Begriff vom Subjekt, der untrennbar mit den Begriffen ‚Entscheidung‘ und ‚Handlung‘ verbunden war. Die Freiheit des Subjekts schien grenzenlos, andauernd stand das Subjekt vor der Wahl: Kollaboration oder Widerstand. Schweigen oder Reden. 5 Sartre, Anne Cohel, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 690 14 Nichts-Tun als Tat oder das Tun ändern. Das Spektrum der Freiheit erschien gewaltig, und sein Freiheitsbegriff lief Gefahr hohl und leer zu werden, da darunter alles zu subsumieren war – er erklärte nichts mehr. Mit seiner Wendung zum Menschen als “Freiheit in Situation” führte er durch die Gegebenheit der äußeren Situation eine objektive Schranke der Freiheit ein, der einen Maßstab für die Grenzen des Subjekts setzte. Bei dem frühen Marcuse, vor „Eros and Zivilisation“, bestimmte vor allem der kritische Marxismus das Bild vom Subjekt: Das Subjekt als Einzelner, als Opfer von Entfremdung und Verdinglichung. Tatsächliche Veränderung war erst mit dem “Kollektivsubjekt”, der Klasse möglich, die Marcuse kurzzeitig als den “subjektiven Faktor”6 bestimmte. Es schienen sehr unterschiedliche Bestimmungen von Subjektivität vorzuliegen: Der eine als radikale Verurteilung zur Freiheit, als kantischer Dreh- und Angelpunkt, der andere als isolierter, von gesellschaftlichem Überhang reduzierter. Trotz der späterer Annäherung beider Theoretiker und der Erweiterungen ihrer Theorien blieb das Grundmuster zwischen Sartre und Marcuse erhalten: Marcuses bestimmte eine kulturell veränderbare Triebstruktur des Menschen, die die Wünsche und Ziele des Subjekts definierte. Damit war so gut wie jedem Subjekt ein „falsches Bewußtsein“ innert. Es bedürfe der “rebellischen Subjektivität”, wie es Marcuse später nannte, um die gesellschaftlich präformierte Triebstruktur zu verändern. Ohne emanzipiertes Subjekt war für Marcuse ein Gelingen des revolutionären Umsturzes der bürgerlichen Gesellschaft nicht möglich. Auch für Sartre wurde der revolutionäre Umsturz von zentraler Bedeutung für ein freies Subjekt: Er revidierte seinen Freiheitsbegriff der allein am Subjekt ausgerichtet war, zugunsten eines erweiterten, der auch in der Lage war, gesellschaftliche Ungerechtigkeit auszudrücken. In seiner „Kritik der dialektischen Vernunft“ und in „Der Idiot der Familie - Gustave Flaubert“ war das Wechselspiel der Interiorität und Exteriorität von Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft neu ausgelotet, er kam zu einer dialektischen Theorie des Subjekts, in der die Wechselbestimmung von gesellschaftlicher Prägung und eigener Entscheidung analysiert wurden.7 Vor allem anderen aber war es Sartres politisches Engagement, das Marcuse mit großem Respekt von ihm sprechen ließ. Zur Zeit der 68er Bewegung stand Marcuse Sartre näher als den alten Verbündeten vom Frankfurter Institut für Sozialforschung. Er argumentierte sogar mit Sartre gegen Adorno und Horkheimer. Ebenfalls teilte er mit Sartre das Leben als engagierter Intellektueller, der zu den verschiedensten Fragen der Zeit Stellung bezog und sich auch aktiv mit den sozialen Bewegungen solidarisierte. Wahrscheinlich hatte hier das existentialistische Erbe der beiden seine Spuren hinterlassen, da die Begriffe der „Handlung“ und der „Entscheidung“ im Existentialismus eine exponiertere Stellung einnahmen, als in anderen Theorien. Bei aller Angst vor dem verwalteten Subjekt, waren beide kritische Kinder der Aufklärung. Sie schrieben für ein Publikum, von dem sie hofften, daß es die Fesseln der inneren Verwaltung durchbrechen konnte. Ohne diese Hoffnung hätten beide keine Rechtfertigung für die Existenz der eigenen Theorien abgeben können. Was Manfred Schneider über 6 vgl. Marcuse, Herbert, Vernunft und Revolution, Darmstadt, 1954, S.279f vgl. Sartre, Jean-Paul, Der Idiot der Familie 1, Gustave Flaubert, Reinbek bei Hamburg, 1977, S.7 7 15 Sartre schrieb, galt im gleichen Maße für Marcuse: „Wer aber trifft die Entscheidung über die Wahrheit des Subjekts? Wer unterscheidet den Weisen vom Betrüger? Und wer unterscheidet den Verbrecher vom Märtyrer? Alles hängt von den Richtern ab, und Sartre teilt die Hoffnung der Aufklärung, daß das Publikum Gericht hält über seine Zeit und daß dieses Gericht die Wahrheit der Geschichte hervorbringen könne.“8 Trotz aller theoretischer Gemeinsamkeit trafen sich ihre biographischen Spuren nur an wenigen Kreuzungen: Gemeinsam unterzeichnete Papiere, eine gemeinsame Teilnahme an der Sommeruniversität in Korcula, ein gemeinsames Treffen in Paris. Mehr nicht. Dennoch lebten beide den gleichen subjektiven Entwurf des politischen, sich einmischenden Intellektuellen – stritten unablässig für die Subjektivität und gegen die Organisationsformen der verschiedenen Gesellschaften, die das Individuum unter ihre großen Ziele subsumierte. Beide kämpften als Marxisten gegen einen erstarrten Marxismus und beide suchten nach eigenen Formen der Revision marxscher Theorie: Marcuse in der Verbindung mit Freud und Sartre in der Suche nach möglichen Verbindungen Husserls, Kierkegaards und Heideggers mit Marx. Die Motivation beider zu diesen Projekten zogen sie direkt aus den sie umgebenden Gesellschaften: Der Marxismus des Ostblocks war zur Legitimationswissenschaft verkommen. Gerade Marxens Vorstellung des Umsturzes der gesellschaftlichen Ordnung zum Wohle des Subjekts, überall dort wo der Mensch ein geknechtetes, erniedrigtes Wesen war, setzte ja direkt am Subjekt an, in dem Sinne, daß das Glück des Subjekts der höchste zu verwirklichende Wert sei. Diesem Impetus verpflichteten sich auch Sartre und Marcus, wohl ein Grund warum sie sich der Probe der Macht nicht stellen mußten. Es kann also über die beiden nicht gesagt werden – wie Bloch über Marx schrieb – wo ihre Theorien nicht nur zur Unkenntlichkeit, sondern auch zur Kenntlichkeit verändert wurden. Andererseits waren in den Theorien beider Schutzmechanismen eingebaut, die aus der direkten Erfahrung des Umgangs der KPdSU mit Marx resultierten: Das starke Subjekt fungierte als Schutzschild gegen den Totalitarismus. Dies war in gewisser Weise etwas Neues: Während nach Kant die gesamte Philosophie immer weiter zum Objekt tendierte, insistierten Sartre und Marcuse wieder auf das Subjekt. Dabei waren beide Theorien von der Grundannahme einer dialektischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt geprägt. Das Bindeglied zwischen ihnen bestand in der Vermittlung; auf dieser Ebene plazierten sich ihre Theorien. Beide setzten an den Schnittstellen zwischen Individuum und Gesellschaft an, um zu verstehen, wie die Menschen zu dem geworden waren, was sie sind und was sie hätten seien könnten. Jegliche neue marxsche Theorie wird nicht umhin können, diese Bestandteile der Marcuseschen und Sartreschen Theorie zu integrieren, um nicht erneut im Überhang der Gesellschaft durch Bürokratie, Disziplin und Terror zu enden und um es endlich zu vermögen den alten Traum des freien Menschen wahr werden zu lassen. 8 Schneider, Manfred: Eine ästhetische Theorie des Trugs: «Saint Genet», in: König, Traugott (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 171 16 2. Sozialismus oder Barbarei: Der Scheitern des Liberalismus – Das Ende der bürgerlichen Subjektivität „ENORME OPFER AN GUT UND BLUT WÜRDE EIN KRIEG VON UNS ERFORDERN. DEN GEGNERN ABER WÜRDEN WIR ZEIGEN, WAS ES HEIßT, DEUTSCHLAND ZU REIZEN“ WILHELM II „ICH FÜHRE KRIEG BIS ZUR LETZTEN VIERTELSTUNDE – UND SIE WIRD UNS GEHÖREN.“ CLÉMENCEAU Der historische Hintergrund Sartres und Marcuses Studienjahre waren geprägt von einer der größten Krisen des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Deutschland, schwer getroffen von der Niederlage des ersten Weltkrieges, blickte auf eine Zeit zurück, in der der ausbrechende Weltkrieg anfänglich auf breiteste Zustimmung stieß und eine wahre Kriegseuphorie auslöste. Wilhelm II tat den Ausspruch: „Enorme Opfer an Gut und Blut würde ein Krieg von uns erfordern. Den Gegnern aber würden wir zeigen, was es heißt, Deutschland zu reizen“9 In Frankreich hatte der erste Weltkrieg die Union sacrée der „politischen Parteien zur Verteidigung der Nation“ ermöglicht, die Clémenceau, der "Vater des Sieges", symbolisierte, der bis Januar 1920 an der Macht blieb und von dem der Ausspruch stammte: „Ich führe Krieg bis zur letzten Viertelstunde – und sie wird uns gehören.“10 Dies war das politische Klima der Jugendjahre. Die II. Internationale und mit ihr der Vorsatz, einen Krieg mit allen Mitteln verhindern zu wollen, war gescheitert. Das Proletariat, dessen Organisationen Jahre zuvor die internationale Revolution anstrebten, metzelte sich unter dem Banner des Vaterlandes auf den Schlachtfeldern und in den Gräben von Verdun und anderswo nieder. 1916 stellte Lenin fest, „[…], daß es in Deutschland zwei Parteien gibt. Die eine, die offizielle, führt die Politik der Bourgeoisie durch. Die andere, die Minderheit, gibt illegale Aufrufe heraus, veranstaltet Demonstrationen usw. In der ganzen Welt 9 Kriegs-Rundschau. Zeitgenössische Zusammenstellung der für den Weltkrieg wichtigen Ereignisse, Urkunden, Kundgebungen, Schlacht- und Zeitberichte. Hrsg. v. der Täglichen Rundschau, Bd. 1, a.a.O. , S. 37 10 Ploetz-Auszug; Aus der Geschichte, 26. Aufl., S. 1108 17 sehen wir dasselbe Bild, und ohnmächtige Diplomaten oder der "Sumpf", wie Kautsky in Deutschland, Longuet in Frankreich, Martow und Trotzki in Rußland, stiften in der Arbeiterbewegung den größten Schaden, weil sie die Fiktion der Einheit aufrechterhalten und damit die herangereifte, dringend notwendig gewordene Vereinigung der Opposition aller Länder, die Schaffung der III. Internationale, stören. [...] Sogar in den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Spaltung faktisch vollzogen.“11 Durch den Weltkrieg wurde das zaristische Rußland derart geschwächt, daß die russische Revolution möglich wurde. Sie sollte den Grundstein für den Beginn des „short century“ (Hobsbawm) legen. Von diesem welthistorischen Ereignis blieb kein westliches Land unberührt. Die deutsche Sozialdemokratie lehnte eine Revolution nach russischem Vorbild ab, was zu ihrer Spaltung führte – ein Schicksal, das in ähnlicher Form auch den französischen Sozialisten 1920 zuteil wurde. Sie wollte statt dessen den Sozialismus über eine bürgerliche Demokratie erreichen und über Reformen langsam in den Sozialismus übertreten. Das Scheitern dieses Konzeptes war gleichbedeutend mit dem Scheitern der „deutschen Revolution“. Dieses war in vieler Hinsicht verheerend, war doch die russische Revolution anfänglich als eine internationale angelegt: „Für die marxistischen Revolutionäre in Rußland war es unumgänglich, ihre Revolution in andere Länder zu tragen.“12 Auch wenn den Revolutionären in Rußland bald klar wurde, daß die Sozialdemokratien der westlichen Industrienationen ihrem Beispiel nicht folgen würden, so hegte man in Moskau immer noch Hoffnung auf weitere revolutionäre Entwicklungen, insb. in Deutschland. Die offizielle Sprache der III. Internationalen zwischen den Kriegen war Deutsch – nicht Russisch. Man hoffte sogar noch ihren Sitz nach Berlin verlegen zu können. Somit war das Scheitern der deutschen Revolution in vielen Belangen ausschlaggebend für das Schicksal Europas. Durch ihr Ausbleiben war es unmöglich geworden, die revolutionäre Bewegung in das Zentrum des Kapitalismus zu tragen. Die bürgerlichen Kräfte und die Organisationen der Arbeiter standen in einer Patt-Situation und rangen um die Zukunft des Kontinentes. Das Moment jener „verpaßten“ Revolution beeinflußte Marcuses Denken entscheidend: 1977 sagte er gegenüber Habermas: „Entscheidend war das Scheitern der deutschen Revolution, das meine Freunde und ich eigentlich schon 1921, wenn nicht sogar noch früher, mit der Ermordung von Rosa und Karl erlebt haben. Es schien nichts da zu sein, womit man sich hätte identifizieren können“13 Tatsächlich sollte sich das Denken Marcuses aus dieser Enttäuschung speisen und dadurch sein Fundament gelegt bekommen: „Ich war involviert eine kurze Zeit, ich war Mitglied des Soldatenrates in Berlin-Reinickendorf 1918, ich bin sehr schnell aus diesem Soldantenrat wieder ausgetreten, als man dazu überging, ehemalige Offiziere hineinzuwählen, und habe dann eine ganz kurze Zeit der SPD angehört, bin da aber auch nach dem Januar 1919 wieder ausgetreten. Ich meine, daß meine politische Haltung in dieser Zeit festgelegt war in dem Sinne, daß sie 11 Lenin, Wladimir Iljitsch: Werke. Herausgegeben vom Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. Band 22, 3. Auflage, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 127 12 Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, München, 1998 , S. 121 13 Habermas, Jürgen / Bovenschen, Silvia, u.a.: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1978, S. 10 18 kompromißlos gegen die Politik der SPD gerichtet, also in diesem Sinne revolutionär war.“14 Das Scheitern der deutschen Revolution bedingte die Transformation der Russischen. Ihr Scheitern, spätestens mit der NEP, wenn nicht schon in Kronstadt, sowie die weltweite Krise des Kapitalismus waren die Momente, die das Denken Marcuses und Sartres nie verlassen sollten. Das Klima in Deutschland und Frankreich wurde zunehmend von den Rechtsparteien bestimmt. Nach dem Paradoxon, daß in Deutschland die Arbeiterklasse die bürgerliche Republik durchgesetzt hatte, wurde nun immer deutlicher, daß die „Demokratie ohne Demokraten“ keine stabile Trägerschicht hatte. Doch letztendlich war es die Inflation, „die Mitteleuropa für den Faschismus reif machte.“15 In Deutschland wurde 1923 die Währung auf das Millionste einer Million ihres Werts von 1913 reduziert. 1926 geriet auch Frankreich in die Finanzkrise: Der Franc fiel, das Budget war unausgeglichen und die Auslandsverschuldung zu hoch. Die große Wirtschaftskrise von 1929 erfaßte alle Industrienationen und eine neue Form der politischen Herrschaft betrat die Bühne der Weltgeschichte: Der Faschismus. Letztendlich bedurfte es einer weltweiten Koalition zwischen solch gegensätzlichen Lagern wie dem Stalinismus und dem amerikanischen Kapitalismus, um diese neue politische Bewegung zu stoppen. Die daraus resultierende Zange der Systeme vernichtete oder marginalisierte die verbleibenden freiheitlichen Traditionen der Arbeiterbewegung. Hier sollten sich Sartre und Marcuse placieren und später mit ihren Theorien des „dritten Weges“ zu Gemeinsamkeiten finden. Mit der großen Wirtschaftskrise und dem vorangegangenen Ersten Weltkrieg, dem Katastrophenzeitalter (Hobsbawm) ging das Zeitalter des Liberalismus zu Ende. Rosa Luxemburg formulierte zwischen Hoffnung und böser Vorausahnung: „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei. Was bedeutet ein »Rückfall in die Barbarei« auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte [von Engels, S.O.C.] bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen.“16 Die Heideggerjahre Marcuses Die Grundlage: Sein und Zeit Nachdem Marcuse an der Novemberrevolution teilgenommen hatte und diese scheiterte überwog bei ihm das Gefühl der Identifikationslosigkeit. Der „individualistische Weltbürger Marcuse“ (Bundschuh) bedurfte eines anderen Anstoßes für die erneute revolutionäre Tat. Dies war erstaunlicherweise Martin 14 Habermas, Jürgen / Bovenschen, Silvia, u.a.: a.a.O. , 1978, S. 11f Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, München, 1998 , S. 121 16 Luxemburg, Rosa: Die Krise der Sozialdemokratie, in: Gesammelte Werke 4, Berlin/Ost, 1987, S.62. In einem Gespräch sagte Marcuse, daß er bei der „letzten Massenveranstaltung, auf der Rosa Luxemburg teilgenommen hat“, anwesend war. Die Salecina-Gespräche, in: Habermas, Jürgen / Bovenschen, Silvia, u.a.: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1978, S.98 15 19 Heidegger, den Sartre erst später lesen sollte. Zwar war seine 1922 verfaßte Dissertation mit dem Titel „Der deutsche Künstlerroman“ Lukacs’ „Die Seele und die Formen“ und „Theorie des Romans“ sowie Hegels „Ästhetik“ verpflichtet17, doch den stärksten Eindruck hinterließ bei ihm, nach einer anfänglichen Faszination für Husserl, Heidegger. Der Schlüssel zu seiner HeideggerAnhängerschaft war die 1927 erschienene Schrift „Sein und Zeit“. Der Heidegger jener Jahre, war noch nicht der Naziaffirmateur18 und Antisemit (den Husserl, sein Vorgänger auf dem Heidelberger Lehrstuhl, allerdings auch schon vorher beklagte19), als der er sich 1933 beim Fall auf seine braunen Füße entpuppte. Umstritten ist, wie stark Heideggers Apologie des Nationalsozialismus bereits in seiner Philosophie angelegt war. Sahmel geht davon aus, daß „Heideggers kurzfristige Befürwortung des Nationalsozialismus nicht nur eine (im nachhinein zurückgenommene) persönliche Entscheidungversuchte“, sondern daß „sie in der Struktur schon angelehnt war. Existentialontologie, auf Konkretion ausgerichtet“, so Sahmel „geriet in eine Sphäre der Abstraktion, die vom tatsächlichen natürlichen Leben und Dasein der Menschen weit abgetrennt war.“20 Wenn sie dies war, wie ist es dann möglich, daß Heideggers Apologie dann bereits in seiner Philosophie angelegt war? Wenn die Sphäre so weit entfernt vom „natürlichen“ Leben der Menschen abgetrennt war, wie war es dann möglich auf einmal eine solche Konkretion, wie die Affirmation des Faschismus aus der Philosophie selbst zu begründen? Breuer21 meint, daß Heideggers Philosophie zur Affirmation des Nationalsozialismus wurde, „weil nichts mehr war, was in sich indifferent war und über sich hinauswies“. In dieser „Unterwerfung unter die Positivität“ lag, so Breuer, die eigentliche Bedeutung. Problematisch an dieser Interpretation erscheint, daß sich Heideggers Philosophie so allem und nichts unterwarf. Sie lehnte es konsequent ab, sich mit konkreter Geschichte auseinanderzusetzen. Daraus resultierte eine Unterwerfung unter die blanke Positivität, aber genauso ihre völlige Ignoranz. Die konkretesten Stellen von „Sein und Zeit“ beziehen sich auf die Geschichtlichkeit: „Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst zurückkommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt.“22 Doch diese Stellen bleiben so allgemein, daß aus ihnen jegliche andere Deutung möglich ist. Auch Bloch benutzte den Begriff des Erbes („Erbschaft der Zeit“). Für ihn stellte er das im hegelschen Sinne Aufzuhebende der bürgerlichen Gesellschaft dar, welches Bewahrendes und Tilgendes im selben Moment in sich trage. Das für Heidegger 17 vgl. Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, München, 1988, S. 114 vgl. Marcuse, Herbert / Heidegger, Martin: Briefwechsel, in: Jansen, Peter Erwin (Hrsg): Befreiung Denken – Ein politischer Imperativ. Ein Materialienband zu Herbert Marcuse, Offenbach, 1990, S. 135ff 19 vgl.: Sieg, Ulrich: „Die Verjudung des deutschen Geistes“ – Ein unbekannter Brief Heideggers, in: Die Zeit, Nr. 52, Dezember 1989. Tatsächlich scheint es noch nicht entschieden zu sein, wie stark Heideggers Antisemitismus vor 1933 gewesen war. Der Brief Heideggers an Schwoerer legt zumindest den Verdacht nahe, das Heidegger Antisemit war, seinen Antisemitismus jedoch versteckte. Hätte Heidegger zu seinem Antisemitismus offen gestanden, dann hätte er bei Jaspers „nicht einmal eine Tasse Tee bekommen.“ 20 Sahmel, Karl-Heinz, Vernunft und Sinnlichkeit. Eine kritische Einführung in das philosophische und politische Denken Herbert Marcuses, Königstein, 1979, S. 24f 21 vgl. Breuer, Stefan: Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1977, S. 76 22 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen, 1993, S. 383 18 20 dieses „Erbe“ seine Verwirklichung im Faschismus erfahren sollte, war zum damaligen Zeitpunkt nicht abzusehen. Bis 1932 war Marcuse von Heidegger in hohem Maß fasziniert: „Wir sahen in Heidegger, was wir zu erst in Husserl gesehen hatten: einen neuen Anfang, der erste realistische Versuch, Philosophie auf wirklich konkrete Grundlagen zu stellen. Eine Philosophie, die sich für die menschliche Existenz interessierte, für menschliche Bedingungen und nicht bloß für abstrakte Ideen und Prinzipien.“23, sollte Marcuse später über seine Motive sagen, die für seinen Gang nach Heidelberg zum Studium bei Heidegger ausschlaggebend waren. Diese „konkrete Grundlage“ gestaltete sich für Heidegger unter Anderem in der Transformation der traditionellen philosophischen Kategorie des Subjekts.24 Das Subjekt wurde zum „Dasein“, dessen „Wesen in der Existenz liegt.“25 Heidegger reduzierte damit das Subjekt auf die Existenz: Sie stelle die Grundlage von allem dar. Nachdem die Existenz konstituiert und bewußt sei, könne das Subjekt wählen. Zwar bedinge die äußere Welt den Rahmen der Entscheidungen, doch qua seiner Selbst könne das Subjekt frei wählen – das Dasein sei selbst seine eigene Möglichkeit: „Und Dasein ist meines wiederum je in dieser oder jener Weise zu sein. Es hat sich schon immer irgendwie entschieden, in welcher Weise Dasein je meines ist. Das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, verhält sich zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit. Dasein ist [Herv. i. O., S.E] je seine Möglichkeit und es »hat« sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes. Und weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst »wählen«, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur »scheinbar« gewinnen.“26 Das Subjekt bestehe zu allererst nur als Existenz. Sartre sollte zu einem späteren Zeitpunkt schreiben, daß die „Existenz dem Wesen vorausgehe.“ Streng genommen bedeutete dies, daß das Subjekt nur sich selbst gegenüber eine Verantwortung trug. Es sei zu allererst existent und könne, bzw. müsse von hier an wählen. Was sich ein wenig nach einer Binsenweisheit anhörte - nämlich das alle Menschen leben und entscheiden - hatte auch eine andere, eine kritische, Note die wohl die große Faszination an Heidegger ausmachte: Das Subjekt, das Heideggersche „Dasein“ konnte sich – eine Lektüre aus kritischer Sicht vorrausgesetzt - nicht für eine große Ideologie vereinnahmen lassen. Wenn es zu allererst darum ging, die eigene Existenz zu konstatieren, bevor das Dasein „seine Möglichkeit gewinnen kann“, so waren all diese Möglichkeiten nur veränderbare Aufsätze, die abgeworfen oder transformiert werden könnten. Durch die Möglichkeit dieses Abwerfens konnte in letzter Konsequenz herausgelesen werden, daß alle großen Ziele, die den Tod des Einzelnen in Kauf nahmen, vor einer solchen Philosophie nicht bestehen konnten. Einer solchen Lesart haftete ein radikaler Humanismus an, denn Sartre später in ähnlicher Form in seinem Aufsatz „Der Existenzialismus ist ein Humanismus“ formulierte. 23 Olafson, Frederic / Marcuse, Herbert: Irrtum oder Verrat an der Philosophie. Fragen an Herbert Marcuse zu Martin Heidegger, in Jansen, Peter-Erwin: Befreiung Denken – Ein politischer Imperativ. Ein Materialienband zu Herbert Marcuse, Offenbach, 1990 S. 123f 24 vgl. Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit, in: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Band 6, Frankfurt /M, 1998, S. 488 25 Heidegger, a. a. O., S. 42 26 Ebd. 21 Es erscheint nicht zufällig, daß solch eine so geartete Philosophie im Wettstreit der politischen Systeme eine große Faszination ausübte: Fast zehn Millionen Tote und ungefähr zwanzig Millionen Verwundete hatte der erste Weltkrieg gefordert. Willhelm II sagte: „Auch Mich hat die eine oder die andere Partei wohl angegriffen. Das war in Friedenszeiten. Ich verzeihe es heute von ganzem Herzen! Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder“27 Die Subsumtion aller unter den großen Krieg, der Tod fürs Vaterland frei nach dem Hölderlinschen Ausspruch: „Lebe droben, o Vaterland, Und zähle nicht die Todten!“28 und das Scheitern der Oktoberrevolution mit der Unterordnung des Subjekts unter die große Sache des Kommunismus, war einer Art des Denkens geschuldet, in der der Einzelne nichts, das große Ziel alles zählte. Vor diesem Hintergrund waren Sätze wie: „Das »Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz“29 von durchschlagener Anziehungskraft. Nicht die große Sache zählte, sondern das Subjekt selbst. Das Subjekt das zu wählen hatte. Hier - so schien es - ging es um den Einzelnen. Heidegger legte großen Wert auf die Zeitlichkeit allen Seins. Was sich wie eine Plattheit anhört, die sagt daß alles vergänglich ist; so schien es damals etwas zu sein, an das erinnert werden mußte. Etwas, daß der Erste Weltkrieg in seiner Rhetorik und Praxis ad absurdum geführt hatte. Durch das Inkaufnehmen der Berge von Toten war es keinesfalls selbstverständlich, daß dem Sein eine solch fundamentale Bedeutung zugemessen wurde. Heidegger suchte, wie Hegel, die Philosophie in ihre ursprünglich Bedeutung zurückzuführen: „Philosophie“, schrieb er, „ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analyse der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“30 Nicht zufällig wählte Sartre später als Untertitel seines Werkes „Das Sein und das Nichts“ den Beisatz: „Versuch einer phänomenologischen Ontologie.“ Philosophie als „Mutter der Wissenschaft“ sollte wieder ihren zentralen Platz einnehmen, doch diesmal als eine „phänomenologische Ontologie“. Die Erklärung der Arten des Seins sollte sich aus ihren Phänomenen herleiteten; sie zu abstrahieren und zu konkretisieren sollte die große Aufgabe sein. Damit schien es eine Philosophie zu sein, die sich für die menschliche Existenz interessierte, die versuchte einen Ausweg zu finden aus dem Fehlen eines universalen Sinns. Eine Philosophie in der, wie Camus es später ausdrückte „Leben an sich schon ein Werturteil ist. Atmen heißt urteilen.“31 Diese starke Moralität war bei Heidegger jedoch nicht spürbar. Für ihn war der Mensch „in die Welt geworfen“. Dieses „Geworfensein“ ohne direkt erklärbaren Sinn des Lebens, galt es zu untersuchen. 27 Kriegs-Rundschau. Zeitgenössische Zusammenstellung der für den Weltkrieg wichtigen Ereignisse, Urkunden, Kundgebungen, Schlacht- und Zeitberichte. Hrsg. v. der Täglichen Rundschau. Bd. 1: Von den Ursachen des Krieges bis etwa zum Schluß des Jahres 1914, Berlin 1915, S. 43 28 Hölderlin, Friedrich: Der Tod fürs Vaterland, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe [StA], hrsg. v. F. Beißner (Bd. I-V) u. Adolf Beck (Bd. VI-VII, Bd. VIII gemeinsam mit U. Oelmann), StA I, Gedichte bis 1800, Stuttgart 1943 – 1985, S. 299 29 Heidegger, a.a.O., S. 42 30 Heidegger, a.a.O., S. 436 31 Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Reinbek bei Hamburg, 1969, S. 11 22 „Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“32 Mit diesen Fragen beendete Heidegger sein Buch. Dies waren Fragen, die nicht nach der Subsumtion des Subjekts unter große politische Ziele klangen. Hier waren scheinbar Momente angesprochen, die sich direkt um die Subjekte kümmerten, ums Dasein. Doch nicht zufällig annullierte Heidegger Subjekt und Objekt, zugunsten von Dasein und Sein. Die konkreten historischen Momente, die mit den Begriffen Subjekt und Objekt hätten erklärt werden können, wurden so in abstraktere umgewandelt, die nur noch in einem anthropologischen Kontext Sinn ergaben. Seine Philosophie vermochte (und wollte) historische Transformationen nicht erklären, da sie um ein anthropologisches Dasein kreiste. Heidegger versuchte nicht weniger als nach einem ewigen „Sinn der Lebens“ zu fragen, der außerhalb der konkreten Geschichte stand. Zwar korrelierte die Kategorie der Zeitlichkeit unmittelbar mit der Frage nach dem Sinn des Lebens, doch blieb sie in „Sein und Zeit“ noch vor der politischen Tat stehen. An keiner Stelle von „Sein und Zeit“ brach eine konkrete historische Wirklichkeit in die Philosophie vom Dasein ein. Die „Zeitlichkeit allen Seins“ war eine, die unabhängig von der konkreten geschichtlichen Situation zur Debatte stand. Damit bekam Heideggers Philosophie von 1927 zwei Dimensionen: Eine Dimension die sich der konkreten Partizipation verweigerte, die nach einem ewigen Prinzip suchte, also auch in einer befreiten Gesellschaft, in einer abstrakten Zukunft noch Aktualität hätte. Und eine andere Dimension, die sich vom Gesellschaftlichen abschottete, die den „Zeitkern von Wahrheit“ (Horkheimer) ausblendete. Daß die Erscheinungsformen der Zeit33 selbst historischer Transformation unterworfen waren, blieb in „Sein und Zeit“ außen vor34. Das Subjekt, bzw. das heideggersche „Dasein“ wurde zum Bollwerk: Das Objekt – die Gesellschaft war ausgeklammert, die Welt wurde zu einer aus Wille und Vorstellung reduziert. Das dialektische Begriffspaar von Subjekt und Objekt verschob sich zugunsten des Daseins. Diese Verschiebung markierte zugleich die „objektive Schranke“ Heideggers. Seine Philosophie von „Sein und Zeit“ stellte letztendlich mehr Abkapselung von der sozialen Welt, anstatt eines Eintrittes in sie dar. Um dies auszugleichen, starteten Sartre wie Marcuse - unabhängig und ohne Kenntnis voneinander - ein großes Projekt, von dem sie sich später beide distanzierten: Den Versuch einer Verbindung von Marx und Heidegger. Fasziniert von einer Denkart, die in hegelscher Tradition die Geschichte des menschlichen Seins und ihren Sinn zu fassen versuchte, machten sie sich an philosophische 32 Heidegger, a.a.O., S. 437 Gemeint ist damit die Veränderung der Zeit von einer zyklischen zur modernen. Zeit wurde zu anderen historischen Epochen als in Einklang mit den Jahreszeiten angesehen. Mit der Durchsetzung moderner Zeit war ein gewaltiges Disziplinierungsmoment ins Leben der Menschen getreten: Das Leben nach der Maschinenzeit. Marx sprach hierbei von der Vernichtung des Raums durch die Zeit. (vgl. Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin /Ost,1974 , S. 423 und Krozova, Alfred: Produktion und Sozialisation, Frankfurt, 1976, S. 151ff) 34 Heidegger unterscheidet zwar zwischen verschiedene Arten der Zeit (Zeit-in-der-Welt, Welt-Zeit, Zeit der Verstehens, Zeit des Verfallens, Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit, usw.), doch in keinem Moment wird auch nur der Versuch einer materialistischen Herkunftsbestimmung unternommen. 33 23 Unternehmungen, die auf ihre Art eine Rückbesinnung auf den Linkshegelianismus darstellte. Mit dem Untergang der II. Internationalen, dem Ausbruch des ersten Weltkriegs und dem Scheitern der russischen Revolution erschien dies als ein Besinnungspunkt, ein philosophischer Bezugspunkt, der nicht von realer Geschichte desavouiert erschien - etwas das nicht durch die geschichtliche Wirklichkeit überholt wurde. Es begann eine Art Überprüfung der Philosophie. Marcuse und Sartre waren mit dieser Position keinesfalls allein. Auch andere Denker der Zeit arbeiteten an einer Reinterpretation Marxens via Hegel: Lukacs „Geschichte und Klassenbewußtsein“ und Blochs „Geist der Utopie“35 waren ebenfalls als solche Versuche zu betrachten. Auch Adornos Arbeiten über Husserl (1924) und Kierkegaard (1931) fußten auf Hegel. Doch entgegen Heideggers Hegelinterpretation versuchten Bloch und Lukacs die Präformationen des Subjekts neu zu verorten: Warum scheiterte die Revolution? Warum konnten die Menschen die herrschenden Zustande nicht so umgestallten, daß die Welt eine wurde, in der der Mensch kein geknechtetes, erniedrigtes Wesen mehr war? Dies waren die Fragen denen sich Bloch und Lukacs mit dem Hegelschen System näherten. Heideggers Werk lernte Sartre erst nach dessen Zeit als Apologet des NS kennen. Daß er seine Philosophie trotzdem schätzte, lag unter anderem an der spezifisch französischen Situation: “Die Bedingungen der Emigration und der RésistanceSituation sind eben unvergleichbar; so wie Horkheimer und Adorno nie wirklich und Marcuse überhaupt niemals aus der Emigration heimkehrten, so stellte sich die Résistance-Situation bei den Marxisten wieder her, die unter der realen Herrschaft des Stalinismus den Existentialismus als Korrektiv begrüßten und positiv aufnahmen. Deutlich wird dies an der Stellung zu Heidegger. [...] Für die Tatsache hingegen, daß genau diese Philosophie den französischen Antifaschisten und den osteuropäischen Antistalinismus inspirierte, hatte man in Frankfurt nie eine überzeugende Erklärung”36 Philosophie als Schutz vor der Wirklichkeit Marcuses: Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus Der junge Marcuse sah sich mit den Fragen Heideggers konfrontiert. In seiner 1928 erschienen Schrift: „Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus“ schrieb er: „Indem Heidegger […] die geschichtliche Geworfenheit des Daseins und seine geschichtliche Bestimmtheit und Verwurzelung im »Geschick« der Gemeinschaft erkennt, hat er sein radikales Forschen zu dem äußersten Punkt vorgetrieben, zu dem die bürgerliche Philosophie bisher gelangte und – überhaupt gelangen kann. Er hat die theoretischen Verhaltungsweisen des Menschen als »abkünftige«, als fundiert im praktischen »Besorgen« aufgedeckt 35 Bloch, Ernst: Geist der Utopie in: Bloch, Ernst, Werke 16, Frankfurt /M, 1985. Bloch widmet in dem Kapitel: Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit - Hegel und Kant (Überschrieben mit Innerlichkeit und System) einen zentralen Abschnitt der Frage, ob das hegelsche System noch Geltung hat. 36 Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule, in: Hrsg. V. Traugott König: Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 18 24 und damit die Praxis als das Feld der Entscheidungen erwiesen.“37 Es hatte sich um Praxis zu handeln, wenn Philosophie einen Anspruch auf Wahrheit und Erklärung erheben wollte. Philosophie sollte konkret werden. „Geschichtlichkeit […] als Weise des Seins selbst“38, doch weiterhin sollte Philosophie schützen gegen die geschichtliche Situation, in der sie stand. Sie sollte die Existenz als eigenen Wert, der ideologisch nicht vereinnahmt werden konnte, behaupten: „Es ist die drängende Aufgabe, den Selbstwert der Person, ihrer Existenz und ihrer Leistung, abzugrenzen gegen das geschichtliche Erbe und die geschichtlich-gesellschaftliche Situation, in der die Person steht. […] Hier wäre die Frage aufzuwerfen, ob und inwiefern konkrete geschichtliche Daseinsformen (Gesellschaftssysteme) als solche werthaft sein können, so daß ein »geschichtliches« Existieren und Handeln trotz seiner »Notwendigkeit« auch Realisierung von Werten darstellen würde.“ 39 Vorsichtig war also zu fragen, ob ein neuer Kampf um eine bessere Welt Elemente enthielt, in der die Würde der Existenz aufgehoben und verwirklicht werden würde und ob „neue geschichtliche Daseinsformen“40 die Realisierung existentialistischer Werte ermöglichen könnten. Dahinter verbargen sich schlicht die Fragen: Ist es möglich, daß eine kollektiver Akteur die Bühne der Weltgeschichte betritt, ohne zu scheitern und einen wirklichen Fortschritt erzielt? Ist es möglich eine Philosophie zu erdenken, in der das Subjekt nicht unter den Rädern der großen Ziele zermahlen wird? Konkrete Philosophie abstrakt Marcuses: Über konkrete Philosophie Philosophie sollte, so Marcuse, konkret werden und der historische Materialismus sollte diese notwendige Konkretion sein, „weil er aus der Notwendigkeit einer unerträglich gewordenen Existenz heraus das Geschehen neu begreifen mußte.“41 Wahrheit und Philosophie sollten mit dem Subjekt einen Bund eingehen: „Jede Wahrheit hat den existenziellen Sinn, daß der Mensch durch ihre Aneignung wahr existieren kann.“42 Erst durch die Aneignung von Wahrheit sei der Mensch in der Lage, mittels Philosophie, seine eigentliche Existenz vernünftig leben zu können. Zu fragen galt, ob dieses aufklärerische Motiv unbegrenzte Geltung habe: „Haben […] auch philosophische Probleme und Wahrheiten ihre Zeit: ihren Ort und ihre Stunde?“43 Eine Frage, derer sich Horkheimer später annahm, als er der Wahrheit einen „Zeitkern“ zuschrieb. Philosophie, so der frühe Marcuse, habe sich „wo wirklich um neue Möglichkeiten des Seins gekämpft wird“, nicht zu verraten durch die Weiterarbeit an „zeitlosen Diskussionen.“44 Dies war für Marcuse die eigentliche Verbindung Marxens mit dem Existentialismus und damit ein erster Bruch mit dem Heidegger von „Sein und Zeit“: Philosophie mußte in der Welt und an der Welt stattfinden, mußte sich ins 37 Marcuse, Herbert: Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus, Schriften I, Frankfurt /M, 1971, S. 363 38 Ebd. 39 Ebd. S. 371f. 40 Ebd. S. 372 41 Ebd. S. 384 42 Marcuse, Herbert: Über konkrete Philosophie, Schriften I, Frankfurt /M, 1971, S. 363 43 Ebd. S. 388 44 Ebd. S. 406 25 Handgemenge begeben und danach trachten eine Welt möglich zu machen, die „neue Formen des Sein“ ermöglichte. Philosophie sollte eintreten für eine Welt, in der die Subjekte durch ihre Existenz den Platz einnehmen könnten, der ihnen gebühre. Die konkrete Philosophie müßte sich, so Marcuse, „an die mit ihr gleichzeitige Gesellschaft wenden, sie in ihrer geschichtlichen Situation aufsuchen […] und sich auf diesem Wege zu ihrer Wahrheit durcharbeiten.“45 Der Kernpunkt dieser Philosophie sollte der Einzelne, das Subjekt bleiben: „Niemals darf die Konkretion der Philosophie in der Existenz jedes einzelnen auf ein abstraktes ManSubjekt abgeschoben werden, die entscheidende Verantwortung auf irgendeine Allgemeinheit abgewälzt werden.“46 Doch hier schloß sich ein weiteres Problem an: Wie sollte die konkrete Philosophie den Einzelnen erreichen? „Es genügt [...] nicht, Bücher zu schreiben, deren Angesprochener stets nur eine abstrakte Allgemeinheit ist […]. Die Gesellschaft ist weder ein daseinendes Subjekt neben dem einzelnen noch die Summe der einzelnen, sondern in ganz konkretem Sinne ist die Gesellschaft jeder einzelne selbst, ist sie die konkret-geschichtliche Weise des Daseins des einzelnen.“47 Später revidierte Marcuse seine damalige Position. Sein Verhältnis zur Gesellschaft erschien hier als eines, in dem das Subjekt die Konstitutionsgrundlage alle Dinge darstellte. Der Umschlag von Gesellschaft aufs Subjekt, die Präformation des Bewußtseins, blieb in seiner frühen existentialistischen Variante des Marxismus eine Leerstelle. Dennoch erschien auch hier die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung, wo „der Weg zur Revolutionierung des Einzelnen nur durch die Veränderung der Gesellschaft gehen [kann].“48 Dahinter verbargt sich ein – auch später umstrittener – Punkt der Philosophie Marcuses: Die Vorstellung eines „neuen Menschen“. Die Subjekte, so schwang es in den Zeilen mit, seien im Bestehenden - ohne Kenntnis der Philosophie, also der Ausbildung eines Selbstbewußtseins im hegelschen Sinne nicht zu großer gesellschaftlicher Transformation fähig. Eine Position, die Marcuse mit anderen wie Lenin oder Lukacs teilte. Doch entgegen der transformatorischen Rolle des Proletariats als Subjekt der Befreiung, angeleitet durch die Partei, blieb die existentialistische Variante bei einer abstrakten Trägerschicht der neuen Gesellschaft: dem Menschen als Gattungswesen. Es schien, als sei, bei allem verlangten Einbruch der Geschichtlichkeit in die Philosophie, bei der Frage nach dem kollektiven Akteur, die Geschichte schon wieder ausgebrochen. Eine solche Position war allerdings in den Jahren 1928-1932 nicht unverständlich. Nach dem Mißlingen der russischen Revolution und dem Scheitern des deutschen Proletariats - vielmehr dessen Führung, wie Marcuse konstatierte - in Form der Sozialdemokratie, wäre der Versuch der Revitalisierung wohl auch am historischen Zeitkern vorbeigedacht gewesen. Dies sollte sich in Marcuses späterer Philosophie ändern. Während andere dann mühsam versuchten, einen weiteren Korken in die Flaschenpost zu stopfen, war Marcuses derjenige der ein rebellisches Subjekt konkret ansprach. Sartre vor den Frühwerken 45 Ebd. S. 403 Ebd. 47 Ebd., S. 403f 48 Ebd., S. 405 46 26 Der Sartre jener Jahre, sieben Jahre jünger als Marcuse, studierte an der ecole normale, wo er Paul Nizan und Raymont Aaron kennenlernte; danach absolviert er seinen Militärdienst als Meteorologe in Tours. Seine damaligen Schriften brauchen hier nicht erörtert zu werden. Sie haben noch nicht die Bedeutung, die seine späteren Schriften erlangen werden, auch bereiten sie diese erst ab 1936 vor.49 Hier sei nur erwähnt, daß der junge Sartre Heidegger noch nicht kannte, obwohl eine seiner ersten Schriften „Legende der Wahrheit“ 1931 in der Zeitschrift „Bifur“ erschien, in der auch die französische Übersetzung von Heideggers „Was ist Metaphysik?“ veröffentlicht wurde50. Darin versuchte Sartre eine Abrechnung mit der französischen Universitätsphilosophie. „Die Wahrheit“, so Sartre, „ist ein grausamer und angebeteter Tyrann: in ihrem Namen kann man den glücklichsten der Menschen zum Selbstmord überreden.“51 Mehr als der philosophische Gehalt des Textes – eine Polemik auf die Vorstellung, daß es eine zugängliche und erkennbare objektive Wahrheiten gebe – bestach die Verbindung eines literarischen Stils mit Philosophie. Sartre, der sich hier unter dem Einfluß von Bergson stehen sah52, versuchte die Legende der Wahrheit, die Entstehung ihres Mythos nachzuzeichnen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, daß schon der junge Sartre mit großer Wut einen objektiven Wahrheitsbegriff, wie ihn z.B. die Scholastik benutze, ablehnte. The proof of the pudding is in the eating Marcuses: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit Marcuse arbeitete weiter an der Verbindung von Marx und Heidegger. In der Einleitung seiner 1932 verfaßten Habilitationsschrift „Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“ hieß es: „Was diese Arbeit etwa zu einer Aufrollung und Klärung der Probleme beiträgt, verdankt sie der philosophischen Arbeit Martin Heideggers.“53 Lind sieht darin ein Werk, „[which] bears all the marks of Heidegger’s own concerns with the metaphysical dimension of Hegel’s philosophy, and in addiction to a single overall acknowledgement of Heidegger, displays all the familar philosophical categories of the latter.“54 Doch das Werk war noch mehr als die Auseinandersetzung mit Hegel durch die Heideggersche Brille. Tatsächlich versuchte „Marcuse zu zeigen, wie die Subjektivität in Hegels späterer Philosophie zunehmend an den Rand gedrängt wurde, zugunsten einer Ausweitung der objektiven Kräfte des Staates und des absoluten Geistes.“55 Es handelte sich also um eine Hegelrezeption, die den frühen Hegel gegen den späten stark zu machen suchte, um ihn als Fundament für einen marxistischen Existentialismus fruchtbar zu machen. Marcuse setzte an dem Punkte Hegels an, der ihn gegen Kant 49 Zu Sartes Frühstschriften vgl. Spurk, Jan: Bastarde und Verräter. Jean-Paul Sartre und die französischen Intellektuellen, Bodenheim, 1988. S. 175-186. 50 Vgl. von Wroblewsky, Vincent: Anmerkungen des Herausgebers, in: Sartre, Jean Paul, Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 31 51 Sartre, Jean-Paul: Die Legende der Wahrheit, in: Sartre, Jean Paul, Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 21 52 Vgl. von Wroblewsky, Vincent, a.a.O., S. 31 53 Marcuse, Herbert: Hegels Ontologie der Geschichtlichkeit, Frankfurt /M, 1968, S. 8 54 Lind, Peter: Marcuse and freedom, Worcester, 1985, S. 18 55 Adromeit, John: Herbert Marcuses Auseinandersetzung mit der Philosophie Martin Heideggers, in: Jansen, Peter-Erwin und Redaktion »Perspektiven« (Hg.): Zwischen Hoffnung und Notwendigkeit, Frankfurt /M, 1999, S. 153 27 vorgehen ließ: Kants Subjekt konstituierte sich über die „reine Apperzeption“56, die Kant von der „ursprünglichen“ und der „empirischen“ abgrenzte. Damit war gemeint, daß das „ich denke“ alle Vorstellungen begleiten müsse, da sonst gar nicht gedacht werden könne und eine äußere Projektion im Subjekt die Rolle des Denkens übernähme.57 Bei Kant war das Subjekt Dreh- und Angelpunkt von Wahrheit und Erkenntnis, lediglich das Ding an-sich sei ihm nicht zugänglich. Dies bliebe Gott vorbehalten. Letztlich stand „Gott“ damit jenseits aller Momente des Handelns in dieser Welt. Heinrich Heine merkte zur Philosophie Kants an: „Hat Kant die Ressurrektion nicht bloß des alten Lampe wegen, sondern auch der Polizei wegen unternommen? Oder hat er wirklich aus Überzeugung gehandelt? Hat er eben dadurch, daß er alle Beweise für das Dasein Gottes zerstörte, uns recht zeigen wollen, wie mißlich es ist, wenn wir nichts von der Existenz Gottes wissen können? Er handelte da fast eben so weise, wie mein westfälischer Freund, welcher alle Laternen auf der Grohnderstraße zu Göttingen zerschlagen hatte, und uns nun dort, im dunkeln stehend, eine lange Rede hielt über die praktische Notwendigkeit der Laternen, welche er nur deshalb theoretisch zerschlagen hatte, um uns zu zeigen, wie wir ohne dieselbe nichts sehen können.“58 Man möchte bei der Lektüre von Marcuses „Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“ ähnliches fragen: Wozu all die Heideggerschen Kategorien, wenn am Ende ein Übergang vom „Sinn zum Seinenden“, von „Fundamentalontologie zur Geschichtsphilosophie; von Geschichtlichkeit zur Geschichte“59 stand? Marcuse ersetzte später all die heideggerschen Kategorien durch die des historischen Materialismus und der kritischen Theorie. Bleibend sollte ein Gedanke des Buches sein, der sich schon damals mit Ein- bzw. Mehrdimensionalität beschäftigte: Da alles Seiende durch seine Zeitlichkeit gekennzeichnet sei, habe jedes Seiende nicht nur Geschichte, „sondern ist Geschichte.“ Jedes Sein habe Vergangenheit, wie Gegenwart und weise damit in Zukünftiges, also auch in Momente des möglichen Anderseins; in allen Dingen stecke gleichermaßen neben Vergangenem und Gegenwärtigem ein Telos. Dieses Zukünftige weise über das Bestehende hinaus. Damit bekomme das Sein eine „Zweidimensionalität“, die Marcuse später in seinem Buch „Der eindimensionale Mensch“ in der für ihn – und viele andere - herrschenden Eindimensionalität aufgreifen wird, da dort mögliches Anderssein verbaut schien. Ebenfalls wird sich ein Moment durch Marcuses Werk ziehen, daß auf einem hegelschen Denkmodel gründete: Das Auseinanderfallen von Subjekt und Objekt, als in der historischen Wirklichkeit gespaltenes, welches in Zukunft versöhnt und zusammengebracht werden solle. Nicht nur die Wahrheit des Erkennens (Kant), sondern „die Wahrheit des Gegenstandes selbst“ betonte Marcuse mit Hegel. 56 Kant, Imanuel: Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe, Band III, Frankfurt /M, 1980, §16, S. 136 57 Tatsächlich wäre zu fragen, ob nicht die Konzeptionen Freuds, besonders in den Kulturkritischen Schriften genau so etwas suggeriert: Kultur und Gesellschaften verrichten eine (für Freud) notwendige Zurichtung des Bewußtseins und entwickeln Momente, die der einzelne in seinem Handeln nicht denkt: Man könnte mit Kant sagen: Etwas wird in ihm vorgestellt. 58 Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Werke, Vierter Band, Frankfurt /M, 1968, S. 132 59 Adorno, Theodor W. Herbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit, in: Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, Band 20.1, Frankfurt /M, 1997, S. 203 28 Damit polarisiert sich das Verhältnispaar Subjekt-Objekt dazu, durch Geschichtlichkeit selbst aufgelöst werden zu müssen, nicht aber - wie bei Hegel – im absoluten Geist. Oder wie Lukacs es einmal, Engels zitierend, ausdrückte: „The proof of the pudding is in the eating“60 Durch die Veränderbarkeit des Gegenstandes bleibe, folgt man Lukacs, kein metaphysisches Ding an-sich übrig; nichts daß nur in der Wahrheit des Erkennens liege, sondern im realen Leben, der realen Geschichte seinen Platz und seine Möglichkeit auf Andersein beinhalte. Die Entdeckung: Die Veröffentlichung der Pariser Manuskripte – Marcuses Wandel von Heidegger zu Marx Marcuses: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus Wirkliches Denken, betonte Marcuse nun immer wieder, bedürfe seiner Reflexion in gesellschaftlichem Sein. Diesen Grundsatz sah er am deutlichsten bei Marx verwirklicht. Als 1932 die „Ökonomisch Philosophischen Manuskripte“ veröffentlicht wurden, war dies für Marcuse ein „entscheidendes Ereignis in der Geschichte der Marx-Forschung.“61 Für seine Philosophie markierte die Lektüre der Frühschriften Marxens, wie er später sagte, einen Wendepunkt: „Hier war in einem gewissen Sinne ein neuer Marx, der wirklich konkret war und gleichzeitig über den erstarrten praktischen und theoretischen Marxismus der Parteien hinausging. Und von da ab war das Problem Heidegger versus Marx für mich eigentlich kein Problem mehr.“62 Hier fand sich für Marcuse ein Marx, der die „revolutionäre Kritik der politischen Ökonomie philosophisch […] fundiert“63 - ein Marx, der sich mit hegelscher Methodik der Nationalökonomie annahm, wodurch eine Marx-Interpretation gestärkt werden konnte, die einen Kontrast zum starken Ökonomismus des orthodoxen Marxismus der 30er Jahre bildete.64 60 Lukacs, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin-Halensee, 1923 (Reprint im Raubdruck), S. 217 61 Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, in: Marcuse, Herbert: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt /M, 1970, S. 7 62 Habermas, Jürgen / Bovenschen, Silvia, u.a.: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1978, S. 11 63 Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, in: Marcuse, Herbert: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt /M, 1970, S. 9 64 Daß der späte Marx ein solch großes Augenmerk auf die Ökonomie richtete, sieht Engels in der Auseinadersetzung mit dem politischen Gegner begründet: „Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen. […] Es ist leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben […] sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchem der neueren „Marxisten“ nicht ersparen, und es ist da dann auch wundersames Zeug geleistet worden.“, in: Engels Friedrich, Engels an Joseph Bloch, MEW 37, S.465 29 Die Pariser Manuskripte thematisieren die Schnittstelle des Individuums mit der Gesellschaft: Des realen, praktischen Subjekts, dessen konkrete Situation in der Gesellschaft, dessen Unterworfensein unter die „Herrschaft der totgeschlagenen Materie über die Menschen“ (Marx), im Mittelpunkt der Philosophie stand. Statt der Verflüchtigung realer Geschichte aus der Philosophie - wie bei Heidegger - war hier ein System, das sich um die „ganze »Existenz« des Menschen, [um] die »menschliche Wirklichkeit«“65 kümmerte. Marx analysierte die kapitalistische Gesellschaft als eine, durch die die Existenz des Menschen in Frage gestellt war und die nur durch totale und radikale Umwälzung einen Zustand erreichen könne, in der der Mensch kein geknechtetes und erniedrigtes Wesen mehr sei. Die gesellschaftliche Zurichtung des Subjekts war der Mittelpunkt seiner Kritik: Der Arbeiter, so Marx, mußte selbst zur Ware werden, um als physisches Subjekt existieren zu können, er müsse „seine Menschheit verkaufen“66 Das, was den Menschen als Gattungswesen ausmachen könnte, werde laut Marx durch den „nationalökonomischen Zustand“ zur Entwirklichung. Die „Knechtschaft des Gegenstandes“ und die Entfremdung verschöben das Gegensatzpaar Subjekt und Objekt zugunsten einer Übermacht des Objekts, die es zu durchbrechen gelte. Die gesellschaftliche Wirklichkeit, die sich durch Geld vermittele, werde zur verkehrenden Macht: Das Geld „verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in den Herren, den Herren in den Knecht, den Blödsinn in Verstand […] Wer die Tapferkeit kaufen kann, der ist tapfer, wenn er auch feig ist. Da das Geld nicht gegen eine bestimmte Qualität, gegen ein bestimmtes Ding, menschliche Wesenskräfte, sondern gegen die ganze menschliche und natürliche gegenständliche Welt sich austauscht, so tauscht es also – vom Standpunkt seines Besitzers angesehen – jede Eigenschaft gegen jede – auch ihr widersprechende Eigenschaft und Gegenstand – aus; es ist die Verbrüderung der Unmöglichkeiten, es zwingt das sich Widersprechende zum Kuß.“67 Die große Freiheit und der innere Reichtum der Subjekte könne nicht ausgebildet werden, da die kapitalistische Welt durch den Äquivalententausch alle genuinen Eigenschaften ersetzbar mache. In einer höheren Stufe der Gesellschaft, so Marx, könne „Liebe nur gegen Liebe ausgetauscht werden und Vertrauen gegen Vertrauen“. Die Verhältnisse der Menschen wären „dem Willen entsprechende Äußerungen des wirklichen individuellen Lebens.“68 Entfremdung und Verdinglichung bewirkten, daß die Arbeit dem Menschen als „feindliche Macht“ gegenüberstehe. Arbeit könne aber, so Marx, auch „Selbsterzeugungs- oder Selbstvergegenständlichungsakt des Menschen“ und „die Lebenstätigkeit, das produktive Leben selbst“69 sein. In der durch Arbeit zugerichteten Wirklichkeit werde der Begriff der Arbeit zur philosophischen Kategorie, da sie die „eigentliche Äußerung und Verwirklichung des menschlichen 65 Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, a.a.O. , S. 14 66 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW Ergänzungsband, Erster Teil, S. 476 67 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a.a.O. , S. 566f 68 Ebd., S. 567 69 zit. nach: Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, a.a.O. , S. 17. In der „MEW Ergänzungsband Erster Teil“ finden sich die entsprechenden Textstellen mit anderen Formulierungen. 30 Wesens“ fasse. Dem Begriff der Arbeit kommt damit der Stellenwert der großen gesellschaftlichen Vermittlungsagenturen zwischen Subjekt und Objekt zu. Zu erstreben sei, so Marcuse und Marx, „die Rückkehr des Menschen in sein wahres Eigentum […] als Rückkehr in sein gesellschaftliches Wesen, die Befreiung der Gesellschaft.“70 Grundvoraussetzung für die Befreiung des Menschen stelle die Revolution dar: Ein Motiv, daß sich von nun – mal offen und mal verdeckt – auch durch Marcuses Denken zog. War in den frühen Schriften Marcuses das Subjekte nur als abstraktes Erkennbar, als Dasein im heideggerschen Sinne, so erfuhr es nun eine Konkretion. Der Begriff des Subjekts wurde Synonym mit den Einzelnen, den Individuen als Unterdrückte. Auch wenn diese Behandlung des Subjektbegriffs als Synonym problematisch war (wenn z.B. die Klasse zum Subjekt wurde, existierte weiterhin ein Gegensatz zum Einzelnen), so galt es diesen Subjektbegriff als Verhältnisbegriff zu begreifen. Ihm Gegenüber stand das Objekt, daß nun via Marx zum Synonym für die kapitalistische Gesellschaft wurde. So gewannen die Begriffe von Subjekt und Objekt ihre spezifische historische Konkretion und stellen ein kritisches Begriffsinstrumentarium bereit, das auch in nicht-kapitalistischen Gesellschaften Anwendung finden konnte, dann jedoch einer anderen historischen Konkretion bedurfte.71 Doch Gesellschaft und Individuum, Subjekt und Objekt, stellten sich für Marcuse nicht ausschließlich als Antipoden dar. Sie standen in einem dialektischen Bezug: „Denn es gibt »Gesellschaft« nicht als ein Subjekt außer den Einzelnen; ausdrücklich warnt Marx davor, die Gesellschaft als eine selbstständige Größe gegen die Einzelnen auszuspielen. […] Die Erkenntnis der Vergegenständlichung bedeutet demnach die Erkenntnis, wie und wodurch der Mensch und seine gegenständliche Welt als gesellschaftliche Verhältnisse geworden sind, was sie sind, bedeutet die Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Situation des Menschen.“72 Wären Subjekt und Objekt auf ewig unversöhnbar gegenübergestellt, so wäre gesellschaftliche Veränderung unmöglich: Subjekt und Objekt wären starr und unbeweglich. Vielmehr erschien der Mensch als gesellschaftliches Wesen und für Marx, wie Marcuse war er grundsätzlich in Lage, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und in der Revolution jene gesellschaftliche Transformation zu erreichen, in der Subjekt und Objekt – getreu dem hegelschen Denkmodel – versöhnbar seien. Während Hegel den Menschen durch seine Erhebung zu abstraktem Selbstbewußtsein (Geist, Denken) konkreter Fülle beraubte und sich bei ihm die 70 Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, a.a.O. , S. 38 71 Durch die in den Begriffen enthaltene Dualität von Subjekt und Objekt als Unversöhnte kann auch in zukünftigen, freieren Gesellschaften ein mögliches Mißverhältnis zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft ausgedrückt werden. Eine andere Konkretion bekäme das Begriffspaar, wenn die entfremdete Arbeit und damit der Kapitalismus seine historische Schranke überschreiten würde und eine neue Organisation der Arbeit an diese Stelle der von Ausbeutung gekennzeichneten, treten würde. Da eine solche mögliche Gesellschaft nicht existiert und nur in Ansätzen für kurze Zeit existierte, wie z.B. in Spanien während des Bürgerkrieges oder während der Pariser Commune, kann nur spekuliert werden, daß auch mit der Veränderung der Arbeit nicht automatisch alle unterdrückenden Elemente von Gesellschaft beseitigt wären. 72 Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, a.a.O. , S. 40 31 Geschichte des Menschen als Geschichte des Selbstbewußtseins las, bekam bei Marx wie Marcuse die Versöhnung von Subjekt und Objekt eine konkrete historische Dimension. Marcuse legte größten Wert auf die Rolle Hegels in Marxens Werk: „Die HegelKritik ist kein Anhängsel der vorgegangenen Kritik und Grundlegung der Nationalökonomie, sie ist in der ganzen Kritik und Grundlegung wirksam: diese selbst ist eine Auseinandersetzung mit Hegel.“73 Die Verbundenheit zu Hegel, die auch schon in Marcuses Habilitationsschrift deutlich wurde, sollte sich später in einem seiner Hauptwerke noch deutlicher niederschlagen; als er im amerikanischen Exil seine Ehrenrettung Hegels „Vernunft und Revolution“ schrieb. Übergänge: Marcuse Emigration aus Deutschland und Sartres Jahr in Berlin Während Marcuse Deutschland verlassen mußte, begrüßte sein alter Lehrer Heidegger in seiner berühmten Rektoratsrede die Nazis mit den Worten: „Nicht Lehrsätze und >Ideen< seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige Wirklichkeit und ihr Gesetz.“74 Zur Zeit da Marcuse aus Deutschland emigrierte, kam – parodoxerweise - Sartre nach Berlin. Das französische Akademikerhaus in Berlin organisierte den Austausch von hochbegabten deutschen und französischen Wissenschaftlern, an dem neben Sartre auch Raymond Aaron teilnahm75. Für sie „bedeutete ein Kulturaufenthalt jenseits des Rheins wie für Generationen vor ihnen eine notwendige Pilgerfahrt zum Fundament des europäischen Denkens und das Aufspüren ihrer Einflüsse und Neigungen an der Quelle selbst.“76 Sartre war in jener Zeit so stark mit seinem Privatleben und Husserl-Studium beschäftigt77, daß die Bücherverbrennungen und von Papens Reden an der Humbold-Universität „wie Wasser von einer geölten Ente“78 an ihm abglitten. Auffällig war Sartres starke Faszination von Husserl, der, so Sartre, „der Stärkste in der deutschen Philosophie nach Kant“79 sei. So sollte die husserlsche Gedankenwelt sein erstes philosophisches Werk: „Die Transzendenz des Ego“ von 1936 entscheidend beeinflussen. Die Grundlagen der deutschen Philosophie mit Kant, Hegel und Marx stellten ein elementares Bindeglied zwischen Sartres und Marcuses Subjektbegriff dar. Über Sartres Buch „Das Sein und das Nichts“ wurde später gesagt, daß es auf den drei großen H’s gründet: Hegel, Husserl und Heidegger. Diese philosophische Herkunft teilte er mit Marcuse. Doch beide entwickelten sich vorerst in gegensätzliche Richtungen. Sartre entdeckte Heidegger, während Marcuse endgültig mit ihm brach. In den Jahren 1939-1945 waren beide Theoretiker am weitesten von 73 Ebd., a.a.O. , S. 54 zit. nach: Brunkhorst, Hauke und Koch, Gertrud: Herbert Marcuse zur Einführung, Hamburg, 1990, S. 30 75 vgl. Cohen-Solal, Annie: Sartre. 1905-1980, Reinbek bei Hamburg, 1991, S. 173ff 76 Ebd. 77 Vgl. Sirinelli, Francois: Deux intellectuels dans la siècle, Sartre et Aron, Paris 1995 78 Cohen-Solal, Annie, a.a.O., S. 173 79 Ebd. 74 32 einander entfernt - bis auch Sartres Philosophie eine Wandlung von der Geschichtlichkeit hin zur Geschichte nahm. Die Machtergreifung des Faschismus: Marcuses kritische Theorie / Sartre und die Phänomenologie Marcuses Habilitationsschrift über Hegel wurde von Heidegger blockiert, weshalb sich Husserl bei Reizler und Reizler bei Horkheimer für Marcuse einsetzte80. Zunächst ohne Erfolg: „Erst 1933 nach einem Gespräch mit Leo Löwenthal, der sich bei Horkheimer für Marcuse aussprach, stieß Marcuse in Genf zum emigrierten Institut für Sozialforschung.“81 Eine Zukunft in Deutschland war als jüdischer Marxist nicht nur vollkommen undenkbar geworden – sie wäre wohl Marcuses Todesurteil gewesen. Im Kreise Horkheimers bestand seine Aufgabe zunächst darin, als philosophischer Hauptrezensent für die Zeitschrift für Sozialforschung zu arbeiten82 Rudimentierte Subjekte Marcuses: Die philosophischen Grundlagen des Arbeitsbegriffes 1933 verfaßte Marcuse die Schrift: „Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffes“. Ein Essay, das sich mit dem Begriff der Arbeit auseinandersetzte, welche von Marcuse in der bestehenden Gesellschaft als „entfremdete und verdinglichte“ analysiert wurde. Ihr stellte er, auf Marx basierend, einen Arbeitsbegriff gegenüber, mit dem Arbeit bei anderen gesellschaftlichen Konstellationen als „volle und freie Verwirklichung des ganzen Menschen in seiner geschichtlichen Welt“ erscheinen könnte83. Grundsätzlich sei Arbeit, so Marx, eine menschliche Notwendigkeit, die jedoch durch den Kapitalismus zu einer von „blinder Macht beherrschten“ Tätigkeit werde. Ein kritischer Begriff von Arbeit, so Marcuse, gehe über die Begriffsbestimmung des Menschen als Subjekt der Güterwelt hinaus, da der „wirtschaftende Mensch gleichsam mit seinem ganzen Sein wirtschaftet.“84 Der Mensch könne weit mehr als seine durch den Kapitalismus reduzierte Arbeit sein. „Die dauernde und ständige Bildung des Daseins an die materielle Produktion und Reproduktion schneidet das Aufkommen der wissenden Umsicht und Voraussicht entsprechend den eigensten Möglichkeiten schon an der Wurzel ab; der »Stand« und die Appropriation der Arbeit an ihn wird nicht mehr bestimmt durch die (in seiner Umsicht und Voraussicht) gründende Mächtigkeit des Daseins, sondern wird zu 80 Zum genaueren Verständnis der Ereignisse um Marcuses Habilitation siehe die Chronologie in: Jansen, Peter-Erwin: Marcuses Habilitationsverfahren – eine Odyssee, in: Jansen, Peter-Erwin: Befreiung denken – Ein politischer Imperativ. Ein Materialienband zu Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1989, S. 145ff 81 Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, München, 1988, S. 122 82 Ebd., S. 155 83 Marcuse, Herbert: Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffes, in: Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft II, Frankfurt /M, 1965, S. 48 84 Ebd., S. 23 33 einer ökonomisch-gesellschaftlichen Fessel, in der der Einzelne hineingeboren oder hineingezwungen wird.“85 Deutlich war hier ein Wandel in der Subjektkonzeption gegenüber den früheren Werken Marcuses zu spüren: War dem Heidegger-Schüler die menschliche Existenz noch das Subjekt der Befreiung, so kam nun eine Subjektkonzeption zum Tragen, in der das gesellschaftliche Ganze direkt die Möglichkeiten des Einzelnen begrenzte. Auch wenn hier noch Heideggersche Begriffe verwandt wurden, wie z.B. Dasein – das heideggersche Synonym für Subjekt -, so änderte sich Marcuses Standpunkt an entscheidenden Stellen. Das Subjekt erschien nun als ein beherrschtes, keineswegs mehr so frei wählendes, wie noch in der Zeit, da er unter dem Einfluß Heideggers stand. Dennoch rettete Marcuse einen Kern der existentialistischen Subjektvorstellung in den Marxismus. Das Subjekt sei prinzipiell durch sein Wesen zur „Umsicht und Voraussicht“ fähig, was die sie umgebende Gesellschaft unter den herrschenden Bedingungen nicht sei. Der Mensch sei in seinem Kern voller möglicher Daseinsfülle, die durch die ökonomische Dimension in eine Reduzierung des „Daseinsganzen“ mündet. In der materialistischen Geschichtsschreibung bestimmte das „gesellschaftliche Sein das Bewußtsein.“ Marx schrieb über die Rolle des Einzelnen im Vorwort zum „Kapital“: „Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformationen als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“86 Das bedeutete, daß die Subjekte zu allererst gesellschaftliche Wesen seien und durch einen gesellschaftlichen Konstruktionsprozeß zu dem gemacht wurden, was sie waren. Sowohl der Arbeiter wie auch der Kapitalist seien durch das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ Subjekte ihrer Rollen; gleichermaßen konstituierten sie dadurch das System. Dies zu durchbrechen sei Aufgabe des Proletariats. Sein Schicksal war für Marx der Schlüssel für das Schicksal der Menschheit. Damit mußte das Proletariat über ein spezielles Bewußtsein seiner und der gesellschaftlichen Situation verfügen87. Beim frühen Lukács beispielsweise tauchte - in orthodoxer Lesart - konsequenterweise das Proletariat denn auch als Träger, bzw. Retter der Philosophie auf. Demgegenüber stellte die existentialistische Variante des Marxismus – dem Anarchismus nicht ganz fern – ein Menschenbild auf, in dem jeder Mensch qua seiner Grundlagen als Mensch, also durch die Möglichkeit der Vernunft, grundsätzlich in die Lage versetzen werden könnte, über ein reiches Bewußtsein und eine ausgefüllte Existenz zu verfügen. In dieser Variante des Marxismus war der Mensch qua seines Menschseins das höchste Gut, daß nicht unter die „große Sache“, bzw. das „Endziel der Geschichte“ untergeordnet werden konnte – er war qua seiner Anlagen als Mensch grundsätzlich fähig in einer anderen Gesellschaft zu leben und sein Wesen anders zu entwerfen. 85 Ebd., S. 46 Marx, Karl: Das Kapital, Berlin /Ost, 1962, S. 16 87 Nicht umsonst sah Marx eine der großen Aufgaben der kommunistischen Partei darin, daß Proletariat zur Klasse zu bilden (vgl., Marx, Karl / Engels, Friedrich, MEW 4, S. 474 86 34 Kontinuitäten im Bruch: Der Faschismus als Erbe und Kämpfer gegen den Liberalismus Marcuses: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung 1932 stellte Marcuse den Grundsatz auf, daß Philosophie konkret werden müsse. Diese Konkretion konnte 1934 für einen marxistischen, deutschen Juden in der Emigration nichts anderes als die Auseinandersetzung mit dem Sieg des Nationalsozialismus bedeuten. Neben Fromms „Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie“ und Mandelbaums/Meyers „Zur Theorie der Planwirtschaft“ reagierte Marcuse mit seinem ersten Aufsatz für die „Zeitschrift für Sozialforschung“ aus dem Jahr 1934 als erster aus dem Frankfurter Kreis auf den Nationalsozialismus: Unter dem Titel „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“ unternahm er den Versuch einer Aufarbeitung der Philosophie, die vom Liberalismus zum Totalitarismus führte. Der Liberalismus, so Marcuse, habe trotz aller Verschiedenheit eine einheitliche Grundlage, nämlich „die freie Verfügung des individuellen Wirtschaftssubjekts über das Privateigentum und die staatlich-rechtlich garantierte Sicherheit dieser Verfügung.“88 Daran ändere, so Marcuse, auch der Faschismus nichts, wodurch deutlich werde, daß ökonomische Ordnung des liberalen auch für den „totalautoritären Staat“ grundlegend sei. Damit stellte der Faschismus für Marcuse ein Moment der Transformation des Liberalismus dar, nicht aber die Abkehr seiner Prinzipien: „Die starken Abwandlungen und Einschränkungen, die überall vorgenommen werden, entsprechen den monopolkapitalistischen Anforderungen der wirtschaftlichen Entwicklung selbst; sie lassen das Prinzip der Gestaltung der Produktionsverhältnisse unangetastet.“89 Der Faschismus war für Marcuse als Kontinuität und Bruch mit dem Liberalismus zu fassen: Als Kontinuität, wenn es die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse ging; als Bruch, wenn es sich um die irrationalistischen Gedankensysteme der totalitären Staatsauffassung im Vergleich zum Rationalismus des Liberalismus handelte. Marcuse konstatierte, daß „im liberalen Rationalismus schon jene Tendenzen präformiert sind, die dann später, mit der Wendung vom industriellen zum monopolistischen Kapitalismus, irrationalistischen Charakter annehmen.“90 Die geistigen Ausdrücke dieser Irrationalität sah Marcuse in den Strömungen des Universalismus, des Naturalismus und des Existenzialismus. So griff der ehemalige Existenzialist Marcuse die Philosophie an, deren Grundlage einst sein eigenes Denken beeinflußte: Dem Existenzialismus ginge es einst darum, so Marcuse, „die volle Konkretion des geschichtlichen Subjekts wiederzugewinnen, also die von Descartes bis Husserl unerschütterliche Herrschaft des »ego cogito« zu beseitigen. Die Position Heideggers bis »Sein und Zeit« bezeichnet den weitesten Vorstoß der Philosophie in diese Richtung.“91 Der Existentialismus nach „Sein und Zeit“ kehre sich um: Wo vormals seine große Stärke lag, nämlich in der Rettung des Subjekts 88 Marcuse, Herbert: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, in: Marcuse, Herbert: Schriften 3, Frankfurt /M, 1979, S. 12 89 Ebd., S. 14 90 Ebd., S. 17 91 Ebd., S. 34 35 vor seiner Subsumtion unters große Ganze, verkam er nun zu einer blanken Apologie: „Was ist, ist rechtens, weil es ist.“ lautete vereinfacht das neue Credo. Der Existenzialismus Heideggers und vielmehr der von Carl Schmitt reduzierten die existentiellen Beziehungen auf das was war, jenseits moralischer Normen. So schrieb Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“92 Damit verwandelte sich die exponierte Stellung des Individuums in der Philosophie in die exponierte Stellung des Staates. „Das Individuum“, so Marcuse, „dem vorher die Lebensphilosophie zu Hilfe geeilt war, hatte sich nun dem Staat zu unterwerfen ihm zu dienen.“93 Was vorher dem Subjekt an philosophischer Würde zu Teil wurde, nämlich das oberste Recht seine Existenz selbst zu entwerfen – ohne übergeordnete Institution – , verlegte sich nun auf den Staat. Damit hatte der Existenzialismus „der sich einst als Erbe des deutschen Idealismus verstand, die größte Erbschaft der deutschen Geschichte ausgeschlagen. Nicht mit Hegels Tode, sondern jetzt erst geschieht der Titanensturz der klassischen deutschen Philosophie.“94 Nicht zu guter letzt sollten Marcuse und der Kreis der Frankfurter Schule – was damals natürlich nicht abzusehen war – zu den neuen Erben des deutschen Idealismus und vor allem Hegels werden. Die neuen Träger der Theorie Marcuses: Zum Begriff des Wesens Als erster Mitarbeiter des „Instituts für Sozialforschung“ übersiedelte Marcuse nach Amerika. Ausgewählt wurde er nicht wegen der Qualität seiner Schriften, sondern um eine „subalterne Assistenten- und Hilfsarbeiterstelle“ (Pollock) zu bekleiden95. Die Konkurrenz unter den Mitarbeitern war groß, und Adorno verlangte, man solle Marcuse hinauswerfen, um ihn einzustellen96. Der Adorno jener Jahre, der sich selbst einer „bewährten Brutalität“97 rühmte, stand in direkter Konkurrenz zu Marcuse, der „wegen seiner Heideggerschen Vergangenheit“ als jemand galt, „der sich noch zu bewähren hatte.“98 Für Marcuse selbst, war die Zugehörigkeit zum Institut ein unschätzbarer Gewinn. Am 13.12.1935 schrieb er an Horkheimer, er könne am Ende seines: „[...] ersten vollen amerikanischen Jahres sagen, wie sehr ich mich hier in einer menschlichen und wissenschaftlichen Gemeinsamkeit fühle. Ich glaube, einiges gelernt zu haben, und möchte ihnen hierfür danken.“99 Bei allem Wandel seiner Auffassungen – vom Existentialisten zum kritischen Theoretiker –, konnte dennoch von Marcuse gesagt werden, daß er auch in der neuen Zugehörigkeit Eigenständigkeit bewahrt hatte. Die kritische 92 Schmitt, Carl: Politische Theologie, 1922, S.1 Jay, Martin: Dialektische Phantasie, Frankfurt /M, 1981, S. 154 94 Marcuse, Herbert: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, a.a.O., S. 44 95 siehe: Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, a.a.O. , S. 169 96 Ebd. 97 Adorno an Horkheimer, 30. Oktober 1936, in: Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen und Briefe. (edition archiv inmemoriam), Liechtenstein, 1995, S. 57 98 Wiggershaus, Rolf, a.a.O., S. 169 99 Ebd. 93 36 Theorie wurde zu seiner neuen philosophischen Heimat, und die Freundschaft zu Horkheimer und Adorno sollte – bei allen Diskrepanzen, die sich ergaben – ein Leben lang Bestand haben. In dieser Umgebung und im Bewußtsein, Europa für lange Zeit verlassen zu müssen, entstand sein Text „Zum Begriff des Wesens“ für die „Zeitschrift für Sozialforschung“. Darin versuchte er am Begriff des Wesens, die historische Wandlung der Philosophie zu beschreiben. Am Anfang des bürgerlichen Zeitalters, so Marcuse, sollte „die kritische Autonomie der vernünftigen Subjektivität jene letzten Wesenswahrheiten stiften und rechtfertigen, von denen alle theoretische und praktische Wahrheit abhängt. [...] Am Ende desselben Zeitalters hat die Wesenserkenntnis vor allem die Funktion, die kritische Freiheit des Individuums an vorgegebene, unbedingt gültige Notwendigkeit zu binden.“100 Es galt zu erklären, wie dieser Wandel stattfinden konnte. Es schien, als habe die bürgerliche Philosophie ihren „archimedischen Punkt“ verloren. Diesen Verlust spürte Marcuse in den Antagonismen der kapitalistischen Produktionsweise auf, in der die „Phänomene den Menschen nicht unmittelbar als das erscheinen, was sie »in Wirklichkeit« sind, daß sie sich vielmehr verdeckt, in einer »verkehrten« Form darstellen.“101 Das bedeutete, daß sich die gesellschaftliche Wirklichkeit in solch einem Maße geändert hatte, daß die Dinge ihre Erscheinungen und ihr Wesen bis zur Unkenntlichkeit verändert hatten. Durch Verdinglichung und Entfremdung veränderte sich jedoch nicht nur das Wesen der Dinge, sondern auch die sie konstituierenden und durch sie konstituierten Subjekte. Das Subjekt, so Marcuse, begreife sich noch nicht in seinen Möglichkeiten.102 Durch die Wirklichkeit des fortgeschrittenen Kapitalismus entstehe eine „Spannung zwischen dem Seinkönnenden und dem Daseienden, zwischen dem, was der Mensch und die Dinge sein können, und dem, was sie faktisch sind.“103 Damit verließ Marcuse den Standpunkt seines existentialistischen Subjekts als Träger der Wahrheit. Die veränderte Objekt-Welt, so Marcuse, bestimme ebenso die Wahrnehmung des Subjektes, wie sie aus ihr hervorgehe. Es komme zu einem wechselseitigen Prozeß zwischen Subjekt und Objekt, der sein dialektisches Moment in der Hinzuziehung des Telos erhalte. Anders ausgedrückt: Das Gros der Subjekte war im Zeitalter des Faschismus als determiniert zu begreifen. Zwar blieb Marcuse bei seinem Menschenbild vom möglichen freien Menschen, doch dieser war für ihn nur dann zu verwirklichen, wenn die objektiven gesellschaftlichen Zwänge abgeschafft würden. Mit der Erkenntnis von der Notwendigkeit zur Veränderung der objektiven Welt bedurfte es für Marcuse eines gesellschaftlichen Trägers, eines kollektiven Akteur, der für die – im hegelschen Sinne – „Aufhebung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse stehe: „Die Theorie ist auf ein anderes Subjekt übergegangen: ihre Begrifflichkeit ist getragen von dem Bewußtsein bestimmter Gruppen und Individuen, die um eine vernünftige Organisation der Gesellschaft im Kampfe stehen.“104 Erst dann, wenn die Individuen und Gruppen den Kampf um die vernünftige Gesellschaft gewonnen 100 Marcuse, Herbert: Der Begriff des Wesens, in: Marcuse Herbert, Schriften 3, a.a.O, S. 45 101 Ebd., S. 70 Ebd. 103 Ebd., S. 68 104 Ebd., S. 76 102 37 hätten, sei ein neues Subjekt denkbar: „Wenn die Forderung erfüllt ist, wenn die verändernde Praxis die neue gesellschaftliche Organisation der Menschen geschaffen hat, erscheint das neue Wesen des Menschen in der Realität“105 Diese Sichtweise auf die Subjekte stellte eine klare Bruchstelle zu Marcuses früheren, existentialistischen dar: Der Kampf ums Subjekt war nicht mehr abstrakt, sondern die gesellschaftlichen Akteure bekamen – ähnlich Lukacs „Geschichte und Klassenbewußtsein“ – ihre historische Konkretion als Träger der Philosophie. Im Kampf gegen den Faschismus war das abstrakte Subjekt nicht mehr aufrechtzuerhalten, sondern jene Gruppen, die ihn bekämpften, „um eine vernünftige Organisation der Gesellschaft im Kampfe stehen“ wurden zu den neuen Trägern der Theorie. Die Welt als Konstruktion Sartres: Die Transzendenz des Egos Im Jahr 1936 erschien von Marcuse der ideengeschichtliche Teil für die „Studie über Autorität und Familie“ des Instituts für Sozialforschung. Im selben Jahr wurde Sartres „Transzendenz des Ego“ und „Die Imagination“ veröffentlicht. Marcuse war 38 Jahre und Sartre 31 Jahre alt. Ähnlich wie Marcuse als 31-Jähriger vom deutschen Existentialismus fasziniert war, war dies nun Sartre. Bedeutend größer als die 7 Jahre Altersunterschied zwischen Sartre und Marcuse war der Abstand ihrer theoretischen Positionen zu dieser Zeit. Die beiden Autoren zu jener Zeit waren kaum vergleichbar: Im Exil Marcuse kam an einem theoretischen Punkt an, der sich nur noch einmal – nämlich durch die Hinzunahme der Psychoanalyse – entscheidend erweiterte. Der Sartre jener Zeit stand auf ähnlichen theoretischen Füßen, wie Marcuse zur Zeit seines Werkes „Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“. Worin bestand die große Anziehungskraft des deutschen Existentialismus für den französischen Sartre? Wieso nahm Sartre einen theoretischen Standpunkt ein, der in Deutschland in der Apologie des Faschismus endete? Zunächst sah man in Frankreich die Machtübernahme Hitlers nicht als große Gefahr106 und Sartre war zu sehr in sein Husserlstudium vertieft, um an der realen Geschichte teilzunehmen. Als er 1934 Berlin verließ, beschreibt ihn seine Biographin Cohen-Solal als „von deutschen gastronomischen Exzessen verfetteten Mann“, der „von Husserl gesättigt ist“107, aber dennoch seine Wurzeln für seine spätere Philosophie gefunden hatte. Nicht minder wichtig für Sartres Entwicklung war seine bereits seit fünf Jahren andauernde Verbindung mit Simone de Beauvoir, in der er bereits seine eigene Art zu Leben und zu Lieben begann, die den späteren, politisch aktiven Existentialisten bereits in einem Mikrokosmos konturierte. Die Töne Sartres in der „Transzendenz des Egos“ ähnelten den früheren von Marcuse: „Die Phänomenologen haben den Menschen wieder in eine Welt eingetaucht, sie haben seinen Ängsten und seinen Leiden, auch seinen Revolten ihr 105 Ebd., S. 84 siehe: Cohen-Solal, Annie, a.a.O. , S. 175f 107 Ebd, S. 181 106 38 ganzes Gewicht wiedergegeben.“108 Auch Sartre wähnte eine neue Konkretion in der Philosophie, die sich um den Einzelnen, den Menschen kümmere. Eine Konkretion, die für ihn nicht abstrakt über dem Leid der Einzelnen schwebte, darum behauptete er, daß „das Objekt dem Subjekt“ nicht notwenig vorausgehe. Die Welt habe, so Sartre, habe das „ICH“109 nicht geschaffen und das „ICH“ habe die Welt nicht geschaffen. Das Sartresche „ICH“ war eher als existentieller Zustand zu fassen, das ein vom Bewußtsein getrenntes Dasein hatte. Die Welt existierte für Sartre im Dasein selbst und sei durch ihre Phänomene grundsätzlich erklärbar. Es bräuchte dann, so Sartre, keine „rein logische Subjekt-Objekt Dualität“ mehr. Statt dessen sei eine Interdependenz zwischen dem „ICH“ und „der Welt“ zu konstatieren. Das „ICH“ habe dieselben Wesensmerkmale wie die Welt und kritisch fügte er hinzu, daß das „ICH“ „angesichts der Welt in Gefahr erscheint“110 Doch worin diese Gefahr bestand, darüber schwieg sich der junge Sartre aus. Die „Transzendenz des Ego“ war eine Schrift, die sich konkreter Geschichte entzog. Sie versuchte zwar, wie viele Existenzialisten vorher, gegen das abstrakte Decartesche »cogito ergo sum« eine konkrete Beziehung des »Ergo« zur realen Welt herzustellen, doch sie bleibt beim Lippenbekenntnis stehen. Zu mehr als zur bloßen Feststellung, daß beide durch Interdependenz verbunden seien, reichte es nicht. Für den Franzosen Sartre war die Beschäftigung mit dem deutschen Existentialismus ein Hebel zur Auseinandersetzung mit der französischen Philosophie, durch die das schwebende Ich Decartes in die wirkliche Welt – zumindest so die philosophischen Vorgabe – hinuntersteigen lassen wollte. Doch wie weit dieses „ICH“ noch von der realen Welt entfernt war, verdeutlichten folgende Zeilen: „Und schließlich bin ICH es doch, der die Welt hervorbringt. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob bestimmte Schichten dieser Welt gerade ihrer Natur nach eine Beziehung zur anderen benötigen. Diese Beziehung kann eine einfache Qualität der Welt sein, die ich schaffe, und zwingt mich keinesfalls dazu, die reale Existenz anderer Ichs zu akzeptieren.“111 Sätze, die durch die reale Geschichte ad absurdum geführt wurden. Dem Juden in Auschwitz konnte nicht gesagt werden, daß keiner ihn zwinge die „reale Existenz anderer Ichs anzuerkennen“. Dennoch bestand ein wahres Moment in diesen Sätzen, nämlich daß alle noch so mächtigen Konstruktionen der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht die Existenz des Menschen selbst, sondern „lediglich“ Wesenserscheinungen waren: In diesem Rahmen nämlich war “Die Transzendenz des Ego“ angelegt – als anthropologische. Es war die Suche nach den Gemeinsamkeiten menschlicher Existenz, die für alle Zeiten Gültigkeit haben sollte. Nur so konnte Sartre schreiben, daß es nicht darauf ankomme „welche Schichten dieser Welt gerade [...] eine Beziehung zu einer anderen benötigt.“ Dieser Seitenhieb auf den Marxismus mochte verständlich sein, wenn die Gegenwart – gerade die französische 108 Sartre, Jean-Paul: Die Transzendenz des Ego, in Sartre, Jean-Paul: Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I, Reinbeck bei Hamburg, 1994, S. 91 109 Sartre unterscheidet in diesem Text zwischen Ich [je] und ICH [moi]. Auf diese Unterscheidung – Sartre gibt sie in „Die Imagination“ wieder auf – braucht hier nicht eingegangen werden. 110 Ebd., S. 92 111 Ebd., S. 90 39 Geschichte war voller Revolutionen und Restaurationen – als leicht vergängliche erfahren wurde und konkrete Philosophie beim Gattungswesen Mensch stehenblieb. Am Vorabend des Holocaustes mußte jede Philosophie, die sich dem Einbruch der realen Geschichte verweigerte, zwangsläufig an den Geschehnissen der Welt scheitern. Als Anthropologie gelesen, hatte sie trotz alledem wahre und wichtige Momente. Wie sonst, wenn nicht durch die Aufhebung der Konstruktionen Nation, Rasse, Religion und Geschlecht wäre eine neue Qualität menschlichen Lebens denkbar? Und wer anderes als der Mensch sollte dies vermögen? In anderen Zeiten, in denen der Mensch kein „geknechtetes und erniedrigtes Wesen“ mehr ist, kann vielleicht überprüft werden, wie es um das ICH tatsächlich bestellt ist. Das Imaginäre als Frage des Bewußtseins Sartres: Die Imagination / Das Imaginäre Doch bevor auch Sartre seine Philosophie zu einer dialektischen führte, waren andere Probleme für ihn dringlicher: Wenn das Ich in Interdependenz mit der Welt stand und dennoch das Subjekt einen epistemologischen Vorrang inne hatte, wie verhielt es sich mit Erscheinungsformen des Subjekts, die Jenseits des Ichs und des Bewußten lagen? Wie verhielt es sich mit Träumen und Vorstellungen? Für seinen Text „Die Imagination“ entwickelte er eine Besessenheit, die – wie beim späteren Sartre – auch vor der eigenen Gesundheit nicht halt machte. „Im Januar 1935 ließ sich Sartre [...] unter ärztlicher Aufsicht und zu wissenschaftlichen Zwecken [...] mit Merk-Meskalin spritzen.“112 Mit diesen Erfahrungen ausgestattet113, machte er sich daran ein dickes Buch, daß den Titel „La Psyché“ tragen sollte, zu beginnen, wovon am Ende nur der Text „Skizze einer Theorie der Emotionen“ übrig bleiben sollte. Die Vorarbeiten hierfür gründeten auf Sartres Aufsatz „Die Imagination“. Hier sollte geklärt werden, welchen Stellenwert die Vorstellung und das SichVorstellen, kurz: der Imagination, im Menschen zukommt. Sartres damaligen Versuchen einer psychologischen Konzeption merke man die husserlsche Prägung an. Die Freudsche Psychoanalyse hatte er zur damaligen Zeit noch nicht zur Kenntnis genommen. Für seine späteren arbeiten war von Interesse, daß es für Sartre nichts Unbewußtes, oder Unterbewußtes gab. Imaginationen waren für ihn Reflexe einer realen Welt. Lediglich die Art des Denkens sei präformiert und damit nicht in der Lage, die Tatsächlichkeit aus der Imagination herauszulesen. Das bedeutete, daß für Sartre jede Vorstellung und jeder Traum nur durch seine Definition als von der wirklichen Welt getrennt begriffen wurden. Streng genommen, konnte man sagen, daß für Sartre die Definitionshoheit über Traum und Wirklichkeit entschied: „Und wenn diese zwei Welten erst einmal konstruiert sind; ist es abermals das Urteilsvermögen, das entscheiden wird, ob irgendein psychischer Inhalt zur einen oder zur anderen gerechnet werden muß.“114 112 Cohen-Solal, Annie, a.a.O. ,S. 184 Diese Erfahrungen waren keinesfalls angenehme. Noch lange später fühlte sich Sartre von Langusten verfolgt. (siehe Cohen-Solal, a.a.O., S. 184ff) 114 Sartre, Jean-Paul: Die Imagination, in: Sartre, Jean-Paul: Philosophische Schriften I, a.a.O., S. 187 113 40 Die Schuld für die Aufrechterhaltung von Traum und Wirklichkeit gab Sartre der „durch die Commune aufgeschreckten Bourgeoisie“, die danach suchte „die analytischen Tendenzen des 18. Jahrhunderts in allen Bereichen zu bekämpfen“ und der es galt „Familie, Nation und Gesellschaft über das Individuum zu stellen.“115 An dieser Passage wurde deutlich, was Sartre am deutschen Existenzialismus schätzte: Die französische Philososphie von Brunschvig, Lalande oder Meyerson war für Sartre „Ernährungs-“ oder auch „Verdauungsphilosophie“116, der gegenüber dem Individuum zu Hilfe geeilt werden müsse. Nicht Gesellschaft, Rasse oder Nation standen in seiner Philosophie über dem Individuum, sondern das Subjekt selbst habe einen Vorrang vor der Welt. Für Sartre lag der Unterschied darin begründet, daß z.B. einen Baum an Stelle eines Menschen wahrzunehmen, nicht heiße einen Baum hervorzubringen, sondern den Baum schlecht wahrzunehmen. Das Bild, das dabei entstand, sei, so Sartre, ein bestimmter Bewußtseinstyp. Es sei „kein Akt und kein Ding. Das Bild ist Bewußtsein von etwas.“ Es existierte für Sartre kein eigener psychischer Raum, keine Existentialie im Menschen, aus der die Imaginationen hervorgebracht werden, sondern sie war Teil des Bewußtseins selbst. Wie sonst hätte Sartre ein solches Primat des Subjekts aufrechterhalten können, wenn er Mechanismen im Menschen gesehen hätte, die dem Bewußtsein grundsätzlich nicht zugänglich wären und die die Handlungen des Menschen bestimmten? Damit war Sartre bürgerlicher als der „Bürgerketzer“ Freud, der dem Individuum die Illusion seiner Autonomie geraubt hatte. Philosophie als Gesellschaftskritik Marcuses: Autorität und Familie Während Sartre seinen Existentialismus entwickelte und in Frankreich bald zu einem jungen, aufstrebenden Romanschriftsteller wurde, beschäftigte sich Marcuse mit konkreteren Fragen: Wo lagen die Schnittstellen zwischen Gesellschaft und Individuum? Wie war es möglich, daß die Vernunft, unter deren Zeichen das Bürgertum seine größten Kämpfe ausgefochten hatte, in den bürgerlichen Gesellschaften „von Grund auf um ihre Verwirklichung gebracht“ wurde? Welche Rolle spielen Autorität und Familie bei der Transformation des Liberalismus zum Faschismus? Bei diesen Fragestellungen wurde sichtbar, daß die abstrakten philosophischen Gedankenwelten der Frühwerke konkreter Philosophie Platz machten. Philosophie wurde zur Gesellschaftskritik. Sein Betrag zu den „Studien über Autorität und Familie“ war eine Art Bestandsaufnahme bisheriger Philosophie. Über Luther, Kant und Hegel zu Marx gehend, betrachtete Marcuse das Verhältnis des Einzelnen zur Autorität und den Wandel der Familien. Hinter der ganzen Arbeit – auch wenn nicht explizit geschrieben – verbarg sich die Frage, was der Nährboden des Faschismus ausmachte. Über die untersuchten Philosophen sollte deutlich gemacht werden, daß der Faschismus keinesfalls den Werken der bürgerlichen Philosophen Luther, Kant und Hegel entsprang, wohl aber als kontinuierliche Entwicklung aus der bürgerlichen 115 116 Ebd., S. 122 Cohen-Solal, Annie: Sartre. 1905-1980, a.a.O., 1991,S. 304 41 Geschichte begriffen werden konnte. Die Machtübernahme Hitlers und die Bereitwilligkeit der deutschen Bevölkerung, den Nazis zu folgen, waren somit als keine völlig überraschenden Phänomene zu fassen, sondern es war vielmehr in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft nach den Konstitutionsbedingungen des Faschismus zu suchen. Grundlegend für den Prozeß der gesellschaftlichen Totalisierung war, so Marcuse, die philosophische Aufspaltung des Freiheitsbegriffes in „äußere“ und „innere“ Freiheit. Das „Reich der Freiheit“ wurde ans Subjekt gebunden, als „Christ“, als „Ding-an sich“ oder als „intelligibles Wesen“, während das „Reich der Unfreiheit“ an die Objektwelt in Form des Naturrechts oder als Welt, die von Gott aufgrund von Lust und Begierde abgefallen sei, gebunden wurde. Während die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Entstehung freiheitliche Züge gehabt habe, die in eine irdische Befreiung des Individuums münden sollten, endeten diese anti-autoritären und befreienden Momente in der Verwirklichung des Subjekts als freies Wirtschaftssubjekt. Die Teilung des Freiheitsbegriffes in „innere“ und „äußere“ Freiheit hatte sich durchgesetzt. „Bei solcher Werteverteilung konnte es leicht in Kauf genommen werden, daß die äußere Ordnung primär ein Reich der Knechtschaft und Unfreiheit war, wurde doch die »eigentliche« Freiheit dadurch gar nicht berührt.“117 Hierin sah Marcuse weniger die Brüche als viel mehr die Kontinuitäten zum Christentum. Der christliche Freiheitsbegriff war das Unterfutter des bürgerlichen: „Freiheit von allen irdischen Gütern heißt hier, daß der Arbeiter von allen zur Erhaltung seines Lebens nötigen Dingen »los und lebendig« geworden ist; Freiheit des Menschen zu sich selbst meint hier, daß er über das einzige, was er noch hat: seine Arbeitskraft frei verfügen kann: er muß sie verkaufen, um leben zu können. […] Die bürgerliche Philosophie hatte gelehrt, daß die Freiheit der Person sich erst im freien Eigentum realisiert. In der Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft ist die eigene Person selbst zum Eigentum geworden, das als Ware auf dem Markt feilgeboten wird“118 Das Verhältnis des Einzelnen zur Autorität war also keines, das auf Natur oder einer Gottheit, sondern das auf der Produktionsweise des Kapitalismus fußte. Die aus der ökonomischen Macht entsprungene Autorität erschien lediglich als persönliche Autorität: „Während, auf Basis der kapitalistischen Produktion, der Masse der unmittelbaren Produzenten der gesellschaftliche Charakter ihrer Produktion in der Form streng regelnder Autorität und eines als vollständige Hierarchie gegliederten, gesellschaftlichen Mechanismus des Arbeitsprozesses gegenübertritt - welche Autorität ihren Trägern aber nur als Personifizierung der Arbeitsbedingungen gegenüber der Arbeit, nicht wie in früheren Produktionsformen als politischen oder theokratischen Herrschern zukommt -, herrscht unter den Trägern dieser Autorität, den Kapitalisten selbst, die sich nur als Warenbesitzer gegenübertreten, die vollständigste Anarchie, innerhalb deren der gesellschaftliche Zusammenhang der Produktion sich nur als übermächtiges Naturgesetz der individuellen Willkür gegenüber geltend macht.“119 Für Marcuse lag im bürgerlichen Freiheitsbegriff auf der einen Seite ein historischer Fortschritt, der in der Abkehr von der persönlichen Gebundenheit des Einzelnen an den Feudalherren begründet war. Auf der anderen Seite kamen in den 117 Marcuse, Herbert: Autorität und Familie, in Marcuse, Herbert: Schriften 3, Frankfurt /M, 1979, S. 158 118 Ebd., S. 159 119 Marx, Karl: Das Kapital III, MEW 25, Berlin/Ost, S. 888 42 bürgerlichen Freiheitsbestimmungen lediglich Freiheit der Arbeit, Freizügigkeit, Freiheit des Berufes, Freiheit des Profites sowie die „Zufälligkeit der Lebensbedingungen“ zum Ausdruck, die die kapitalistische Konkurrenz im allgemeinen Kampf der Individuen untereinander erzeugt hatte. Mit Durchsetzung der bürgerlichen Herrschaft ging für Marcuse ein gewaltiges historisches Transformationsmoment durch die Gesellschaften, das letztendlich in einer klassenspezifischen Transformation der Subjekte mündete. Welche Rolle kam dabei der Familie zu? In der Zeit der Durchsetzung des Kapitalismus sei der Familie , so Marx, „der rührend-sentimentale Schleier“ abgerissen worden und sie sei „auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.“120 Demgegenüber erfülle sie weiterhin ideologische Funktionen, sie sei der „heilige Begriff in offiziellen Redensarten und in der allgemeinen Heuchelei.“ 121 Tatsächlich, so Marx, seien die Familien der Proletarier im Begriff ihrer Auflösung. Durch die Notwendigkeit für Arbeiterfrauen und Kinder ihre Haut zu Markte zu tragen, um leben zu können und den „Heißhunger des Kapitals nach Mehrwert“ zu stillen, verändere sich die Familienstruktur in der Arbeiterklasse. Engels ging soweit zu sagen, daß „die Abhängigkeit des Weibes vom Mann und der Kinder von den Eltern vermittels des Privateigentums“ 122 vernichtet sei. Doch die marxsche Prognose sollte sich nur in einer bestimmten historischen Epoche der industrialisierten Länder erfüllen. Emil Zolas „Germinale“ beispielsweise beschrieb diese Situation. Wie irreal beispielsweise die Abschaffung der Kinderarbeit zu Marxens Zeiten erschien, mag folgendes Zitat aus der Kritik des Gothaer Programms verdeutlichen: „Allgemeines Verbot der Kinderarbeit ist unumgänglich mit der Existenz der großen Industrie und daher ein frommer Wunsch. Durchführung desselben – wenn möglich – wäre reaktionär, da, bei strenger Regelung der Arbeitszeit nach den verschiedenen Alterstufen und sonstigen Vorsichtsmaßregeln zum Schutze der Kinder, frühzeitige Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht eines der mächtigsten Umwandlungsmittel der heutigen Gesellschaft ist.“123 Doch genau dies trat, zumindest in den westlichen Industrienationen, ein.124 Die Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht sollte tatsächlich zu dem mächtigsten Umwandlungsmittel der Gesellschaft werden. Oder anders ausgedrückt: Neben der Vermittlungsagentur Familie übernahmen die Institutionen ihren Teil der Konditionierung des Subjekts. Für Erich Fromm, der den sozialpsychologischen Teil der Studie schrieb, stand fest: „Indem das Über-Ich schon in den früheren Lebensjahren des Kindes als eine durch die Angst vor dem Vater und dem gleichzeitigen Wunsch von ihm geliebt zu werden, bedingte Instanz entsteht, erweist sich die Familie als eine wichtige Hilfe für die Herstellung der späteren Fähigkeit des Erwachsenen, an Autorität zu glauben und sich ihnen unterzuordnen.“125 Aus diesem Grund war es für Marcuse 120 Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, Berlin/Ost, 1959, S. 465 Marx, Karl: Deutsche Ideologie, in: MEW 3, Berlin/Ost, 1969, S. 164 122 Engels, Friedrich: Grundsätze des Kommunismus, in: MEW 4, Berlin /Ost, 1977, S. 377 123 Marx, Karl: Kritik der Gothaer Programms, in: MEW 19, Berlin / Ost, 1978, S. 32 124 Zu fragen wäre, in wie weit Kindergärten und Schulen nicht auch eine Art von Kinderarbeit darstellen, die auf die Konditionierung der Kinder zum Zwecke ihrer späteren Verwertbarkeit hinarbeiten. 125 Fromm, Erich: Studien über Autorität und Familie. Autorität und Über-Ich: in Fromm, Erich, Gesamtausgabe, Band I, München, 1989, S. 148f 121 43 wichtig zu betrachten, wie sich die Familie veränderte und welche Rolle sie in der bürgerlichen Philosophie spielte. Fromm konstatierte: „Das Verhältnis von ÜberIch und Autorität ist dialektisch. Das Über-Ich ist eine Verinnerlichung der Autorität, die Autorität wird durch Projizierung der Über-Ich-Eigenschaften auf sie verklärt und in dieser verklärten Gestalt wiederum verinnerlicht. Autorität und Über-Ich sind voneinander überhaupt nicht zu trennen.“126. Später warf Marcuse in „Triebstruktur und Gesellschaft“ die Frage auf, ob nicht Gesellschaft selbst die Rolle des Vaters zur Ausprägung des Über-Ichs übernahm. Die Bejahung von Millionen von Menschen zu ihrer eigenen Unterdrückung lag also – so die Studien über Autorität und Familie - in ihren Wurzeln im Verhältnis der Einzelnen zu Autorität und Herrschaft; jedoch zu einer Herrschaft, die in der bürgerlichen Gesellschaft einen rationellen Kern besaß. Dies kehre sich im Faschismus, dahingehend um, so Marcuse, daß „Autorität nicht als Funktion der Herrschaft, ein Mittel der Beherrschung u. dgl. gilt, sondern als Grund der Herrschaft. […] Das absolute Handeln, die absolute Entscheidung der Führenden wird zum Eigenwert vor dem gesellschaftlichen Inhalt des Handelns und der Entscheidung – die absolute Anerkennung ihrer Entscheidung, das »heroische« Opfer der Geführten wird zum Eigenwert vor der Einsicht in seinen gesellschaftlichen Sinn.“127 Gesellschaft zerfalle, so Marcuse, in Geführte und Führende, die jeweils führenden Eliten werden austauschbar durch die hinter ihnen stehenden Machtgruppen. Damit werde auch der bürgerliche Subjektbegriff obsolet, der an die Freiheit des Wirtschaftssubjektes gebunden war. Zwar hätten sich die Wirtschaftssubjekte nicht grundlegend geändert, doch durch den Einbruch der ökonomischen Krise wandele sich die bürgerliche Gesellschaft und mit ihr die Theorie (Marcuse nannte hier Sorel und Pareto) aus Angst vor einer sozialistischen Revolution zu einer, die um ihre emanzipativen Inhalte beraubt, ins Totalitäre umschlage. Mit ihren Elite-Theorien waren Sorel und Pareto für Marcuse Wegbereiter des Führerprinzips: „Das innere Reservat bürgerlicher Freiheit sei abgeschafft, zurück bleibe Gehorsam einer heteronomen Autorität gegenüber.“128 Kultur als Beschneidung Marcuses: Über den affirmativen Charakter der Kultur „Kurzum, der Faschismus war engstens mit dem Kapitalismus verwoben.“129 Oder wie Horkheimer es ausdrückte: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“130 Doch neben der Familie als Vermittlungsinstanz zwischen materieller Basis und ideologischem Überbau traten noch andere Momente hinzu, die die Transformation der Subjekte möglich machten. In seinen 1937 publizierten Aufsatz: „Über den Affirmativen Charakter der Kultur“ untersuchte Marcuse, welchen Beitrag die Kultur an der Schaffung jener „innerlichen“ bürgerlichen Freiheit hatte. Der Aufsatz hatte den Anspruch herauszuarbeiten, welchen Nährboden die bürgerliche Kultur dem Faschismus geliefert hatte. 126 Ebd., S. 147 Marcuse, Herbert: Autorität und Familie, in Marcuse, a.a.O. , S. 175f 128 Jay, Martin: Dialektische Phantasie, a.a.O., S. 162 129 Ebd.., S. 152 130 Horkheimer, Max: Autoritärer Staat, Amsterdam, 1968, S.8 127 44 Unter „Affirmativer Kultur“ sei, so Marcuse, „jene der bürgerlichen Epoche verstanden, welche im Laufe ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat, die geistig-seelische Welt als ein selbstständiges Wertreich abzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Bejahung einer allgemeinen verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist. Die aber jedes Individuum »von innen her« ohne jede Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann.“131 Kultur war für Marcuse mit ähnlichen Funktionen ausgestattet wie Religion.132 Im Kern übernahm er die Argumentation Marxens zur Religionskritik. Kultur beinhalte kritische Momente, werde jedoch affirmativ, wenn sie diese in die Innerlichkeit des Subjekts verlagerte, anstelle Gesellschaft zum Ort der Kritik zu machen. Marcuse attestierte der bürgerlichen Kultur, daß in ihr das abstrakte Individuum zum Träger einer neuen Glücksforderung wurde. Dies nicht mehr „als Vertreter oder Delegat höherer Allgemeinheit, sondern als einzelnes Individuum“, daß „die Besorgung seines Daseins, die Erfüllung seiner Bedürfnisse selbst in die Hand nehmen soll.“133 Dies war ein historisches Novum, da die Vermittlungen zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft im Feudalismus anders funktionierten: Dort avancierte die Seele zum zentralen Begriff. Die Existenz des Weltlichen trat zurück gegenüber den Heilsversprechen des Himmelreichs. Daß das Bürgertum Pate stand für die Ermöglichung eines neuen Glücks war für Marcuse als historischer Fortschritt zu werten. Doch eben jenes Glücksverbrechen werde „im hier und jetzt“ sofort zurückgenommen, „da die abstrakte Gleichheit der Individuen in der kapitalistischen Produktion sich als konkrete Ungleichheit realisiert, […] ja das Stehenbleiben bei der abstrakten Gleichheit gehörte selbst zu den Bedingungen der Herrschaft des Bürgertums“.134 Für den Glücksanspruch der Individuen sollte die Kultur die Sorge übernehmen, doch anstatt die reale Ungleichheit in der Welt zu dechiffrieren, überließ der Idealismus „die Erde der bürgerlichen Gesellschaft, indem er sich mit dem Himmel und der Seele begnügte.“135 Die Kultur sollte „das Gegebene veredelnd durchdringen, nicht ein Neues an seine Seite setzen.“136 Das Verhältnis der Kultur zu ihrem Subjekt war also keinesfalls ein rein Emanzipatorisches, vielmehr tat sich ein Spannungsfeld zwischen der Kultur als Disziplinierungsmechanismus und Kultur als Glücksversprechen auf. Disziplinierungssystem in dem Maße, da Kultur die Subjekte aufs Bestehende einschwöre – darin bestehe ihr affirmativer Charakter – und Glücksversprechen, da sie eine Wirklichkeit abbildet, die utopische und freiheitliche Momente in sich trage. Marcuse konstatierte: „Nur in der Kunst hat die bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale geduldet und sie als allgemeine Forderung ernst genommen.“137 Doch durch das Fehlen der Umsetzung der bürgerlichen Ideale – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – in 131 Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt /M, 1965, S. 63 132 vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, Berlin /Ost, 1976, S. 233 133 Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, a.a.O., S. 65 134 Ebd. 135 Ebd., S. 68 136 Ebd., S. 71 137 Ebd., S. 82 45 der ökonomischen Wirklichkeit schlage Kultur um in Scheinbefriedigung: „In der affirmativen Kultur wird sogar das Glück zu einem Mittel der Einordnung und Beschneidung. Wie die Kunst das Schöne als gegenwärtig zeigt, bringt sie die revoltierende Sehnsucht zur Ruhe. Zusammen mit anderen Kulturgebieten hat sie zu der großen erzieherischen Leistung dieser Kultur beigetragen: das befreite Individuum, für das die neue Freiheit eine neue Form der Knechtschaft gebracht hatte, so zu disziplinieren, daß es die Unfreiheit des gesellschaftlichen Daseins ertrage.“138 Durch das Fehlen realer Gesellschaftskritik sei die Kultur, so Marcuse, dahin gekommen, daß das Individuum gelernt habe, alle Forderungen zunächst an sich selbst zu stellen. Damit kam der Kultur in Marcuses Theorie eine Schlüsselrolle zur Vermittlung notwendig falschen Bewußtseins, aber auch zur Möglichkeit auf Befreiung zu. Im Gegensatz zur bürgerlichen Kultur, die noch immer das Glücksversprechen in sich aufrecht erhielte, tat dies die Kultur im autoritären Staat nicht mehr. Doch freizusprechen war die bürgerliche Kultur deshalb trotzdem nicht. Der Realisierung des autoritären Staates habe sie den Weg bereitet: „Hatte die Kultur früher den Glücksanspruch im realen Schein zur Ruhe gebracht, soll sie jetzt das Individuum lehren, daß es eine Glücksanforderung für sich überhaupt nicht stellen darf.“139 Der Einzelne, das Subjekt werde komplett unter die „große Sache“, unter das Führerprinzip und unter die „Volksgemeinschaft“ gestellt; die erlaubte Freude organisiert. „Die idyllische Landschaft, der Ort des Sonntagsglücks, verwandelt sich in ein Übungsgelände, die kleinbürgerliche Landpartie in Geländesport.“140 Der Glücksanspruch, den bürgerliche Kultur einmal in sich trug, werde begraben. Zurück blieb ein Subjekt, das, wie schon zur Zeit des ersten Weltkrieges, gegenüber dem „hehren Ziel“ zur Nichtigkeit verkam. Doch wie konnte eine nicht-affirmative Kultur aussehen? Marcuse gab nur vage Antworten. Ähnlich wie Trotzki, der sagte, daß die Tragödie unmittelbar zum menschlichen Leben gehöre, rechnete auch Marcuse mit einer Kultur, die mit „Vergänglichkeit“ und mit „Notwendigkeit“ belastet sein würde: „ein Tanz auf dem Vulkan, ein Lachen unter Trauer, ein Spiel mit dem Tod.“141 Problematisch erschien Marcuses reduktiver Kulturbegriff: Kultur umfaßte in seiner Schrift eigentlich nur den Weimarer Klassizismus. Adorno warf ihm in einem Brief an Horkheimer nicht zu Unrecht vor, daß Baudelaire, Kafka oder Schönberg völlig fehlen würden,142 später jedoch hielt er Marcuses Aufsatz für „eine der besten Früchte unserer Frankfurter Schule.“143 138 Ebd., S. 89 Ebd., S. 97 140 Ebd., S. 98 141 Ebd., S. 100 142 Adorno-Horkheimer, 12.5. 37, in: Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, a.a.O., S. 249f 143 Adorno, Theodor W.: Über Herbert Marcuse, in: Gesammelte Schriften 20.2, Frankfurt /M, 1997, S. 768 139 46 Der Mensch als absurde Situation Sartres: Der Ekel (La nausee) Im gleichen Jahr wie Marcuses Aufsatz über den affirmativen Charakter der Kultur erschien von Sartre „Der Ekel“, der ihn zu einem beachteten Autor in Frankreich machen sollte. Wie früher Marcuse den Existentialismus für eine probate Philosophie hielt, um dem Subjekt zu Hilfe zu eilen, so war es kein Zufall, daß auch Sartre in einer Zeit, in der der Einzelne drohte wieder unter die „große Sache“ subsumiert zu werden, in der Existenzphilosophie ein wichtige Neuerung und eine Waffe gegen die in Frankreich etablierte Schulphilosophie sah. „Der Ekel“ war ein philosophischer Roman, der wie alle seine Theaterstücke und Romane die ihm eigene Philosophie in den literarischen Werken veranschaulichen sollte. Es war also eine Art romaneske Vorarbeit zu „Das Sein und das Nichts“. Im Mittelpunkt des Romans stand der Historiker Roquetin, der in einen zunehmenden Konflikt mit der Welt und der Art und Weise ihrer Darstellung geriet. Die einfache Frage „Wer sind wir?“ ließ Roquetin immer stärker an seiner bürgerlichen Existenz zweifeln und in Unzufriedenheit geraten. Das Leben schien ihm keinen Sinn mehr zu geben, da es für ihn grundsätzlich nicht erklärbar war: Er sah sich seiner nackten Existenz gegenüberstehen und alles um ihn herum wurde ihm zu einem Schein, demgegenüber er nur zur Empfindung des Ekels fähig war. Dieser Ekel erschien als Synonym der „Externalität von Wörtern und Dingen“. Die Sprache und die Ordnung der Dinge fielen in Sartres Roman wie in seiner Philosophie auseinander. Anders als in der Scholastik, da dem Objekt etwas Wesenhaftes inne war, das in der Sprache seine Entsprechung fand, war in Sartres frühem Existentialismus die einzige ihm konstatierbare Substanz die Existenz selbst. Roquetin ließ er dieses Initialerlebnis in der Betrachtung eines Baumes144 erfahren: „Die Existenz überall, bis ins Unendliche, zuviel, immer und überall; die Existenz, 144 Sartre liebte das Beispiel des Baumes. Auch in späteren Werken wird er immer wieder auf den Baum zurückkommen. Es handelte sich hierbei um einen Kastanienbaum der in LeHavre stand. Sartre schrieb 1931 an Simone de Beauvoir: „Danach habe ich mir leichten Herzens einen Baum angeschaut. Dazu muß man nur das Türchen einer schönen Anlage an der Avenue Foch aufstoßen und sich ein Opfer und einen Stuhl aussuchen. Dann schauen. [...] Es war sehr schön und ich scheue mich nicht, hier diese beiden wertvollen Angaben zu meiner Biographie zu machen: in Burgos habe ich verstanden, was eine Kathedrale ist, und in Le Havre, was ein Baum ist. Leider weiß ich nicht so recht, was für ein Baum es war. Sie werden es mir sagen: Sie kennen diese Spielzeuge, die sich im Wind oder wenn man sie ganz schnell bewegt, drehen; er hatte überall kleine grüne Stengel, die mit sechs oder sieben ungefähr genauso angeordneten Blättern ihren Spaß trieben. Ich warte auf ihre Antwort. Anbei eine kleine Skizze.“ (aus: Sartre, Jean-Paul: Gesammelte Werke, Autobiographische Schriften 3. Briefe, Tagebücher. Briefe an Simone de Beauvoir 19261939, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 48). Hier folgt die Skizze eines Kastanienblattes. Auch wenn diese Zeilen banal erscheinen – in ihnen spiegelt sich ein Aspekt von Sartres Denken wieder: Es ist Sartre für den der Baum Bedeutung und der durch ihn Erkenntnis erlangt, völlig unabhängig davon, welch biologische Klassifikation der Baum hat. Nur Kraft der eigenen Subjektivität, des eigenen Denkens werden für ihn Bedeutungszusammenhänge konstruiert. Daß Sartre nicht einmal eine Kastanie von anderen Bäumen unterscheiden konnte, liegt letztendlich daran, daß er diesem Wissen keine sonderlich große Bedeutung beimaß. Erst nachdem er ein Verhältnis zu diesem Baum aufgebaut hatte, interessierte er sich für dessen Namen. 47 die immer nur durch die Existenz begrenzt ist. […] Das Lächeln der Bäume, der Lorbeerbaumgruppe, das wollte etwas sagen; das war das wirkliche Geheimnis der Existenz. […] Ich konnte ihn [den Kastanienbaum, S.O.C.] nicht verstehen, selbst wenn ich siebenhundert Jahre an diesem Tor stehenbleiben würde; ich hatte über die Existenz alles erfahren, was man wissen konnte.“145 An diesem Punkt der Philosophie – der Frage nach der Wahrheit – blieb Sartre Kantianer. Das Ding-an-sich sei dem Menschen nicht zugänglich, lediglich für-sich hätten die Objekte ein Wesen. Doch gegen Kant, der Gott die Würde des Erkennens des Dings-an-sich zugestand, war Sartres Konzeption der Welt gottlos. Es gäbe keinen erklärbaren Sinn der Existenz – sie sei „einfach da“. Das Denken des Subjekts bestimmte - ob das Subjekt dies wolle oder nicht – die Welt der Objekte-an-sich. Die Existenz des Baumes sei bedeutungslos, wenn das Subjekt – der Mensch – den Baum nicht wahrnehme; ihn nicht zum Baum mache. Anders ausgedrückt: Für Sartre bedeutete die Objektwelt – ganz im Sinne des Sensualisten Berkley – Sein ist Wahrgenommenwerden. Hier sei an die Stelle aus Sartres „Die Imagination“ erinnert, an der es hieß, daß einen Baum für einen Menschen zu halten, nicht heiße einen Baum hervorzubringen, sondern lediglich den Baum schlecht wahrzunehmen. Das Bild, das dabei entstehe, sei ein bestimmter Bewußtseinstyp. In letzter Konsequenz sei es der Mensch, der qua seines Denkens den Dingen ihre Bedeutungen verleihe. Dem voraus gehe die eigene Existenz. In einem späteren Vortrag sagte er dann auch konsequenterweise, daß „die Existenz dem Wesen vorausgehe“. Das in Sartres Philosophie keinen übergeordneten Sinn des Lebens gab, folge daraus, daß die eigene Existenz etwas „Überflüssiges“ hatte. Ohne Sinn zu existieren, werfe den Menschen in eine „absurde“ Situation. Doch nicht nur der Mensch, auch seine Umwelt unterlag Sartre zufolge dem gleichen Schicksal. Er ging sogar soweit gegenüber Simone de Beauvoir provokativ zu behaupten: „Auch ein Kreis existiert nicht.“ Damit meinte er, daß ein Kreis keine Eigenschaften besitze, außer denen durch die er definiert werde. Der Kreis existiere als Kreis durch seine Zuschreibungen. Ebenso wie der Mensch sein Wesen durch die Existenz der „Anderen“ erst tatsächlich erhalte. So werde das „Andere“ zum Konstituens des Eigenen. Dadurch, daß ein jedes Ding für Sartre nichts anderes als eine Konstruktion war, ja die Substanz des Dinges die der Zuschreibung sei, werde die Welt beschreibbar und erklärbar: Sie konnte nicht das Produkt eines höheren Wesens oder einer Verselbstständigung sein – sie sei dem Menschen selbst entsprungen und durch ihn zu erklären und zu verändern. So wie Roquetin sein Leben veränderte, der am Ende des Buches seinen Entwurf des Lebens umwarf und seiner Existenz einen Sinn geben wollte: „Ein Buch. Natürlich wäre das zunächst nur eine langweilige und anstrengende Arbeit, es würde nicht verhindern, daß ich existiere, daß ich mich existieren fühle. […] Und es gelänge mir – in der Vergangenheit, nur in der Vergangenheit -, mich zu akzeptieren.“146 Mit Roquetins Entscheidung ein Buch, einen Roman schreiben zu wollen, wollte er seiner Existenz einen Entwurf geben, der dann, wenn er gelebt war – also in der Vergangenheit –, zu einer Art Zufriedenheit führen konnte und in seinem eigenen Entwurf Sinn fand. 145 146 Sartre, Jean Paul: Der Ekel, Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 151ff Ebd., S. 199 48 Roquetin symbolisierte niemand anderen als Sartre selbst. Wie produktiv diese Art des Denkens sein konnte, zeigte sich in dem Moment, da die konkrete Geschichte in Sartres Philosophie eintrat. Mit Schriften wie den „Überlegungen zur Judenfrage“ und „Marxismus und Existentialismus“ wurden Momente des französischen Existentialismus sichtbar, die zu ihrer Zeit ihresgleichen suchen sollten. Durch die Bestimmung der Welt als konstruierter wurden gesellschaftliche Dechiffrierungen möglich, die andere Theorien, die auf einer ersten Natur beharrten, nicht leisten konnten. Das „Grundsatzprogramm“ Marcuses und Horkheimers: Philosophie und kritische Theorie Marcuse arbeitete zur gleichen Zeit zusammen mit Max Horkheimer an einem Essay, das die Grundzüge kritischer Theorie formulieren sollte. Im Jahre 1937 erschien: „Philosophie und kritische Theorie“. Während Sartre sich mit der Frage beschäftigte, was Erscheinung und was Existenz sei, und sich an deren auseinanderfallen stieß, versuchte Marcuse, dieses auseinanderfallen auf materialistische Füße zu stellen. Auch in seinem Text erschien die Wirklichkeit als eine falsche. Nur war dies nicht – wie bei Sartre – eine Frage der Wahrnehmung, sondern die Objektwelt brach sich real im Subjekt: Die Wahrheit konnte, so Marcuse, nur gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse gewonnen werden. Diese „verdecken den Sinn der Wahrheit: sie bilden gleichsam den Horizont von Unwahrheit, der die Wahrheit um ihre Wirkung brachte.“147 Während Sartres Subjekte in „Der Ekel“ an der Welt verzweifeln und ihnen nur die Veränderung des individuellen Entwurfes blieb, so war bei Marcuse die Veränderung der Gesellschaft die Grundlage für einen vernünftigen Entwurf des Individuums. Anders als Sartre, bei dem die Freiheit kantisch am Subjekt hing, war für Marcuse die Verwirklichung der Freiheit nur durch die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen – gemäß einem Ausspruch des jungen Hegels nachdem die Vernunft die Freiheit erfordere. Tatsächliche Freiheit und wirkliche Vernunft, so Marcuse, hätten ihre begriffliche Entstehung in der bürgerlich-idealistischen Philosophie, doch würden beide um ihre Verwirklichung durch die real existierenden Gesellschaften betrogen: „Die Vernunft ist nur der Schein der Vernünftigkeit in einer vernunftlosen Welt, und die Freiheit nur der Schein des Freiseins in der allgemeinen Unfreiheit. Der Schein kommt zustande, indem der Idealismus verinnerlicht wird: Vernunft und Freiheit werden zu Aufgaben, die das Individuum in sich selbst zu erfüllen hat und erfüllen kann, in welchen äußeren Verhältnissen auch immer es sich befinden mag.“148 Das Problem von „innerer und äußerer Freiheit“ in „Philosophie und kritische Theorie“ war nicht neu. In dem Aufsatz über „affirmative Kultur“ arbeitete Marcuse bereits heraus, welchen Beitrag Kultur an der Interiorisierung von Herrschaft durch die Verlagerung von Freiheit auf die „Innerlichkeit“ hatte. 147 Marcuse, Herbert: Philosophie und kritische Theorie, in: Marcuse, Herbert: Schriften, Bd. 3, a.a.O, S, 241 148 Ebd., S.229 49 Folgte man dieser Definition, so gehörte Sartres „Der Ekel“ in vielen Momenten dieser affirmativen Kultur an, da der Protagonist Roquetin nur einen Ausweg in der Veränderung seines eigenen Entwurfes sah und damit bei der „Innerlichkeit“ stehenblieb. Die Perspektive der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse fehlte. Doch die Heftigkeit mit der Roquetin auf die Welt reagierte, das Ausmaß seines Ekels gegenüber der Welt deutete schon an, daß auch für Sartre die Organisation der Welt keine annehmbare war. In der Eindringlichkeit der Beschreibungen der Welt als Falsche und Auslöser des Ekels war zumindest deutlich geworden, daß auch für Sartre die Welt das Subjekt krank machen konnte. Doch was bei Sartre noch idealistisch in der Veränderung des subjektiven Entwurfes stehenblieb, bekam in der kritischen Theorie eine materialistische Substanz. Marcuse schrieb: „Die ökonomischen Verhältnisse bestimmen das philosophische Denken in der bürgerlichen Periode zunächst einmal so, daß das emanzipierte, auf sich selbst verwiesene Individuum denkt. Wie es aber in der Wirklichkeit nicht in der Konkretion seiner Möglichkeiten und seiner Bedürfnisse zählt, sondern – unter Abstraktion von seiner Individualität – nur als Träger von Arbeitskraft, von nützlichen Funktionen im Verwertungsprozeß des Kapitals, so erscheint es in der Philosophie nur als abstraktes Subjekt: unter Abstraktion von seiner vollen Menschlichkeit.“149 Mit anderen Worten: Der Mensch war noch nicht verwirklicht - all das, was die Menschheit hätte ausmachen können, welche Fähigkeiten und Künste der Einzelne - das Subjekt – hätte ausbilden können, werde beschnitten durch die kapitalistische Wirklichkeit. Die Reduktion des Individuums auf den „Träger von Arbeitskraft“ verhindere die Ausbildung einer Menschlichkeit, die jenseits der blanken Verwertbarkeit für den Markt stehe. Der bürgerlichen Philosophie sei jedoch anzurechnen, so Marcuse und Horkheimer, daß „die Sorge um das Individuum den Idealismus lange davor bewahrte, der Aufopferung des Individuums im Dienste falscher Kollektivitäten seinen Segen zu geben.“150 Tatsächlich war der Aufsatz „Philosophie und kritische Theorie“ eine Art Positionsbestimmung. Schon im Einleitungsabsatz wurde deutlich, daß kritische Theorie marxistische Theorie sein sollte: „Nachdem die kritische Theorie die ökonomischen Verhältnisse als für das Ganze der bestehenden Welt verantwortlich erkannt und den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit erfaßt hatte, wurde nicht nur die Philosophie als eigenständige Wissenschaft dieses Gesamtzusammenhangs überflüssig, sondern es konnten nun auch diejenigen Probleme, welche die Möglichkeiten des Menschen und der Vernunft betrafen, von der Ökonomie aus in Angriff genommen werden. So erscheint Philosophie in den ökonomischen Begriffen der materialistischen Theorie.“151 Die bisherige idealistische Philosophie habe nach der Erkenntnis, daß die Welt über entfremdete Arbeit organisiert werde, eine historische Schranke gefunden. Ökonomie war politische Ökonomie geworden. Demzufolge positionierte sich kritische Theorie in der Tradition des Marxismus – eine Positionierung, die bei Sartre erst später stattfinden sollte. Innerhalb des Marxismus wollte sich die kritische Theorie gegenüber orthodoxen Strömungen abgrenzen. Der Vereinnahmung des Einzelnen für die „große Sache“ des Stalinismus oder des offiziellen Marxismus-Leninismus sollte widerstanden werden: „Der Weg der Veränderung und die grundlegenden Maßnahmen für die vernünftige Organisation der Gesellschaft sind durch die jeweilige Analyse der 149 Ebd., S. 242 Ebd., S. 233 151 Ebd., S, 227 150 50 ökonomischen und politischen Verhältnisse vorgezeichnet. Die weitere Ausgestaltung der neuen Gesellschaft könne nicht mehr Gegenstand irgendeiner Theorie sein: sie soll als das freie Werk der befreiten Individuen geschehen.“152 Mit der Aussage, daß „die weitere Ausgestaltung der neuen Gesellschaft nicht mehr Gegenstand irgendeiner Theorie sein kann“ war zweierlei gesagt: Erstens wurde der russischen Revolution ihr Scheitern bescheinigt, da sie mit dem „avantgardistischen“ Parteimodell weit davon entfernt war, eine Gemeinschaft freier Menschen zu fördern und noch weiter davon entfernt war das „Werk freier Individuen“ zu sein. Zweitens wurden die historische Schranke und der Geltungsbereich kritischer Theorie verortet: In einer besseren Welt werde die kritische Theorie überflüssig, die Defizite der alten Gesellschaften, die die kritische Theorie zum Gegenstand hatte, würden bedeutungslos. Im Kern der kritischen Theorie sollte „die Sorge um das Glück der Menschen und die Überzeugung, daß dieses Glück nur durch die Veränderung der materiellen Daseinsverhältnisse zu erreichen ist“153, stehen. Mit anderen Worten: Revolution als Motor der Veränderung war das anzustrebende Ziel. Doch dieses in solcher Deutlichkeit zu sagen hätte dem emigrierten Institut mit großer Sicherheit auch in Amerika gewaltige Probleme eingebracht. Man wählte deshalb eine Art Sklavensprache: Sklavensprache deshalb, weil die Sprache „sklavisch“ sich duckt, um den Zensoren der herrschenden Öffentlichkeit zu entgehen, die bei bestimmtem marxistischen Vokabular wie Pavlowsche Hunde Alarm schlagen würden. Der Gedanke war, daß die Herrschenden nicht unbedingt die Texte lesen würden, aber signalforsches Vokabular würde sie aufmerksam machen. So wurde aus dem „Kapitalismus“ das „Bestehende“ und aus der „Revolution“ die „Veränderung der materiellen Daseinsverhältnisse“ oder die „radikale Umwälzung des Bestehenden“. Das Festhalten an den Grundmomenten marxscher Theorie sollten das Institut für Sozialforschung zum Vorreiter eines undogmatischen und kritischen Marxismus werden lassen, der 30 Jahre später für einen Teil einer neuen Generation zum Schlüsselverständnis der gesellschaftlichen Situation beitragen sollte. Im Jahre 1937, als in Deutschland weit und breit kein politisches Subjekt in Sicht war, das zur gesellschaftlichen Veränderung im Sinne einer freieren Gesellschaft fähig war, bei marxistischen Positionen zu bleiben und die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufzugeben, war eine Position, die nicht viele wagten: „Daß der Mensch mehr sein kann als ein verwertbares Subjekt im Produktionsprozeß der Klassengesellschaft, durch diese Überzeugung ist die kritische Theorie am tiefsten der Philosophie verbunden.“154 Genau diese Grundhaltung sollte sie mit Sartre und dem Kreis der französischen Existenzialisten - zumindest in der Theorie verbinden. Wider unkritische Glücksvorstellungen Marcuses: Zur Kritik des Hedonismus Kritische Theorie, so Marcuse und Horkheimer ging es „um die Freiheit und das Glück des Individuums.“155 Um diesen Glücksanspruch näher zu definieren und abzugrenzen, schrieb Marcuse den Aufsatz „Zur Kritik des Hedonismus“. Ihn ihm 152 Ebd., S. 228 Ebd. 154 Ebd., S. 244 155 Ebd., S. 237 153 51 sollte einer Kritik an der kritischen Theorie vorgebeugt werden, die ihr hätte vorwerfen können, daß mit dem Postulat des Glücksanspruches einem Hedonismus das Wort geredet werden würde. Zu diesem Zweck unternahm Marcuse eine Kritik der Spielarten des Hedonismus, insbesondere des kyrenaischen und des epikureischen. Die Kyrenaiker wurden von Marcuse dahingehend kritisiert, daß durch ihre Philosophie der grundsätzlich zu ermöglichenden Erfüllung der Lust eine unterschiedslose Denkart postuliert werde, in der sämtliche Individuen nur unter dem Ziel der Lusterfüllung subsumiert würden. Die Welt erscheine den Kyrenaikern, so Marcuse, als eine die „so hingenommen wird, wie sie erscheint“ und in der sich die menschlichen Möglichkeiten allein an der Befriedigung von Lust messen lassen, was den Blick auf die Wirklichkeit verstelle. Einen solchen Hedonismus in die Gegenwart zu übertragen, hieße zu verkennen, daß die reale ökonomische Ungleichheit und Ungerechtigkeit in dem persönlichen Streben nach Lust verschleiert werde, während die Subjekte durch die Realität des Marktes und die Prinzipien der Wirtschaftlichkeit bestimmt seien: „Die Zufälligkeit in den Beziehungen zu Menschen und Dingen und die mit ihr gegebenen Hindernisse, Verluste werden zum Ausdruck der Anarchie und Ungerechtigkeit des Ganzen: einer Gesellschaft, in der auch noch die persönlichsten Verhältnisse durch das ökonomische Wertgesetz bestimmt werden.“156 Die Subjekte im Kapitalismus waren für Marcuse strukturell durch den Arbeitsvertrag miteinander verbunden. Der Markt erobere immer mehr Bereiche, die vormals nicht durch ihn vermittelt waren. Das Streben nach reiner Lust werde zum unreflektierten, erkenntnisleeren Raum, der sich als Aporie des Bestehenden geriere: In den „Bedürfnissen und Interessen selbst (und nicht erst in ihrer Befriedigung) steckt schon die Verkrümmung, Verdrängung und Unwahrheit mit der die Menschen in der Klassengesellschaft aufwachsen. Die Bejahung des einen enthält schon die Bejahung des anderen.“157 Die epikureische Variante des Hedonismus sei dagegen differenzierter: Die Erfüllung bestimmter Lüste hätte - folgte man den Epikurianern - spätere Unlust zur Folge. Qua Vernunft solle der Mensch in der Lage sein, maßvollen Genuß auszuüben, der durch seine Steuerung auf die größtmögliche Dauerhaftigkeit und Sicherheit der Lust hinarbeite. Dieser Hedonismus sei, so Marcuse, ein negativer Hedonismus: „Schon in der Methode kommt die Angst vor der Unsicherheit und Schlechtigkeit der Lebensverhältnisse, die unüberwindliche Beschränktheit des Genusses zum Ausdruck. [...] Sein Prinzip ist eher die zu vermeidende Unlust als die zu erstrebende Lust.“158 In der bürgerlichen Gesellschaft habe auch der epikureische Hedonismus etwas Ideologisches: Solange die Erfüllung der Lust nicht über das Bestehende hinausweise, werde sie zur Zementierung der Gegenwart. „Die Wahrheit des Hedonismus wäre seine Aufhebung in einem neuen Prinzip der gesellschaftlichen Organisation, nicht in einem anderen philosophischen Prinzip.“159 Solange die Gesellschaft in Klassen organisiert und damit der größte Teil der Menschen von den Produktionsmitteln getrennt sei, bliebe zur Erfüllung des Glücks nur die Konsumtion. Den meisten Menschen stehe jedoch nur „der allerbilligste Teil“ der Waren zu. Auch in der Konsumtion halte sich der 156 Marcuse, Herbert: Zur Kritik des Hedonismus, in: Schriften 3, a.a.O., S. 254 Ebd., S. 258 158 Ebd., S. 259 159 End., S. 262 157 52 Klassencharakter aufrecht. Glück, das noch nicht vollends beschädigt sei, fände sich nach Marcuse in Sinnlichkeit und Sexualität. Bundschuh weist zu Recht darauf hin, daß Marcuse diese Sichtweise in seinen späteren Werken revidierte, da er feststellen mußte, daß „die Lockerung der Sexualmoral durchaus zum Bestandteil einer repressiven Vergesellschaftung werden kann.“160 Zur Zeit der Entstehung von „Zur Kritik des Hedonismus“ erschien Marcuse die restriktive Sexualmoral als unabdingbarer Träger der gesellschaftlichen Autorität. Sinnlichkeit und Leidenschaft könnte, so sein Wunsch, die herrschende Ordnung in Gefahr bringen, wenn sie nicht auf die allgemein erwünschten Ziele abgelenkt werde. Während die Industriegesellschaft auf der einen Seite moderne Techniken bereitstelle, um „die Beweglichkeit, Schönheit, Geschmeidigkeit der Dinge und Körper herauszuholen, näher zu bringen und verwendbar zu machen“161, biete sie „den Kleinen“ nur Ersatzbefriedigung. Alltäglich könnten sie „den Glanz der großen Welt im Kino miterleben; mit dem Bewußtsein, daß dies alles doch nur im Film geschieht und daß es auch hier Glanz, Bitterkeit und Sorgen, Schuld und Sühne und den Triumph des Guten gibt.“162 Aus Sicht der Herrschenden solle die Ausbildung der Sinnlichkeit der Arbeiter nicht, so Marcuse, über das zur Reproduktion der Klasse notwendige Maß hinausgehen. Sexualität solle für sie nur „zur körperlichen und seelischen Gesundheit beitragen“. Die Beziehungen der Menschen waren für Marcuse im wesentlichen Klassenbeziehungen: „Für die meisten Menschen wird der Partner im Genuß auch der Partner im Elend derselben Klasse sein. Ihre Lebensumstände ein armseliger Schauplatz für das Glück. [...] Jedes Überhandnehmen des Genusses würde die notwendige Disziplinierung gefährden und die pünktliche und zuverlässige Einordnung in die Masse erschweren, die die Maschine des Ganzen in Gang hält.“163 Das bedeutete, daß den Subjekten ein „notwendig falsches Bewußtsein“ innert sein mußte, eine innere Schranke, die die Forderung auf das freie Ausleben der Lust unterband sowie die freie und ungebundene Wahl ihrer eigenen Interessen verhinderte. Es galt zu erklären, warum die Subjekte gegen ihre eigenen Interessen handelten: „Die Ergebnisse moderner Volksabstimmungen beweisen, daß die von der möglichen Wahrheit getrennten Menschen dazu gebracht werden können, gegen sich selbst zu stimmen.“164 Oder, um es mit Wilhelm Reich zu sagen: „[…] nicht, daß der Hungernde stiehlt oder das der Ausgebeutete streikt, ist zu erklären, sondern weshalb die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt.“165 Dennoch diagnostizierte Marcuse im Hedonismus Befreiendes, insofern er sich des Glücks des Menschen annahm. Im „Schreckensbild des entfesselten Genußmenschen“ wirke noch die Trennung von geistiger Produktivkraft und 160 Bundschuh, Stephan: »Und weil der Mensch ein Mensch ist...«. Anthropologische Aspekte der Sozialphilosophie Herbert Marcuses, Lüneburg, 1998, S. 69. 161 Ebd., S. 271 162 Ebd., S. 272 163 Marcuse, Herbert: Zur Kritik des Hedonismus, a.a.O., S. 271 164 Ebd., S. 278 165 Reich, Wilhelm: Massenpsychologie im Faschismus, Köln, 1971, 1986, S. 40 53 materieller Reproduktion. In der realen Unfreiheit scheitere die Verwirklichung der Lust daran, daß die Arbeit zum Markte getragen werde und den Subjekten eine Art des Denkens und Lebens zu eigen gemacht werde, welches sie von sich selbst entfremde und verdingliche. Der antike Dualismus von Arbeit und Muße spiegele sich in den Individuen der bürgerlichen Gesellschaft wieder, mit dem Ziel, diesen im Kapitalismus als Einheit im Seelenleben der Subjekte zu zementieren. Dies nicht nur im Bewußtsein, sondern in Realitas aufzuheben, so Marcuse, sei die Selbstbestimmung der befreiten Menschheit - das Zusammenfallen von Glück und Freiheit. Zu erklären sei, warum es überhaupt möglich war, den Einzelnen vorzumachen, daß Arbeit und Muße eines sei. Jede marxistische Theorie dieser Zeit mußte – um ihren Geltungsanspruch aufrechtzuerhalten – versuchen zu erklären, wie es um den gesellschaftlichen Kitt bestellt war, der die Klassenantagonismen verschleierte und wie es möglich war, daß die unterdrückten Subjekte immer größeren Anteil am Fortbestand des Kapitalismus hatten. Theorien, die dies nicht versuchten, mußten notwendig an der wirklichen Geschichte scheitern. Mit Beginn des zweiten Weltkrieges und der zunehmend schlechter werdenden finanziellen Situation des „Institutes für Sozialforschung“ sollte sich für Marcuse ein neues Kapitel aufschlagen: Der praktische Kampf gegen den Faschismus bei der OSS und die persönliche Verortung in den USA bestimmen sein Leben in den folgenden Jahren. Und auch bei Sartre sollten neue Momente sein Leben prägen: Mit der deutschen Kriegsgefangenenschaft und der dortigen Lektüre von Heidegger wurde ein Projekt realisiert, das Sartre lange in sich trug: „Das Sein und das Nichts“ sollte geschrieben werden. Darüber hinaus gründete Sartre eine Widerstandsgruppe, deren Scheitern für sein weiteres politisches Denken maßgeblich sein sollte. Das Ende des liberalistischen Subjekts Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland setzte sich ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte endgültig durch, das in Italien seinen Anfang nahm: das Zeitalter des Faschismus. Das bürgerliche Subjekt des Liberalismus gehörte der Vergangenheit an. Auch wenn die Parole der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ im Liberalismus nie verwirklicht wurde, so blieben diese Begriffe dennoch Ideale in der bürgerlichen Gesellschaft. Der ökonomische Liberalismus formte ein Subjekt, das nie mehr blieb als ein reines Wirtschaftssubjekt, das die Freiheit des Vertrages anstelle der Sklaverei zugedacht bekam, die Gleichheit nur in der Klassenzugehörigkeit als Unterdrückte verwirklicht sehen konnte und Brüderlichkeit nur in Form von Solidarität gegen das Bürgertum erleben konnte. Dennoch war dem politischen Liberalismus ein Subjekt von Wichtigkeit, das den hohen Idealen der Freiheit und der Vernunft verpflichtet war. Der Faschismus war – neben vielem anderen – auch der Kampf gegen die Revolution von 1789. Praktisch beließ er das Wirtschaftssubjekt des Liberalismus, wie es war, während er das Subjekt der Freiheit und der Vernunft aufs heftigste bekämpfte. Der spanische Bürgerkrieg, indem vierzigtausend Internationalisten aus fünfzig Ländern an der Seite der spanischen Anarchisten, Trotzkisten, Kommunisten und Republikaner kämpften, nahm im kleinen Maßstab bereits vorweg, was sich später 54 international abspielen sollte. Mit dem Sieg Francos wurde schlagartig deutlich, daß sich der Vormarsch des Faschismus nicht mehr aufhalten ließ. Mit seinem weltweiten Siegeszug spaltete sich die Welt in zwei Lager: In die Faschisten und diejenigen, die sie bekämpften. Hobsbawm begriff diese Zeit als „internationalen ideologischen Bürgerkrieg“: „Wie sich herausstellen sollte, verliefen die entscheidenden Grenzen in diesem Bürgerkrieg nämlich nicht zwischen dem Kapitalismus und der sozialen Revolution des Kommunismus als solchen, sondern zwischen zwei ideologischen Familien: auf der einen Seite die Nachkommen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der großen Revolutionen, wozu natürlich auch die Russische Revolution gehörte; auf der anderen Seite alle ihre Gegner.“166 Das führte zu der paradoxen Situation, daß sich Kommunisten, Sozialisten der verschiedensten Couleur mit Sozialdemokraten und bürgerlichen Liberalen auf einer Seite wiederfanden und für eine Gesellschaft jenseits des Faschismus zusammen kämpften, von der zum damaligen Zeitpunkt niemand wußte, wie diese aussehen würde und wofür er oder sie womöglich das Leben lassen würde. Rund sechzig Millionen Menschen, davon 20-30 Millionen Zivilisten sollten während dieser Zeit der ungeheuren Verdunklung ihr Leben verlieren, Millionen Verwundete, Vertrieben und weitere mehrere Millionen psychisch Verwundete sollten aus dem größten Massaker der Menschheitsgeschichte hervorgehen. An der Spitze das faschistische Deutschland, das mit Auschwitz eine in der Geschichte der Menschheit bisher einmalige Verknüpfung von Mord im industriellen Maßstab und der Degradierung des Subjekts in lebende Skelette formte, so daß Paul Celan davon sprechen konnte, daß der Tod ein Meister aus Deutschland sei. Der Faschismus sollte von solcher Popularität sein, daß eine Koalition zwischen der stalinistischen Sowjetunion und dem kapitalistischen Amerika notwendig war, um ihn aufzuhalten. Meist um den Preis der Totalisierung der real existierenden Demokratien und den Untergang libertärer Tendenzen der Arbeiterbewegung. In diese libertären Denktraditionen sollten sich Marcuse und Sartre in den folgenden Jahrzehnten stellen und zu ihrer Erneuerung beitragen. An keinem von beiden gingen die folgenden Jahre so spurlos vorbei, wie noch das Jahr 1933 in Berlin an Sartre vorbeiging. Beide nahmen Teil am Kampf gegen den gemeinsamen Feind – am Kampf gegen die ungeheure Verdunkelung. 166 Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme., München, 1999, S. 186 55 3. Die ungeheure Verdunklung: Der Kampf gegen den gemeinsamen Feind - Subjektivität im Zeichen der Vernichtung „WAS DAS SUBJEKT IST, DAS LIEGT NUR IM PRÄDIKAT; DAS PRÄDIKAT IST DIE WAHRHEIT DES SUBJEKTS; DAS SUBJEKT NUR DAS PERSONIFIZIERTE, DAS EXISTIERENDE PRÄDIKAT. SUBJEKT UND PRÄDIKAT UNTERSCHEIDEN SICH NUR WIE EXISTENZ UND WESEN. DIE VERNEINUNG DER PRÄDIKATE IST DAHER DIE VERNEINUNG DES SUBJEKTS. WAS BLEIBT DIR VOM MENSCHLICHEN WESEN ÜBRIG, WENN DU IHM DIE MENSCHLICHEN EIGENSCHAFTEN NIMMST?“ LUDWIG FEUERBACH „DIE VERNICHTUNG DES NAZISMUS MIT SEINEN WURZELN IST UNSERE LOSUNG, DER AUFBAU EINER NEUEN WELT DES FRIEDENS UND DER FREIHEIT IST UNSER ZIEL. DAS SIND WIR UNSEREN GEMORDETEN KAMERADEN, IHREN ANGEHÖRIGEN SCHULDIG.“ DER SCHWUR VON BUCHENWALD Die Ausgangssituation Zwei Intellektuelle, die nicht ihren Kampf gegen den Faschismus kämpfen können Mit dem Beginn des zweiten Weltkrieges suchten sowohl Sartre wie Marcuse, ausgestattet mit unterschiedlichen, dennoch auf einer existentialistischen Vergangenheit fußenden Theoriegebäuden, nach Wegen um den Faschismus zu bekämpfen. Bei Sartre bahnte sich in diesen Jahren ein Wechsel an: Zwar waren seine Schriften immer noch dem deutschen Existentialismus verpflichtet – einer Denkrichtung, die sich durch die Lektüre Heideggers noch verstärken sollte -, doch für Sartre begann ein praktischer Kampf gegen das Vichy-Regime und die deutsche Besatzung. Der praktische Ausdruck seines Kampfes war die Gründung und das Scheitern einer eigenen Widerstandsgruppe. Cohen-Solal schreibt über den Sartre jener Jahre: „Der Sartre von 1945 ist nicht mehr der Sartre von 1939. Es ist die große Mutation, die große Verwandlung seines Lebens. Bei dem Eintritt in den Tunnel ein Philosophielehrer am Gymnasium, der zwei Werke vorzuweisen hat, ein isolierter, individualistischer Mensch, der sich kaum oder gar nicht von den Angelegenheiten dieser betroffen fühlt, völlig apolitisch ist. Beim Verlassen des Tunnels ein Schriftsteller, der seine vielfältigen Talente in unterschiedlichen Gattungen entfaltet, der politisch aktiv ist und es auch 56 sein will: ein anerkannter Schriftsteller, der einige Monate später international berühmt sein wird.“167 Zu dieser Veränderung gehörte – unter anderem – auch die Lektüre von Marx, den Sartre um 1940 zum ersten Mal las168. Ob sie eine ähnliche Wirkung auf ihn hatte, wie die Lektüre der Pariser Manuskripte auf Marcuse kann schwer beurteilt werden. Mitte des Jahres 1941 hatte Sartre ein großes Manifest verfaßt, in dem er seine Vorstellungen über ein zukünftiges Nachkriegsfrankreich niederschrieb. Leider ging dieses Manuskript während des Krieges verloren und nur noch Berichte über seinen Inhalt konnten übermittelt werden: „Als Ergebnis seiner ersten Marx-Lektüre schlug er die Schaffung einer auf Arbeit fußenden Währung vor. Der Wert eines Gegenstandes müsse der zu seiner Herstellung notwendigen Arbeitszeit entsprechen. Notwendig sei ein anderes Parlament, in dem Berufskammern und andere Korporationen demokratisch vertreten werden. Dem schlossen sich eine minuziöse Beschreibung der von der Exekutive völlig zu trennenden Legislative an sowie Vorschläge für einen anderen Wehrdienst und ausgearbeitete Prinzipien für eine Außenpolitik…“169 Bei Sartre deutete sich also eine Veränderung an, die erst mit Kriegsende voll zur Geltung kam – dann war seine Spielart des Existentialismus fertig: Ein politischer Existentialismus, der eine starke Moralität vertrat und mit dem es unmöglich geworden war, eine Herrschaft über das Subjekt zu apologisieren. Man könnte sagen, daß sein Existentialismus den radikalen Gegenpol zum deutschen Existentialismus von Carl Schmitt bildete. Marcuse kämpfte nach seinem Ausstieg aus dem „Institut für Sozialwissenschaften“ während der Kriegsjahre auf Seiten des OSS (Office of Strategie Services) - nicht ganz freiwillig, wie Wiggershaus berichtete: „Im Herbst 1942 war die finanzielle Aushungerungsstrategie der Institutsleiter soweit gediehen, daß Marcuse sich veranlaßt sah, auf irgendeine Weise an zusätzliches Geld zu kommen.“ Das Angebot des FBI170 und wenig später des OSS schien Marcuse ein sicheres Einkommen zu garantieren und weiterhin seine theoretische Arbeit zu gewährleisten. Sein ehemaliger Chef beim OSS schilderte später, daß Marcuses Arbeiten dort kaum oder wenig Beachtung fanden: „Oft ist überhaupt nicht klar geworden, was von uns erwartet wurde; klar war höchstens das eine, daß 167 Cohen-Solal, a.a.O. , S. 225 Cohen-Solal, a.a.O., S. 279: Cohen-Solal schreibt, daß im Juni 1941 Sartres erste Marxlektüre stattgefunden habe. Bei Hayman findet sich ein kleiner Absatz, in dem behauptet wird, Sartre habe sich „von November 1924 bis März 1925 mit […] Platon, Kant und Schopenhauer […], Shakespeare, Keats, Cervantes, Goethe, Pascal, Villiers de I’Isle Adam, Mallarmé, Nerval, Chrétien de Troyes, Spinoza, Descartes, Freud, Janet und Hesnard beschäftigt. […] Im April las er Bergson, Erasmus, Giraudoux, Lukrez und die Confessiones des heiligen Augustinus. Daneben las er noch Marx, ohne viel zu verstehen, und Freud, über den er sich wegen dessen Annahme, das Bewußtsein sei nicht autonom, ärgerte.“ (aus: Hayman, Ronald: Jean-Paul Sartre, Leben und Werk, München, 1988). Als Quelle zitiert Hayman das Verzeichnis der im ersten Schuljahr ausgeliehenen Bücher der Schulbibliothek. Die Aufzählung der im zweiten Jahr entliehener Bücher soll an dieser Stelle ausgespart werden. Diese Auflistung scheint eher der Konstruktion des Mythos Sartre zu dienen, als wirklichen Aufschluß über sein Verständnis all dieser Lektüre geben. Davon auszugehen, daß sich Sartre, wie Cohen-Solal schreibt, erst Anfang der 40er Jahre mit Marx auseinandergesetzt hat, erscheint am plausibelsten. 169 Cohen-Solal, a.a.O., S. 279f 170 siehe Wiggershaus, a.a.O., S. 336 168 57 nämlichen die Hervorbringungen unserer gemeinsamen geistigen Tätigkeit von den Großkopferten im State Department höchst selten gelesen wurden und daß es nie vorkam, daß daraufhin praktisch gehandelt wurden.“171 Marcuses Eintritt in den amerikanischen Geheimdienst im November 1942 konnte als aktive Tat gegen den Nazifaschismus gedeutet werden. Durch seinen existentialistischen Hintergrund war für ihn die Bedeutung der praktischpolitischen Handlung anders konnotiert als für die meisten anderen Institutsmitglieder. Auch in den späteren Jahren blieben „Marcuses Neigungen fest auf der Linken“, während ein „ständig breiter werdender Graben begann, Horkheimer und Adorno von Marcuse zu trennen.“172 Die Bereitschaft zum aktiven politischen Engagement unterschied Marcuse vom gros seiner damaligen Institutskollegen auch noch später. In gewisser Weise stand er Sartre darin näher als vielen anderen. Vielleicht blieb immer ein Moment seiner existentialistischen Vergangenheit - die starke Betonung des handelnden Subjekts – in der Konzeption seines Denkens und Lebens. Während der Jahre des Krieges arbeiteten beide im Kampf gegen den Faschismus unter dem Banner einer freiheitlich-sozialistischen Perspektive, doch mit unterschiedlichen theoretischen Instrumenten. Eines von Marcuses Hauptwerken, „Vernunft und Revolution“, erschien nach der Trennung des Institutes, war aber dennoch als der Höhepunkt der gemeinsamen Arbeit mit dem Horkheimer-Kreis zu begreifen. Die Veröffentlichung von Sartres „Das Sein und das Nichts“ wurde zum Meilenstein der französischen Philosophie, an dem sich noch Generationen von Wissenschaftlern und Intellektuellen abarbeiteten. Beiden ist – trotz unterschiedlicher theoretischer Zugänge – gemein, daß die Freiheit Kernpunkt einer Gesellschaft nach dem Faschismus sein sollte. Während für Sartre das Subjekt zu Freiheit verurteilt war – also grundsätzlich frei war, hatte es bei Marcuse einen zur Freiheit befähigenden Kern, der durch die gesellschaftliche Entwicklung verstümmelt und verkrümmt wurde, den aber zu befreien es galt. Dem Kampf gegen den Faschismus gewannen beide in ihren unterschiedlichen Ausprägungen die Sehnsucht nach politischer wie persönlicher Freiheit ab. Dies sollte auch die Grundlage für ihre spätere Annäherung sein. Kriegsausbruch in Frankreich / Sartre als Soldat Mit Ausbruch des Krieges kam für Frankreich der 2. September 1939, der Tag der großen Mobilmachung. Auch Sartre wurde eingezogen und „verkleidete sich als Soldat“173. Sein Dienst beim Militär verrichtete er in der meteorologischen Sektion, wo er Wetterballons aufsteigen ließ. Aus dieser Zeit resultieren ungefähr zweitausend Tagebuchseiten, Notizen und Briefe. Später sollte aus einem Teil dieser riesigen Gedankensammlung Sartres erstes Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ entspringen, sowie den Grundstein seines Romanzyklus „Wege zur Freiheit“ enthalten. Erstaunlich waren Sartres politische Fehleinschätzungen dieser Zeit: Kurz vor Kriegsbeginn glaubte er, so berichtete Simone de Beauvoir, daß „es nicht zum 171 Clausen, Detlev (Hg.): Spuren der Befreiung, Darmstadt, 1981, S. 34 Jay, Martin, a.a.O., S. 335 173 Cohen-Solal, a.a.O., S. 227 172 58 Kampf kommen wird, daß es ein moderner Krieg wird, ohne Gemetzel“174 und als er 1940 in deutscher Kriegsgefangenschaft war, dachte er, daß ein schnelles Kriegsende bevorstand175. Anfangs ging der Krieg an Sartre vorbei. Über seine eigene Tätigkeit, Ballons aufsteigen zu lassen und sie mit dem Fernglas zu beobachten, schrieb er: „Das nennt man eine >meterologische Sondierung< . [...] Danach gebe ich den Artillerieoffizieren die Windrichtung durch, die damit anfangen was sie wollen. Die Jungen benutzen die Information, die Alten schmeißen sie in den Papierkorb. Beide Methoden kommen sich gleich, denn geschossen wird ja nicht. Diese extrem pazifistische Arbeit (nur die Taubenzüchter, wenn es bei der Armee noch welche gibt, könnten eine sanftere und poetischere Funktion haben) läßt mir sehr viel Freizeit.“176 Doch sogar für diese Tätigkeit, schien Sartre - glaubt man der Schilderung eines Kameraden177 - völlig ungeeignet zu sein: „Von Anfang an hatten wir den Eindruck, daß er [Sartre, S.E.] uns nicht vom kleinsten militärischen Nutzen sein würde.“178 Festzuhalten bleibt, daß Sartre wie Marcuse – beide auf ihre Weise – gegen den Faschismus kämpften, doch daß die Form dieses Kampfes, nicht ihre Form war. Sartre kämpfte als Soldat, Marcuse als Geheimdienstler – beides keine Tätigkeiten, die sich mit dem starken Freiheitsideal beider verbinden ließen. Mit Sicherheit lag hier eine Wurzel für ihr späteres Engagement gegen die Restauration des Kapitalismus in den verschiedenen Nachkriegsordnungen oder wie Marcuse es ausdrückte: gegen die „totalitären Demokratien“. Beide erwarteten vom Kampf gegen den Faschismus eine Zukunft, die viel deutlichere Brüche zum Faschismus sichtbar machen sollte, als die darauffolgenden real existierenden Demokratien es taten. Essenz des Abschieds vom Institut mit Hegels Ehrenrettung Marcuses: Vernunft und Revolution Während Sartre sich als Soldat verkleidete und in eine neue, produktive biographische Epoche eintrat, markierte für Marcuse der Abschied vom Institut ebenfalls einen neuen Lebensabschnitt. Mit „Vernunft und Revolution“ legte er in seinem ersten Hauptwerk, daß gleichzeitig auf Jahre das letzte große theoretische Werk Marcuses sein sollte, eine Art Essenz seines Denkens mit der Frankfurter Schule und deren Grundlagen über Hegel und Marx vor. Wo in früheren Jahren noch der Dank an Heidegger dem Buch vorweg stand, war nun zu lesen: „Max Horkheimer und dem Institut für Sozialforschung gewidmet.“ 174 De Beauvoir, Simone: In den besten Jahren, Reinbek bei Hamburg, 1969, S. 358 Cohen-Solal, a.a.O., S. 274 176 siehe: Cohen-Solal, a.a.O., S. 230, Brief an Ardenne Monnier, 23. Februar 1940 177 Es handelt sich hier um Pierre, einen Kameraden Sartres, der mit ihm zusammen den Militärdienst in derselben Einheit absolvierte. Pierre stand scheinbar zu Sartre in Konkurrenz und die beiden Männer rieben sich aneinander. Die Figur Pierres ist deshalb von Interesse, weil sie – noch Jahre später – immer wieder als Beispielfigur in Sartres Werken auftauchte. 178 Bericht aus dem französischen Staatsarchiv zu den Gefangenenlagern, zit. n.: CohenSolal, a.a.O., S. 234 175 59 „Vernunft und Revolution“ war in erster Linie ein Werk, daß es sich zur Aufgabe machte, in der Zeit des Faschismus eine neue Interpretation der hegelschen Philosophie zu liefern. Damit wurde es die „Ehrenrettung“ Hegels, dem in Amerika drohte, als Vorläufer des Faschismus angesehen zu werden. In zweiter Linie war das Werk als Geschichte der Philosophie des Subjekts zu lesen. Es griff Hegels Auseinandersetzungen mit Kants Vormachtstellung des Subjekts auf und mit interpretierte sie mit Marx weiter. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt gehörte zu den zentralen Momenten hegelscher Philosophie. Mit hegelscher Dialektik brach die Geschichte durch Marx in die deutsche Philosophie und markierte einen Wendepunkt vom deutschen Idealismus zum Materialismus. Sowohl in der Auseinandersetzung mit Hegel, wie auch in der Interpretation Marxens nahm das Subjekt auch für Marcuse einen zentralen Stellenwert ein. Dies brachte ihm später die Kritik ein, er mache eher “»den Menschen« als »die Menschen« zum Subjekt der Geschichte”179, weshalb seine theoretische Konzeption auch auf das Glück als das Hauptziel menschlichen Strebens abziele. Der deutsche Idealismus bedeutete für Marcuse eine neue Qualität in der Philosophie: „Die Stellung des Menschen in der Welt, die der Art seiner Arbeit und seiner Freude, sollten nicht länger von irgendeiner äußerlichen Autorität abhängen, sondern von seiner eigenen freien und vernünftigen Tätigkeit. Der Mensch war über die lange Periode der Unreife hinausgelangt, während der er überwältigenden natürlichen und gesellschaftlichen Kräfte zum Opfer gefallen war; er war das autonome Subjekt [Herv. v. m., S.E.] seiner eigenen Entwicklung geworden. Von nun an sollte der Kampf mit der Natur und mit der gesellschaftlichen Organisation von seinem eigenen Fortschritt im Wissen geleitet werden. Die Welt sollte zu einer Ordnung der Vernunft werden.”180 Grundlage dieses „autonomen Subjekts“ stellte für Hegel die Vernunft als das höchste zu verwirklichende Ziel dar. Vernunft bedürfte, so Hegel, der Freiheit. Mit Freiheit begriff Hegel die Kraft, in Übereinstimmung der Kenntnis der Wahrheit zu handeln – die Kraft die Wirklichkeit nach Maßgabe ihrer Möglichkeit zu gestalten. Damit war Wahrheit, entgegen der kantischen Konzepion in der ein Rest der Erkenntnis – das Ding an-sich – nur Gott zugänglich war, vollends dem Menschen zugänglich gemacht worden. Doch auch Hegel behielt einen idealistischen Überhang: Die Momente jenseits des Menschen schrieb er dem Weltgeist zu. Entgegen Kant war für Hegel die Verwirklichung des Subjekts durch den Wandel der Objektwelt möglich: „[...] für Hegel kann die Vernunft die Wirklichkeit nicht regieren, solange nicht die Wirklichkeit in sich vernünftig geworden ist. Diese Vernünftigkeit wird dadurch möglich, daß das Subjekt sich tief in den Inhalt von Natur und Geschichte versenkt. Die objektive Wirklichkeit wird zugleich zur Verwirklichung des Subjekts.”181 Oder, um mit Hegel gegen Kant zu sprechen: “Jene Kritik hat also die Formen des objektiven Denkens nur vom Ding entfernt, 179 MacIntyre, Alisdair, Herbert Marcuse , München, 1971, S. 52 Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Darmstadt, Neuwied, 1982, S. 15 181 Ebd., S. 19 180 60 aber sie im Subjekt gelassen, wie sie sie vorgefunden.”182 Die kantische Philosophie erklärte letztendlich alles zum Subjekt und stand damit im Dilemma, ihren kritischen Stachel zu verlieren. In einer Welt, in der alle Wahrheit und Bedeutung in letzter Konsequenz am Subjekt blieb, war es möglich alles zu kritisieren aber auch alles so zu lassen wie es war. Die Philosophie lief Gefahr sich in Beliebigkeit zu verlaufen. Der kritische Stachel Kants stach vor allem gegen die Objekt-Autorität Gott, weshalb er alle Erkenntnis von Gott zum Menschen verlagerte. Subjekt und Objekt markieren bei Hegel ein Gegensatzpaar, um dessen Versöhnung es ging. Für ihn war diese Versöhnung möglich, da sich Momente des Subjekts im Objekt und umgekehrt wiederfanden – sie seien dialektisch vermittelt: “Subjekt und Objekt sind nicht durch einen unüberschreitbaren Abgrund getrennt, weil das Objekt in sich eine Art Subjekt darstellt und weil alle Typen des Seins im freien »begreifenden« Subjekt kulminieren, das imstande ist, die Vernunft zu verwirklichen.”183 Die Objektwelt finde also ein Abbild im Subjekt, das sich Umgekehrt in der Objektwelt wieder reproduziert. Damit war der kantischen Betrachtungsweise, in der fast alles Subjekt war, ein starker Objektbegriff entgegengesetzt. „Vernünftig ist das was wirklich ist“ war einer der großen Lehrsätze Hegels. Während Teile des deutschen Existentialismus daraus eine Theorie der Apologie machten, legte Marcuse besonderen Wert darauf, daß die Wirklichkeit vor allem durch ihre Möglichkeit bestimmt sei. Wirklichkeit wurde somit zu keiner andauernden Gegenwart, sondern besaß ein Telos, ein in die Zukunft weisendes Moment, das unmittelbar zum Begriff der Wahrheit dazugehörte. Daraus folgte, daß die Theorie – nicht wie im Positivismus – allein zur Wirklichkeit komme, sondern daß auch die Wirklichkeit zur Theorie als Moment von Wirklichkeit kam. Mit anderen Worten: Die reine Beschreibung der Wirklichkeit macht sie nicht wahr, da sie die Möglichkeiten der Verwirklichung des Subjekts und damit die Möglichkeit auf Glück unterschlug. “Solange es eine Kluft zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen gibt, muß jenes bearbeitet und verändert werden, bis es in Übereinstimmung mit der Vernunft gebracht ist.”184 Für die die linkshegelianische Schule war klar, daß die Versöhnung von Subjekt und Objekt kein Verhältnis darstelle, daß sich rein theoretisch lösen ließe. Vielmehr die reale gesellschaftliche Veränderung sei, so Marcuse, das Credo hegelscher Theorie. Marcuse betonte: “Diese Trennung [die von Subjektivität und Objektivität, Verstand und Sinnlichkeit, Denken und Sein, S.E.] war für Hegel nicht in erster Linie ein erkenntnistheoretisches Problem. Immer wieder hob er hervor, daß die Beziehung von Subjekt und Objekt, ihr Gegensatz, einen konkreten Konflikt im Dasein bezeichnete und daß dessen Lösung, die Vereinigung der Gegensätze, ebensosehr eine Angelegenheit der Praxis wie der Theorie wäre. Später beschrieb er die historische Form des Konflikts als die Entfremdung des Geistes, was bedeutete, daß die Welt der Objekte, ursprünglich das Produkt der Arbeit und Erkenntnis des Menschen, sich gegenüber dem Menschen verselbstständigt und von unkontrollierbaren Kräften und Gesetzen beherrscht wird, in denen der Mensch nicht länger sein eigenes Selbst wiederentdeckt.”185 Mit dieser Aussage 182 Hegel, G.W.F.: Die Wissenschaft der Logik, Erster Teil, Hrsg.: Lasson, Hamburg, 1975, S. 28 183 Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution, a.a.O. , S. 20 184 Ebd., S. 21 185 Ebd., S. 32 61 war deutlich gemacht, daß sich die Anstrengungen der Vernunft von der gesellschaftlichen Theorie auf die gesellschaftliche Praxis zu übertragen hatten. Die Begriffe Entfremdung und Verselbstständingung bekamen ein stärkeres Gewicht als sie dies in einer Theorie der freien Subjektivität gehabt hätten. Auf dieser theoretischen Grundlage war es geradezu zwingend notwendig geworden, daß eine Revolution die objektiven Momente der Unterdrückung über das Subjekt aufhob - um der Freiheit willen. So erklärte sich damit auch der Buchtitel: „Vernunft und Revolution“. Vernunft sollte auf Revolution und Revolution sollte auf Vernunft angewiesen sein, um die entfremdende Vormachtstellung des Objekts gegenüber dem Subjekt aufzuheben. Der späte Hegel stellte dem negativen Freiheitsdrang der Revolution die positive, von Napoleon ausgehende Ordnung gegenüber. „Der Weltgeist zu Pferde“ – so nannte Hegel Napoleon. Gemeint war damit vor allem die Abschaffung von tausend kleinen Hoheitsgewalten und fürstlichen Despotien, die Einsetzung des Code Napoleon, die Schaffung bürgerlicher Gleichheit sowie der Widerruf kirchlicher Privilegien. Dies waren die Maßnahmen in denen Hegel Rationalität in gesellschaftlichen Einrichtungen einziehen sah, anstelle von Irrationalität. Hegels persönliche Haltung dem preußischen Staat gegenüber, für die es, so Marcuse, “zu dieser Zeit keine Rechtfertigung gibt”186, ging noch weit über die Bejahung der fortschrittlichen Momente des starken Staates hinaus. „Der Weltgeist“, so Hegel, „hat einen Trieb in sich, die Freiheit zu verwirklichen und kann sich nur im realen Reich der Freiheit, das heißt im Staat, verkörpern.“187 Damit tauchte ein Bruch im hegelschen Werk auf, daß ihn vom Philosophen der Freiheit zum Philosophen von Staat und Autorität machte. Das Subjekt wurde zum untergeordneten Moment: „Das entscheidende Subjekt der Geschichte nennt Hegel den Weltgeist. [...] Die Souveränität des Weltgeistes, wie sie von Hegel geschildert wird, legt die Schattenseiten einer Welt an den Tag, die von Kräften der Geschichte kontrolliert wird, anstatt sie zu kontrollieren.“188 Wo der junge Hegel der „Phänomenologie des Geistes“ die Befreiung des Subjekts durch die Aufhebung der objektiven Zustände sah, war für den Hegel im Range eines Staatsphilosophen Preußens die Verwirklichung der Subjektivität nur noch durch den Staate gewährleistet. “Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie kreisen, war das noch nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. [...], nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren soll. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert.”189 So urteilte Hegel über die französische Revolution. Hegels späte Werke brachen jedoch stark mit der Affirmation revolutionärer Verhältnisse. “Wir können vermuten, daß die Erfahrung des Niedergangs freiheitlicher Ideen in der Geschichte seiner eigenen Zeit Hegel dazu trieb, zum reinen Geist Zuflucht zu nehmen und daß er um der Philosophie willen eine Versöhnung mit dem herrschenden System den schrecklichen Wechselfällen 186 Ebd., S. 162 Ebd., S. 209 188 Ebd., S.207 189 Hegel, G.W.F.: Philosophie der Geschichte, Werke, hrsg. Glockner, Bd. 11 S.557f, zit. n.: Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution, a.a.O. , S. 17 187 62 einer neuen Umwälzung vorzog.”190 – so Marcuse. Und weiter: “Die Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit schließt sich jedoch langsam. Je realistischer Hegels Haltung gegenüber der Geschichte wird, desto mehr stattet er die Gegenwart mit der Größe des künftigen Idealzustandes aus.”191 Doch auch der späte Hegel behielt fortschrittliche und freiheitliche Momente in seiner Philosophie. So war es mit Hegel unmöglich einen Maßnahmenstaat im Sinne des Nationalsozialismus zu rechtfertigen, da der starke Staat Hegels immer auf einen Rechtsstaat abzielte. Auch war für Hegel die Kunst ein Moment der Freiheit, die mit Autonomie ausgestattet war und die auch der späte Hegel nicht opferte. Hegel sei, so Marcuse, zu allererst Philosoph seiner Klasse gewesen: Das bedeutete, daß Hegel vor allem anderen ein bürgerlicher Philosoph war, der die Befreiung des Bürgertums als die Befreiung der gesamten Menschheit ansah. So sei das hegelsche Subjekt zu allererst das philosophierende, bürgerliche Subjekt gewesen: “Das »Wir«, das so oft erscheint, meint nicht den Alltagsmenschen, sondern Philosophen.”192 Hegels Philosophie richtete sich in erster Linie gegen die Despotie des Feudalismus und setzte eine freie Bürgergesellschaft an deren Stelle, die sich den Idealen der französischen Revolution verpflichtet sah: „liberté, egalité et fraternité“ war die Parole des „herrlichen Sonnenaufgangs“. Nicht umsonst wurden Kant und Hegel als die eigentlichen Philosophen der französischen Revolution bezeichnet. Dies war möglich, da in ihren Philosophien das bürgerliche Subjekt als das der gesamten Menschheitsgeschichte erschien. Die Regeln, die die Philosophie aufstellte, sollten die Freiheit und die Vernunft für alle Menschen verwirklichen. Doch so wie die Ideale der französischen Revolution bis heute uneingelöst geblieben sind, so waren sie es auch in Hegels Philosophie. Die gesellschaftliche Prägung des Subjekts, der Überhang des Objekts kehrte sich bei Hegel in sein idealistisches Gegenteil: “Eigentum“, so Marcuse über Hegel „existiert einzig aufgrund der Macht des freien Subjekts. Er wird aus dem Wesen der freien Person abgeleitet.”193 Tatsächlich, folgte man Marx, sei das Eigentum Grundlage der freien Personen in der bürgerlichen Gesellschaft. Das Eigentum und damit die Verfügungsgewalt über monetäre Äquivalente, also über die Arbeit und die Zeit anderer, markierte die Grundlage des freien Subjekts im Kapitalismus. “Das Individuum, das ein wahres Interesse im allgemeinen Interesse weiß und erstrebt, dieses Individuum existiert einfach nicht. Die Individuen existieren nur als Privateigentümer, als Subjekte der unbeherrschten Prozesse der bürgerlichen Gesellschaft, abgeschnitten von allgemeinem Interesse durch Selbstsucht und alles, was diese im Gefolge hat. Soweit die bürgerliche Gesellschaft reicht, ist niemand von ihren Schlingen frei.”194 So verwunderte Hegels Annahme vom Ende der Geschichte195 Marcuse denn auch nicht sonderlich. Nicht das Ende der Geschichte sei erreicht, sondern nur das Ende 190 Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution. a.a.O. , S. 89 Ebd., S. 82 192 Ebd., S. 91 191 193 Ebd., S. 174 194 Ebd., S. 193 Diese seltsame Auffassung vom Ende der Geschichte erfuhr noch prominente Imitatoren. So äußerte Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der biploaren Weltordnung ähnliches. Und auch hier zeigte sich, das lediglich das Model des Staatskapitalismus mit parteidiktatorischer Führung von der Weltbühne verschwand. Die Euphorie über den Sieg des Kapitalismus westlichen Models verwechselte Fukuyama mit der Durchsetzung eines Gesellschaftsmodelles für alle Zeiten. 195 63 einer Klasse: „Hegels merkwürdig überzeugte Verkündigung, daß die Geschichte ihr Ende erreicht hat, enthält durchaus etwas Wahres. Verkündigt wird jedoch das Ende einer Klasse, nicht das Ende der Geschichte.“196 Letztendlich enthielt Hegels Vorstellung vom Weltgeist auch ein wahres und kritisches Moment: In seiner Konzeption vom Weltgeist war angelegt, daß ein historisch-praktisches Moment über das Subjekt herrschte, daß von Kräften der Geschichte kontrolliert wurde, anstatt sie zu kontrollieren. Das Motiv von Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, daß Aufklärung selbst neue Barbarei schaffe und Systeme errichte, die sie selbst nicht mehr kontrollieren könnte, erinnert mancherorts an das, was Hegel Weltgeist nannte. So wie der Weltgeist die Inkarnation menschlicher Vernunft war und dennoch über sie hinausging und ein Moment des „Nichtfaßbaren“ inne hatte - wenn er z.B. auf dem Pferde dahergeritten kam -, also sich in merkwürdigen Erscheinungen äußerte, so war auch das Modell der kritischen Theorie eines, daß einem ähnlichen Motiv folgte. Der Weltgeist heute wäre die Macht des entfremdeten Systems über den Einzelnen. Insofern kann man sagen, daß auch in der kritischen Theorie zutiefst hegelsche Denkmodelle verwurzelt waren. Auch Marcuse wurde im Zuge der 68er-Bewegung vorgeworfen – meist von Seiten des orthodoxen Marxismus – er wäre mehr Linkshegelianer, denn Marxist. In jedem Falle, so Marcuse, sei Hegel nicht für den Faschismus verwendbar, denn sein Begriff vom starken Staat beziehe sich immer auf den Rechtsstaat. Marcuse kam zu dem Schluß: „Der deutsche Idealismus wandte sich immer gegen die umstandslose Auslieferung des Individuums an die herrschenden gesellschaftlichen und politischen Mächte. Seine Erhöhung des Geistes und seine Insistenz auf der Bedeutung des Denkens schloß, wie der Nationalsozialismus richtig sah, eine wesentliche Opposition gegenüber jeglicher Aufopferung des Individuums ein.“197 Doch neben der Ehrenrettung Hegels behandelte „Vernunft und Revolution“ noch andere Momente: Hegels Weiterführung durch Marx war Marcuse ein zentrales Anliegen, um damit die linkshegelianische Tradition zu stärken und ihn gegen positivistische und rechte Bemühungen abzugrenzen. So enthielt „Vernunft und Revolution“ einen breiten Abschnitt, in dem sich Marcuse einer Kritik des Positivismus widmete – ein Unternehmen, das später auch Sartre betrieb. Bemerkenswert an „Vernunft und Revolution“ war die Auswahl der Philosophen, denen Marcuse die Entwicklung der dialektischen Theorie der Gesellschaft zuordnete: Feuerbach, Marx und Sören Kierkegaard. Zumindest mit letzterem fand sich ein Urheber existentialistischer Theorie in „Vernunft und Revolution“ wieder. Seine Philosophie berge, so Marcuse, „durchaus eine heftige Kritik seiner Gesellschaft in sich“198. Kierkegaard kehre zur ursprünglichen Aufgabe der Religion zurück, nämlich zu ihrer kämpferischen und revolutionären Kraft. Seine Philosophie widme sich in ihren Grundzügen, dem hilflosen und gequälten Individuum. Das Seelenheil stelle für ihn des Individuums höchstes Heil und das höchste Interesse der Philosophie dar. Besonders seine Momente der Negativität seien hervorzuheben. Die Menschheit bezeichnete er als „Negativität“, als bloße Abstraktion vom Besonderen und als Nivellierung aller 196 Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution, a.a.O., S. 202 Ebd., S. 366 198 Ebd., S. 234 197 64 existentiellen Werte199. Dagegen setzte er die Besonderheit und Einzigartigkeit des Individuums. Doch gegen diese kritischen Momente standen bei Kierkegaard die Erhebung von Volk und Rasse als höchste Werte: „Später wurde behauptet, daß kein Band Individuen, Staaten und Nationen zu einem ganzen der Menschheit verknüpft, daß die besonderen existentiellen Bedingungen eines jeden einzelnen, einem allgemeinen Urteil der Vernunft nicht unterworfen werden können. Die Gesetzte, so wurde gesagt, beruhen nicht auf irgendwelchen allgemeinen Qualitäten des Menschen, denen eine Vernunft innewohnt, sie drücken vielmehr die Bedürfnisse individueller Menschen aus, deren Leben sie in Übereinstimmung mit ihren existentiellen Erfordernissen regulieren. Dieser Abbau der Vernunft macht es möglich, bestimmte Partikularitäten (wie Rasse oder Volk) in den Rang höchster Werte zu erheben.“200 Damit besaß der kierkegaardsche Existentialismus etwas bewahrenswertes, nämlich die Unantastbare Würde des Individuums und etwas höchst kritikabeles, nämlich seine Anbindung an Rasse und Volk. Feuerbach, so Marcuse, setzte an dem Punkte an, da Kierkegaard versäumt hatte anzuerkennen, „daß nämlich in der gegenwärtigen Zeit der humane Inhalt der Religion nur bewahrt werden kann, indem seine religiöse, jenseitige Form aufgegeben wird. Die Lehre von Gott (Theologie) muß in eine Lehre vom Menschen (Anthropologie) umgewandelt werden.“201 Mit der Forderung nach einer Philosophie im hier und jetzt, in der menschlichen Praxis griff Marcuse Momente seines eigene Wandels von Existentialisten zum kritischen Theoretiker auf: „Hegels großer Irrtum bestand darin, daß er am Idealismus festhielt zu einer Zeit, da eine materialistische Lösung des Problems auf der Hand lag.“202 Die Verwirklichung dieser Philosophie und das Erbe Hegels sah Marcuse in der marxschen Philosophie verwirklicht. Erst Marxens Kritik der Gegenwart mache es möglich die Versöhnung von Subjekt und Objekt als den Gegensatz von Klassen, von Individuum und Gesellschaft zu betrachten und damit der Revolution einen spezifischen historischen Charakter zuzuschreiben. Damit verlagerte sich die Befreiung des einzelnen Subjekts in die Befreiung des Subjekts der Geschichte - nach Marx war dies das Proletariat. Dessen Befreiung sollte die Versöhnung von Subjekt und Objekt ermöglichen. In diesem Sinne war „Vernunft und Revolution“ ein durch und durch marxistisches Werk. Dennoch unterschied sich Marcuses Marxinterpretation in gravierenden Punkten von der orthodoxen. Marcuse insistierte darauf, daß - man könnte sagen im hegelschen Sinne – die existierende Gesellschaft aufgehoben werden müsse. Marcuses Revolutionsverständnis war keines der Unterordnung des Subjekts unter die Partei. Vielmehr machte er deutlich, daß Momente einer zukünftigen, befreiten Gesellschaft bereits in der Gegenwart angelegt sein müßten. Revolutionen könnten nicht von oben beschlossen werden, sie seien Elemente des Reifegrades der revolutionären Klasse selbst: „Die Revolution erfordert die Reife vieler Kräfte, aber die größte unter ihnen ist der subjektive Faktor, nämlich die revolutionäre Klasse selbst.“203 Marcuse ging sogar soweit, die Klasse als „subjektiven Faktor“ zu bestimmen. Hier tauchte das Subjekt als reiner Verhältnisbestimmung auf: 199 Kierkegaard, Sören: Zur Kritik der Gegenwart, Innsbruck, 1922, S.34 Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution, a.a.O., S. 236f 201 Ebd., S. 237 202 Ebd., S. 237 203 Ebd., S. 279f 200 65 Klasse als Subjekt der Geschichte. In gewisser Weise verließ Marcuse hier selbst den existentialistischen Pfad, den er nicht aufhörte zu schätzen und den auch kritische Theorie in sich barg, nämlich das Glück des Subjekts als höchsten Faktor der Philosophie und damit einer zu erkämpfenden Gesellschaft zu bestimmen. Die Bezeichnung der Klasse als Subjekt wurde dort problematisch, wo in ihr die Unterordnung des Individuums im Kampf gegen das gesellschaftliche Ganze zu stark betont wurde und das Aufgehen des Subjekts in der Partei oder Gruppe die subjektiven Eigenschaften verkümmern ließ. Andererseits war es verständlich die Klasse als Subjekt zu fassen, da die ökonomische Wirklichkeit ein Maß an kollektiver Unterdrückung mit sich brachte, daß ein vereinzelter Kampf um Befreiung aussichtslos war. Marcuse war weit entfernt im orthodoxen Marxismus oder gar im Stalinismus eine Alternative zu sehen. Sein Urteil über die UdSSR war verheerend: „Die Präformierung der Individuen, ihre Entwicklung zu Verwaltungsobjekten scheinen allgemeine Phänomene zu sein.“204 schrieb er über die UdSSR. Revolution war für ihn zwar das Mittel, um das Glück des Individuums zu verwirklichen, aber keinesfalls in dem Sinne, daß mit dem Stattfinden der Revolution der Eintritt in eine bessere Welt automatisch vonstatten ginge. Ein mechanisches Revolutionsverständnis war für Marcuse unannehmbar. Wahrscheinlich läßt sich Marcuses Revolutionsverständnis am ehesten mit dem von Rosa Luxemburg vergleichen, obwohl Marcuse und Luxemburg in der Frage über die Rolle der Partei meilenweit voneinander entfernt waren. Aber die Dialektik von Spontaneität und Organisation war auch bei Marcuse spürbar: „Die Negation des Kapitalismus beginnt innerhalb des Kapitalismus selbst, aber selbst in den Phasen, die der Revolution vorausgehen, ist jene rationale Spontaneität am Werke, die die nachrevolutionären Phasen beseelen wird.“205 Mit anderen Worten: Bereits im Bestehenden müßten Freiräume, Alternativen und Lebenssituationen geschaffen werden, die als Erbschaft für eine befreite Gesellschaft taugen könnten. An diese Sichtweise muß erinnert werden, wenn die Sprache auf die angebliche Perspektivlosigkeit Marcuses im „eindimensionalen Menschen“ kommt und der Wandel im Subjektbild gegenüber der „rebellischen Subjektivität“ im „Versuch über die Befreiung“ erklärt werden soll. Tatsächlich behielt Marcuse diese Marxinterpretation bei: Vor der Bürgerrechtsbewegung in den USA und der 68er Bewegung sah er einfach nichts – oder wenig –, was für eine befreite Gesellschaft hätte taugen können. Marcuses Subjektbegriff aus „Vernunft und Revolution“ setzte – wie auch schon vorherige Arbeiten – dem verwalteten, präformierten Subjekt ein Subjekt der Möglichkeit entgegen: Das was der Mensch hätte sein können, diente ihm zu seiner Wesensbestimmung. Um dieses Subjekt der Vernunft zu realisieren, war es unumgänglich auf einem Revolutionsbegriff zu beharren, der die Potentiale des Menschen freisetzen könnte. Die großen kantischen Fragen des Subjekts: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ beließ Marcuse nicht im Subjekt sondern machte sie – mit Hegel und Marx - zum Moment der Veränderung der Objektwelt: „Die Erkenntnis des Menschen, sein Tun und Hoffen wurden auf die Aufgabe verwiesen, eine vernünftige Gesellschaft herzustellen.“206 204 Ebd., S. 374 Ebd., S. 279 206 Ebd., S. 281 205 66 Neben den Begriffen von Subjekt und Objekt wurde dementsprechend ein weiterer zentral: Der Begriff der Vermittlung. Subjekt und Objekt waren, so Marcuse, miteinander vermittelt. Durch die Übernahme dieser hegelschen Konzeption war es möglich Subjekt und Objekt als Antipoden zu belassen und trotzdem ihre Durchlässigkeit und Untrennbarkeit auszudrücken. Wenn das Subjekt in so vielen Momenten durch die Objektwelt präformiert war und die Objektwelt letztendlich die – freiwillige oder erzwungene - Zustimmung des Subjekts benötigte, so lag es nah die Kategorien Subjekt und Objekt aufzuweichen. Mit dem Vermittlungsbegriff war es möglich ein dialektisches Instrument anzusetzen, das als Bindeglied zwischen den beiden Antipoden griff. Damit konnte ein Subjekt gesetzt werden, zu dessen Befreiung die Philosophie beitragen konnte und zusätzlich war es möglich auszudrücken, in welchem Maße der gesellschaftliche Überhang das Subjekt präformierte. Marcuses spätere Werke beschäftigten sich alle in der ein oder anderen Weise mit dem Vermittlungsbegriff und warfen die Fragen auf: Wie schaffen es die verschiedenen Gesellschaftsformationen die Herrschaft übers Subjekt in den Beherrschten zu implantieren? Wie ist es möglich, daß in einer Welt, deren technische Entwicklung einem jeden ein materielles Leben ohne Not möglich machen könnte, die Verwirklichung der Vernunft so weit entfernt erscheint? Wie sollte eine gelungene Revolution möglich sein, wenn die Subjekte entfremdet waren und ein Moment der objektiven, der gesellschaftlichen Verselbstständigung zu konstatieren war? Auf dem Weg zu einer Philosophie Nachkriegsfrankreichs Sartres Kriegsgefangenschaft und Widerstandsbewegung Während Marcuse nach seiner Zugehörigkeit zum Institut für Sozialforschung bereits über eine ausgereifte Theorie verfügte und nun – in der konkreten Form beim OSS nicht ganz freiwillig – dazu überging, praktisch gegen den deutschen Faschismus zu kämpfen, entwickelte sich die sartresche Theorie: Der antibourgeoise und individualistische Schriftsteller Sartre merke schnell, daß er in der Armee und im deutschen Kriegsgefangenenlager sein Konzept der Individualität nicht länger aufrechterhalten konnte. Mochte die Welt in seiner Philosophie auch noch so sehr konstruiert sein; hier trat er in Situationen, die nicht mehr von seiner Akzeptanz oder seinen Willen abhingen. Man konnte nicht einfach aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager herausspazieren und sich zum freien Schriftsteller erklären. An Jean Paulhan schreibt er: „Ich erlebe einen kafkaesken Krieg, bis zum 15. Mai war es amüsant; jetzt wird es etwas unangenehm; da andere einen echten Krieg führen.“207 Und in den Gesprächen mit Simone de Beauvoir sagte er: “Wir sind in eine Polizeikaserne gebracht worden, und auch da erfuhr ich wieder, was das war, die historische Wahrheit. Ich habe erfahren, daß ich jemand war, der in einer verschiedenen Gefahren ausgesetzten Nation lebte, und daß dieser Jemand diesen Gefahren ausgesetzt war. [...] alles was ich in den Jahren zuvor 207 Sartre an Jean Paulhan, 9.Juni 1940 67 gelernt, geschrieben hatte, erschien mir nicht mehr gut, nicht einmal so, als hätte es einen Inhalt.“208 Im deutschen Kriegsgefangenenlager fand Sartres intensive Heideggerlektüre statt. Durch die Freundschaft mit einem Priester war es möglich ein Exemplar von „Sein und Zeit“ zu besorgen: „Ein Exemplar von Sein und Zeit wird heimlich vom Priester Etchegoyen beschafft, der außerhalb des Lagers in einem Kloster arbeitet und dort mit einem deutschen Priester, einem Nazigegner, Freundschaft geschlossen hat. Allmorgendlich zwei Stunden deutsche Phänomenologie zusammen mit Perrin in der Barracke 42.“209 Der Umstand, daß Sartre Heidegger im Kriegsgefangenenlager laß, darf nicht unterschätzt werden. Während Marcuse als Kenner und Schüler Heideggers sämtliche Facetten seines Werkes einschätzen und beurteilen konnte, war die illegale Lektüre Heideggers für Sartre ein Akt des Widerstandes im Lageralltag. Dementsprechend war sie eine ganz andere Quelle der Inspiration, da die Situation in der sie gelesen wurde darin bestand, daß täglich entschieden werden mußte, in welchem Grad Widerstand, Kollaboration oder Kompromiß gegenüber den Deutschen sinnvoll oder notwendig waren. Das Lager bedeutete für Sartre eine Art Mikrokosmos der Gesellschaft: „Im Stalag [...] hat er wie ein Ethnologe die Bantuvölker die anderen entdeckt. Er hat sie analysiert, angeblickt, interpretiert. Er hat mit ihnen Schläge, Entbehrungen, Schikanen geteilt. Er hat sich ihnen zugewandt, mit ihnen auf vielfältige Weise kommuniziert. Er hat dieselbe unvergleichliche, glanzvolle Prüfung der Nivellierung und der Überlebensstrategien erlebt. Er hat sich wie kein anderer die Institutionen des Stalags zunutze gemacht, sie erlitten, die abgelehnt überrumpelt. Er hat die Gesellschaft von beiden Seiten kennengelernt, bestimmte Realitäten wie die der Autorität, der Unterwerfung oder auch der Solidarität erfahren. Er ist hinter dem Stacheldraht eines schäbigen deutschen Gefangenenlagers marginalisiert, verlorenen Menschen begegnet, die eigentlich ungleich sympathischer sind als seine drei Zwangskameraden aus der drôle de guerre. Anders als die anderen erlebt er hier eine wirkliche Befreiung.“210 Diese Erfahrungen boten das Rückrad von „Das Sein und das Nichts“. Wenn Sartre die Freiheit – ähnlich wie der junge Hegel - über alle anderen Werte setzte, so darf die Erfahrung der Gefangenschaft dabei nicht außer acht gelassen werden. Auch wenn Sartres „Das Sein und das Nichts“ letztendlich idealistisch blieb und das Werk die Heideggersche Geschichtslosigkeit übernahm - der französische Existentialismus Sartres, wie auch der Camus, war von der Widerstandserfahrung geprägt und entwickelte über das „in-die-WeltGeworfen-Sein“ Heideggers eine starke, praktische Moralität entwickelt, die dem deutschen Vorläufer fehlte. Ausgestattet mit seinen Manuskripten, die ein deutscher Offizier zuvor konfisziert hatte und einem gefälschten Attest, verließ Sartre 1941 das Kriegsgefangenenlager und begann aus den zahllosen Seiten ein zusammenhängendes philosophisches Werk zu schreiben. Wieder in Paris zurück, baute er eine Widerstandsgruppe auf, die den Namen „Sozialismus und Freiheit“ trug: „Im Juni 1941 sind es bereits etwas fünfzig Professoren, Literatur-, Medizin-, Naturwissenschaftsstudenten und Ingenieure für »Socialime et Liberté« tätig sind.“211 Doch Streitigkeiten waren 208 de Beauvoir, Simone: Die Zeremonie des Abschieds, Reinbek bei Hamburg, 1986, S. 498f 209 Cohen-Solal, a.a.O., S. 257 210 Ebd.., S. 263 211 Ebd., S. 275 68 vorprogrammiert: „Marrot ist Anarchist, Merleau-Ponty bereits Marxist, Sartre Proudhonist212 und entschiedener Antikommunist, Rigal Trotzkist.“213 Trotz Sartres geistigem Antikommunismus lehnte er die Bekämpfung der Kommunisten entschieden ab. Man einigte sich darauf, daß jeweils ein Marxist und ein NichtMarxist für den Leitartikel verantwortlich seien. Er hatte bereits Vorstellungen über eine vereinigte Resistence: „eine neue, originelle linke Partei, die die Freiheit des Individuums achten würde.“214 Sartre machte sich auf den Weg, um neue Mitstreiter zu finden. Auf seinem langen Marsch versuchte er André Gide zur Mitarbeit zu bewegen, doch der Achtzigjährige zog die Kollaboration mit den Nazis der Arbeit im Widerstand vor215. Mit der Auflösung des Hitler-Stalin-Paktes beendete die KPF ihre sektiererische Politik und öffnete sich für andere Strömungen, was zur Folge hatte, daß ein Großteil von »Socialime et Liberté« zur KPF überging. Dennoch machte sich hier bereits eine Haltung Sartres bemerkbar, die auch seinen weiteren Werdegang bestimmte: Die Ablehnung der Gaulistischen sowie der kommunistischen Position, bereiteten seine Politik des dritten Weges vor. Die einsame Freiheit Sartres: Das Sein und das Nichts Der Legende zufolge wog es genau ein Kilo und man konnte damit hervorragend Obst und Gemüse abwiegen, so Cohen-Solal über Satres „Das Sein und das Nichts“, indem es, Sartre zufolge, „stinklangweilige Abschnitte geben wird“. „Das Sein und das Nichts“, so Cohen-Solal weiter, fuße auf der „Idee der permaneten Spannung zwischen Für-sich und An-sich, anders ausgedrückt zwischen Subjektivität und Welt. Als Verkündigung des absoluten Primats der Subjektivität gegenüber der Welt ist L’etre et le néant ein zutiefst kartesianisches Werk“216 Um zu verstehen, warum es dieses absolute Primat gab, ist es hilfreich sich Sartres persönliche Situation vor Augen führen. In seinen Tagebüchern schrieb er: „Ich bin mit nichts solidarisch, nicht einmal mit mir selbst; ich brauche niemanden und nichts. So sieht die Persönlichkeit aus, die ich mir in vierunddreißig Lebensjahren gemacht habe. Wirklich das, was die Nazis den »abstrakten Menschen der Plutodemokratien« nennen. Ich habe keinerlei Sympathie für diese Persönlichkeit und will mich ändern. Verstanden habe ich, daß die Freiheit nichts mit dem stoischen Verzicht auf Liebe und Güter zu tun hat. Im Gegenteil, sie setzt eine tiefe Verwurzelung in der Welt voraus, und jenseits dieser Verwurzelung ist man frei, jenseits der Menge, der Nation, der Klasse und Freunde ist man allein. Statt dessen behaupte ich meine Einsamkeit und meine Freiheit gegen die Menge, die Nation. Castor schreibt mir gerade, daß die wirkliche Authentizität nicht darin 212 Cohen-Solal beschreibt Sartres Haltung als ein Konglomerat verschiedener Einflüsse: „Unübersehbar ist der Proudhonist, der Saint-Simonist oder auch Fourierist [...]. Das gleiche gilt für bestimmte Leitlinien, die später wieder auftauchen werden und in der Tradition einer bestimmten französischen Linken stehen, die man dem Anarchosyndikalismus zuordnen kann.“ (Cohen-Solal, a.a.O., S. 280) 213 Ebd., S. 276 214 Ebd., S. 282 215 vgl. Ebd., S. 283 216 Ebd., S. 303 69 besteht, sein Leben nach allen Seiten überquellen zu lassen oder zurückzutreten, um über es zu urteilen, oder sich jeden Augenblick von ihm zu befreien, sondern im Gegenteil in es hineinzutauchen und mit ihm eins zu sein. Aber das ist leichter gesagt als getan, wenn man vierunddreißig Jahre alt ist, wenn man von allem abgeschnitten, ein Luftgewächs ist. Alles was ich im Augenblick tun kann, ist, diese Freiheit in der Luft zu kritisieren, die ich mir beharrlich verschafft habe, und an dem Grundsatz festzuhalten, daß man sich verwurzeln muß. Damit will ich nicht sagen, man müsse an bestimmten Dingen hängen, denn ich hänge mit aller Kraft an einem Haufen Dinge. Ich meine aber, daß die Persönlichkeit einen Inhalt haben muß. Man muß aus Lehm sein, und ich bin aus Wind.“217 Der windige Sartre suchte also nach seinem Lehm: Nach einer formbaren, handfesten, geschmeidigen und baubaren Substanz. „Das Sein und das Nichts“ sollte genau dies werden – es sollte die „Suche nach dem Sein“ werden und sich fragen: Was ist allen Menschen innert? Was kann über die menschliche Existenz, die menschlichen Möglichkeiten herausgefunden werden? „»Das Sein und das Nichts« ist selbst“, sei, so van Rossun, „unbegründeter Entwurf der Beschreibung des sich selbst unbegründet entwerfenden Daseins. Von Anfang an ist es von einer Geltungskrise durchzogen, die es in der Beschreibung des unbegründeten Entwurfs mitbeschreibt.“218 Und Regenboden merkt an: „Sartre versucht in »Das Sein und das Nichts« eine phänomenologische Auslegung des Bewußtseins mit einer realistischen Auffassung des Seins zu verbinden.“219 LöwBeer schreibt über den Anspruch Sartres in „Das Sein und das Nichts“: „Er möchte erschöpfend darstellen, was für Probleme Menschen mit sich und miteinander haben können, und er möchte erklären, warum es notwendig ist, daß sie diese und nur diese Probleme haben.“220 Honneth meint, Sartre habe den Versuch unternommen „eine Onthologie der sozialen Welt aus der Innenperspektive des Bewußtseins eines intendierenden Subjekts heraus zu gewinnen.“221 Die Liste der Definitionen darüber, was „Das Sein und das Nichts“ denn tatsächlich wolle, ließe sich lang fortsetzen. Ebenso gegensätzlich lesen sich die Auffassungen über die Denktraditionen Sartres. Dornberg sieht das Fundament der Sartreschen Analysen der „neuzeitlichen und insbesondere der französischen Philosophietradition verpflichtet“222, während Gadamer davon ausgeht, daß Sartre die drei großen H (Hegel, Husserl, Heidegger) „und eigene Zeitgenossen“ in sich aufgenommen habe223. Was die meisten Rezipienten eint, war die Außerachtlassung des historischen Entstehungspunktes. 217 Sartre, Jean Paul: Gesammelte Werke 5, Autobiographische Schriften. Briefe, Tagebücher. Tagebücher November 1939-März 1940., Reinbek bei Hamburg, 1988, Eintrag vom 6. März 1940, S. 425 218 Van Rossum, Walter: Sich verschreiben: Jean-Paul Sartre, 1939-1953, Dezember, 1990, S. 130 219 Dornberg, Martin: Gewalt und Subjekt. Eine kritische Untersuchung zum Subjektbegriff in der Philosophie Jean-Paul Sartres, Würzburg, 1989, S. 57 220 Löw-Beer, Martin: Ist die Leugnung von Willensfreiheit ein Selbsttäuschung?, in: König, Traugott: Sartre. Ein Kongreß. Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 55 221 Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung, in: König, Traugott: Sartre. Ein Kongreß. Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 74 222 Dornberg, Martin: Gewalt und Subjekt, Würzburg, 1989, S. 55 223 Gadamer, Hans-Georg: Das Sein und das Nichts, in: König, Traugott: Sartre. Ein Kongreß. Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 74 70 „Das Sein und das Nichts“ entstand in einer Situation tiefer Selbstzweifel. Sartre rang mit sich selbst um einen neuen Entwurf des eigenen Lebens und um ihn herum ein ganzes Land: Die Situation Frankreichs während des Krieges ließ keine sichere Prognose über ein zukünftiges Leben zu. Wie lange sollte sich das VichyRegime halten? Würde Frankreich „von außen“ befreit werden? Schafften es die Franzosen sich selbst zu befreien oder blieb Frankreich auf längere Zeit besetzt? Wer würde danach triumphieren? Die Kommunisten der Resistance oder der gaullistische Flügel? Wie würde eine nächste Republik Frankreichs aussehen? Wie würde man in Frankreich leben? Von all diesen Fragen, tauchte keine einzige in „Das Sein und das Nichts“ auf, nicht einmal der heideggersche Begriff der Geschichtlichkeit fand wirklichen Einzug in das Werk. Doch dieses Kilo, das aus Luft geschrieben war, setzte dennoch genau auf diese historische Situation auf: In all der Unsicherheit des Krieges und der politischen Zukunft der Welt rang Sartre nach Klarheit – nach Lehm. Wie sollte es verwundern, daß er die schnell vorbeiziehenden politischen Systeme nicht mit der Substanzialität austattete, wie er es in späteren Schriften tat? Sartre, für den die Heideggerlektüre im Kriegsgefangenenlager ein Akt des Widerstandes war, bemühte sich zwar praktisch mit „socialisme et liberte“ um ein konkretes Gesicht Nachkriegsfrankreichs, doch seine Philosophie rang damit, herauszufinden, was es eigentlich mit dem Menschen auf sich hatte. Dahinter vergarg sich die Frage, wozu der Mensch eigentlich fähig sei. Das große Thema des Buches hielt sich immer im selben Spannungsfeld auf: Subjekt-Objekt. All diese über mehr als 1000 Seiten führenden Gedanken stellten dieselbe Frage, nämlich die nach dem Zusammenspiel zwischen dem Subjekt und der Welt; von dem eigenen Bewußtsein und dem der Anderen. „Die grundlegende Struktur des Bewußtseins, der absolute Ausgangspunkt, für Sartre wie für die ganze phänomenologische Schule, besteht darin, daß Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas ist. Bewußtsein ist sozusagen kein reiner Zustand, und niemand ist nur bewußt, ohne daß etwas da etwas wäre, dessen er bewußt ist.“224 So stellte sich für Sartre das kantische Problem des Dings-an-sich nicht: In seiner Philosophie - hier blieb er Hegelianier – war die Existenz des Dinges an-sich gesetzt. Doch – und hier sprach der Kantianer Sartre – nahm er an, daß die Dinge ihre Bedeutungen durch die Wahrnehmung erhielten. Sogar im Falle der Einbildung würden, laut Sartre, reale Dinge wahrgenommen. Mit dem berühmt gewordenen Satz eines späteren Vortrages, der an „Das Sein und das Nichts“ angelehnt war - „Die Existenz geht dem Wesen voraus“225 - wurde klar, daß in der Sartreschen Philosophie allen Dingen eine Existenz innewohnt. Doch das Wesen der Dinge zu erkennen, sei das Privileg des Menschen. Bezogen auf die eigene Existenz meinte dies, daß der Mensch erst sich selbst als Existent konstatieren müsse, um sein Wesen zu entwickeln. An dem berühmten Beispiel eines geplanten Treffens mit Pierre soll der Kern der Sarteschen Philosophie von „Das Sein und das Nichts“ verdeutlicht werden: „Ich bin um vier Uhr mit Pierre verabredet. Ich komme eine viertel Stunde zu spät: Pierre ist immer pünktlich; hat er auf mich gewartet? 224 Danto, Arthur C.: Jean-Paul Sartre, München, 1977, S. 46 Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, in: Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I, S. 120f 225 71 Ich sehe mich im Lokal um, sehe mir die Gäste an und sage: »Er ist nicht da.«. [...] Sicher ist das Café, durch sich selbst, mit seinen Gästen, seinen Tischen und Stühlen, seinen Spiegeln, seinem Licht, seiner verrauchten Atmosphäre, den Geräuschen von Stimmen, von klappernden Untertassen, von Schritten, die es erfüllen, eine Seinsfülle. Und alle Einzelintuitionen, die ich haben kann, sind erfüllt von diesen Gerüchen, Klängen, Farben, lauter Phänomenen, die ein transphänomenales Sein haben. Ebenso ist die gegenwärtige Anwesenheit Pierres an einem Ort, den ich nicht kenne, auch Seinsfülle. Es scheint so als fänden wir diese Fülle überall. Aber man muß beachten, daß es in der Wahrnehmung immer Konstituierung einer Form auf einem Hintergrund gibt. Kein Objekt, keine Gruppe von Objekten ist speziell bestimmt, sich als Hintergrund oder als Form zu organisieren: alles hängt von der Richtung meiner Aufmerksamkeit ab. Wenn ich in dieses Café eintrete, um dort Pierre zu suchen, bildet sich eine synthetische Organisation aller Gegenstände des Cafés als Hintergrund, auf dem Pierre gegeben ist als der, der erscheinen soll. Und diese Organisation des Cafés als Hintergrund ist eine erste Nichtung. Jedes Element des Raums, Person, Tisch, Stuhl, sucht sich zu isolieren, sich von dem durch die Totalität der anderen Gegenstände konstituierten Hintergrund abzuheben und fällt in die Undifferenziertheit dieses Hintergrundes zurück, löst sich in diesem Hintergrund auf. Denn der Hintergrund ist das, was nur mitgesehen wird, das Objekt einer bloß marginalen Aufmerksamkeit. So ist diese erste Nichtung aller Formen, die erscheinen und versinken in der totalen Äquivalenz eines Hintergrundes, die die notwendige Bedingung für das Erscheinen der Hauptform, die hier die Person Pierres ist. [...] So ist das der Intuition dargebotene ein Flimmern von Nichts, das Nichts des Hintergrundes, dessen Nichtung der Erscheinung der Form herbeiruft und verlangt, und die Form Nichts [néants], das wie ein nichts [rien] auf der Oberfläche des Hintergrunds dahingleitet.“226 Oder mit den Worten Blochs formuliert: „Nichts wirkt als Antwort, was nicht vorher gefragt worden ist.“227 Für Sartre stand die Wahrnehmung in direktem Bezug zur objektiven Welt: Das Café, die Musik, die Menschen, der Rauch – all das war für ihn real und wirklich, doch es werde bedeutungslos, wenn es nicht gesehen wurde. In diesem Beispiel dominierte das Treffen mit Pierre das Bewußtsein so sehr, daß das Café zur Kulisse wurde. Dennoch blieb es die Struktur des Treffens: Stünde anstelle des Cafés an der erwarteten Stelle eine Waschanlage, so wäre dies eine Verwirrung, die die ursprüngliche Intentionalität kurzfristig verändern würde. Doch Café oder Waschanlage träten vor der Negation zurück, da Pierre an beiden Orten nicht sei. Für Sartre stellte die Negation eine tatsächliche, aus der Welt stammende Kategorie dar. Bei diesem Beispiel wäre die Erkenntnis: „Pierre ist nicht da.“ Das Bewußtsein der Dinge und ihre Negation seien durch die Existenz einer realen Welt gesetzt: „Die notwendige Bedingung dafür, daß es möglich ist, nein zu sagen, ist, daß das Nicht-sein eine ständige Anwesenheit ist, in uns und außer uns, daß das Nichts das Sein heimsucht.“228 Erst müsse etwas Reales, Vorhandenes da sein, um es zu negieren: „Das Nichts kann sich nur auf einen Grund von Sein nichten; wenn Nichts gegeben sein kann, so weder vor noch nach dem Sein, noch in allgemeiner 226 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 59ff Bloch, Ernst: Subjekt-Objekt, Frankfurt /M, 1962, S. 228 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O. , S. 62 227 72 Weise außerhalb des Seins selbst, in seinem Kern, wie ein Wurm.“229 Und ähnlich wie für Hegel, lag für Sartre noch eine Negation hinter der „einfachen“ Negation. „Pierre ist nicht da.“ stellte die einfache Negation dar - darüber nachzudenken, daß der Mensch in der Lage sei zu negieren, stellte eine zweite auf höherer Ebene stattfindende Negation dar. So konnte Sartre, und dies war mit der französischen Sprache einfacher, da sie mit néants und rien zwei Begriffe für „Nichts“ kannte, zu einer doppelten Negation gelangen, ohne dabei affirmativ zu werden230. Subjekt und Objekt standen in „Das Sein und das nichts“ in permanenter Interaktion: Die reale Objektwelt sei Bedingung für die Bedeutungszuschreibungen des Subjekts, umgekehrt bekomme die Objektwelt erst durch das Denkende Subjekt seinen Sinnzusammenhang, wobei das denkende, negierende Subjekt letztendlich einen Vorrang, eine exponierte Stellung inne habe. Sartre begriff die soziale Realität als eine konstruierte; in ihr war nichts Natürliches, wenn es nicht als solches seine Zuschreibung erhielt. Nichts sei selbstverständlich oder von vornherein – außer der Existenz – gesetzt. Die Fähigkeit der Negation von Existierendem, interpretierte Sartre als die Freiheit. In ihr liege es begründet sich mit Pierre zu treffen, nach ihm zu suchen und damit das Café in den Hintergrund treten zu lassen und darüber zu reflektieren. „Die Negation betrifft direkt nur die Freiheit.“231 schrieb Sartre, womit er meinte, daß der Mensch in der Lage sei, sich durch Bewußtwerdung in eigenen Entscheidungen einen eigenen Entwurf zu ermöglichen. „Die Freiheit kann durch den Zweck, den sie setzt, nicht über ihre Existenz entscheiden. Zwar existiere sie nur durch ihre Wahl eines Zwecks, aber sie ist nicht Herrin über die Tatsache, daß es eine Freiheit gibt, die sich das, was sie ist, durch ihren Zweck anzeigen läßt. Eine Freiheit, die sich selbst zur Existenz brächte, verlöre ihren Sinn von Freiheit.“232 In dieser Interpretation der Freiheit wurde verständlicher, warum Sartre die Franzosen für „nie so frei wie unter deutscher Besatzung“233 hielt. Das Spektrum der Wahlmöglichkeiten war immens: Von der Möglichkeit zum Mörder durch Kollaboration zu werden bis zum Widerstand, der das eigene Leben aufs Spiel setzte, war alles möglich. Mit dieser Philosophie, bei der Freiheit immer am Subjekt hing, war es möglich den Menschen in die zentrale Rolle der Philosophie zu setzen. Der Mensch selbst sollte Dreh- und Angelpunkt des Weltgeschehens sein. Nichts konnte die Taten eines Menschen entschuldigen, da sie alle in den Rahmen seiner Freiheit fielen. Er mußte selbst entscheiden. In gewisser Weise stand diese Philosophie Sartres in direktem Gegensatz zu den Erfahrungen seiner Tagebucheintragungen. Sie sollte auch der letzte Ausläufer eines in letzter Konsequenz idealistischen Existentialismus werden. Denn es handelte sich um eine brutale Freiheit: Der Mensch lebte für Sartre ohne erklärbaren Sinn, ohne metaphysischen Überhang – selbst verantwortlich für seine Handlungen und Taten, er war, wie Sartre sagte, „zur Freiheit verurteilt.“234 Doch 229 Ebd., S. 79 Zu den Begriffen rien und néant vgl.: Gadamer, Hans Georg: Das Sein und das Nichts, in: König, Traugott (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 47 231 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 117 232 Ebd., S. 840 233 Ebd., S. 838 234 Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, a.a.O., S.125 230 73 bei diesem Rekurs aufs Heideggersche Denken im Sinne von „in-die-Weltgeworfen-Sein“, wollte Sartre nicht stehenbleiben. Mit der Kategorie des Anderen sollte ein Element in seiner Philosophie enthalten sein, daß über das isolierte Subjekt hinausweist: Wenn Pierre nicht in dem Café sei, so wüßte ich dennoch um meine eigene Existenz. Dadurch, daß ich von Pierre und Anderen wahrgenommen werde, entstehe eine Interaktion. Es bedürfe des Anderen um ein Eigenes zu konstruieren. „So ist jedes Objekt keineswegs, wie für Kant, durch eine bloße Beziehung zum Subjekt konstituiert, sondern erscheint in meiner konkreten Erfahrung als polyvalent, es bietet sich von Anfang an als mit Bezugssystemen zu einer unbegrenzten Pluralität von Bewußtsein ausgestattete dar; am Tisch, an der Wand entdeckt der Andere sich mir als das, worauf sich das betrachtete Objekt fortwährend bezieht, genau wie beim konkreten Erscheinen von Pierre oder Paul.“235 Streng genommen übernahm Sartre hier nur Hegels Argumentation gegen Kant: Für Hegel hing das Subjekt in seinem Sein von anderen ab, es war also ein „für-sich-Sein“, das nur für den Anderen „für-sich“ war, was bedeutet, so Sartre, „daß der Andere in mein Inneres eindringt“236 Doch auch hier beharrte Sartre auf dem epistemologischen Vorrang des Subjekts: „In der Erfahrung des Blicks, in dem ich mich als nicht-enthüllte Objektivität erfahre, erfahre ich direkt und mit meinem Sein die unerfaßbare Subjektivität des Anderen. Gleichzeitig erfahre ich seine unendliche Freiheit. Denn für und durch eine Freiheit und nur für und durch sie können meine Möglichkeiten begrenzt und zum Erstarren gebracht werden.“237 Der Andere stand gewissermaßen als Maßstab eigener Freiheit und eigener Grenzen. In letzter Konsequenz war auch Sartre klar, daß der Mensch auf Grenzen stoße, die er nicht überwinden konnte, aber - so sein origineller Gedanke – seien diese Grenzen letztendlich Produkt der eigenen Freiheit: „Die menschliche Realität begegnet überall Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben nur Sinn in der freien Wahl und durch freie Wahl, die menschliche Realität ist.“238 Damit war gemeint, daß erst ein Bedürfnis, ein Blick auf das Hindernis gerichtet werden müßte, um es als solches zu erkennen. Zuerst mußte es als solches bemerkt werden und dies sei, so Sartre, Resultat der Freiheit selbst. Wenn z.B. ein Berg bestiegen werden solle, so sein Beispiel, müsse erst in subjektiver Wahl der Wille zur Besteigung stattgefunden haben, um den Berg als Hindernis zu begreifen. Dies bedeute nach Sartre aber nicht automatisch ihn besteigen zu können. Man dürfe die Freiheit „zu wählen, nicht mit [der] Freiheit, etwas zu erreichen, verwechseln.“239 Vielmehr sei es jedem Entwurf innert, daß in ihm Möglichkeiten des Scheiterns inne wohnte. Doch über die Möglichkeit des Scheitern, werde vorher Ungesehenes sichtbar, da über das Aufstellen eines Entwurfes erst das Unerwartete in den Blickpunkt gerückt werde: „Jeder freie Entwurf sieht, indem er sich entwirft, die Unvorhersehbarkeitsmarge voraus, die von der Unabhängigkeit der Dinge herrührt, gerade weil diese Unabhängigkeit das ist, von dem aus sich Freiheit konstituiert. Sobald ich plane, in das Nachbardorf zu fahren, um Pierre zu besuchen, sind die Reifenpanne, der Gegenwind, tausend vorhersehbare und unvorhersehbare Vorfälle in meinem Entwurf selbst gegeben und konstituieren einen Sinn. Auch die unerwartete Panne, die meine Entwürfe stört, nimmt ihren 235 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 425f Ebd., S. 432 237 Ebd., S. 487 238 Ebd., S. 845f 239 Ebd., S. 872 236 74 Platz ein in einer durch meine Wahl vorgezeichnete Welt, denn ich habe nie aufgehört, wenn ich so sagen darf, sie als unerwartete zu erwarten.“240 Damit kam ein Moment der Objektwelt in den Entwurf des Subjekts, der eine objektive Schranke auf die freie Wahl legte. Sartre nannte dieses Moment „die Situation“: „So bin ich absolut frei und für meine Situation verantwortlich. Deshalb bin ich frei nur in Situation.“241 Mit der Situation wurde eine Kategorie eingeführt, die es ermöglichen sollte, die objektiven Grenzen der Freiheit zu verorten. Gleichzeitig bestand Sartre jedoch darauf, daß die Situation erst durch den Entwurf sichtbar gemacht werde. Immerhin gestand er der Objektwelt ein Moment jenseits des Subjektes zu: „[...] Es existiert nämlich in meiner Welt noch etwas anderes als eine Vielheit möglicher Bedeutungen, die sich mir als nicht von mir ans Licht gebracht darbieten. Ich, durch den die Bedeutungen den Dingen zukommen, finde mich in eine schon bedeutende Welt engagiert vor, die mir Bedeutungen reflektiert, die ich nicht hineingelegt habe.“242 Doch trotz aller vorgefundener Bedeutungen hinge es wieder am Subjekt, diese Bedeutungen anzunehmen oder abzulehnen. „Außerdem muß man gegen den gesunden Menschenverstand präzisieren, daß die Formel »frei sein« nicht bedeutet, »erreichen, was man gewollt hat«, sondern »sich dazu bestimmen, durch sich selbst zu wollen« (im umfassenden Sinn von wählen). Anders gesagt, der Erfolg ist für die Freiheit in keiner Weise wichtig.“243 Ziel dieses Denkens, war das aufgeklärte Subjekt, daß bei allen Handlungen ein Bewußtsein von sich selbst und der Welt haben sollte, um sich durch Taten zu transzendieren. Die Grenze der eigenen Freiheit, sei nur durch die Freiheit des Anderen definiert. Durch Sartres starke Betonung auf den Blick des Anderen, der das Subjekt hervorbringe – es gleichzeitig aber auch zum Objekt des Anderen macht – wurde eine starke Durchlässigkeit von Subjekt und Objekt angelegt. „Zunächst einmal ist der Blick des Anderen als notwendige Bedingung meiner Objektivität Zerstörung jeder Objektivität für mich. Der Blick des Anderen trifft mich über die Welt und ist nicht nur Transformation meiner selbst, sondern totale Metamorphose der Welt. Ich werde in einer erblickten Welt erblickt.“244 Die Objekte waren in Sartres phänomenologischer Philosophie viel näher am Subjekt, als in der kritischen Theorie. Das Subjekt war für Sartre direkt über den Blick des Anderen konstituiert und konstituierte den Anderen. Letztendlich überschritt seine Philosophie zu dieser Zeit noch nicht diese intersubjektive Ebene. Intersubjektiv, da das Objekt in Form des Anderen streng genommen auf derselben Ebene wie das zu erblickende Subjekt funktionierte. Das große Problem, aber auch die Originalität dieser Philosophie war, daß es für Sartre keinen Unterschied zwischen „Schauen und Geschautem“ (de Beauvoir) gab. Die politische Organisation der Welt war für Sartre nur insofern von Bedeutung, da sie als Grenze der Freiheit, im Sinne „von Anderen aufgestellt“ - Sartre nannte dies Entfremdung -, erschienen: „»Eintritt für Juden verboten«, »Jüdisches Restaurant, Zugang für Arier verboten« usw. [...] dieses Verbot kann nur Sinn haben auf der Grundlage meiner freien Wahl. Denn indem ich den gewählten, 240 Ebd., S. 875 Ebd., S. 879 242 Ebd., S. 880 243 Ebd., S. 836 244 Ebd., S. 485 241 75 freien Möglichkeiten folge, kann ich das Verbot übertreten, es für nichtig halten oder in ihm im Gegenteil eine zwingende Geltung verleihen, die es nur von dem Gewicht haben kann, das ich ihm beimesse.“245 Jude, Arier, schön, häßlich oder einarmig zu sein, so schrieb er, sei man immer für den Anderen. Alles was man für den Anderen war, so Sartre, sei man ohne Hoffnung, ohne selbst gewählten Sinn. So sei das Schild „Eintritt für Juden verboten“ nur sinnvoll auf Grundlage der freien Wahl. Es liege am Subjekt dem Gebot zu folgen oder es zu verwerfen. Ohne die Freiheit des Einzelnen zu entscheiden, sich zu entwerfen, ohne diese grundlegende Freiheit, sei ein solches Verbot nicht als Restriktion zu begreifen. Anders ausgedrückt: Erst müsse der Mensch frei sein, um ihn versklaven zu können. Aber mit keinem Satz stellte sich Sartre in „Das Sein und das Nichts“ die Frage, warum der Faschismus zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt so erfolgreich war. Eine ganze Reihen von elementaren Fragen, blieb aus der Philosophie Sartres völlig außen vor: Wie kam es dazu, daß die Menschen in großem Ausmaß den Doktrien von „Blut und Boden“ folgten? Warum taten sie dies in diesem Ausmaß nicht früher? Kurz: Wie kam es zum Faschismus und zum Weltkrieg? Oder mit in Sartreschen Begriffen formuliert: Warum wählten so viele den Weg von Krieg und Rassenhaß? Ein Objekt, daß der Gesellschaft entsprach, kannte seine damalige Philosophie nicht - die große Stärke von „Das Sein und das Nichts“, nämlich die bedingungslose Verteidigung der Freiheit und der Würde des Subjekts, dem ein einzigartiger Vorrang eingeräumt wurde, legte gleichzeitig die größte Schwäche des Buches offen: Das Fehlen einer Objekt-Theorie, wie sie Marx mit seiner Kritik der politischen Ökonomie vorgelegt hatte. Mit einem Halbsatz fand sich beiläufig erwähnt, daß Sartre den revolutionären Impetus der Sozialisten in der Eigentumsfrage grundsätzlich teilte: „[...] wir für die Zukunft eine gerechtere kollektive Organisation anstreben können, in der individuelles Eigentum – wenigstens in gewissen Grenzen – nicht mehr geschützt und geheiligt wird, [...]“246 Wegen des Fehlens einer historischen Theorie urteilte Herbert Marcuse später über „Das Sein und das Nichts“: „In meinem ersten Artikel („Beiträge zu einer Phänomenologie des historischen Materialismus“, 1928) versuche ich selbst, Existentialismus und Marxismus zu kombinieren. Sartres „Das Sein und das Nichts“ ist auf einer viel höheren Ebene ebenso ein Versuch. Aber in dem Maß, wie sich Sartre dem Marxismus zuwandte, überwand er seine existentialistischen Schriften und letztlich trennte er sich von diesen. Eben weil es ihm nicht gelang, Marx und Heidegger zu versöhnen. Wie Heidegger selbst, schien er seine Existenzialanalysen dazu zu verwenden, sich von der sozialen Welt abzukapseln, anstatt in sie einzutreten.“247 Auf der anderen Seite bot Sartres Art des Denkens auch neue, sehr konstruktive Momente - man könnte sagen, daß Sartres Philosophie als Vorläufer des Konstruktivismus gelten kann. Am Beispiel eines Kellner aus „Das Sein und das Nichts“ soll dies aufgezeigt werden: 245 Ebd., S. 903 Ebd., S, 1004 247 Jansen, Peter-Erwin: Befreiung Denken – Ein politischer Materialienband zu Herbert Marcuse, Offenbach, 1990 S. 125. 246 76 Imperativ. Ein „Beobachten wir einen Kellner im Café. Er hat lebhafte und eifrige Bewegungen, etwas allzu präzise, etwas allzu schnelle, er kommt mit einem etwas zu lebhaften Schritt auf die Gäste zu, er verbeugt sich mit etwas zu viel Beflissenheit, seine Stimme, seine Blicke drücken ein Interesse aus, das etwas zuviel Aufmerksamkeit für die Bestellung des Gastes enthält, nun kommt er endlich zurück und versucht, mit seinem Gang die unbeugsame Strenge irgendeines Automaten zu imitieren, während er gleichzeitig sein Tablett mit einer Art Seiltänzerkühnheit trägt, indem er es in einem ständig labilen und ständig gestörten Gleichgewicht hält, das er mit einer leichten Bewegung des Arms und der Hand ständig wiederherstellt. Sein ganzes Verhalten wirkt auf uns wie ein Spiel. Er bemüht sich, seine Bewegungen ineinander übergehen zu lassen, als wären sie Mechanismen, die einander steuern, seine Mimik und sogar seine Stimme wirken wie Mechanismen; er legt sich die Geschmeidigkeit und die erbarmungslose Schnelligkeit der Dinge bei. Er spielt, es macht ihm Spaß. Aber was spielt er? Man braucht ihn nicht lange zu beobachten, um sich darüber klarzuwerden: er spielt sein. Darin liegt nichts Überraschendes: das Spiel ist eine Art Sichzurechtfinden und Erkunden. Das Kind spielt mit seinem Körper, um ihn zu erforschen, um eine Bestandsaufnahme davon zu machen; der Kellner spielt mit seiner Stellung, um sie zu realisieren. Das ist für ihn notwendig wie für jeden Kaufmann: ihre Stellung ist ganz Zeremonie, die Kundschaft verlangt von ihnen, das sie sie wie eine Zeremonie realisieren, es gibt den Tanz des Lebensmittelhändlers, des Schneiders, des Auktionators, durch den sie sich bemühen, ihre Kundschaft davon zu überzeugen, daß sie weiter nichts sind las ein Lebensmittelhändler, ein Auktionator, ein Schneider. Ein Lebensmittelhändler, der träumt, ist für den Kunden beleidigend, weil er nicht mehr ganz ein Lebensmittelhändler ist. Die Höflichkeit verlangt, daß er sich in den Grenzen seiner Lebensmittelhändlerfunktion hält, wie der Soldat beim Strammstehen sich zum Soldat-Ding macht mit geradeaus gerichtetem Blick, der aber nicht sieht, der nicht mehr dazu da ist, zu sehen, denn die Vorschrift und nicht sein augenblickliches Interesse bestimmt den Punkt, den er fixiert hat (den »auf zehn Schritt fixierten« Blick). Das sind Vorkehrungen, die den Menschen in dem einsperren sollen, was er ist. Als ob wir in der ständigen Furcht leben, daß er daraus entweicht, daß er plötzlich aus seiner Stellung herausspringt und sie umgeht.“248 An diesem Beispiel wurde die Sartresche Subjektkonzeption deutlich: Der spielende Kellner konnte für Sartre aus weit mehr bestehen als nur aus seiner Rolle als Kellner. Seine, nach Sartre freie, Entscheidung mache es für ihn aber notwendig, auf die verschiedenen Rituale einzugehen, die sein Kellner-Sein ausmachten. Wenn Sartre sagte, er spiele Sein, dann bedeutete dies, daß sein eigentliches Sein etwas anderes darstellte. Dieses andere Sein bestand für Sartre im Entwurf des Menschen. Erst wenn der Kellner immer Kellner sein wollte und nichts anderes, dann wäre er tatsächlich Kellner, doch nicht so unumstößlich, als das er seine Entscheidung nicht noch verändern könnte. Der Welt, wie Sartre sie beschrieb, haftete die Entfremdung an. Die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft spielten Rollen. Ihr eigentliches Sein, so Sartre – und darin war er Marcuse sehr ähnlich –, definiere sich durch die Möglichkeiten. Doch im Gegensatz zu Marcuse, bei dem der Mensch durch die Gesellschaft präformiert und verwaltet wurde, bestand für Sartre auch in der Unaufrichtigkeit die freie Wahl fort. Der Mensch wählte bei ihm lediglich die Unaufrichtigkeit, anstelle der Wahrheit. 248 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 140 77 Sartre behauptete, daß nur die Handlungen eines Menschen Wirklichkeit hätten. Damit meinte er damit, daß der Kellner sich zwar hätte vornehmen können, immer Kellner zu sein, sich aber doch entscheiden könnte, nicht mehr Kellner sein zu wollen. Erst im Moment der Handlung realisiere sich der Kellner wirklich als das was er sei. So wie Roquetin sich in „Der Ekel“ erst durch das Schreiben eines wichtigen Buches in der Welt realisieren wollte, realisiere sich der Mensch durch seine Handlungen – und diese waren für Sartre Resultate freier Entscheidungen. So verwunderte seine Attacke gegen die freudsche Psychoanalyse, die mit den Kategorien des Unterbewußten und Verdrängten arbeitete, nicht sonderlich. Sartre argumentierte: „Es muß Bewußtsein (davon) sein, Bewußtsein des verdrängten Triebs zu sein, aber gerade, um nicht von ihm Bewußtsein zu sein. [...] Die Psychoanalyse hat uns dabei nichts gewinnen lassen, weil sie ja, um die Unaufrichtigkeit zu beseitigen, zwischen das Unbewußte und das Bewußtsein ein autonomes unaufrichtiges Bewußtsein gesetzt hat. Deshalb haben ihre Bemühungen, eine wirkliche Dualität auszumachen – ja sogar ein Trinität (Es, Ich, Über-Ich) –, die sich durch die Zensur ausdrückt, zu nichts weiter geführt als zu einer verbalen Terminologie.“249 Sartres Argument schien einfach: In dem Moment da über den Trieb gesprochen wurde, war er bewußt – wie sollte er da verdrängt sein? Um eine Triebtheorie aufstellen zu können und sie anzuwenden, müßten „zudem noch verstehbare Verbindungen“ ausgemacht werden. Sartres Theorie lehnte die Psychoanalyse keineswegs völlig ab, am Ende von „Das Sein und das Nichts“ unternahm er selbst einen Entwurf einer existentialistischen Psychoanalyse, doch reduzierte er alles auf das Faktotum der freien Entscheidung. Einleuchtend schien in seiner Argumentation dennoch, daß die Phänomene der Psyche grundsätzlich faßbar, dem Bewußtsein zugänglich seien. Wären sie dies nicht, so wäre das Subjekt an Natur ausgeliefert und Schönheit und Häßlichkeit wären nicht mehr als Phänomene der Kultur zu begreifen. Damit entrückte Sartre das Subjekt gleichermaßen einer die Taten des Einzelnen entschuldigenden Welt. Die Fähigkeit des Menschen zum Denken war für Sartre der zentrale Hebel seiner Philosophie. Dementsprechend gab es nichts, was er für unerklärbar hielt: „Wir fassen ja jede Handlung als verstehbares Phänomen auf und lassen ebensowenig wie Freud den deterministischen »Zufall« gelten. Aber statt das betreffende Phänomen von der Vergangenheit her zu begreifen, denken wir uns den Verständnisakt als eine Rückwendung der Zukunft zur Gegenwart.“250 Damit war gemeint, daß die traditionelle freudsche Psychoanalyse grundsätzlich von einer in der Vergangenheit stattfindenden Handlung ausgehe, so z.B. Spannungen im Eltern-Kind Verhältnis. Aus diesen werde die Erklärung für die gegenwärtige Störung, Neurose, Psychose usw. gegeben. Dies reichte Sartre allerdings nicht aus, da der Entwurf des Menschen dabei nicht berücksichtigt bliebe. Ihm ging es darum, zu fragen: Wie entwirft sich der Mensch? Wie könnte er sich entwerfen? Aus diesen Dissverhältnis wären dann Rekurse auf die Situation des Patienten zu machen, die „Rückwendung der Zukunft zur Gegenwart“. Sartre konzipierte den Begriff der ursprünglichen Wahl: „Die existentialistische Psychoanalyse sucht die ursprüngliche Wahl zu bestimmen. Diese ursprüngliche Wahl, die der Welt gegenüber vollzogen wird und Wahl der Position in der Welt ist, ist totalitär wie 249 250 Ebd., S. 129 Ebd., S. 796 78 der Komplex; sie geht wie der Komplex der Logik voraus; sie wählt die Haltung der Person gegenüber der Logik und den Prinzipien; es geht nicht darum, sie nach der Logik zu befragen.“251 Sartre zufolge ginge es darum, in den psychoanalytischen Untersuchungen den Subjekten dadurch ihre Stärke wiederzugeben, daß die ursprüngliche subjektive Wahl und nicht ihr bloßer Zustand aufgedeckt werden müsse - nur dann könne das Subjekt über Bewußtsein verfügen und die Wahl wieder lebendig machen, da es sie widerrufen könne. Wenn sich die Untersuchung „der grundlegenden Wahl nähert, brechen die Widerstände des Subjekts schlagartig zusammen, und es erkennt plötzlich sein Bild, das man ihm zeigt, als ob es sich in einem Spiegel sähe. Dieses unwillentliche Zeugnis ist für den Psychoanalytiker wertvoll: er sieht darin das Zeichen dafür, daß er das Ziel erreicht hat; er kann von der eigentlichen Untersuchung zur Behandlung übergehen.“252 Ziel der Untersuchung war das Erreichen des aufgeklärten Subjekts. An diesem Punkt ähnelte Sartres Intention der Psychoanalyse Freuds, denn auch für Freud sollte aus ES, ICH werden. Doch im Gegensatz zu Freud, dessen Rezeption bei Sartre recht dürftig war, - nahm Sartre doch weder auf seine kulturkritischen Schriften Bezug253, noch die Brüche im freudschen Werk wahr - , insistierte Sartre auf den Bedeutungszusammenhang der Sexualität für Andere. Während in „Das Sein und das Nichts“ die Kindheit praktisch nicht existierte und man den Eindruck hatte, daß alle Menschen als vernunftbegabte Erwachsene auf die Welt kämen, folgte am Ende doch noch ein kleiner Rekurs darauf, mittels der Kritik der „analen Phase“, der diese Bedenken dennoch nicht zerstreuen konnte254: „Was die »anale« Phase des Kindes betrifft, so denken wir gar nicht daran, sie zu leugnen, damit sie aber die im Wahrnehmungsfeld angetroffenen Löcher erklären und mit Symbolen beladen kann, müßte das Kind seinen Anus als ein Loch erfassen; mehr noch, das Erfassen des Wesens des Lochs, der Öffnung, müßte der Empfindung entsprechen, die es von Anus hat. [...] Nur durch Andere – durch die Wörter, mit denen die Mutter des Körper des Kindes bezeichnet – lernt es, daß sein Anus ein Loch ist.“255 Sartre zufolge, seien also – entgegen der klassischen Psychoanalyse, die auf einem Triebmodel aufbaute – die Phänomene der sozialen Welt entsprungen. Doch anstatt diese Theorie weiter zu verfolgen und zu Gerinnungen des Bewußtseins, zu sozial geprägten Triebstrukturen zu gelangen, endete das Buch dort, wo es hätte zum objektiven Zwang durch Gesellschaft hätte führen müssen. „Es gibt kein unschuldiges Kind.“ schrieb Sartre und meinte damit, daß auch für das Kind die Anderen die Konstituierung des Eigenen seien. Das Kind lerne, so Sartre, erst durch Andere, das – so sein Beispiel - der Anus von Bedeutung oder von Wichtigkeit sei. Weiterhin werde die Scham, das darüber Schweigen durch andere festgelegt. Das Kind sei nicht unschuldig, da es die Werte und Bedeutungen von Anderen übertragen bekäme. Doch war es möglich von einem Kind zu sagen, daß es frei wähle? Wählt ein Kind seine Liebe zu Mutter und Vater? Wählt ein 251 Ebd., S. 978 Ebd., S. 983 253 Cohen-Solal zufolge, sollte sich Sartres Freudverständnis erst beim Schreiben eines Drehbuches über Freud wirklich entwickeln. 254 Später befaßte sich Sartre in seinen praktischen psychoanalytischen Werken (Die Wörter, Flaubert, etc.) intensiv mit Kindheit. Auch in den Gesprächen mit Simone de Beauvoir kam er ständig darauf zurück. 255 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 1049 252 79 Kind eine emotionale Bindung zur monogamen Kleinfamilie? Welche Alternativen hat es? Auch hier schwieg Sartre. Und dieses Schweigen war außerordentlich problematisch, denn seine Attacke gegen das Unterbewußte, das sich in der Psychoanalyse Freuds vornehmlich durch den Zusammenhang von Störungen des Erwachsenen mit seiner Kindheit, bzw. seiner Biographie definierte, blieb als Leerstelle zurück. Das große Kernstück der freudschen Psychoanalyse, die Kindheit, tauchte in „Das Sein und das Nichts“ nicht auf. Sartres Philosophie blieb bei der gnadenlosen Freiheit des Einzelnen stehen, hineingeworfen in eine absurde Welt. Der Mensch hatte keinen Gott mehr und kein höheres Ziel unter das er zu subsumieren gewesen wäre – er war, so Sartre, „eine nutzlose Passion.“256 Dennoch hatte die Philosophie Sartres einen Gebrauchswert für seine Zeit und mit späteren Werken, wie „Die Wörter“, seine Studie über Baudelaire und dem großen Alterswerk über Flaubert, das sich in „Das Sein und das Nichts“ bereits ankündigte, zeigte er die praktische Anwendung seiner Form der „existentialistischen Psychoanalyse“ - hier spielte die Kindheit dann auch eine andere Rolle. Dabei lehnte Sartre die Psychoanalyse keineswegs völlig ab, im Gegenteil: am Ende von „Das Sein und das Nichts“ unternahm er selbst einen Entwurf einer existentialistischen Psychoanalyse, doch reduzierte er dabei erneut alles auf das Faktotum der freien Entscheidung. Einleuchtend schien an seiner Argumentation dennoch, daß die Phänomene der Psyche grundsätzlich faßbar, dem Bewußtsein zugänglich sein müßten, wenn Sie therapierbar sein sollten. Die Fähigkeit des Menschen zum Denken war für Sartre der zentrale Hebel seiner Philosophie. Dementsprechend gab es nichts, was er für unerklärbar hielt: „Wir fassen ja jede Handlung als verstehbares Phänomen auf und lassen ebensowenig wie Freud den deterministischen »Zufall« gelten. Aber statt das betreffende Phänomen von der Vergangenheit her zu begreifen, denken wir uns den Verständnisakt als eine Rückwendung der Zukunft zur Gegenwart.“257 Damit war gemeint, daß die traditionelle freudsche Psychoanalyse grundsätzlich von einer in der Vergangenheit stattfindenden Handlung ausgehe, so z.B. Spannungen im Eltern-Kind Verhältnis. Aus diesen werde die Erklärung für die gegenwärtige Störung, Neurose, Psychose usw. gegeben. Dies reichte Sartre allerdings nicht aus, da der Entwurf , den der Menschen von sich mache, dabei nicht berücksichtigt bliebe. Ihm ging es darum, zu fragen: Wie entwarft sich der Mensch so wie er es tat? Wie könnte er sich entwerfen? Aus dem Dissverhältnis zwischen dem falschen gelebten und möglichen neuen Entwurf wären dann Rekurse auf die Situation des Patienten zu machen, die „Rückwendung der Zukunft zur Gegenwart“. Dafür konzipierte Sartre den Begriff der „ursprünglichen Wahl“: „Die existentialistische Psychoanalyse sucht die ursprüngliche Wahl zu bestimmen. Diese ursprüngliche Wahl, die der Welt gegenüber vollzogen wird und Wahl der Position in der Welt ist, ist totalitär wie der Komplex; sie geht wie der Komplex der Logik voraus; sie wählt die Haltung der Person gegenüber der Logik und den Prinzipien; es geht nicht darum, sie nach 256 257 Ebd., S. 1052 Ebd., S. 796 80 der Logik zu befragen.“258 Sartre zufolge ginge es darum, den Untersuchungen der Psychoanalyse die Stärke des Subjekts wiederzugeben. Seine Variante des Psychoanalyse zielte darauf ab, die subjektive Urwahl und nicht bloß das gegenwärtige Krankheitsbild aufzudecken - nur dann könne das Subjekt über ein Bewußtsein seiner Situation verfügen und die Wahl wieder lebendig machen und sie gegebenenfalls widerrufen. Wenn sich die Untersuchung, so Sartre, „der grundlegenden Wahl nähert, brechen die Widerstände des Subjekts schlagartig zusammen, und es erkennt plötzlich sein Bild, das man ihm zeigt, als ob es sich in einem Spiegel sähe. Dieses unwillentliche Zeugnis ist für den Psychoanalytiker wertvoll: er sieht darin das Zeichen dafür, daß er das Ziel erreicht hat; er kann von der eigentlichen Untersuchung zur Behandlung übergehen.“259 Ziel der psychoanalytischen Untersuchung und Behandlung wäre das aufgeklärte Subjekt. Sartre zufolge, seien also – entgegen der klassischen Psychoanalyse, die auf einem Triebmodel aufbaute – die Phänomene der sozialen Welt entsprungen. Doch anstatt diese Theorie weiter zu verfolgen und zu Gerinnungen des Bewußtseins, zu sozial geprägten Triebstrukturen zu gelangen, endete das „Das Sein und das Nichts“. Sartre blieb bei der gnadenlosen Freiheit des Einzelnen stehen, hineingeworfen in eine absurde Welt. Der Mensch hatte keinen Gott und kein höheres Ziel unter das er zu subsumieren gewesen wäre – er war, so Sartre. „eine nutzlose Passion.“260 Argumente, die nach dem 2. Weltkrieg auf der Tagesordnung standen, in denen gesagt wurde, daß man „bloß mitgemacht“ habe oder alles sei „von oben befohlen worden“, waren mit Sartre nicht möglich. Das Subjekt entschied sich, folgte man der Sartreschen Denkart, für seine Taten. Demnach habe es auch dafür die Verantwortung zu tragen.“[...] In diesem Krieg, den ich gewählt habe, wähle ich mich Tag für Tag, und ich mache ihn zu meinem, indem ich ihn mache. Wenn er vier leere Jahre sein soll, trage ich die Verantwortung.“261 Problematisch sollte diese Philosophie dort werden, wo eine tatsächliche gesellschaftliche Übermacht auf das Subjekt hereinbrach. Ob man sich als Jude wählte oder nicht, machte 1942 für die Nationalsozialisten keinen Unterschied. Die „freie“ Wahl bestand darin zu flüchten oder umzukommen. Es mutete grotesk an, einer Philosophie zu folgen, mit der man hätte sagen könnte, daß die freie Wahl, Hab und Gut aufzugeben oder im KZ zu sterben, den Blick „auf Hindernisse und Beschränkungen freigab“. Doch auch hier beharrte Sartre auf dem Vorrang menschlicher Freiheit: „Wenn wir erklären, daß der Sklave in Ketten ebenso frei ist wie sein Herr, wollen wir nicht von einer Freiheit sprechen, die unbestimmt bliebe. Der Sklave in Ketten ist frei, sie zu zerbrechen; das bedeutet, daß eben der Sinn seiner Ketten ihm im Licht des Zwecks erscheint, den er gewählt hat: Sklave bleiben oder das Schlimmste wagen, um sich von der Knechtschaft zu befreien.“262 Marcuse merke dazu an: „Das Traktat über menschliche Freiheit hat hier den Punkt der Selbstabdankung erreicht. Die Verfolgung der Juden und »die Zangen des 258 Ebd., S. 978 Ebd., S. 983 260 Ebd., S. 1052 261 Ebd., S. 953 262 Ebd., S. 944 259 81 Henkers« sind der Terror, der die Welt heute ist, sind die brutale Wirklichkeit der Unfreiheit.“263 Das zentrale Problem der Philosophie von „Das Sein und das Nichts“ bestand darin, daß Sartre das Objekt ausschließlich auf einer intersubjektiven Ebene verhandelt hatte. Nach Sartre war das „Ich“ für den Anderen Objekt der Selbstkonstitution und umgekehrt. Das Zurückgewinnen der Transzendenz in dieser Interaktion werde, so Sartre, durch die Bewußtwerdung dieses Prozesses möglich. Dann sei das Subjekt in der Lage Verantwortung für das Sein der Anderen zu tragen. Damit spielte sich letztendlich die Objektwelt, nur in Interaktion mit dem Subjekt selbst eine Rolle. Was als Objektwelt mit An-sichSein (En-soi) ausgedrückt wurde, reichte nicht aus, um die gleichzeitigen, historischen Konstituierungsprozesse des Subjekts nachzuzeichnen. Das Subjekt, bei Sartre auf der Ebene von Für-sich-Sein (Pour-soi, sowie Bewußtsein oder cogito) verhandelt, hatte zu wenig Bezug oder kaum Bezug zu einer Objektwelt im Sinne von Gesellschaft. Später revidierte Sartre diese Philosophie der Freiheit, die nur am Subjekt hing. Schon ein Jahr später, in dem Artikel „Paris unter der Besatzung“ sprach er dann von einer Freiheit auf der Ebene politischer Systeme, dennoch blieb er vorerst beim Vorrang des Subjekts und an dem Moment gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse, in dem sich die Menschen entwarfen. Auch seine späteren Analysen zur Klassengesellschaft sollten einen anderen Charakter annehmen, als noch in „Das Sein und das Nichts“, wo er diese vornehmlich auf den Ebenen von Objekt-Wir und Subjekt-Wir264 verhandelte. Simone de Beauvoir fragte ihn später: „Sie sagten, man könne in jeder Situation frei sein. Wann haben Sie aufgehört, es zu glauben?“ Sartre antwortete: „Ziemlich früh. Es gibt eine etwas einfältige Theorie der Freiheit: man ist frei, man wählt immer, was man tut, man ist frei gegenüber dem anderen, der andere ist frei einem selbst gegenüber. Man findet diese Theorie in sehr simplen Philosophiebüchern, und ich hatte sie als eine bequeme Weise behalten, meine Freiheit zu definieren, aber sie entsprach nicht dem, was ich wirklich sagen wollte. Was ich sagen wollte, war, daß man für sich verantwortlich ist, selbst wenn die Handlungen durch etwas einem Äußerlichen hervorgerufen werden... Jedes Handeln enthält einen Teil Gewohnheiten, Vorurteile, Symbole, und andererseits ist da etwas, was aus unserem Innersten kommt und ein Bezug zu unserer ursprünglichen Freiheit ist.“265 Unter anderem war aber genau diese Freiheitsphilosophie ein Grund für die spätere, große Popularität von „Das Sein und das Nichts“, denn hier bot sich eine Philosophie an, die für all jene interessant war, die gegen den Faschismus kämpften, für jene die nicht mitgemacht hatten und sich darin von den Anderen unterschieden. Mit Hilfe dieser Philosophie war es möglich den Wert der eigenen Handlungen und den der Anderen mit Verantwortung zu beseelen - gegenüber Theorien, in denen die gesellschaftliche Übermacht als so groß beschrieben wurde, daß sie zu dem Problem führen konnten, daß alle subjektive Handlungen unter das Marcuse, Herbert: Existenzialismus, Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant, in: Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt /M, 1970, S. 65 264 vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 745ff 265 Beauvoir, Simone de: Die Zeremonie des Abschieds, Reinbek bei Hamburg, a.a.O. , S. 451f 263 82 große Objekt subsumiert wurden und damit aus dem Weiß des Widerstandes und dem Schwarz des Faschismus nur noch Grau übrig ließen266. Mit „Das Sein und das Nichts“ legte Sartre den Grundstein für seine späteren Kritiken am Marxismus: Das Bewußtsein und die Konstruktionsprozesse eines Menschen im Café war den orthodoxen Marxisten völlig egal. Hier insistierte Sartre in späteren Auseinandersetzungen mit den Marxisten auf dem Wert des Individuums und kritisierte sie wegen des Fehlens einer Theorie des Subjekts. Wie auch Marcuse, der, wie die anderen Exil-Frankfurter, versuchte mit Freud eine Subjekttheorie in den Marxismus zu bringen, begann auch Sartre nach einer Verbindung zu suchen zwischen einer Theorie des Individuums und einer Theorie der politischen Ökonomie. Dennoch blieben große Unterschiede zwischen Sartre und Marcuse: Sartre hatte kein Triebmodell, sondern alles entwickelte sich letztendlich aus dem Subjekt heraus. Bei Marcuse schwang immer ein zu befreiender Kern im Menschen mit, der Triebanlagen (gesellschaftlich vermittelte) hatte. So hatte der Begriff der Angst in der kritischen Theorie einen zentralen Stellenwert. Bei Sartre war es fast bedeutungslos. Bei aller späteren Gemeinsamkeit, sollte die Rolle der Psychoanalyse – und damit der eigentlichen Subjekttheorie – Sartre und Marcuse noch auf Jahre voneinander trennen. Trotzdem bleibt festzuhalten, daß Sartre in „Das Sein und das Nichts“ von einer bemerkenswerten und einzigartigen Egalität aller Menschen ausging; es war ein Manifest der philosophischen Gleichheit aller Menschen und damit ein zutiefst humanistisches Werk, das gleichzeitig mit dem kleinbürgerlichen Humanismus brach. „In der Sackgasse der subversiven Aktion, im Würgegriff einer unerträglichen, täglichen Repression, erkennt Sartre plötzlich das Unannehmbare. Natürlich bewegt er sich in der philosophischen Abstraktion, als er seine Theorie der Freiheit erarbeitet. Aber er beschreibt diese Reflexion in und unter jenen spezifischen geschichtlichen Bedingungen. Sein Ruf nach Authentizität und Verantwortung, seine Verurteilung unauthentischen Verhaltens überhaupt, beides geschieht in einem Nazi-Frankreich. Auch seine Moral des Schriftstellers wird unter dem wahnsinnigen, unmittelbaren Druck der täglichen Knebelung entworfen. Der finsteren Unterdrückungsperiopde entreißt er den Ruf nach Freiheit und individuellem Anarchismus.“267 Die Freiheit wird gesellschaftlich Sartres: Paris unter der Besatzung (1944) Nach dem Scheitern von „Sozialismus und Freiheit“ schloß sich Sartre dem „Comité National des Écrivains“ sowie dem „Comité National du Théâtre“ an – beides der Resistance nahestehende Gruppierungen. Er schrieb für die illegal erscheinenden „lettre francais“ und war Mitarbeiter der von Albert Camus gegründeten Zeitschrift „Combat“, mit dem ihn seitdem eine Freundschaft verband. Zwischen 1944 und 1945 verfaßte er mehrere Artikel, in denen er sich zu 266 Was mancherorts wieder Bedeutung erlangt: Die Platitüde die besagt, daß man nicht alles schwarz oder weiß sehen solle, diente meist dem Revisionismus, der danach suchte Momente des Faschismus positiv zu besetzen. 267 Cohen-Solal, a.a.O., S. 304 83 gesellschaftlichen Problemstellungen äußerte und dabei erste Modifizierungen seines Freiheitsbegriffes spürbar waren. Grundsätzlich war festzustellen, daß Sartre dabei zwei Freiheitsbegriffe benutzte: Einen auf der Ebene gesellschaftlicher Systeme und einen onthologischen, der in „Das Sein und das Nichts“ entwickelt wurde. In der Artikelserie „Ein Spaziergänger im aufständischen Paris“ sprach Sartre im Moment der Befreiung von Paris davon, daß in dieser konkreten historischen Situation „Zivilisten und Soldaten einer einzigen Rasse angehören: es sind freie Franzosen.“268 Die jetzt „freien Franzosen“ mußten, damit sie jetzt frei waren, zumindest vorher unfrei gewesen sein. Doch an diesem Punkt schwankte Sartre. In dem Artikel: „Die Republik des Schweigens“ schrieb er: „Niemals waren wir freier als unter deutscher Besatzung.“ Damit meinte er, daß das Spektrum der Freiheit, die persönlichen Wahlmöglichkeiten zwischen Tod oder Kollaboration, zwischen Ertragen, Demütigung oder Widerstand so groß wie selten zuvor in der französischen Geschichte gewesen war – er verglich die Befreiung von Paris mit 1789 und 1848. Auch wenn sich Sartre mit dem Aufstellen zweier Freiheitsbegriffe selbst widersprach, so stecke dennoch in ihnen die Anerkennung der gesellschaftlichen Zwänge aufs Subjekt. Die Besetzung Frankreichs war, so Sartre „ein riesiges gesellschaftliches Phänomen.“269 Das Dilemma, in der Sartres Freiheitsphilosophie stand, entging ihm nicht: „Jede unserer Handlungen war doppeldeutig; wir wußten nie, ob wir uns tadeln oder uns völlig beipflichten sollten; ein verstecktes Gift vergiftete unsere besten Unternehmungen. Ich will nur ein Beispiel geben: die Eisenbahner, Heizer wie Zugführer, waren bewundernswert. Ihre Kaltblütigkeit, ihr Mut und oft ihre Selbstverleugnung haben Hunderte von Leben gerettet, haben Lebensmitteltransporte ermöglicht, Paris zu erreichen. Größtenteils waren sie Widerstandskämpfer und haben es bewiesen. Doch der Eifer, mit dem sie unser Material verteidigten, diente der deutschen Sache: diese auf wunderbare Weise erhaltenen Lokomotioven konnten von einem Tag auf den anderen beschlagnahmt werden; zu den Menschenleben, die sie erhalten hatten, mußten diejenigen der Militärs gerechnet werden, die nach Le Havre oder Cherbourg fuhren; die Lebensmittelzüge führten auch Kriegsmaterial mit. So standen diese Männer, einzig darum bemüht, ihren Landsleuten zu dienen, durch die Macht der Umstände auf der Seite unserer Feinde gegen unsere Freunde; und wenn Pétain ihnen eine Medaille an die Brust heftete, dann war es Deutschland, das sie ehrte. Von Anfang bis Ende des Krieges haben wir unsere Handlungen nicht wiedererkannt, haben wir ihre Folgen nicht für gewollt erklären können. Das Falsche war überall, jede Wahl war falsch, und dennoch mußte man wählen, und wir waren verantwortlich; jeder unserer Herzschläge trieb uns in eine Schuld, vor der uns graute.“270 Es traten nun auch für Sartre objektive Grenzen auf. Der Mensch war zwar weiterhin zur Freiheit verurteilt, doch - so sehr er sich dieser auch bewußt gewesen wäre - der gesellschaftliche Rahmen der diese Freiheit umschloß, bekam nun weit mehr Gewicht. Zwar blieb Sartre bei der Freiheit des Einzelnen, doch der Begriff der Situation wurde stärker und wichtiger. 268 Sartre, Jean-Paul: Ein Spaziergänger im aufständischen, in: Sartre, Jean-Paul: Paris unter der Besatzung, Reinbeck bei Hamburg, 1985, S.30 269 Sartre, Jean-Paul: Paris unter der Besatzung, in: Sartre, Jean-Paul: Paris unter der Besatzung, Reinbek bei Hamburg, 1985, S.40 270 Ebd., S. 52 84 Der Mensch sei frei in Situation, schrieb Sartre in „Das Sein und das Nichts“. Diese „Situation“ sollte in seinen folgenden Schriften ein stärkeres und deutlicheres Gewicht bekommen271. Am deutlichsten dokumentierte diesen Wandel seine Schrift: „Was ist ein Kollaborateur?“ Sartre befaßt sich darin mit der Fragestellung, was denn einen Kollaborateur bedinge: „Wenn es also stimmt, daß man nicht aus Zufall kollaboriert, sondern unter der Einwirkung bestimmter gesellschaftlicher und psychologischer Gesetze, dann muß definiert werden, was man einen Kollaborateur nennt.“ Dies war insofern ein neues Unterfangen, da das erste Mal in Sartres Schriften ein konkreter gesellschaftlicher Rahmen auf den Plan trat; er eigentlich das erste Mal so etwas wie „gesellschaftliche Gesetze“ in seinen Publikationen akzeptierte. In seiner Untersuchung begann er mit marxscher Methode nach den Klassenzugehörigkeiten zu fragen, um festzustellen: „Die meisten Kollaborateure, das ist eine Tatsache, sind aus dem Bürgertum hervorgegangen. Doch darf man daraus nicht folgern, daß das Bürgertum als Klasse zur Kollaboration neigte.“272 Doch wo vulgärmarxistische Untersuchungen meist stehenblieben, begann Sartres außerordentliche Originalität. Anstatt die gesellschaftliche Übermacht zu konstatieren und ein weißes Proletariat zu zeichnen, wie dies andere taten (um den politischen Impetus des Trägers der Revolution nicht zu diskreditieren), hielt Sartre an Individuum, am Subjekt fest: Kollaboration sei eine individuelle Entscheidung, keine Klassenposition gewesen. Sartre suchte danach gesellschaftliche Bedingungen und gleichzeitig die Psychologie der Wahl zu untersuchen. Dabei entwarf er das folgende Psychogramm des Kollaborateurs: „Da er nicht in die französische Gesellschaft integriert und den allgemeinen Gesetzen einer Gemeinschaft unterworfen ist, sucht der Kollaborateur, sich in ein neues System zu integrieren, wo die Beziehungen in die Einzelheit fallen und von Person zu Person verlaufen. Sein Realismus hilft ihm dabei: der Kult der Einzeltatsache und die Verachtung des Rechts, das Allgemeinheit ist, bringen ihn dazu, sich streng individuellen Realitäten zu unterwerfen: einem Menschen, einer Partei, einer fremden Nation.“273 Und weiter: „Doch die vielleicht beste psychologische Erklärung der Kollaboration stellt der Haß dar. Der Kollaborateur scheint von einer strengen Lebensordnung zu träumen: wie schon gesagt, ist es der große Assimilationstraum eines Nichtintegrierten.“274 Die Merkmale der Kollaborateure in Sartres Beschreibung könnte man auch mit einem anderen Begriff bezeichnen: Es handelte sich um autoritäre Charaktere. Autoritäre Charaktere, die aus den bisherigen gesellschaftlichen Hierarchien herausgefallen waren. Dafür gab Sartre genügend Beispiele275. Sartres Analyse schien auch für die deutsche Situation zuzutreffen: Die Trägerschicht des deutschen Faschismus bestand hauptsächlich aus dem sog. „Bildungsbürgertum“, jener Schicht, die mit der deutschen Revolution von 1918 einen großen Teil ihrer bisherigen Privilegien verlor. Die Entscheidung Kollaborateur zu werden, bestand für Sartre in einem tief verwurzelten Positivismus: „Wenn die deutschen Kollaborateure aus dem 271 Seine politischen Schriften in der französischen Ausgabe trugen dann auch konsequenterweise den Titel „Situationes“, gefolgt von der jeweiligen Nummer. 272 Sartre, Jean-Paul: Paris unter der Besatzung, a.a.O., S. 61 273 Ebd., S. 68 274 Ebd., S. 69 275 vgl. Ebd., S. 62 85 deutschen Sieg auf die Notwendigkeit geschlossen haben, sich der Autorität des Reiches zu unterwerfen, dann deshalb, weil bei ihnen eine tiefe Entscheidung vorlag, die den Grund ihrer Persönlichkeit ausmachte: die Entscheidung, sich der vollendeten Tatsache zu fügen, ganz gleich welcher.“276 Dabei entwerfe sich der Kollaborateur in ferner Zukunft. Er beurteile, so Sartre, sein Handeln aus der Perspektive künftiger Jahrhunderte, die ihm Recht zu den heutigen Taten gäben, nur so sei der Kollaborateur in der Lage alles Handeln unter die gegenwärtigen Zwecke zu stellen. In Sartres Analyse traten gleich mehrere Parallelen zu den Positionen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung auf: Die Analyse der autoritären Charaktere und die Kritik am Positivismus waren ihnen gemeinsam. Ebenso wie die Frankfurter schätzte Sartre die französische Revolution als nicht vollends verwirklichte ein. In einem bewegenden Schluß des Artikels schrieb er: „Realismus, Ablehnung des Allgemeinen und des Gesetzes, Anarchie und Traum von einem eisernen Zwang, Apologie von Gewalt und List, Feminität277. Menschenhaß: alles Merkmale, die sich durch die Desintegration erklären. Der Kollaborateur ist, ob er nun Gelegenheit hat, als solcher aufzutreten oder nicht, ein Feind, den die demokratischen Gesellschaften ständig in ihrem Schoße tragen. Wenn wir vermeiden wollen, daß er den Krieg in anderen Gestalten überlebt, dann genügt es nicht, ein paar Verräter hinzurichten. Es gilt, soweit wie möglich die Einigung der französischen Gesellschaft zu vollenden, das heißt die Arbeit, welche die Revolution von 1789 begonnen hat; und das läßt sich nur durch eine neue Revolution verwirklichen, jene Revolution, die 1830, 1848 und 1871 versucht worden ist und auf die stets die Gegenrevolution folgte. Die Demokratie ist immer Pflanzstätte für Faschisten gewesen, weil sie ihrem Wesen nach alle Meinungen duldet; es ist nötig, daß endlich restriktive Gesetze gemacht werden: es darf keine Freiheit gegen die Freiheit geben.“278 „Keine Freiheit gegen die Freiheit“ schrieb Sartre: Spätestens hier tauchte ein Freiheitsbegriff auf, der endgültig eine Form gesellschaftlicher Unfreiheit anerkannte und sie als solche beschrieb. Ferner analysierte Sartre die bisherigen Demokratien als Wegbereiter des Faschismus. Eine Analyse, die sicherlich auch Marcuse teilte, weniger aus ihrer formalen Struktur - wie bei Sartre -, denn aus der Analyse politischen Ökonomie. Doch die größte Gemeinsamkeit zu Marcuse bestand sicherlich im Stellenwert der Theorie zur Praxis. Sartre schrieb: „Zwar ist es nötig, sich den Tatsachen zu unterwerfen, Lehren aus der Erfahrung zu ziehen: aber diese Geschmeidigkeit, dieser politische Positivismus dürfen nur Mittel dazu sein, ein Ziel zu verwirklichen, das nicht den Tatsachen unterworfen ist und nicht aus ihnen sein 276 Ebd., S. 65 Sartre begriff die Methode des Kollaborateurs als feminin. Damit meinte er, daß sich der Kollaborateur der List bediente: „Da er die Kraft als Quelle des Rechts und als Erbteil des Herrn gesetzt hat, hat sich der Kollaborateur die List vorbehalten. Er erkennt also seine Schwäche, und der Priester der Manneskraft und der männlichen Tugenden gibt sich mit den Waffen des Schwachen, der Frau zufrieden.“ (Ebd., S. 69) Diese merkwürdige Geschlechterstigmatisierung ist m. E. für Sartre an dieser Stelle einzigartig. Später gab Sartre ausführlich Auskunft über sein Denken und Verhalten gegenüber Frauen (vgl. Beauvoir, Simone: Die lange Zeremonie des Abschieds, a.a.O., S. 383ff). An dieser Stelle ist die Bezeichnung „feminin“ eher als Demütigung der Kollaborateure, denen ihre Männlichkeit abgesprochen wird zu verstehen – eine Art Rache durch posthume Kastration. 278 Sartre, Jean-Paul: Paris unter der Besatzung, a.a.O. , S. 70f 277 86 Dasein zieht.“279 Oder mit den Worten Marcuses ausgedrückt: „Die Vernunft hat sich mit der Wirklichkeit identifiziert: was wirklich ist, ist vernünftig, obgleich das, was vernünftig ist, noch nicht zur Wirklichkeit geworden ist.“280 Das Ende der deutschen Besatzung bedeutete für Sartre keinesfalls den automatischen Aufbruch in eine bessere Zukunft. Durch den Abwurf der Atombombe stellten sich neue Probleme für die Menschheit: „Die kleine Bombe, die auf einen Schlag hunderttausend Menschen töten kann und morgen zwei Millionen töten wird, stellt uns plötzlich vor unsere Verantwortung. Beim nächsten Mal kann die Erde hochgehen: dieses absurde Ende würde für immer die Frage in der Schwebe lassen, die seit zehntausend Jahren unsere Sorgen ausmachen. Niemand erführe je, ob der Mensch den Rassenhaß hätte überwinden können, ob er eine Lösung für den Klassenkampf gefunden hätte.“281 Nun stellte sich Sartre den Fragen, die in „Das Sein und das Nichts“ schmerzlichst vermißt wurden. Die „Suche nach dem Sein“ wurde konkret – die reale Geschichte brach in das Denken Sartres ein. Im Kampf gegen den Nationalsozialismus Marcuses: Feindanalysen. Über die Deutschen Aus Marcuses Zeit beim OSS entstanden verschiedene Aufsätze, die posthum veröffentlicht wurden. Sie erscheinen von Wichtigkeit, da in ihnen praktische Schritte und Strategien gegen Nazideutschland erörtert wurden sowie eine Analyse des NS stattfand. Besonders interessant erscheint an ihnen die Auslotung der praktischen Möglichkeiten des Kampfes gegen den Faschismus. Die Individuen erschienen in Marcuses vorherigen Texten als Präformierte, ihr Bewußtsein unter der Perspektive einer freien Gesellschaft verkümmert. Die Grundlage ihrer Identifizierung mit dem Nationalsozialismus sah Marcuse vor allem in den materiellen Errungenschaften des NS: in Vollbeschäftigung und materieller Sicherheit282. Doch trotz aller Präformation beobachtete Marcuse gleichermaßen Momente eines Konflikts zwischen Gleichschaltung und realer Herrschaft. “Die Angst der Massen und die Angst voreinander ist ein entscheidendes Element dieser Harmonie”283 schrieb er über das zentrale Bindeglied zwischen den Eliten des NS und den Massen. Mit dem Begriff der Angst war ein realer und konkreter Moment beschrieben worden, der die Herrschaft sichtbar machte und über das Maß der Zustimmung der Deutschen zum NS hinausging. Bestimmte Gesellschaftsschichten seien von vornherein von einer möglichen Gegenpropaganda auszuschließen: „Zum einen die Stützen, die das Regime in der Großindustrie besaß, sowie die Regierungsbürokratie. Sie werden mit dem Zusammenfall des Regimes alles verlieren und haben von keinem anderen Regime 279 Ebd., S. 71 Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution. a.a.O., S. 370 281 Sartre, Jean-Paul: Das Ende des Krieges, in: Sartre, Jean-Paul: Paris unter der Besatzung, Reinbek bei Hamburg, 1985, S. 75 282 Marcuse, Herbert: Die beiden Schichten der neuen deutschen Mentalität, in: Feindanalysen. Über die Deutschen, Lüneburg, 1998, S. 29 283 Marcuse, Herbert: Feindanalysen. Über die Deutschen, Lüneburg, 1998, S. 101 280 87 irgend etwas zu erwarten.”284 Hier stand der Nationalsozialismus für Marcuse in der Tradition der deutschen Gesellschaften vor dem 1. Weltkrieg, da die gleichen Kräfte und Interessen wie damals auch den Nationalsozialistischen Staat beherrschten. Neben der realen Angst sei auch ein großes Maß an Zustimmung zum NS zu registrieren, es „[...] ließe sich sogar behaupten, daß der Nationalsozialismus die erste und einzige »Revolution« der Mittelschichten in Deutschland gewesen ist.”285 Damit wurde dem Nationalsozialismus ein Doppelcharakter attestiert: Herrschaft durch Angst und Zustimmung. “Zwar funktioniert das Regime nur durch institutionalisierten Terror, aber die Mehrheit der Bevölkerung hat die Sprache der Tatsachen akzeptiert und sich mit dem Regime identifiziert.”286 Diese sich scheinbar widersprechenden Attribute des Terrors und des Zuspruchs konnten nur mit einem radikalen Kulturbruch einhergehen: “Die Deutschen orientieren sich gegenwärtig an gänzlich anderen Werten und Maßstäben, und sie sprechen eine Sprache, die sich von den Ausdrucksformen der westlichen Zivilisation wie auch von denen der einstigen deutschen Kultur grundlegend unterscheidet.”287 Mit diesem Zivilisationsbruch gelang es die „Individuen dazu [zu bringen], eine Welt zu lieben und aufrechtzuerhalten, die sie nur als Mittel der Unterdrückung braucht.”288 Seine private Befriedigung begreife das Individuum als Pflicht: “Das Individuum begreift seine private Befriedigung als patriotische Pflicht gegenüber dem Regime und erhält seinen Preis für deren Ausübung.”289 Der Doppelcharakter von Angst und Zuspruch war mit dem klassischen „laissezfaire- Prinzip“ des Liberalismus nicht zu erreichen gewesen. Tatsächlich war ein kompletter Umbruch des kulturellen Wertesystems nötig gewesen, um die neue Form der faschistischen Herrschaft zu ermöglichen. Doch der Umbruch des Wertesystems basierte auf einer langen Vorbereitung: Die Krisengeschichte des Kapitalismus mit ihrem immanenten Konkurrenzkampf bereitete dem Nationalsozialismus den Boden: “Der Nationalsozialismus hat seinen Anhängern eingehämmert, daß die Welt eine Kampfbahn ist, in der der mächtigste und effizienteste Konkurrent das Rennen gewinnt. [...] Dem Nationalsozialismus zufolge besteht das angemessenste Prinzip des individuellen wie auch des sozialen und politischen Handelns darin, alle zur Verfügung stehenden Mittel so rücksichtslos wie möglich einzusetzen, um in den Verteilungskämpfen die Nase vor zu haben”290 Damit stellte der Nationalsozialismus ein Regime dar, dessen Bedingung zur Möglichkeit die Implementierung kapitalistischer Konkurrenzethik im Bewußtsein der Subjekte darstellte. Doch anstatt die Individuen sich selbst zu überlassen, wie dies der Liberalismus tat291, begegnete der Nationalsozialismus den Einzelnen mit einer riesigen Maschinerie an Kultur und Freizeitindustrie: „Die 284 Ebd., S. 62 Ebd., S. 27 286 Ebd., S. 46 287 Ebd., S. 23 288 Ebd., S. 111 289 Ebd., S. 109 290 Ebd., S. 44 291 Zumindest in der Theorie sollte das private und ökomonische Leben Sache des Einzelnen sein. Die Freiheit des Vertrags sollte einhergehen mit der Freiheit sein Leben selbst zu gestalten. Meist sah die Wirklichkeit anders aus und die Institutionen schossen wie Pilze aus dem Boden. (vgl. Foucault, Michele: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt /M, 1994) 285 88 Fabriken, Schulen, Ausbildungslager, Sportstätten, die kulturellen Institutionen und die Freizeitorganisationen sind wahre Laboratorien des Individualismus. Jedem Mitglied der deutschen Rasse wird unabhängig von seiner sozialen Stellung beigebracht, sich wie ein einzigartiges und selbstsicheres Wesen zu fühlen und zu verhalten, als der autonome Herr seines Lebens. Es wird dazu angehalten, selbst das mechanischste Produkt zu seiner eigenen persönlichen Arbeit zu machen, und seine Wohnstätte soll sich durch die Merkmale seines eigenen persönlichen Geschmacks auszeichnen. Die Partei regt den Bau von Siedlungen an, in denen der Arbeiter sein Haus, Garten und ein eigenes Haustier hat. Der nationalsozialistische Staat ist ein »Staat der Massen«, aber die Massen sind nur in so weit Massen, wie sie sich aus automatisierten Individuen [Herv. v. m., S.E.] zusammensetzen. Weil diese allem beraubt worden sind, was ihr Individualität in eine wahre Interessensgemeinschaft transzendiert, und nichts von ihnen übrig geblieben ist als ihr bestialisches und abstraktes Eigeninteresse, das in allen Menschen gleich ist, sind sie für die Vereinheitlichung von oben und für Manipulation so anfällig.”292 Das „automatisierte Individuum“ war also, so Marcuse, das Ziel des Nationalsozialismus. “So seltsam es auch klingen mag, das Individuum ist ein Lieblingskind des nationalsozialistischen Regimes. Es bemüht sich ständig, seine Fähigkeiten zu steigern, seine Leistungsfähigkeit zu verbessern und es mit Energie und Initiative zu füttern”293 Diese Kontinuität der Disziplinierung des Individuums sollte Michele Foucault später in „Überwachen und Strafen“ aufgreifen, als er schrieb: „Die schöne Totalität des Individuums wird von unserer Gesellschaftsordnung nicht verstümmelt, unterdrückt, entstellt; vielmehr wird das Individuum darin dank eine Taktik der Kräfte und der Körper sorgfältig fabriziert . Wir sind weit weniger Griechen als wir glauben. Wir sind nicht auf der Bühne und nicht auf den Rängen. Sondern eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen Maschine, das wir selber in Gang halten.”294 Tatsächlich war es die Mischung aus produziertem Individuum und dem Terror der Konkurrenz, der den Weg für den Nationalsozialismus bereitete. Der Nationalsozialismus war lediglich eine Totalisierung dieser Prinzipien: “Die Vereinheitlichung der menschlichen Individuen ist somit das Resultat der Mechanismen der individualisierten Gesellschaft. Die Individuen sind zu einer Menschenmenge geworden, zu den Mitgliedern der Masse, lange bevor der Nationalsozialismus sie als Masse behandelte.”295 Doch wie war dagegen vorzugehen? Wer konnte noch als Verbündeter betrachtet werden? Gab es noch kritische Kräfte auf die man bauen konnte? Wer sollte in Deutschland nach einem Sieg der Alliierten das Sagen haben? Wie sollte eine Nachkriegsordnung in Deutschland aussehen? Dies waren Fragen, die im OSS von Interesse waren und auf die ein Mitarbeiter für strategische Fragen im Gegensatz zu einem Hochschulprofessor zu antworten hatte. Das Problem war offensichtlich: “Die Deutschen scheinen die Vernichtung des Hitlerreiches mit der Vernichtung an sich, das heißt, mit der endgültigen Zerstörung Deutschlands als Nation und Staat, mit dem endgültigen Verlust jeglicher Sicherheit, mit dem Absinken des Lebensstandards unter die 292 Marcuse, Herbert: Feindanalysen. Über die Deutschen, a.a.O. , S. 103 Ebd., 1998, S. 102 294 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt /M, 1994, S. 279 295 Marcuse, Herbert: Feindanalysen. Über die Deutschen, a.a.O. , S. 107 293 89 Inflationsrate zu identifizieren. Die Angst vor der Katastrophe ist eine der stärksten Bindungen zwischen den Massen und dem Regime.”296 Wie war diese Liaison zu brechen? Die Balance der gesellschaftlichen Gruppen im NS erschien verheerend: “Es gibt nämlich kaum eine gesellschaftliche Gruppe, die nicht über ihr materielles Interesse auf die eine oder andere Weise mit dem Funktionieren des Systems verbunden wäre, und wo diese Beziehungen sich lockern, werden sie durch nackte Gewalt ersetzt.”297 Wo sollte also angesetzt werden? Sicher war nur eins: „Folglich muß man, um diese Macht zu brechen, die Nazis militärisch besiegen. Aber es gibt nicht die geringste Garantie dafür, daß der Sturz des Regimes die Wurzeln jener nationalistischen Mentalität beseitigt, aus denen das Regime seine Lebensfähigkeit bezieht. Diese Mentalität wird erst dann verschwinden, wenn die Vorherrschaft der mit dem Regime und, mehr noch, mit dessen Motiven und Zielen auf Gedeih und Verderb verbundenen Gruppen beseitigt wird. Sie wird, anders gesagt, erst verschwinden, wenn die Errungenschaften des Naziregimes (Vollbeschäftigung und materielle Sicherheit) in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaftsordnung aufgehoben sind.”298 Es schien schwierig für den Sozialisten Marcuse dem OSS realisierbare Vorschläge zu machen. Dies lag vor allem darin begründet, daß Marcuse in der kapitalistischen Produktion selbst den Grundstein für die in der Krise erwachsenen Herrschaftsformen sah. Marcuse schwebte vielmehr eine Gesellschaftsordnung vor, die frei von kapitalistischer Herrschaft war – eine solche deckte sich aber nicht mit den Interessen der amerikanischen Regierung. Zu einer Revolution erschien der Weg noch weiter, die Individuen durch den Nationalsozialismus zu stark automatisiert. Der Nationalsozialismus habe sogar die „stillen Vergnügungen“ in die große Maschinerie eingebunden: “Durch die Mobilisierung der Freizeit hat der Nationalsozialismus eines der letzten Bollwerke zerschlagen, hinter dem die fortschrittlichen Elemente des Individualismus immer noch fortbestanden. [...] Die bloße Tatsache, daß das Individuum in der präfaschistischen Ära in seiner Freizeit »mit sich selbst« sein und alle Wettbewerbshandlungen unterlassen konnte, beließ ihm die Möglichkeit, hinter den repressiven Rahmen des Berufslebens zurückzutreten. [...] In der Ruhe der stillen Vergnügungen mag das Individuum zum Denken kommen, seine Impulse, Gefühle und Gedanken könnten in Regionen gleiten, die der vorherrschenden Ordnung fremd und feindselig sind.”299 Das bedeutete, daß Marcuse davon ausging, daß nichts mehr an kritischen Potentialen oder rebellischer Subjektivität übrig geblieben war, auf das zu bauen wäre. Auch die deutsche Arbeiterbewegung sei momentan nicht geeignet für eine Wiederbelebung des sozialistischen Ideals: „Je mehr sich die deutsche Arbeiterbewegung in die Arbeiteraristokratie und -bürokratie einerseits und die Masse der Arbeitslosen oder nur befristet Beschäftigten andererseits aufspaltete, desto mehr schwand der Glaube an die Verwirklichung des höchsten Ziels und wich dem Geist desillusionierter Sachlichkeit. In einer Volkswirtschaft mit zehn Millionen Arbeitslosen wurde Arbeit von einem Recht zur Vergünstigung, die effizientes und willfähriges Verhalten erforderte. Zudem hatten die Führer der 296 Ebd., S. 27 Ebd., S. 31 298 Ebd., S. 29f 299 Ebd., S. 108 297 90 Arbeiterbürokratie durch ihr Handeln den Desillusionierungsprozeß schon lange vor der Machtübernahme durch die Nazis eingeleitet. So war der Grund und Boden für die Eroberung durch den Nationalsozialismus bereitet: Die Aussicht auf Vollbeschäftigung und wirksame Kontrolle der Wirtschaftsprozesse wog schwerer als die Überreste sozialistischen Glaubens”300 Damit erschien eine freiheitliche Perspektive auf unabsehbare Zeit verbaut. Dennoch war die bürgerliche Gesellschaft dem Faschismus in jedem Falle vorzuziehen. Und so war der Sieg der Alliierten 1945 auch für Marcuse eine Sternstunde, ähnlich wie für Sartre die Befreiung von Paris. „Was Marcuse 1945 empfunden haben muß, als die Miltärregierung die NSDAP auflöste, kann man ahnen: Er selbst hatte das Dekret formuliert.“301 Schluß Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges endete auch der Kampf gegen den Nationalsozialismus für Sartre und Marcuse – zumindest in der bisherigen Form. Sartres „Socialsme et Liberté“ scheiterte und Marcuses Tätigkeit beim OSS schien ebenfalls nicht das richtige Betätigungsfeld für einen Sozialisten zu sein. Bei aller Freude über das Ende des Krieges verkannte keiner von beiden die große Bedrohung, die sich erneut abzeichnete: Die Aufteilung der Welt in die bipolare Weltordnung und das Übergleiten des heißen Krieges in einen neuen Kalten. Mit dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki kündigte sich die Neue Weltordnung an und in ihr schienen Schrecken möglich, die nach der Erfahrung, daß Auschwitz möglich gewesen war, nichts Gutes erahnen ließen. Auffällig an den Werken beider aus jener Zeit ist das Fehlen einer Theorie des Holocaustes. Sechs Millionen Juden verloren ihr Leben in den Konzentrationslagern, auf Todesmärschen oder durch Arbeit. Die Zeit des Krieges war gleichermaßen der Höhepunkt des Unterganges des liberalistischen Subjekts. Und auch die Nachkriegsepoche sollte sich mit neuen Formen der Subjektivität schwertun. Mit der sich anbahnenden Neuaufteilung der Welt sollte die Stunde des Menschen abermals vertagt werden. Vielmehr schlug ein weiteres Mal die Stunde der Nationen. Doch vor allem war das einst im Weltgeschehen so überragend mächtige Europa in seinem Einfluß zurückgetrieben worden und die USA und die UdSSR übernahmen das Zepter der Weltmächte. Deren Konfrontation zog sich wie ein Keil durch die Welt und teilte somit auch den alten Kontinent in Ost und West. Mit großen Hoffnungen auf eine bessere Nachkriegswelt ausgestattet, begannen Marcuse wie Sartre den Kampf gegen den Faschismus. Es stellte sich sehr bald heraus, daß auch die neuen Republiken und real existierenden Demokratien nicht die Verwirklichung ihrer Ziele darstellten. Doch beide nahmen auch diesen Kampf auf und kämpften nun gegen den „Krieg im Frieden“ (Sartre) - dieses Mal unter anderen Vorzeichen. Aus dem Abwehrkampf gegen den Faschismus, entstand ein Kampf gegen die beiden großen Blöcke und deren Logik von Gut und Böse. Die neuen Subjektvorstellungen, die doch so viel von den alten beibehielten, wurden dominiert von den Gesellschaftsidealen der stalinistischen UdSSR im Osten und 300 Ebd., S. 45 Jäger, Lorenz: Feindanalysen: Der amerikanische Feind, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.07.1998, Nr. 164, S. 38 301 91 des Amerikas im Klima von McCarthy. Mit dem Ideal des freien Menschen nahmen beide, der eine in Frankreich und der andere in den USA, ihren Kampf auf, der sie bald über die Grenzen ihre Heimatländer bekannt, berühmt – und auch verhaßt machen sollte. Doch eines sollte ihre Schriften, Reden, öffentlichen Auftritte und Interventionen trotz aller Differenzen immer kennzeichnen: Die Freiheit wurde zum überragenden Prinzip beider, mit dem sie sich gegen die USA und die UdSSR stellen. So wurde der Kampf um eine bessere Welt zum Kampf unter dem Banner der Freiheit. 92 4. Die bipolare Welt: Der “dritte Weg” wider den Krieg im Frieden – Subjektivität im Kampf unter dem Banner der Freiheit „ […] ALL DESSEN , WAS AUS DER BERÜHMTEN ARBEIT RESULTIERT, HEUTE DIE GLEICHE WIE DAMALS, ALS SIE AUF DEN SPRUCHTAFELN IN HITLERS KONZENTRATIONSLAGERN VERHERRLICHT WURDE.“ PIER PAOLO PASOLINI Die historische Situation – Die zwei Blöcke Mit der Beendigung des zweiten Weltkrieges waren die Imperien des alten Kontinentes ihrer Macht beraubt und es begann die Neuaufteilung der Welt in Einflußgebiete der USA und der UdSSR. Dabei unterschied sich das System des real existierende Sozialismus, von dem der sog. „freien Welt“, den real existierenden Demokratien, vor allem darin, „daß es auf Privatunternehmertum und liberale Institutionen verzichtete.“302 Die Jahrzehnte nach dem Krieg bis zum Fall der Berliner Mauer waren von der großen Konfrontation gekennzeichnet. Auch wenn diese keinesfalls mit immer gleicher Intensität verlief, so teilte sie doch die Welt in dieser Zeit neu auf: „Die Sowjetunion kontrollierte einen Teil der Welt, beziehungsweise übte ständigen Einfluß auf ihn aus – die von der Roten Armee und/oder anderen kommunistischen Truppen am Ende des Krieges besetzten Gebiete – und versuchte nicht, diesen Einflußbereich durch den Einsatz von militärischen Mitteln auszuweiten. Die USA kontrollierten oder dominierten den übrigen Rest der kapitalistischen Welt, die westliche Hemisphäre und die Ozeane und übernahmen, was von der alten imperialen Hegemonie der ehemaligen Kolonialmächte übriggeblieben war. Im Gegenzug dafür intervenierten sie nicht in der Zone der anerkannten sowjetischen Hegemonie.“303 Erst durch die im internationalen Maßstab stattfindende 68er Bewegung kam es zu einer weltweiten Opposition gegen die bipolare Weltordnung. Trotz des Ausbleibens einer direkten militärischen Konfrontation der beiden Großmächte gerieten die ehemaligen Kolonien zu „Nebenkriegsschauplätzen“. Besonders diejenigen, in denen verschiedene Gruppierungen um die nationale Macht kämpften, waren Schauplatz der Auseinandersetzungen der beiden Weltmächte. Insbesondere die Region um Vietnam, Kambodscha und Korea war Austragungsort des Kampfes um Dominanz und Einflußsphären. Die Dekolonialisierung Asiens war bis 1950 abgeschlossen, die Regionen des westlichen Islams, von Persien (Iran) bis Marokko erlebten eine Zeit der Volksaufstände, revolutionären Putsche und Massenbewegungen. Besonders 302 303 Hobsbawm, a.a.O., S. 254 Ebd., S. 286 93 Algerien als französische Kolonie erlebte einen Befreiungskrieg, der mit besonderer Brutalität geführt wurde, da in diesem Land die Verwebungen zwischen einheimischer Bevölkerung und großen Gruppen von Siedlern aus dem europäischen Kontinent besonders groß waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten sich fast alle europäischen Regierungen auf Widerstandsmythen. „Die Geschichte der europäischen Widerstandsbewegungen ist zu großem Teil Mythologie. Außer in gewissem Maße in Deutschland haben sich alle Nachkriegsregime und -regierungen im wesentlichen durch ihre jeweilige Widerstandsgeschichte legitimiert. [...] Über die europäischen Widerstandsbewegungen müssen zwei Dinge gesagt werden: Erstens waren sie militärisch völlig unbedeutend (mit Ausnahme vielleicht von Rußland), bevor sich Italien 1943 aus dem Krieg zurückzog, und ihr Einfluß war nirgendwo (abgesehen vielleicht von einigen Gebieten auf dem Balkan) entscheidend. Ihre eigentliche Bedeutung war politischer und moralischer Art. [...] Die zweite Beobachtung: Der Widerstand, mit deutlicher Ausnahme Polen, neigte sich aus offensichtlichen Gründen einer linken Politik zu.“304 Kaum ein Regime (die großen Ausnahmen waren Spanien und Portugal, wo der Faschismus noch Jahrzehnte überleben sollte) überlebte das Ende des Zweiten Weltkrieges. Am drastischen traf es Churchill, gegen den die Labour-Party einen Stimmenzuwachs von 50% verzeichnen konnte. In Frankreich war das Vichy-Regime gestürzt und de Gaulle kam an die Macht. Die tatsächliche Bedeutung des Widerstandes um de Gaulle konnte am besten mit seinen eigenen Worten charakterisiert werden: „Widerstand war ein Bluff, der gelang.“305 Auch Sartre schätzte die Leistung des Widerstandes ähnlich ein306. Für ihn war der französische Widerstand lediglich mit der Landung der Alliierten und den Erfolgen der Roten Armee möglich geworden. Dementsprechend schätzte er de Gaulle denn auch nicht als den Helden des Widerstandes ein, um den sich später ein Mythos ranken sollte.307 Für Sartre sollten die folgenden Jahre den Höhepunkt seines Weltruhmes, gekrönt mit der Ablehnung des Nobelpreises für Literatur, darstellen. Sein Engagement gegen den Algerienkrieg und gegen die Welt der Blöcke, sollte für eine ganze Generation prägend sein: Der Existentialismus kam in Mode und Sartre wurde sein exponiertester Vertreter. Die deutsche Politik war geprägt vom Wiederaufbau; - eine ernsthafte Entnazifizierung fand nicht statt. Vielmehr nahm die Adenauer-Regierung die mythische Homogenität des „völkischen Wir“ in die neue Republik mit hinüber. In den USA begann die große Welle des Antikommunismus: „Ausschließlich in den USA, und in keinem anderen demokratischen Staat, war es möglich, daß ein Präsident aufgrund der Tatsache gewählt werden konnte, daß er ein 304 Ebd., S. 211ff Gillois, André: Histoire Secréte des Française à Londres de 1940 à 1944, Paris, 1973, S. 164 306 vgl.: Sartre, Jean-Paul: Die Frösche, die einen König haben wollen, in : Sartre, JeanPaul : Wir sind alle Mörder, Reinbeck bei Hamburg, 1988, S. 85 305 307 Ein Mythos, dem die FAZ bis heute anhängt. In der Rezension zum Erscheinen des Sammelbandes „Plädoyer für die Intellektuellen“ findet sich folgender Beisatz: „de Gaulle, der im [Sartre] Gegensatz zu ihm ein antifaschistischer Held gewesen war.“ (siehe: FAZ vom 25.01.1996, Nr. 21 / Seite 31) 94 ausgesprochener Gegner des Kommunismus war (wie John F. Kennedy 1960) – wobei der Kommunismus in der Innenpolitik dieses Landes etwa ebenso bedeutungslos war wie der Buddhismus für Irland.“308 Die ersten Schriften Sartres nach dem Krieg kümmerten sich vornehmlich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Essays „Überlegungen zur Judenfragen“ und „Materialismus und Revolution“ beschäftigten sich mit zwei unterschiedlichen Polen: Mit dem ersten unternahm Sartre den Versuch der Aufarbeitung des Antisemitismus, während er sich im zweiten kritisch mit dem orthodoxen Marxismus auseinandersetzte. Aus jener Zeit datierte auch der Text: „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ in dem Sartre eine Wende einschlug und seinen antihumanistischen Weg aufgab. In diesen Jahren nahm auch das „Institut für Sozialforschung“ das erste Mal Kenntnis von Sartre. Mit der Veröffentlichung von „Das Sein und das Nichts“ bekam Sartre, nachdem das Werk schleppend rezensiert wurde, nach 1945 den Status eines Philosophen von internationalem Rang. Doch als existentialistisches Werk erregte es das Mißfallen des Instituts: „Obwohl es mir innerlich widerstrebte, habe ich einen großen Teil der Sartreschen Schrift gelesen … Es handelt sich um eine neue Art von philosophischer Massenliteratur… […] Alle Begriffe sind termini technici im buchstäblichen Sinn des Wortes.“309 So urteilte Horkheimer, der Sartre „für einen Gauner und Taschenspieler“310 hielt. Auch das Urteil Marcuses, der „Das Sein und das Nichts“ für die Zeitung des Institutes besprach, fiel nicht viel freundlicher aus. Während Sartre von den Institutsmitarbeitern abgelehnt wurde, nahm er die Exilfrankfurter umgekehrt gar nicht zur Kenntnis. Erst im Zuge der 68er Bewegung hörte er von Herbert Marcuse und äußerte sich wohlwollend. Nach diesen Jahren trafen sich beide zum ersten Mal und im kleinen Kreis äußerte Marcuse seine Bewunderung für Sartre311. Und auch von Sartre ist berichtet, daß er den Gedanken Marcuses durchaus etwas abgewinnen konnte. In einer Rede an der besetzten Sorbonne am 20. Mai 1968 äußerte er seine leidenschaftliche Zustimmung für Marcuses Analysen. Während Sartre Weltruhm erlangte, verebbte Marcuses publizistische Tätigkeit während seiner Zeit beim Office of Strategic Services (OSS). Lediglich seine Rezension zu Sartres „Das Sein und das Nichts“ erschien zwischen 1948 und 1955. Dann erst meldete er sich mit seinem großen Freud-Buch „Eros and Civilasation“ auf der publizistischen Bühne zurück. Anders Sartre. „Nach dem Scheitern von Socialsme et Liberté hatte er sich doppelt angestrengt. Seine Bilanz? Zwei Romane, ein Philosophiewerk, zwei Theaterstücke, elf literarische Artikel, acht Reportagen, drei politische Reportagen und einen Artikel zum Film, die Briefwechsel, die Notizen, die Tagebucher nicht mitgezählt… Welches Gebiet konnte sich ihm noch entziehen? Sein Größenwahn, der die politische Prüfung nicht bestand, hat sich in einem beispiellosen Schreibhunger niedergeschlagen. Wie bei den Pflanzen, die ungestüm wachsen und 308 Hobsbawm, a.a.O, S. 299 Jay, Martin, a.a.O., S. 320 310 Cohen-Solal, a.a.O., S. 432 311 vgl. Hayman, Ronald: Jean-Paul Sartre, München, 1988, S. 655 309 95 wuchern, sobald man sie stutzt.“312 Neben den diversen schriftstellerischen Aktivitäten gründete Sartre die Zeitung „Les Temps moderne“. Die Liste der Mitarbeiter: Aron, Paulhan, Olivier, Merleau-Ponty und natürlich Sartre und de Beauvoir - des weiteren eine enge Zusammenarbeit mit Camus. Die Mitarbeiterliste der „Les Temps Modernes“ las sich nicht weniger eindrucksvoll als die Liste der Autoren der Zeitschrift für Sozialforschung. Es folgte eine Amerikareise Sartres, die ihm über Camus Zeitung „Combat“ zusammen mit acht weiteren französischen Intellektuellen vermittelt wurde. Die Namen, die Sartre hier kennenlernte, lesen sich wie das who is who der exilierten europäischen Intellegenzia. Zwischen einsamem Subjekt und Engagement: Der Existentialismus wandelt sich. Sartres: Der Existentialismus ist ein Humanismus Am 29. Oktober 1945 hielt Sartre seinen legendären Vortrag „Der Existentialismus ist ein Humanismus“. Die Ankündigungen und die Werbung für die Veranstaltung waren spärlich. Man rechnete nicht einmal damit, die Saalmiete wieder hereinzubekommen313. Doch es kam anders: „Ein beispielloser kultureller Erfolg. Gedränge, Handgemenge, kaputte Stühle, ohnmächtige Frauen. Die Kasse wurde gestürmt, zerstört, auseinandergenommen: Ein Verkauf von Eintrittskarten fand nicht statt. […] Von diesem Tag an und ohne daß irgend jemand damals das Geheimnis dieses Ansturms zu erklären versuchte, wurde Sartre endgültig eine öffentliche Person“314 Doch was machte den Erfolg Sartres aus? Was machte ihn zu einem Vorläufer eines Pop-Star? Zunächst einmal war das Sartresche Werk vielseitig. Wer die streng philosophische Diskussion von „Das Sein und das Nichts“ nicht verstand, der konnte die Theaterstücke sehen oder die Romane lesen. Sein Werk bestand aus verschiedenen Stilmitteln, die für fast jeden Bildungsstand etwas boten. Des weiteren war Paris nach der Zensur intellektuell ausgehungert, und Sartre bediente diesen Hunger nach einem neuen Denken. Er prägte das Konzept der literature engagée, in der bereits vor ihm große französische Autoren standen, wie z.B. Emile Zola. Sein Vortrag indes enthielt wenig Neues für all jene, die „Das Sein und das Nichts“ gelesen hatten: Im gros war es der Versuch einer Kurzzusammenfassung von „Das Sein und das Nichts“. Doch dort wendete Sartre die Begriffe und ein ständiges Abwägen, Widerlegen und Aufheben der Argumente war das philosophische Fundament. „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ kam daher wie eine Lehrsatzsammlung: „Die Existenz geht dem Wesen voraus“, „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“ oder „Es gibt keine menschliche Natur“ waren die Sätze, die sich in die Köpfe der Zuschauer einhämmerten. Doch jedem wurde klar, daß Sartre es mit seiner Philosophie ernst meinte. Die „Das Sein und das Nichts“ angekündigte Moral, sollte praktisch gelebt werden. Zu diesem Zwecke nahm Sartre Vereinfachungen seiner Philosophie in Kauf: „Ist die 312 Cohen-Solal, a.a.O., S. 348 Ebd., S. 391ff 314 Ebd. 313 96 existentialistische tatsächlich vor allem eine Philosophie, die betont: die Existenz geht dem Wesen voraus, dann muß sie gelebt werden, um wirklich aufrichtig zu sein. Als Existentialist leben heißt bereit sein, für diese Lehre zu zahlen, und nicht sie in Büchern durchzusetzen. Wenn Sie wollen, daß diese Philosophie wirklich ein Engagement ist, müssen Sie den Leuten Rechenschaft davon ablegen, die sie auf politischer und moralischer Ebene diskutieren. […] Entweder beläßt man die Lehre auf rein philosophischer Ebene und überläßt es dem Zufall, daß sie etwas bewirkt, oder man akzeptiert – da die Leute etwas anderes von ihr erwarten und da sie ein Engagement sein will -, sie zu popularisieren, unter der Bedingung, daß sie nicht entstellt wird.“315 An dieser Popularisierung sollte Sartre selbst stark mitwirken. Sie ging sogar soweit, daß er – in einem späteren Text den Existentialismus als Ideologie bezeichnete. In weiten Zügen entsprach der Vortrag dem, was Sartre in „Das Sein und das Nichts“ geschrieben hatte. In zwei Punkten jedoch tauchten feine Unterschiede auf: Zum einen in der Beurteilung der Geschichte und zum anderen in der Bezeichnung des Existentialismus als Humanismus. Das Subjekt blieb als freies immer noch Ein- und Ausgangspunkt der Philosophie, doch das, was Sartre „Situation“ nannte, wurde nun härter, mächtiger: „Dieses Absolute der Wahl beseitigt nicht die Relativität einer jeden Epoche. Dem Existentialismus liegt besonders daran, die Verbindung zu zeigen zwischen dem absoluten Charakter des freien Engagements, durch das jeder Mensch sich und damit einen bestimmten Typ von Humanität verwirklicht – eines Engagements, das in jeder Epoche und für jeden verstehbar ist -, und der Relativität des kulturellen Ganzen, das sich aus solcher Wahl ergeben kann; man muß zugleich die Relativität des Cartesianismus und den absoluten Charakter des cartesianischen Engagements festhalten.“316 Anders ausgedrückt: Sartre wollte auf die uneingeschränkte Freiheit des Subjekts nicht verzichten und gleichzeitig die gesellschaftlichen Einschränkungen, von denen der Einzelne betroffen war, aufzeigen. Sein Humanismus hingegen blieb in seinen intersubjektiven Dimensionen317. Der Andere als Spiegel des Eigenen blieb die Grundlage allen Handelns – dies mache, so Sartre, das humanistische Moment aus. Lediglich im Handeln sei der Mensch wirklich. „Ein Mensch engagiert sich in seinem Leben, zeichnet sein Antlitz, und außerhalb dieses Antlitz gibt es nichts. Natürlich kann dieser Gedanke jemandem, dem sein Leben nicht geglückt ist, hart erscheinen. Doch andererseits macht er den Menschen bereit dafür zu verstehen, daß allein die Wirklichkeit zählt, daß die Träume, Erwartungen, Hoffnungen einen Menschen nur als enttäuschten Traum, als fehlgeschlagene Hoffnungen einen Menschen nur als enttäuschten Traum, als fehlgeschlagene Hoffnungen, als unerfüllte Erwartungen zu definieren erlauben; das heißt, er definiert sie negativ und nicht positiv.“318 Die starke Moralität, die Sartre geltend machte und an der er auch theoretisch arbeitete319, war ein zweischneidiges Schwert. Die Philosophie, in deren Mitte sie sich befand, sollte anthropologisch ausgerichtet sein: „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“ meinte, daß die Menschen Ihre Geschichte selber und aus freien Stücken machen. Doch damit konnten zwei Weltkriege nicht erklärt werden. Die List der 315 Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, a.a.O. S. 143 Ebd., S. 134f 317 vgl. Ebd., S. 133 318 Ebd., S. 131 319 Sein unvollendetes Werk „Cahier pour une moral“ (dtsch. Überlegungen zu einer Moral [Veröffentlichung in Vorbereitung]) wurde erst posthum veröffentlich. 316 97 Vernunft bestand wenigstens in der Existenz unvernünftiger Kriege. Die „Relativität des kulturellen Ganzen“ stand in direktem Gegensatz zur Freiheit. Vor allem anderen war der starke Appell der Verantwortung gegenüber dem eigenen Handeln, des ständig neuen Erfinden des Einzelnen, der seinen Entwurf damit auf die gesamte Menschheit transzendierte, ein Ruf nach einer anderen, besseren gesellschaftlichen Ordnung. Sie nicht zu verwirklichen, fiel in den Verantwortungsbereich des Menschen, da kein Gott und keine Natur die Handlungen der Menschen entschuldigten. Die Problematik des abstrakten, anthropologischen Menschen ging in vielen Momenten an der historischen Wirklichkeit vorbei. Sicherlich war der Mensch ein Mensch, doch die Diskriminierungen des kulturellen Ganzen trennten die Menschen mindestens genauso, wie es die Möglichkeit auf Verbindung gab. Die Menschen als Jude, als Arbeiter, als Mann und Frau, als Schwarzer, usw. waren – und sind es noch – durch ihre definitorischen Konzepte darauf festgelegt, in kulturellen Rollen und Zwängen zu agieren. Der Ausruf, daß der Mensch frei sei, war also weniger an der tatsächlichen, denn an der möglichen Freiheit des Menschen ausgerichtet. In späteren Werken sollte Sartre schreiben: „Der Mensch ist noch nicht.“ Mit dieser Definition wurde dann deutlicher, was Sartres Intention war: Sein Handeln so einzurichten, daß die Freiheit des Einzelnen die Freiheit Aller zum Maßstab habe: „Gewiß hängt die Freiheit als Definition des Menschen nicht von wem anders ab, aber sobald ein Engagement vorliegt, bin ich gezwungen, gleichzeitig mit meiner Freiheit die der anderen zu wollen, ich kann meine Freiheit nur zum Ziel machen, indem ich die der anderen zum Ziel mache.“320 Den Argumenten, seiner Gegner, daß der Existentialismus im Verzicht auf Gott und Natur zu einer Theorie der Angst und der Einsamkeit werde, hielt Sartre entgegen: „In Wirklichkeit gibt es für den Existentialisten keine andere Liebe als jene, die gelebt wird, es existiert keine andere Möglichkeit der Liebe als die, die sich in einer Liebe ausdrückt.“321 Handeln und Denken habe sich an dieser Welt auszurichten und in ihr Glück zu finden: „der Mensch muß sich selbst wiederfinden und sich davon überzeugen, daß nichts ihn vor sich selbst retten kann.“322 Vorbereitung des 3. Weges Sartres: Materialismus und Revolution Ein Fußnote wurde 1949 dem Aufsatz „Materialismus und Revolution“ hinzugefügt, in der stand: „Da man mir böswilligerweise vorgeworfen hat, Marx in diesem Aufsatz nicht zu zitieren, betone ich, daß sich meine Kritik nicht gegen ihn, sondern gegen die marxsche Scholastik von 1949 richtet. Oder anders gesagt, gegen Marx, wie er vom stalinistischen Neomarxismus dargestellt wird.“323 Das von Sartre diskutierte Problem war das Spannungsfeld zwischen Materialismus und Idealismus. Dem orthodoxen Marxismus zufolge, so Sartre, sei die Welt des Denkens und des Bewußtseins durch die materiellen Umstände so stark geprägt, daß vom tätigen, denkenden Subjekt nichts mehr übrig bleibe. Dieser, zur Legitimationswissenschaft verkommene Marxismus, sei ein 320 Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, a.a.O., S. 138 Ebd., S. 130 322 Ebd., S. 142 323 Sartre, Jean-Paul: Materialismus und Revolution, in: Gesammelte Werke I, Philosophische Schriften, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 156 321 98 Materialismus, der in Wahrheit eine „hinter einem Positivismus versteckte Metaphysik“324 sei. Dem offiziellen Materialismus ginge es darum das Subjekt und die Subjektivität auszulöschen: „Indem der Materialist seine Subjektivität verneint, denkt er, sie zum verschwinden gebracht zu haben. Aber die List ist leicht zu durchschauen: um die Subjektivität zu beseitigen, erklärt sich der Materialist zum Objekt, das heißt zum Gegenstand der Wissenschaft. Nachdem er aber die Subjektivität zugunsten des Objekts beseitigt hat, macht er sich – statt sich als Ding unter Dingen zu sehen, hin- und hergeworfen von der Brandung des physischen Alls – zum objektiven Blick und behauptet die Natur so zu betrachten, wie sie absolut ist.“325 Es verwundert nicht, daß der Existentialist Sartre mit dem offiziellen Materialismus der verschiedenen KPs wenig anfangen konnte, hatte doch das Subjekt in seiner Philosophie eine so herausragende Stellung inne, daß bei aller Radikalität – die er mit den französischen Kommunisten teilte – die Verkündung der Herrschaft des Objekts von ihm nicht so einfach hingenommen werden konnte. Für Sartre, den Philosophen des Subjekts, den Kantianer war die Behauptung, daß das Subjekt kaum von Bedeutung sei und die Materie Herr über den Geist sein solle, unannehmbar. So war es auch nicht verwunderlich, daß Sartre mit dem Proletariat als Träger der Wahrheit wenig anzufangen wußte: Der Mensch als abstraktes Wesen war der Akteur der Befreiung, welcher auf den Plan treten sollte. Der revolutionäre Humanismus, so Sartre, sei nicht die Philosophie einer unterdrückten Klasse, sondern sei allen, die ein Interesse daran hätten zugänglich. Am Moment des Hegelschen Vernunftbegriffes begann er seine Kritik. Hegel erklärte, daß alles was wirklich sei, vernünftig sei und alles was vernünftig sei, sei wirklich. Dieses Hegelsche Wort, das auch gegen das göttliche Prinzip gerichtet war, benutze der offizielle Parteimarxismus um damit die sowjetische Praxis zu legitimieren. Damit war der Vernunft das Eigene, das Subjektive genommen: „Woher wissen wir also, daß das Wirkliche vernünftig ist, da wir es nicht geschaffen haben und nur von Stunde zu Stunde einen unendlich kleinen Teil davon widerspiegeln? […] Wie kann eine gefangene, von außen regierte, von Ketten blinder Ursachen gesteuerte Vernunft noch einen Vernunft sein?“326 Kurz: Wer sollte bewerten, was vernünftig sei oder nicht, wenn es kein Subjekt dazu gab? Vor allem warf Sartre dem Materialismus vor, explikative Metaphysik zu sein. Darunter verstand er eine besondere Art des Positivismus, der darin bestehe, die Momente des Subjekts über Naturalisierungen zu erklären: das Psychische erkläre er durch das Biologische, das Biologische durch das Physikalisch-Chemische, wodurch er nur noch das Bestehende selbst zu erklären suche Der Materialismus, so Sartre, habe religiöse Formen angenommen: „Ich habe Bekehrungen zum Materialismus erlebt: man tritt zu ihm wie zu einer Religion; ich würde ihn als die Subjektivität jener definieren, die sich ihrer Subjektivität schämen.“327 Die Geschichte als Endziel trete an die Stelle Gottes und mit dem großen Kampf um ihr Endziel, werde das Subjektive getilgt. Doch neben dieser Kritik am religiösen Element des Materialismus, lieferte er auch eine Kritik – der Frankfurter Schule nicht ganz unähnlich – an der Entfremdung. Der Materialismus, so Sartre, übernehme die Momente der entfremdeten Arbeit 324 Ebd., S. 159 Ebd., S. 160 326 Ebd. S. 160f 327 Ebd., S. 174 325 99 zum Zwecke deren Verewigung. Er biete dem Arbeiter an, dieselbe Arbeit, nur ohne materielle Unterdrückung, in gleichem Maße weiterzuführen. Der Materialismus biete dem Arbeiter also lediglich eine weiter „entfremdete Freiheit“ an – also keine wirkliche Alternative. Spurk merkte dazu an: „In der Arbeit gewinnt der Unterdrückte eine richtige Vorstellung seiner Freiheit, die sich in seiner Situation manifestiert. Er gewinnt in der ‘Tiefe seiner Sklaverei‘ (Sartre) und in der Aktion das Bewußtsein seiner Freiheit, daß er diesen Zustand durch ein Projekt überwinden kann. Der Materialismus ist hierfür eine untaugliche Theorie. Der Sozialismus ist die Herrschaft der Freiheit, die der Materialismus nie erreichen kann. Sartre kommt immer wieder auf die Unfähigkeit des Materialismus zurück, eine revolutionäre Theorie zu sein. Seine Forderung die neue revolutionäre Theorie zu sein, ist explizit. Der Sozialismus ist die Affirmation der Freiheit, das Projekt der Menschheit, und deshalb wird er nur das sein, was die Menschen daraus machen.“328 Kurz: Sartre wandte sich gegen die Verherrlichung der Arbeit. Worin unterschied sich der real existierende Sozialismus von seinem Gegner im Westen, wenn der reale Alltag eines Arbeiters keinen Unterschied machte - es faktisch egal war für welches Regime er arbeitete? Das Revolutionäre am Materialismus fehle, nämlich als tätige, denkende Überschreitung der gegenwärtigen Verhältnisse aktiv zu werden. Dieses idealistische Moment der Utopie mache die Theorie zur revolutionären. Dagegen predige der Materialismus die Kritiklosigkeit: „Doch es geht darum für alle auf das Recht der freien Kritik, auf die Evidenz, schließlich auf die Wahrheit zu verzichten. Man sagt mir: all das wird uns später zurückgegeben; dafür fehlt jedoch der Beweis. Wie könnte ich einem Versprechen glauben, das mir im Namen von Prinzipien gegeben wird, die sich selbst zerstören? Ich weiß also nur eins: heute noch soll mein Denken abdanken.“329 Der tatsächliche Revolutionär zeichne sich durch anderes aus, nämlich durch die Überschreitung seiner Situation. Er überschreite sich, so Sartre, auf eine „radikal neue Situation hin“330, die er als „Totalität zur Existenz“ bringe. Anders ausgedrückt: Der echte Revolutionär sei in der Lage über die gegenwärtige Entfremdung hinauszugehen und in seinen Taten dieses Bewußtsein umzusetzen. Nicht die Verherrlichung und Verewigung der Arbeit sei sein Ziel, sondern vielmehr die Überschreitung des historischen Zustandes hin zu einer lebenswerteren Gesellschaft.: „So entzieht er sich von Anfang an – durch diesen Entwurf seiner selbst auf die Zukunft hin – der Gesellschaft, die ihn erdrückt, und wendet sich ihr zugleich zu, um sie zu verstehen: er sieht eine menschliche Geschichte, die eins ist mit dem Schicksal des Menschen, und deren von ihm angestrebte Veränderung wenn nicht das Ziel, so doch eine wesentliche Etappe dahin ist.“331 Unerträglich sei, so Sartre, die Reduktion des Arbeiters auf eine Sache: „Strenger als der Herr im Altertum geht der Unternehmer soweit, die Handgriffe und das Verhalten des Arbeiters im voraus festzulegen. Er zerlegt die Handlung des Arbeiters in Elemente, nimmt ihm bestimmte weg, um sie von anderen Arbeitern ausführen zu lassen, reduziert die bewußte und synthetische Aktivität des Arbeiters darauf, nur noch die Summe unendlich wiederholter Handgriffe zu sein. Auf diese 328 Spurk, Jan: Bastarde und Verräter, Jean-Paul Sartre und die französischen Intellektuellen, Bodenheim, 1998, S. 399 329 Sartre, Jean-Paul: Materialismus und Revolution, a.a.O., S. 181 330 Ebd., 185 331 Ebd., S. 185 100 Weise setzt er den Arbeiter auf den Zustand einer bloßen Sache herab, indem er seine Verhaltensweisen und Eigenschaften gleichsetzt.“332 Doch sogar in der Entfremdung steckten für Sartre konkret befreiende Momente, „weil sie zuerst Negation der kontingenten und launenhaften Ordnung ist, die die Ordnung des Herren ist. Bei der Arbeit muß sich der Unterdrückte nicht mehr bemühen, dem Herren zu gefallen, er entzieht sich der Welt der Tänzchen, der Höflichkeit, der Zeremonie, der Psychologie; er braucht nicht mehr zu erraten, was hinter den Augen des Chefs vorgeht, er ist nicht mehr seinen Launen ausgeliefert [...] Anders gesagt: der Determinismus der Materie ist es, der ihm das erste Bild seiner Freiheit bietet.“333 Die Wandlung im Sartreschen Werk nahm ihren Lauf: Zwar blieb der Einzelne zur Freiheit verurteilt, doch neben dem Freiheitsbegriff auf der Ebene des Subjekts kam ein, wenn auch nicht ausformulierter Begriff der politischen Unfreiheit hinzu. In Sartres Worten ausgedrückt: Die Freiheiten selbst sei entfremdet334. Und auch seine stete Forderung nach dem geschichtlichen Moment bekam konkrete Züge. Über den ersten Weltkrieg schrieb er: „Der Erste Weltkrieg ist nicht, wie Chevalier sagte, »Descartes gegen Kant«, es ist der unsühnbare Tod von zwölf Millionen junger Männer.“335 Sartre begann sich mit der wirklich konkreten Geschichte auseinanderzusetzen. Seine Philosophie und seine politischen Texte wiesen allerdings noch ein Mißverhältnis auf. Während der Sartre der politischen Texte immer mehr auf den Marxismus zusteuerte, blieb der philosophische Sartre dem starken Subjekt treu. Besonders in der Zeit, da „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ und „Materialismus und Revolution“ geschrieben wurden, hinkte der philosophische dem politischen Text hinterher. Deutlich war in jedem Falle: Sartre befand sich im Übergang. Mit seinem „Ja“ zur Philosophie von Marx und seinem „Nein“ zum Materialismus der Stalinisten betrat er den 3. Weg zwischen autoritärem Staatssozialismus und real existierender bürgerlicher Demokratie. Entgegen und gemäß Marx 11. Feuerbachthese, die besagte, daß die Philosophen die Welt nur interpretiert haben, es aber darauf ankomme sie zu verändern, schrieb Sartre: „Indem man die Welt verändert, kann man sie erkennen. [...] Es kann jedoch mancherlei Barbarei und mancherlei Sozialismus geben, vielleicht sogar einen barbarischen Sozialismus.“336 Veränderung und Erkenntnis stellten sich demnach in einem, sich gegenseitig bedingenden Prozeß dar. Sein Credo, daß nur die Tat zu beurteilen sei, wandte er auf die kommunistische Partei Frankreichs an. Ihr bescheinigte er zwar das richtige zu tun, doch mit einer falschen Theorie. Die Gefahr, daß „der Materialismus den revolutionären Entwurf erstickt“337 sei groß, wenn die Kommunisten nicht umdenken würden. Mit dieser Einschätzung sollte er recht behalten. 332 Ebd., S. 197 Ebd., S. 198 334 Ebd., S. 200 335 Ebd., S. 205 336 Ebd., S. 212 337 Ebd., S. 215 333 101 Gesellschaftlicher Zwang und freie Wahl: Portrait des Antisemitismus Sartres: Überlegungen zur Judenfrage „Kein Franzose wird frei sein, solange die Juden nicht im Besitz ihrer vollen Rechte sind. Kein Franzose wird in Sicherheit sein, solange noch ein Jude in Frankreich und in der ganzen Welt um sein Leben fürchten muß.“338 Mit diesen eindringlichen Worten ließ Sartre seinen Essay „Überlegungen zur Judenfrage“ enden. In ihm analysierte Sartre das erste Mal ein tatsächliches, historisches Phänomen. Die Wende im sartreschen Denken setzte sich fort: Das Engagement und die Analyse wurden konkret. Ähnlich wie Marcuse, trat nun auch Sartre in den Kampf gegen die wirkliche Unterdrückung mit den Waffen des Intellektuellen ein. Mit den „Überlegungen zur Judenfrage“ gelang Sartre einer seiner stärksten Texte. Vincent von Wroblewsky wies darauf hin, daß Sartres Text eine Verwandtschaft „– bis in Wort und Bild –“ mit Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ erkennen ließ339. Kein Subjekt war frei, solange ein Jude um sein Leben fürchten müsse. Wie war ein solcher Freiheitsbegriff mit dem individualistischen aus „Das Sein und das Nichts“ vereinbar? Es waren andere Töne zu hören als: Jeder Mensch hat frei zu wählen. Um einen Begriff von politischer Freiheit benutzen und trotzdem an der freien Wahl des einzelnen festhalten zu können, stärkte Sartre den Begriff der Situation erneut: „Da er [der Jude, S.O.C.] wie jeder Mensch, eine Freiheit in Situation ist, muß man seine Situation von Grund auf verändern: es genügt in der Tat, die Perspektiven der Wahl zu ändern, damit die Wahl sich verändert; nicht, daß man dann Zugang zur Freiheit fände; aber die Freiheit entscheidet dann auf anderer Grundlage, hinsichtlich anderer Strukturen.“340 Sartres Konzeption vom freien, ungebundenen, die Welt hervorbringenden Subjekt wandelte sich nun dahingehend, daß er den „stummen Zwang der Verhältnisse“ (Marx) anerkannte und ihn als für die Wahl des Subjekts verantwortlich zeichnete. Besonders in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sah er – ähnlich wie die Frankfurter Schule – die Wurzeln des Antisemitismus: „Deshalb wird in einer klassenlosen auf das kollektive Eigentum an den Arbeitswerkzeugen begründeten Gesellschaft, in der der Mensch, befreit von den Wahnvorstellungen der Vorzeit, sich endlich in seine Unternehmen stürzen wird, die darin besteht, das Reich des Menschen anbrechen zu lassen, der Antisemitismus keinerlei Daseinsgrund mehr besitzen: man wird seine Wurzeln gekappt haben.“341 Doch Sartres Position konnte keinesfalls als eine verstanden werden, die den Antisemitismus zum blanken Nebenwiderspruch der Produktionsordnung degradierte. Es sei, so Sartre, „eine faule Lösung der künftigen Revolution die Klärung der Judenfrage zu überlassen.“342 Statt dessen nahm Sartre die Position Richard Wrights ein, der über die USA sagte: „Es gibt kein schwarzes Problem in den Vereinigten Staaten, es gibt nur ein weißes Problem.“ Folgerichtig begrüßte 338 Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 91 Von Wroblewsky, Vincent: Sartres jüdisches Engagement – die Vorgeschichte, in: Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 267 340 Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 89 341 Ebd., S. 89 342 Ebd. 339 102 Sartre auch die Gründung des Staates Israel mit folgenden Worten: „Für die Juden ist es die Krönung ihrer Leiden und ihres heroischen Kampfes; für uns bezeichnet es einen konkreten Fortschritt hin zu einer Menschheit, in der der Mensch die Zukunft des Menschen sein wird.“343 Doch wie verband Sartre das selbständig entscheidende Subjekt mit den objektiven Zwängen, die die Juden durch den Antisemitismus erleiden mußten? Keinesfalls war Sartre völlig umgeschwenkt. Den objektiven Verhältnisse einen Stellenwert einzuräumen, die das Subjekt präformierten - wie bei Marcuse -, davon war Sartre weit entfernt. Trotzdem bekamen sie einen deutlich schwerwiegenderen Teil zugesprochen als in all seinen vorherigen Werken. So lag es nah die Subjekte zu beleuchten, die als Protagonisten auf den Plan traten: Den Antisemiten und den Juden. Er begann mit einem Phantombild des Antisemiten. Dieser war für Sartre ein Mensch der Leidenschaft, der einem Manichäismus folgte. Mit der Entscheidung für den Manichäismus sei für den Antisemiten kein Ausgleich denkbar. Das Böse müsse um den Preis des Guten vernichtet werden. Die Aufgabe des sich durch den Manichäismus zum Antisemitismus Entscheidenden bestehe darin, daß es nicht darum gehe „eine Gesellschaft aufzubauen, sondern nur darum die bestehende zu reinigen. [...] So wird der Kampf auf religiöser Ebene geführt, und sein Ende kann nur die heilige Vernichtung sein.“344 Der Antisemit sei ein Positivist in dem Sinne, daß er das Böse entfernen wolle, weil es das Gute für schon gegeben hielte. Dies mache ihn zum „Sicherheitsventil für die herrschende Klasse [...], die ihn fördern und somit den ihr Regime gefährdenden Haß durch einen für sie harmlosen Haß gegen den einzelnen ersetzen.“345 Die tiefen Beweggründe des Einzelnen für den Antisemitismus erklärte Sartre psychologisch: „Eine Komponente des Hasses ist ein tiefer und sexueller Hang zu den Juden.“346 Dies war insofern erstaunlich, da Sartre sich hier auf Freudsches Terrain wagte347. Für Sartre bestand diese sado-masochistische Komponente des Antisemitismus als bewußte – im Gegensatz zur Freudschen Psychoanalyse. Doch fällt es schwer dies als allseits bewußte Momente zu deuten, besonders wenn Sartre darauf insistierte, das auch in der Literatur, das von ihm beobachtete Phänomen sein Pendant fände: „Von Rebekka aus Ivenhoe bis zur Jüdin von Giles über die Jüdinnen von Ponson du Terrail haben die Jüdinnen in den seriösesten Romanen eine wohl definierte Funktion: häufig vergewaltigt und geschlagen, gelingt es ihnen mitunter, durch den Tod der Schande zu entgehen, aber nur mit knapper Not; und die ihre Tugend bewahren, dienen untertänig oder lieben gedemütigt gleichgültige Christen, die sich mit Arierinnen vermählen. Mehr braucht es nicht, meine ich, um den sexuellen Symbolwert der Jüdin in der Folklore zu charakterisieren.“348 343 Sartre, Jean-Paul: Geburt Israels, in: Sartre, Jean-Paul: Krieg im Frieden I, Reinbek bei Hamburg, 1982, S. 19 344 Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 29 345 Ebd., S. 30 346 Ebd., S. 31 347 Im selben Jahr der Veröffentlichung der „Überlegungen zur Judenfrage hielt Sartre vor der Sociéte Française de Philosophie einen Vortrag (Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, in: Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I) in dem er nochmals seine Position vom fehlenden Unterbewußten gegen Freud bekräftigte. 348 Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 33 103 Erstaunlich war die methodische Ähnlichkeit zwischen Sartre und Marcuse – bei Beiden spielte die Analyse der Literatur bzw. der Kunst eine herausragende Rolle. Doch scheinbar spürte auch Sartre, daß seine Psychologie nicht ohne das Moment der Verdrängung auskam. Über den Antisemiten schrieb er abschließend: „Er ist ein Mensch der Angst hat. Nicht vor den Juden, gewiß: vor sich selbst, vor seinem Bewußtsein, vor seiner Freiheit, vor seinen Trieben, vor seiner Verantwortung, vor der Einsamkeit, vor der Veränderung, vor der Gesellschaft und der Welt; vor allem außer den Juden. Er ist ein Feigling, der sich seine Feigheit nicht eingestehen will; ein Mörder, der seine Mordlust verdrängt und zensiert, ohne sie zügeln zu können, und der trotzdem nur in effigie oder in der Anonymität einer Menge zu töten wagt; ein Unzufriedener, der sich nicht aufzulehnen wagt aus Angst vor den Folgen seiner Auflehnung. Indem er sich zum Antisemitismus bekennt, übernimmt er nicht einfach eine Meinung, sondern wählt sich als Person.“349 Verdrängung, Angst und freie Wahl vermischten sich bei Sartre immer mehr, doch erst in seinen explizit psychologischen Studien über Baudelaire und Jean Genet sollte er seine psychologische Technik verfeinern. Vorerst wählte er eine Methode mit der er das gesellschaftliche Ganze aufzeigte, um danach auf die Wahl des Subjekts in der historischen Situation einzugehen. Nachdem Sartre die Situation des Antisemiten analysiert hatte, betrachtete er nun die des Juden. Da im Sartreschen Werk die Natur zwar existierte, aber keine Rolle spielte, mußte er das Phänomen erklären, daß es einen Antisemitismus gab, aber eben keinen Juden an-sich. Sartre schrieb: „Wenn ich wissen will, wer der Jude ist, muß ich, da er ein Wesen in Situation ist, zunächst seine Situation über ihn befragen. [...] Ich leugne nicht, daß es eine jüdische Rasse gibt. Doch wenn wir unter Rasse diesen undefinierbaren Komplex verstehen, in den man kunterbunt somatische Merkmale und intellektuelle Merkmale hineinpackt, glaube ich daran nicht mehr als an das Tischrücken.“350 Ein Jude konnte also in der Sartreschen Konzeption gar nichts anderes darstellen als eine soziale Konstruktion: „In Wahrheit hat jedes Land seine Juden, und unsere Vorstellung von Juden entspricht nicht der unserer Nachbarn.“351 Wenn also so etwas wie eine jüdische Substanz bestehe, dann in der Ablehnung des Juden. Sartre konstatierte: „Weder ihre Vergangenheit noch ihre Religion, noch ihr Boden vereinen die Söhne Israels. Wenn sie ein gemeinsames Band haben, wenn sie alle den Namen verdienen, so weil sie eine gemeinsame Situation als Juden haben, das heißt in einer Gesellschaft leben, die sie für Juden hält.“352 Sartre bot als Beleg dieser These die Schaffung des Juden durch die mittelalterliche Kirche, wo Juden eine ökonomische Funktion ersten Ranges belegten: „Verflucht, übten sie einen verfluchten, aber unentbehrlichen Beruf aus; da sie weder Boden besitzen noch in der Armee dienen durften, erledigten sie die Geldgeschäfte, mit denen Christen sich nicht beschmutzen durften. Auf diese Weise kam zum ursprünglichen Fluch bald ein ökonomischer Fluch hinzu, und dieser wirkte fort. [...] So ist es auch nicht übertrieben zu sagen, daß die Christen den Juden erschaffen haben, indem sie seine Assimilation jäh unterbrachen und ihm eine 349 Ebd., S. 35 Ebd., S. 39 351 Ebd. 352 Ebd., S. 43 350 104 Funktion aufzwangen, in der er sich seitdem hervorgetan hat.“353 Der Jude als soziale Konstruktion wurde durch den Anderen erschaffen. Hier zeigte sich die Kontinuität zu Sartres Begriff des Anderen aus „Das Sein und das Nichts“, mit der Veränderung, daß der Andere nun nicht mehr ein Subjekt darstellte, sondern auf der Objekt-Ebene von Gesellschaft funktionierte. Nachdem Sartre festgestellt hatte, daß der Antisemit den Juden machte, verwies er auf den „lausigen Umgang“ der Franzosen mit dem Antisemitismus nach der Befreiung vom Nazi-Regime: „Ganz Frankreich jubelt, auf den Straßen verbrüdert man sich, die sozialen Kämpfe scheinen vorläufig vergessen; die Zeitungen widmen ganze Spalten den Kriegsgefangenen, den Deportierten. Erwähnt man die Juden? Feiert man die Rückkehr der Überlebenden, gedenkt man einen Augenblick derer, die in den Gaskammern von Lublin starben? Kein Wort. Keine Zeile in den Tageszeitungen. Denn man darf die Antisemiten nicht reizen. Mehr denn je braucht man in Frankreich die Einheit.“354 Diese „mythische Homogenität“ (Claussen) sollte auch zum Gründungskonsenz des neuen Deutschlands werden und die „Adenauerzeit“ prägen. Sartre rechnete mit dem „demokratischen Frankreich“ ab. „Ein lethargisch gewordenes Frankreich bekam eine innere, lang gereifte Wahrheit, eine Sartresche Evidenz ins Gesicht geschleudert“355, so Cohen-Solal. Der Demokrat, der den Juden verteidige, so Sartre, befürchte „es könne beim Juden ein «jüdisches Bewußtsein» erwachen, das heißt ein Bewußtsein jüdischer Kollektivität, wie er beim Arbeiter das Erwachen des «Klassenbewußtseins» fürchtet. Seine Verteidigung besteht darin, die Individuen davon zu überzeugen, daß sie in isoliertem Zustand existieren. «Es gibt keine Juden», sagt er, «es gibt keine Judenfrage»“356 Sartre konstatierte auch dem liberalsten Demokraten einen Antisemitismus, sobald es dem Juden einfalle sich als Juden zu denken. Der Jude stehe in der Situation, so Sartre, daß er „leidenschaftliche Feinde und leidenschaftslose Verteidiger“ habe. So stellte die Naziverordnung, mit der Juden gezwungen wurden, einen gelben Stern zu tragen, für Sartre auch nichts anderes als eine bereits gegebene Situation dar – nur auf die Spitze getrieben. Sartre verglich die Situation der Juden mit der des Helden in Kafkas Prozeß. „[...] wie der Held des Romans ist der Jude in einen langen Prozeß verwickelt, er kennt seine Richter nicht, seine Anwälte kaum besser, er weiß nicht, was man ihm vorwirft, und dennoch weiß er, daß man ihn für schuldig hält; das Urteil wird ständig um acht Tage, um vierzehn Tage verschoben, er nutzt das, um sich auf tausenderlei Weise zu schützen; doch jede seiner blind getroffenen Vorsichtsmaßnahmen zieht ihn ein wenig tiefer in die Schuld hinein; seine äußere Situation mag glänzend scheinen, doch dieser endlose Prozeß höhlt ihn unsichtbar aus, und es geschieht manchmal wie im Roman, daß ihn Männer unter dem Vorwand, er hätte seinen Prozeß verloren, packen, mitschleppen und ihn auf freiem Feld außerhalb der Stadt umbringen.“357 Dies war also die Situation des Juden. Wo blieb da noch das Moment des Subjektiven, der „freien“ Wahl? Doch Sartre wäre nicht Sartre, wenn er nicht auch darauf hätte antworten können. Die Wahl des Juden, so Sartre, bestehe darin zu wählen, ob er ein „authentischer Jude“ oder ein „unauthentischer Jude“ sei. Doch 353 Ebd., S. 43f Ebd., S. 45 355 Cohen-Solal, Annie: Sartre, a.a.O., S. 448 356 Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 37 357 Ebd., S. 55 354 105 sehr groß war das Spektrum der Wahl nicht. Ein unauthentischer Jude sei, so Sartre, jemand der „von anderen Menschen für einen Juden gehalten wird, und der gewählt hat, vor dieser unerträglichen Situation zu fliehen.“358 Wie Sartre selbst schrieb: Die Situation war unerträglich. Die gesellschaftlichen Zwänge aufs Subjekt hatten in dieser Konstellation einen Grad erreicht, der auch für den Philosophen der Freiheit des Subjekts nicht mehr auszuhalten war. Dieser gesellschaftliche Zwang, sei dafür verantwortlich, daß „viele unauthentische Juden spielten, sie seien gar keine Juden.“359 Doch auch diese Wahl sei durch die sie umgebende Gesellschaft zum Leid verurteilt. Mehr noch: Durch die Wahl NichtJude zu sein, existiere sogar ein Antisemitismus des unauthentischen Juden, der darin bestehe, alles, was andere als jüdisch ansehen könnten, abzulegen. „Der Antisemitismus des unauthentischen Juden und sein Masochismus stellen gewissermaßen die beiden Extreme seiner Bemühungen dar: in der ersten Haltung geht er soweit, seine Rasse zu verleugnen, um rein individuell, nur noch ein Mensch ohne Makel inmitten von anderen Menschen zu sein; in der zweiten verleugnet er seine Freiheit als Mensch, um der Sünde zu entkommen, Jude zu sein, und um die Ruhe und Passivität des Dinges zu erlangen.“360 Durch den Aufbau eines unmenschlichen Antisemitismus, der den Anderen zum Juden mache, sei der Nationalsozialismus nicht nur ein deutsches Phänomen: „[...] das von den Nazis vergossene Blut fällt zurück auf das Haupt eines jeden von uns.“361 Was der authentische Jude sei, so Sartre, sei nicht zu sagen: „er ist, wozu er sich macht, mehr ist nicht zu sagen.“362 Doch sei auch die Wahl zum authentischen Juden, so Sartre, keine Lösung – weder individuell noch gesellschaftlich. Die einzige Lösung bestehe darin, den Antisemitismus abzuschaffen. Als praktische, reale Politik sprach Sartre sich für einen konkreten Liberalismus aus, der zuallererst von einer Rechtsgleichheit ausgehe. „Was wir hier vorschlagen, ist konkreter Liberalismus. Darunter verstehen wir, daß alle, die durch ihre Arbeit zur Größe eines Landes beitragen, volle Bürgerrechte in diesem Land genießen.“ Doch dieses Mittel sei, so Sartre, begrenzt: „Machen wir uns jedoch keine Illusionen über die Wirksamkeit dieser Maßnahmen: Gesetze haben den Antisemiten nie gestört und werden ihn nie stören, weil er das Bewußtsein hat, einer mythischen Gesellschaft außerhalb der Legalität anzugehören.“363 Die gesellschaftlichen Bedingungen selbst, aus denen der Antisemitismus entstehe, müßten beseitigt werden. Dabei betonte Sartre, daß der Antisemitismus ein Element des Klassenkampfes sei: „Wir stellen fest, der Antisemitismus ist eine leidenschaftliche Anstrengung, die nationale Einheit gegen die Spaltung der Gesellschaft in Klassen zu verwirklichen. Man versucht die Fragmentierung der Gemeinschaft in feindliche Gruppen zu beseitigen, indem man die gemeinsamen Leidenschaften derart erhitzt, daß sie die Schranken zum Schmelzen bringen. Und da die Spaltungen fortbestehen, weil ihr ökonomischen und sozialen Ursachen nicht angetastet wurden, versucht man sie alle in eine einzige zu bündeln: die Unterscheidungen zwischen Reichen und Armen, zwischen arbeitenden und besitzenden Klassen, zwischen legalen und okkulten Mächten, zwischen Stadt und 358 Ebd., S. 57 Ebd., S. 59 360 Ebd., S. 67 361 Ebd., S. 82 362 Ebd., S. 83 363 Ebd., S. 88 359 106 Land usw. faßt man alle zusammen als Juden und Nichtjuden.“364 Kurz: Sartre sah im Antisemitismus ein Ventil des Klassenkampfes von oben. Durch die Beseitigung der gesellschaftlichen Grundlagen des Antisemitismus, der Gesellschaft der Klassen, gebe es kein Fundament mehr, auf dem der Antisemitismus bauen könnte. Mit dieser Erkenntnis verknüpfte Sartre den Kampf gegen den Antisemitismus als Kampf für das Subjekt selbst, daß „wir für den Juden kämpfen müssen, nicht mehr und nicht weniger als für uns selbst.“365 Nicht zuletzt zeigte die historische Erfahrung, daß die Nationalsozialisten neben dem Holocausts auch eine Millionen Kommunisten, Sozialdemokraten, Anarchisten und Psychoanalytiker ermordeten. Deshalb konnte Sartre zu Recht schreiben, keiner sei frei, solange noch ein Jude in der ganzen Welt um sein Leben fürchten müsse. Die „Überlegungen zur Judenfrage“ entstanden in einem langen Prozeß. Acht Jahre brauchte er, bis die ersten Entwürfe in den endgültigen Text mündeten. Mit diesem verließ Sartre das Terrain des Philosophen der reinen, ungebundenen, freien Wahl. Die Originalität der Sartreschen Texte sollte von nun an darin bestehen, daß er sorgfältige gesellschaftliche Analysen mit der Analyse der Subjektivität verband. Wie entschieden sich Subjekte unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen? Die Frage, ob sie in anderen Gesellschaften anders entschieden, war mit Ja beantwortet. Darauf schloß sich eine neue Frage an: Wie seien Gesellschaften einzurichten, um die Subjekte zu anderen Entscheidungen zu bringen? Sartres Philosophie sollte von nun an eine Dialektik von Subjekt und Objekt in konkretem Sinne von Individuum und Gesellschaft in sich aufnahmen. Die Unterscheide zwischen Sartre und Marcuse sollten dadurch geringer werden, doch in einem Punkt blieben sie immer von einander entfernt: hinsichtlich der Psychoanalyse. Exemplierte existentialistische Psychoanalyse Sartres: Baudelaire Bereits in „Das Sein und das Nichts“ entwickelte Sartre die Grundzüge seiner eigene Variante der Psychoanalyse. Angelegt an Husserl nannte Sartre seine Spielart „existentialistische Psychoanalyse“. Mit der an Sartre gerichteten Bitte ein Vorwort zu den „ecrits intimes“ von Baudelaire zu schreiben, war es 1947 für ihn möglich seine existentialistische Psychoanalyse anhand einer Biographie anzuwenden. Zwar hatte er in „Das Sein und das Nichts“ angekündigt über Flaubert und Dostojewski schreiben zu wollen, doch Baudelaire schien dafür ebenso geeignet. Es sollte die erste von vielen Biographien werden. „Aber die Konkretion verlangt, in verschiedener Hinsicht über ‚Das Sein und das Nichts‘ hinauszugehen. Etwa wenn es darum geht, das Ich, die Person, das Individuum, das Subjekt – Begriffe, die bei Sartre zum Teil durcheinanderlaufen – näher zu bestimmen.“366 So urteilte Van Rossum über Sartres Baudelaire. Angemerkt sei, daß all diese Begriffe auch bei Sartre immer Verhältnisbegriffe 364 Ebd., S. 88f Ebd., S. 90 366 Van Rossum: Sich verschreiben. Jean-Paul Sartre 1939-1953, a.a.O., S. 151 365 107 darstellten, die in einem immanenten Bezug zu einander standen. So war das „durcheinandergeraten“ meist beabsichtigter als eine klare Trennlinie zwischen ihnen zu ziehen. Am Anfang des Buches stand die Analyse der Kindheit Baudelaires und seine daraus resultierende „Urwahl“. Kindheit spielte bei dieser Untersuchung eine wichtige Rolle: Im Gegensatz zu „Das Sein und das Nichts“, bei dem man das Gefühl bekommen konnte, daß die Menschen als kleine Erwachsene auf die Welt kamen, stand beim „Baudelaire“ das Suchen und Forschen nach den Beweggründen, warum sich Baudelaire zu dem gemacht hatte, der er gewesen war, im Vordergrund. Sartre suchte nach Urerlebnissen, Urbrüchen. Und er wurde fündig. In der zweiten Ehe von Baudelaires Mutter sah er den Riß („fêlure“) in Baudelaires Leben. Dieser wurde als Kind kurzerhand in ein Heim abgeschoben und hier kam es zum Initalerlebnis: „Er hat die Einsamkeit für sich gefordert, damit sie wenigstens von ihm selber komme und ihm nicht auferlegt werde. Infolge der jähen Enthüllung seiner individuellen Existenz hat er empfunden, daß er ein anderer war, aber zur gleichen Zeit hat er in Demütigung, Groll und Stolz diese Alterität auf sich genommen und bejaht. Von nun an hat er sich mit trotziger Aufwallung zu einem Anderen gemacht: anders als seine Mutter, mit der er eins war und die ihn zurückgestoßen hat, anders als seine sorglosen, rohen Kameraden. Er fühlt sich, er will sich einzigartig fühlen, einzigartig bis zum äußersten Genuß des Alleinseins, bis zum Entsetzen.“367 Sartre analysierte also die äußeren Umstände, um davon die Situation, in der Baudelaire entschied, zu rekonstruieren: Freiheit in Situation, wie Sartre es nannte. Überhaupt hatte Sartre Vorgehensweise mehr mit Freund gemeinsam, als er wähnte. Die Bedeutung der Kindheit als Basis für die Ausprägung des späteren Charakters verband beide mehr, als das es sie trennte. Doch Sartre insistierte weiterhin darauf, daß es kein Unbewußtes gäbe - nichts desto trotz analysierte er Baudelaire als jemanden, dem seine eigene Wahl nicht bewußt war: „Die Wahl seiner selbst, die er getroffen hat, ist viel tiefer in ihm verwurzelt. Er selbst kann sie nicht erkennen, weil er ja eins mit ihm ist.“368 Als bekäme Sartre Angst vor seiner eigenen Analyse, fügte er schnell hinzu: „Deshalb darf man aber eine freie Wahl dieser Art noch lange nicht jenen dunklen chemischen Vorgängen gleichsetzen, welche die Psychoanalyse in den Bereich des Unbewußten verweisen. Baudelaires Wahl: das ist sein Bewußtsein, das ist sein wesentlicher Entwurf. In gewissem Sinne ist er also von ihr so durchdrungen, daß sie gleichsam seine eigene Transparenz ist.“369 Sartre wandte sich also nicht mehr wie in „Das Sein und das Nichts“ gegen unbewußte Vorgänge überhaupt, sondern gegen biologische Zuschreibungen im Bereich des Psychischen. Zwar insistierte er auch schon in „Das Sein und das Nichts“ darauf, daß die Menschen sich ihrer Freiheit in Situation nicht immer bewußt seien, doch in den Baudelaireanalysen bekam die Kindheit einen wichtigeren Stellenwert. Auch der Ödipuskomplex fand Eingang in Sartres Vokabular. Baudelaire sei ein solcher „nicht schwer nachzuweisen“370. Mit der Urwahl führte Sartre einen neuen Begriff in seine existentialistische Psychoanalyse ein, der dem Unbewußten noch am nächsten kam. Doch im 367 Sartre, Jean-Paul: Baudelair, Reinbek bei Hamburg, 1997, S. 16f Ebd., S. 53f 369 Ebd., S. 54 370 Ebd., S. 38 368 108 Gegensatz zum Unbewußten, das Sartre zu nah an der Biologie stand, war sein Begriff von einer immanenten Erkennbar- und Veränderbarkeit durchzogen. Konkret auf Baudelaire angewandt, resümierte Sartre: „Das Thema kennen wir. Wir haben es keinen Moment aus den Augen verloren: es ist die Urwahl seiner selbst, die Baudelaire getroffen hat. Er hat gewählt, für sich selbst so zu existieren, wie er für die anderen war; er wollte, daß seine Freiheit ihm wie eine »Natur« erscheine und daß die »Natur«, welche die anderen in ihm entdeckten, ihnen wie eine Emanation seiner Freiheit vorkäme. Von da aus klärt sich alles auf: jenes elende Leben, daß uns als ein einziges Scheitern erschien, hat er – wir verstehen das nun – sich selbst mit Bedacht gewirkt. Er hat es so angelegt, daß es nur ein Überlebender war, er hat es von Beginn an mit diesem schweren Ballast bepackt: Negerin, Schulden, Syphilis und Familienrat, der ihn bis zum Ende seines Lebens behindert und bis zum Ende dazu zwingt, im Krebsgang die Zukunft anzugehen.“371 In der Frage nach dem Einfluß einer „ersten“ Natur blieb Sartre sich treu: Für ihn wählten die Subjekte den Anschein von Natur. Der Mensch war bei ihm ein tief verwurzeltes kulturelles Wesen und damit seien all seine Handlungen und Taten grundsätzlich auch verstehbar. Die Konstruktion eines Unbewußten, das dem Menschen nicht zugänglich und dem Reich der Natur zugeschrieben sei, war für Sartre unannehmbar. Was Sartres Baudelaire viel eher problematisch erscheinen ließ, war die Bruchlosigkeit mit der er Baudelaires Wahl verband. „Denn Sartre sieht in Baudelaire nur den Gegner, den er zu treffen gilt, statt, wie einige Jahre vor ihm Walter Benjamin, den zu rehabilitierenden potentiellen Bundesgenossen, den «Agenten der geheimen Unzufriedenheit seiner eigenen Klasse mit ihrer eigenen Herrschaft» (Benjamin)“372 Der Baudelaire, der an drei Revolutionen, bzw. Revolutionsversuchen teilnahm, entglitt Sartre. Später sollte Sartre seine Studie als „eine sehr mangelhafte, eine außerordentlich schlechte“373 beschreiben. Festzuhalten bleibt, daß in Sartres Philosophie – bildlich gesprochen – nicht nur ein Pfeil vom Subjekt aufs Objekt zeigte, sondern es begann sich auch ein stärker werdender Pfeil vom Objekt aufs Subjekt abzuzeichnen. Der dritte Weg: Sartres politisches Engagement bis 1952 Was sich in Sartres Texten von 1945 und 1946 an politischem Engagement bereits ankündigte, begann im Jahr 1947 konkrete Formen anzunehmen. In jenem Jahr gründete Sartre die Zeitschrift „Les Temps Moderne“, was ihm dazu verhalf über ein eigenes Publikationsorgan zu verfügen. Die Liste der Autoren, die für die Zeitschrift schrieben, laß sich nicht weniger eindrucksvoll als die der „Zeitung für Sozialforschung“ – fast alle wichtigen Namen der europäischen und amerikanischen Linken waren vertreten: „Texte von Francis Ponge, Samuel Beckett, Philippe Soupault, Maurice Blanchot neben Texten von Alberto Moravia, Elio Vittorini, Ignazio Silone oder Carlo Levi für Italien, während Richard Wright oder James Agee Amerika vertraten. Man fand auch Beiträge des Komponisten René Leibowitz oder des Ökonomen Pierre Uri; Artikel von Boris Vian - «La 371 Ebd., S. 118f Oehler, Dolf: Nachwort, in: Sartre, Jean-Paul: Baudelaire, a.a.O. , S. 119 373 Sartre, Jean-Paul: Sartre über Sartre, in: Sartre, Jean-Paul: Autobiographische Schriften II, 1988, S. 172 372 109 Chronique du menteur» - Raymond Queneau, Michel Leiris, Jean Genet, Violette Leduc und Nathalie Saurraut.“374 Man könnte fast sagen, daß die „Les Temps Moderne“ das französische Gegenstück zur „Zeitschrift für Sozialforschung war“, zwar nicht mit dem gleichen wissenschaftlichen Anspruch Horkheimers, dafür aber mit einem politischeren. Neben der Zeitung beteiligte sich Sartre an der Gründung des RDR „Rassemblement Démocratique Révolutionaire“, ein Komitee, daß bald vom Volksmund als „Sartre-Partei“ bezeichnet wurde. Doch wie kam Sartre dazu sich an diesen Unternehmungen zu beteiligen? Die Redaktion der „Temps Moderne“ wurde eingeladen, Radiosendungen zu produzieren. Bei einer solchen Diskussionsveranstaltung verglich Sartre die Plakate de Gaulles mit denen der Nazis, was zu einem Eklat in Frankreich führte. Nach dem Zusammenbruch der Dreiparteienregierung machte de Gaulle seine politischen Ambitionen unmißverständlich deutlich. Mit der Gründung des „Rassemblement du peuple Français“ (RPF) hatte sich de Gaulles politisch festgelegt. Der Kreis um Sartre gehörte zu seinen entschiedenen Gegnern und verurteilte de Gaulles Antikommunismus. Doch so sehr Sartre und seine Anhänger den Antikommunismus verabscheuten, so wenig konnten sie auch mit der kommunistischen Partei anfangen. Die Konsequenz bestand in der Gründung des RDR, in denen alle Facetten der Linken Platz finden sollten: „Trotzkisten, Linkskatholiken, junge Sozialisten, oppositionelle Sozialisten, Kommunisten und ehemalige Kommunisten, Marxisten und Nicht-Marxisten, Arbeitergenossen und ehemalige Gewerkschaftsfunktionäre.“375 Doch in dieser pluralistischen Mischung lag neben der großen Chance auf eine neue sozialistische Kraft auch das große Risiko des Zerwürfnisses, zu dem es nach anfänglichen Erfolgen dann auch kam. Cohen-Solal nannte dies, nach dem Scheitern von „Socialisme et Liberté“, den „zweiten Schock des Konkreten“. Gemeinsam war dem RDR der Anti-Gaullismus und die Verhinderung eines neuen Krieges zwischen den USA und der UdSSR. Camus stellte das berühmte Diktum auf: „Es ist besser sich zu irren und niemanden umzubringen, als vor Leichenfeldern recht zu behalten.“ Doch wie einen neuen Krieg verhindern? Sartres Vision war die eines vereinigten Europas, „ein Bündnis, das sich sowohl ideologisch wie geographisch von den USA wie von der UdSSR unterscheiden müßte.“376 Grundlage dieses Europas war für Sartre - als Philosoph, mit starkem Subjektbegriff - der Gedanke von Basisdemokratien. „Die Basiskomitees sollten nach dem Vorbild der Revolutionäre von 1789 Forderungskataloge aufstellen; das leitende Komitee würde im permanenten Kontakt und offenen Dialog mit der Basis stehen. An der Basis selbst würde ebenfalls ein permanenter Prozeß des Austauschs stattfinden.“377 Sartre wollte die „Integrierung des freien Individuums in eine Gesellschaft, die als Einheit freier Individuen konzipiert“ wäre. Damit war er ein Befürworter von basisdemokratischen Strukturen, die 20 Jahre später im Zuge der 68er-Bewegung wieder praktische Bedeutung erlangten. Im Aufruf des Komitees für das RDM hieß es: „Wir glauben, daß zwischen dem Vorkommen der kapitalistischen Demokratie, den Schwächen und Mängeln einer gewissen Sozialdemokratie und der Beschränkung des Kommunismus auf seine stalinistische Form eine Vereinigung freier Menschen für die revolutionäre 374 Cohen-Solal, a.a.O., S. 456 Ebd., S. 465 376 New York Herald Tribune, 16. März 1948, zit. nach: Cohen-Solal, a.a.O., S. 472 377 Cohen-Solal, a.a.O., S. 472 375 110 Demokratie in der Lage ist, den Prinzipien der Freiheit und der Menschenwürde ein neues Leben zu verleihen, wenn sie sie mit dem Kampf um die soziale Revolution verbindet.“378 Kennzeichnend an allen Aufrufen oder Programmen war die starke Betonung der Freiheit. Zur Umsetzung dieser Programmatik einigte man sich auf eine Art Komitee. Der RDM sollte überall vertreten sein und seinen Einfluß geltend machen: „[…] ist das erste Ziel des Rassemblement, tatsächlich ein Zusammenschluß von Menschen dieses Landes zu sein, als Konsumenten und Produzenten, innerhalb von Stadtteilkomitees, Dorfkomitees, Fabrikkomitees, in denen sie aus ihren konkreten Forderungen und dem Sinn, den sie haben, konkrete Mittel entwickeln werden, sie durchzusetzen, und denen sie sich gemeinsam ihres demokratischen und revolutionären Humanismus bewußt werden könne.“379 Mit anderen Worten: Der RDR versuchte eine Art Bürgekomites einzusetzen, wie sie in den 80er Jahren in der Ökologiebewegung populär werden sollten. Als außerparlamentarische Opposition sollte sie sich in die Dinge des täglichen Lebens wie in die große Politik einmischen und ihren Einfluß geltend machen. Mit seinem politischen Engagement gab Sartre seiner Philosophie, in der ja noch seine angekündigte „Moral“ fehlte, die Konturen einer solchen. Ein Grund, weshalb die „Cahiers pour une morale“, an denen er arbeitete, von ihm nie zur Veröffentlichung freigegeben wurden, bestand ganz einfach darin, daß sein praktisches Handeln und Tun einer solchen Moral gleichkam. Des weiteren war sich Sartre der Stellung des Subjekts lange nicht mehr so sicher, wie zu Zeiten als er „Das Sein und das Nichts“ schrieb. Die Stärke und das Erdrückende am Objekt Gesellschaft konnte ihm bei seiner politischen Arbeit nicht entgehen. Sartre schrieb: „Der Hunger ist bereits die Forderung nach Freiheit.“380 Er benutzte mittlerweile ständig neben dem philosophisch-anthropologischen Freiheitsbegriff einen politischen, der in höchstem Maße von zwei Momenten bestimmt war: Demokratie und Sozialismus. Sozialismus in dem Sinne, daß er darunter die Veränderung der ökonomischen Ordnung verstand, doch anders als die französischen Kommunisten, die dabei auf Demokratie verzichteten, verstand er darunter eine egalitäre Ordnung, die dem großen Stellenwert des Subjekts in seiner Philosophie entsprach. Mit dem Bekanntwerden der Existenz der Lager in der UdSSR gingen Sartre und der RDM noch auf stärkere Distanz zu den stalinistischen Kommunisten: „Ja, die Frage wird immer dringlicher: wie konnte der Oktober 1917 zu der grausam hierarchisierten Gesellschaft führen, deren Züge sich nach und nach immer deutlicher vor unseren Augen abzeichnen? Weder bei Lenin noch bei Trotzki und noch weniger bei Marx finden wir ein Wort, das nicht richtig wäre, das nicht noch zu den Menschen aller Länder spräche, das uns nicht begreifen ließe, was bei uns geschieht. Und nach soviel Hellsichtigkeit, Opfern und Intelligenz nun die 10 Millionen sowjetischer Deportierter, die Dummheit der Zensur, die Panik der Rechfertigungen.“381 An dieser Passage aus einem Text von Merleau-Ponty und 378 Aufruf des Komitees für das Rassemblement Démocratique Révolutionnaire, Februar 1948, in : Sartre, Jean-Paul: Krieg im Frieden I, Reinbek bei Hamburg, 1982, S. 9 379 Sartre, Jean-Paul: Hunger im Bauch – Freiheit im Herzen, in: Sartre, Jean-Paul: Krieg im Frieden I, a.a.O., S. 14 380 Ebd., S. 12 381 Merleau-Ponty, Maurice und Sartre, Jean-Paul: Die Tage unseres Lebens, in: Sartre, Jean-Paul, Krieg im Frieden I, a.a.O., S. 23 111 Sartre wurde deutlich, wo sich Sartre positionierte. Ein deutliches Bekenntnis zu Marx, bei gleichzeitiger Ablehnung der KP. Eine Haltung, die er mit der kritischen Theorie teilte. Die größte Beachtung der Sartreschen Schriften zu dieser Zeit erfuhr allerdings sein Theaterstück: „Die schmutzigen Hände“, in dem er eine harte Anklage gegen die Politik Moskaus und deren Satellitenparteien mit den Mitteln des Theaters schrieb. Die große These des Stückes bestand darin, daß den Kommunisten ein Menschenleben – wenn es einer Sache diente – nicht viel wert gewesen war und jede Kursänderung mit Blut bezahlt wurde. Der Protagonist des Buches, Hugo, bekam von der Partei den Auftrag den „Abtrünnigen“ Hoederer zu ermorden. Nach langen Diskussionen tat er dies, doch mittlerweile hatte die Partei ihren Kurs geändert und Hoederer sollte rehabilitiert werden. Hugo, der diese Widersprüche nicht aushalten konnte, nahm sich das Leben. Das Stück würde von der bürgerlichen Presse frenetisch gefeiert. Doch mit diesem Ruhm machte er sich zum Feind der KPF. Vier Jahre später, als er 1952 mit den Kommunisten Versöhnung feierte, sollte dieses Stück eine ganz besondere Rolle im Werk Sartres einnehmen, da er seine Aufführung in verschiedenen Ländern verbot. Sartre sagte dazu in einem Interview mit Paolo Caruso: „Man kommt daran nicht vorbei: Wenn die gesamte französische Bourgeoisie den Schmutzigen Händen einen Triumph bereitet und wenn die Kommunisten es angreifen, so bedeutet das, daß tatsächlich etwas passiert ist. Das bedeutet, daß das Stück durch sich selbst objektiv anti-kommunistisch geworden ist und daß die Intention des Autors nicht mehr zählt.“382 Die Jahre 1946-1949 waren für Sartre von erstaunlicher Produktivität. Cohen-Solal beschreib eindrucksvoll die „Maschinerie“ Sartres383. Doch mit dem Scheitern des RDM legte Sartre eine schöpferische Pause ein - zwar schrieb er weiter, doch nicht mehr im „gewohnten“ Ausmaß. Vor allem die unterschiedlichen Vorstellungen über den Weg, den der RDM gehen sollte, ließ die Gruppe letztendlich auseinanderbrechen. Für Sartre entwickelte sich der RDM zu weit nach rechts, da sich Bestrebungen im RDM für ein stärkeres antikommunistisches und proamerikanisches Engagement (z.B. durch Rousset) breit machten. Aber auch de Gaulles Rassemblement bestand nicht viel länger: 1953 scheiterte der RPF an innerparteilichen Querelen und gabt seine Auflösung bekannt. Festzuhalten bleibt, daß Sartre in politischer Aktivität und im Engagement aufging. Demzufolge machten sich Transformationen seines Subjektbegriffes in seinem Werk bemerkbar. 1950 schrieb er: „Es ist sehr einfach und auch notwendig, der Subjektivität der Massen eine bestimmte Rolle zu geben, wenn sich in einem kapitalistischen und stark industrialisierten Land die Massen als Verkörperung der Widersprüche einer ganzen Gesellschaft erweisen.“384 – das war neu für Sartre. Die „Subjektivität der Massen“ wäre ein vormals undenkbares Begriffsinstrumentarium gewesen, da das Sartresche Subjekt äquivok zum Individuum und zum Einzelnen stand. Über das Jugoslawien Titos schrieb er: „Die bloße Existenz eines sozialistischen, vom Kreml unabhängigen Jugoslawien muß von innen her auf 382 Jean Paul Sartre über die schmutzigen Hände. Gespräch mit Paolo Caruso, in: Sartre, Jean-Paul: Die schmutzigen Hände, Reinbek bei Hamburg, 1989, S. 144 383 vgl. Cohen-Solal, a.a.O., S. S. 436ff 384 Sartre, Jean-Paul: Falsche Wissenschaftler und falsche Hasen, in: Krieg im Frieden I, a.a.O., S. 39 112 unsere aktiven Kommunisten einwirken und sie ihre Subjektivität wiederentdecken lassen.“385 In gewisser Weise blieb Sartre sich treu: Subjekt und Subjektivität standen weiterhin an exponierter Stelle in seiner Philosophie, doch das isolierte, sich frei entwerfende Subjekt war nun eingebettet in eine Objektwelt, in gesellschaftliche und politische Zusammenhänge. In einem posthum veröffentlichten Fragment, daß als Anschluß an die „Cahier pour une morale“ geplant war, schrieb Sartre: „Die Unkenntnis als Schattenseite der Wahrheit ist Notwendig für die Freiheit, ihre Existenz zu wagen in einer Welt, die sich ihr radikal entgegenstellen kann. Somit erscheint die Wahrheit vor dem Hintergrund einer Welt, die die Wahrheit unmöglich machen kann.“386 Dies hätten Marcuse oder auch Adorno nicht viel anders geschrieben. Auch Sartres alte Abgrenzung zum Unbewußten begannen zu wanken und es formten sich Gedanken zur Existenz eines gesellschaftlichen Unbewußten: „Alles geschieht dann so, als wäre das Bewußtsein mystifizierend und als ob das Soziale und das Ökonomische das Unbewußte des historischen Agens wäre.“387 So war die Kritik Marcuses, die er 1948 an Sartres „Das Sein und das Nichts“ formulierte, durch Sartres veränderte Position schon obsolet geworden. Vier Jahre später hätte er Sartre eine zu große Nähe zur KPF vorwerfen können. Doch auch Marcuse war Sartre in diesem Punkt sehr ähnlich: Der orthodoxe Marxist Robert Steigerwald seufzte 1969 im Vorwort seines Buches über Marcuse: „Wer sich mit Herbert Marcuse anlegt, gerät in die Rolle des Igels in der Geschichte vom Wettlauf des Stacheltiers mit dem Hasen: kaum ist die ein Kritik an Marcuse geschrieben, schon liegt ein neues Werk von ihm vor.“388 Warum also sollte es Marcuse, der 1948 Sartres „Das Sein und das Nichts“ rezensierte, mit Sartre anders ergehen? Zu spät besprochener Sartre Marcuses: Rezeption von „Das Sein und das Nichts“ Wie kam es dazu, daß Sartres „Das Sein und das Nichts“ erst so spät besprochen wurde? Es war ein gewaltiges Unterfangen ein Buch wie „Das Sein und das Nichts“ in eine andere Sprache zu übersetzen. Erst 10 Jahre nach dem Erscheinen der französischen Ausgabe kam die englische auf den Markt, so daß die meisten englischsprachigen Rezensoren, die des französischen nicht mächtig waren, auf eine Besprechung des Buches verzichten mußten. Damit war Herbert Marcuse sogar einer der ersten, die in Amerika „Das Sein und das Nichts“ besprachen. Vor allem war es der erste, - wenn auch nicht persönliche - Kontakt zwischen Sartre und Marcuse. Doch auch Marcuse konnte nicht ahnen, wie weit sich Sartre inzwischen selbst von „Das Sein und das Nichts“ entfernt hatte. Jahre später schrieb Marcuse ein weiteres Kapitel, das er seiner Rezension hinzufügte. So vernichtend die Beurteilung, des ehemaligen Heideggerschülers Marcuse über den Heiddeggerianer Sartre des Jahres 1944 war, so wohlwollend und bewundernd waren die Worte, die er 1965 in dem kleinen neuen Kapitel für Sartre fand. 385 Ebd., S. 67 Sartre, Jean-Paul: Wahrheit und Existenz, Reinbek bei Hamburg, 1998, S. 139 387 Ebd., S. 147 388 Steigerwald, Robert: Herbert Marcuses dritter Weg, Köln, 1969, S. V 386 113 Marcuse begann mit einer Einordnung der Philosophie des Existentialismus in die Zeit des Faschismus: „Es ist die Zeit des totalitären Terrors: das Naziregime ist auf der Höhe seiner Macht; Frankreich ist von deutschen Armeen besetzt. Die Werte und Normen der abendländischen Kultur sind vom faschistischen System gleichgeschaltet und ersetzt. Das Denken ist wieder einmal auf sich selbst zurückgeworfen durch die Wirklichkeit, die allen Versprechungen und Ideen widerspricht, die den Rationalismus so gut wie die Religion, Idealismus so gut wie Materialismus widerlegt.“389 Das Paradoxe an der historischen Situation sei gewesen, daß die Welt nach dem Faschismus nicht zusammenbrach, sondern „in ihre früheren Formen zurückfiel“. Dies Paradoxon hafte auch dem Sartreschen Existentialismus an, da er auf vormarxistischer Philosophie aufbaue. Vor allem das Fehlen des gesellschaftlichen Momentes bei gleichzeitiger Betonung der allgegenwärtigen Freiheit erregte Marcuses Mißfallen: „Die wesentliche Freiheit des Menschen, wie Sartre sie sieht, bleibt die gleiche vor, während und nach der totalitären Versklavung des Menschen. Denn Freiheit ist für ihn die Struktur des menschlichen Seins selber und kann selbst durch die widrigsten Umstände nicht vernichtet werden: der Mensch ist selbst in den Händen des Henkers frei.“390 Diesem Freiheitsbegriff konnte der Theoretiker Marcuse, der von „perforierten Individuen“ sprach, keinesfalls zustimmen. „Gegen diese Proklamation der absoluten Freiheit des Menschen erhebt sich unmittelbar der Einwand, daß der Mensch in Wirklichkeit durch seine spezifisch gesellschaftlich-geschichtliche Situation bestimmt ist, die wiederum den Umfang und den Inhalt seiner Freiheit und den Spielraum seiner »Wahl« bestimmt.“391 Doch traf diese Kritik noch? Als hätte Sartre Marcuse gelesen – was allerdings unmöglich gewesen wäre, da die „Überlegungen zur Judenfrage“ vor Marcuses Rezension veröffentlicht wurden - schrieb er: „Da [der Jude] wie jeder Mensch, eine Freiheit in Situation ist, muß man seine Situation von Grund auf verändern: es genügt in der Tat, die Perspektiven der Wahl zu ändern, damit die Wahl sich verändert; nicht, daß man dann Zugang zur Freiheit fände; aber die Freiheit entscheidet dann auf anderer Grundlage, hinsichtlich anderer Strukturen.“392 Sartre war sich also mittlerweile sehr wohl der Bedeutung des gesellschaftlichen Zwanges aufs Individuum bewußt – zwar nicht in dem Maße wie Marcuse ihn betonte, doch immerhin hatte sich in Sartres Philosophie das isolierte Individuum zum gesellschaftlichen Wesen gewandelt. Doch Marcuses Kritik ging noch weiter: Er unterstellte Sartres Existentialismus die verdeckte Apologie des Marktes und des Kapitalismus. „Hintere der nihilistischen Sprache des Existentialismus verbirgt sich die Ideologie der freien Konkurrenz, der freien Initiative und der für jeden gleichen Chance.“393 Dieser Vorwurf konnte nur gelten, wenn man „Das Sein und das Nichts“ als isoliertes Buch betrachtete. Der Sartre des Jahres 1948 hatte in „Materialismus und Revolution“ dargelegt, was er von der kapitalistischen Produktionsweise hielt. Doch da diese Schrift Herbert Marcuse nicht bekannt war, konnte er sich auch nicht auf sie beziehen – sonst hätte er wohl diese Passage nicht geschrieben. Marcuse, Herbert: Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Ếtre et le Néant, in: Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt &M, 1965, S. 49 390 Ebd., S. 52 391 Ebd., S. 63 392 Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 89 393 Marcuse, Herbert: Existentialismus. a.a.O. , S. 66 389 114 Doch Marcuses Kritik traf an anderen Stellen: Sartres Gleichsetzung von ontologischem und historischem Subjekt sei, so Marcuse, unzulässig. „So hat das »Für-sich« Nation, Klasse, Klassenunterschiede usw. geschaffen, hat sie zu Teilen seines eigenen freien »Entwurfs« gemacht und ist folglich für sie »verantwortlich«. Hier geschieht die trügerische Gleichsetzung von ontologischem und historischem Subjekt.“394 Sartre würde durch die Formel, daß die Existenz dem Wesen vorausgehe, in einem Konflikt mit seinem eigenen Subjektbegriff stehen. Alle Subjekte seien subsumiert unter der ontologischen Idee des für-sich. Eine Wirkliche und reale Daseinsfülle an-sich sei somit verunmöglicht. „Indem die verschiedenen historischen Subjekte unter die ontologische Idee des »Für-Sich« subsumiert werden und diese zum leitenden Prinzip der Existentialphilosophie gemacht wird, setzt Sartre die spezifischen Unterscheide, die die wirkliche Konkretheit menschlicher Existenz bilden, zu bloßen Manifestationen des gesamten menschlichen Wesens herab – und verstößt so gegen seine eigene These, daß »Existenz das Wesen erschafft.«395 Gegen den großen Freiheitsbegriff des Subjekts bei Sartre hielt er die Verdinglichung und Entfremdung des Einzelnen dagegen. Der Mensch existiere auch in Situationen, so Marcuse, in denen er auf den Stand eines Dinges, eines Instruments heruntergebracht sei. Dies stehe im Widerspruch zu Sartres Idee der Freiheit. Einigkeit bestand hingegen in dem Wunsch nach der Veränderung des Bestehenden: „Nun aber erkennt er [Sartre, S.O.C.] die Tatsache an, daß die Existenz des Menschen in der empirischen Wirklichkeit auf eine solche Weise organisiert ist, daß seine Freiheit völlig »entfremdet« ist und daß nichts als eine revolutionäre Veränderung in der Struktur der Gesellschaft die Entfaltung seiner Freiheit wiederherstellen kann. […] Sartre versucht jedoch, seine Freiheitsidee vom historischen Materialismus freizuhalten. Er akzeptiert die Revolution als den einzigen Weg zur Befreiung der Menschheit, aber er besteht darauf, daß die revolutionäre Lösung die Freiheit des Menschen, diese Lösung zu ergreifen, voraussetzt, mit anderen Worten, daß der Mensch vor seiner Befreiung frei sein muß “396 Sartre verwechsle, so Marcuse, historische mit ontologischer Freiheit. Die ontologische Freiheit sei Vorbedingung für eine reale, gesellschaftliche Freiheit: „In der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit ist also die Freiheit des »FürSich«, deren Verherrlichung Sartre sein ganzes Buch weiht, nichts anderes als eine der Vorbedingungen für die Möglichkeit der Freiheit – nicht Freiheit selbst.“397 Für Marcuse war die Freiheit des während der Folter sterbenden Antifaschisten keine Freiheit: „Der Antifaschist, der zu Tode gefoltert wird mag seine moralische und geistige Freiheit bewahren, um diese Situation zu transzendieren: er wird dennoch zu Tode gefoltert.“398 Der gesellschaftliche Druck auf dem Einzelnen war bei Marcuse von höherem Rang als das Betonen der menschlichen Freiheit. Und doch war auch bei Marcuse ein Kern, eine Grundannahme des freien Menschen enthalten – denn wie sonst hätte der Mensch sonst versklavt werden können? Auch 394 Ebd., S. 67 Ebd., S. 68 396 Ebd., S. 76 397 Ebd., S. 76 398 Ebd., S. 77 395 115 auf die Frage nach der Freiheit bei Folter hatte Sartre bereits geantwortet: „Tote ohne Begräbnis“ war seine Auseinandersetzung mit dem Thema. Übereinstimmung herrschte darin, daß die Vernunft im Subjekt nicht zu sich selbst gekommen sei. Entfremdung und Verdinglichung stünden dem entgegen: „Glücklicherweise ist Sartres Interpretation der gesellschaftlich-geschichtlichen Sphäre die Existenz nicht des freien Subjekts, sondern des verdinglichten Subjekts, die den Weg zur wirklichen Befreiung weist.“399 Auch von der Methode Sartres und Camus, Philosophie, Roman und Theater zu mischen, hielt Marcuse nicht viel: „Der Existentialismus spielt mit jeder Affirmation, bis sie sich als Negation erweist, modifiziert jeden Satz, bis er sich ins Gegenteil verkehrt, dehnt jede Behauptung bis ins Absurde aus, verwandelt Freiheit in Zwang und Zwang in Freiheit, Wahl in Notwendigkeit und Notwendigkeit in Wahl; er geht von der Philosophie zur Belletristik und umgekehrt, mischt Ontologie und Sexualwissenschaften usw. Die schwerfällige Ernsthaftigkeit Hegels und Heideggers wird in ein artistisches Spiel übersetzt. Die ontologische Analyse schließt eine Reihe »amouröser Szenen« ein, und der existentialistische Roman trägt in Kursivschrift philosophische Thesen vor.“400 Umgekehrt könnte aber auch argumentiert werden, daß der Existentialismus versuchte, das Hegelsche Unterfangen weiterzuführen: Ein eignes philosophisches System zu liefern, zu dessen Wahrheitsbegriff die Kunst genauso gehörte, wie zur kritischen Theorie – mit dem Unterschied, daß Sartre und Camus das Wagnis eingingen, sich als philosophische Schriftsteller und schreibende Philosophen zu entwerfen. Die Konzeption ähnelte dabei der kritischen Theorie in dem Maße, da sie eine Systematik – auch wenn die kritische Theorie sich dieses nie eingestand – der Theorie zu entwerfen suchte. Wie sonst war zu verstehen, daß sowohl „Les Temps Modernes“ wie auch das Institut für Sozialforschung auf allen relevanten politischen und gesellschaftstheoretischen Ebenen Texte produzierten, die ein theoretisches System verband? Doch Marcuse änderte seine Sichtweise auf Sartre: 1965 schrieb er in einem hinzugefügten Kapitel: „Auf diesem Weg [des radikalen Widerspruchs Sartres, S.O.C.] zählt die Realität als das, was umzustürzen ist, so daß die menschliche Existenz beginnen kann.“401 Damit nahm Marcuse - unausgesprochen - Momente seines vormaligen Textes zurück. Denn die Auffassung der Realität des Existentialismus Sartres als „Realität als das was umzustürzen ist“, wie Marcuse ihm bescheinigte, war unvereinbar mit dem Vorwurf, daß sich „hinter der nihilistischen Sprache des Existentialismus die Ideologie der freien Konkurrenz“ verberge. Vor allem schätzte Marcuse den politischen Sartre. Mit der Errichtung eines textlichen Denkmals zu Sartres Lebzeiten ließ er den Text enden: „In der politisch gewordenen Philosophie wird die existentialistische Grundkonzeption gerettet durch das Bewußtsein, daß der Realität den Kampf ansagt – in dem Wissen, daß die Realität Sieger bleibt. Wie lange? Die Frage, auf die es keine Antwort gibt, ändert nichts an der Gültigkeit dieser Position, die für die Denkenden heute die einzig mögliche ist. In dem großen Vorwort zu Fanons Les Damnés de la Terre, in 399 Ebd., S. 77 Ebd., S. 80 401 Ebd., S. 84 400 116 den Erklärungen gegen die Kolonialkriege in Vietnam und San Domingo hat Sartre das Versprechen einer »Moral der Befreiung« eingelöst. Wenn er, wie er fürchtet eine »Institution« geworden ist, so wäre es eine Institution in der das Gewissen und die Wahrheit Zuflucht gefunden haben.“402 Doch zuvor sollte die Differenz das Verhältnis beider prägen, obwohl sich bereits mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen zwischen den beiden abzuzeichnen begannen. Das Mißtrauen Marcuses gegenüber einer Philosophie, die sich an entscheidenden Stellen auf Heidegger berief, saß tief. Die Ironie der Geschichte bestand darin, daß Marcuse in den Jahren als Mitarbeiter des OSS nur einen einzigen Text für die „Zeitschrift für Sozialforschung“ schrieb – und den ausgerechnet über Sartre. Statt eines Vorwortes: 900 Seiten Jean Genet Sartres: Saint Genet 1951 sollte von Jean Genet bei Gallimard, Sartres Verlag, eine Gesamtausgabe seiner Werke veröffentlicht werden. Sartre wurde gebeten, das Vorwort zu schreiben. Doch statt eines Vorwortes steigerte sich Sartre in die Lektüre Genets hinein und heraus kam eine ganze Studie von 900 Seiten. Genet faszinierte ihn vor allem wegen seines freien und ungezügelten Lebens. Als Kind wurde Genet von der Fürsorge groß gezogen und kam im Alter von sieben Jahren zu einer Pflegefamilie. Wegen wiederholten Diebstahls wurde er in eine Erziehungsanstalt gesteckt. 1929 schloß er sich der Fremdenlegion an, aus der er kurze Zeit später desertierte. Zwischen 1929-42 zog er durch Europa und verdiente sein Geld als Stricherjunge, Dieb, Bettler und Rauschgiftschmuggler. Während dieser Zeit landete er mehrfach in Gefängnis. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich wurde der homosexuelle und pädophile Genet inhaftiert. Im Gefängnis begann er erfolgreich, seine ersten literarischen Werke zu schreiben. Genet wurde populär und durch Sartres und Cocteaus Intervention begnadete ihn Frankreichs Staatspräsident Auriol. Wie schon in seinen Werken zuvor, setzte Sartre auch bei Genet bei der Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt an. Warum Genet zu dem geworden, der er war? Durch seine eigenen Entscheidungen und durch die gesellschaftliche Situation. Sartre schrieb über Genets Werdegang: „Man erinnere sich an die Geschichte jenes Fürsorgezöglings, der brutalen Bauern anvertraut wurde, die ihn schlugen und nicht ernährten; mit zwanzig Jahren konnte er noch nicht lesen: man machte einen Soldaten aus ihm. Als er die Armee verließ, hatte man ihm das Töten gelehrt. Also tötete er; er sagte: »Ich bin ein wildes Tier.« Als man ihn nach der Anklagerede fragte, ob er nicht dazu zu sagen hätte, meint er: »Der Herr Staatsanwalt hat meinen Kopf verlangt, und sicher wird er ihn bekommen. Aber wenn er mein Leben geführt hätte, wäre er vielleicht heute an meiner Stelle, und ich, wenn ich seine gehabt hätte, ich klagte vielleicht ihn an.« Der Gerichtssaal war erschrocken: er hatte einen Abgrund gesehen, etwas wie eine nackte, undifferenzierte, zu allem fähige Existenz. Ich sage nicht, daß das völlig stimmt: 402 Ebd., S. 84 117 nicht dieser Justizbeamte wäre dieser Verbrecher geworden.“403 Sartre benutzte für seine Analyse ein Wechselspiel aus gesellschaftlicher Prägung und eigener Entscheidung. So definierte er Genet als das Andere der bürgerlichen Gesellschaft. Genet sei wie ein Spiegel, in dem sich die Tugend als Zerrbild betrachtete, da er als das definiert sei, was Tugend nicht ist; er war sozusagen das fleischgewordene Andere. Mit der Lektüre Genets könne man erkennen, wer man nicht sein und welche Elemente von Genet dennoch im Eigenen vorhanden waren: „Der Mensch, sagt Marx, ist für den Menschen Objekt. Das ist richtig. Aber es ist auch richtig, daß ich für mich Subjekt bin, genau in dem Maß, wie mein nächster in meinen Augen Objekt ist; und eben das trennt uns; er und ich sind nicht homogenen, und wir können nur in den Augen eines Dritten, der jeden von uns als einzelnes Objekt erfaßt, Teil ein und desselben Ensembles sein. Wenn wir alle, in vollkommener Gleichgültigkeit und Wechselseitigkeit, zugleich Objekte und Subjekte sein könnten, die einen für die anderen und die einen durch die anderen, oder wenn wir gemeinsam in einer objektiven Totalität versinken könnten oder wenn wir, wie im Kantschen Reich der Zwecke, niemals etwas anderes als Subjekte wären, die sich als Subjekte anerkennen, fielen die Trennungen fort; aber man kann nicht bis zum Äußersten gehen, weder in der einen noch in der anderen Richtung: wir können nicht alle Objekte sein, es sei denn für ein transzendentes Subjekt, und wir können auch nicht alle Subjekte seien, es sei denn, wie unternähmen zuerst die unmögliche Auflösung jeder Objektivität; was die absolute Wechselseitigkeit betrifft, so ist sie durch die historischen Klassen- und Rassenbedingungen, durch die Nationalitäten, durch die gesellschaftliche Hierarchie verdeckt; ein Chef ist für seine Untergebenen niemals Objekt, oder ist verloren; für seine Vorgesetzten ist er selten Subjekt.“404 Sartre definiert den Menschen also dahingehend, daß er weder ganz Objekts noch ganz Subjekt sei. Das Phänomen Genet war für ihn dabei ein grenzgängerisches, da Genet das kollektive Objekt für andere war, die darüber ihre eigene Subjektivität konstituieren konnten. Genets Situation beschrieb Sartre folgendermaßen: „Man ist einsam, wenn man zugleich unrecht und hatte: wenn man sich als Subjekt recht gibt – weil man bewußt ist und lebt und, was man gewollt hat wieder verleugnen kann noch will – und als Objekt unrecht, weil man die objektive Verurteilung durch die gesamte Gesellschaft nicht zurückweisen kann.“405 Für Sartre war Genet also Opfer der Gesellschaft und gleichzeitig Täter an ihr. Das Verdienst Genets bestand für Sartre in der bewußten Annahme dieser Rolle. Genet wählte letztendlich die Einsamkeit zu der ein besiegter Opponent der bürgerlichen Gesellschaft verurteilt war. Durch seine Literatur überschreite er jedoch diese Rolle durch die Realisierung einer allgemeinen Ohnmacht aller reduzierten Opposition. Sartres schrieb: “Er trieb diese latente, verhüllte Einsamkeit, die die unsere ist, bis zum äußersten, er bläht unsere Sophismen bis zum Zerplatzen auf, er läßt unser Scheitern bis zur Katastrophe anwachsen, der überbietet unsere Unaufrichtigkeit bis zu Unerträglichkeit, bläst am hellen Tag unsere Schuld erscheinen. Es stimmt: welche Gesellschaft auch immer auf unsere folgt, seine Leser werden nicht aufhören, ihm unrecht zu geben, da er jede Gesellschaft opponiert; aber gerade deswegen sind wir seine Brüder: denn unsere Epoche hat gegenüber der Geschichte 403 Sartre, Jean-Paul: Saint Genet, in: Gesammelte Werke 3. Schriften zur Literatur, Reinbek bei Hamburg, 198, S. 912 404 Ebd., S. 915f 405 Ebd., S. 918f 118 ein schlechtes Gewissen.“406 Kein Zweifel: Sartres Subjekttheorie war dialektisch geworden. Er untersuchte Genet in beiden Richtungen: Was hatte man aus ihm gemacht? Und gleichzeitig: Wie entwarf er sich selbst? Er analysierte welche Anteile an Genet gesellschaftlich waren und zu welchem Zeitpunkt Genet sich darüber erhob und seine Subjektivität selbst bestimmte. Aus dem daraus folgenden Konflikt dechiffrierte Sartre die Art und Weise der gesellschaftlichen Ablehnung gegenüber Genet, um hieraus wieder die verdrängten gesellschaftlichen Muster abzuleiten, die aus Genet einen Spiegel der angeblichen Tugenden machte. Sartre schrieb: „Heute geht es darum, das Subjekt, den Schuldigen, dieses monströse und elende Tier, das wir jeden Moment zu werden drohen, erscheinen zu lassen.“407 Damit rekurrierte Sartre auf das Phänomen, daß Frankreich in seinen Kolonien Kriege führte und folterte, während sich die bürgerliche Öffentlichkeit an Genet stieß. Genet war durch seine Andersartigkeit das offensichtlich böse und abstoßende, mit dem die Konfrontation deshalb einfach fiel, weil sie konkret war. Folter und der Krieg gehörten einem andern Typus der Bestialität an: Gesellschaftlich abgesegnet und wo nicht legitimiert, so doch geduldet. Dagegen setzte Sartre den konstruktiven Nihilisten Genets mit seiner Poesie der Gosse und des Knastes, den Verstoßenen und Gedemütigten, der sich seiner bewußt wurde und sich selbst zum Subjekt machte. Dahinter verbarg sich Sartres lebenslange Sympathie für alle Unterdrückten und seine Engagement für Minderheiten. Lange bevor der Konstruktivismus in Mode kam zeigte Sartre bereits auf, in welchem Zusammenspiel das Gute und das Böse standen, wie die verschiedenen Stigmata konstruiert wurden und welche Interessen sich dahinter verbargen. Doch sein Engagement für die Unterdrückten sollte ihn auch auf Irrwege führen, wie die folgenden Jahre zeigen sollten. Der „Compagnon des routes“ Sartre als Weggefährte der KPF von 1952-1956 Die politische Situation in Frankreich spitzte sich zu: Am 17. Juni 1951 gingen aus den Wahlen zur Nationalversammlung die Gaullisten als Sieger hervor. Die Regierung der «dritten Kraft» fiel auseinander. Auch wenn de Gaulle und die französische Rechte stets auf die Eigenständigkeit der, wie sie sagten, „Grande Nation“ achteten, hatten sie mit den USA im Antikommunismus große Gemeinsamkeiten. Der Historiker Eric Hobsbawm schrieb: „im Gegensatz zur Sowjetunion war die USA eine Demokratie. Leider muß man sagen, daß ebendieser Umstand wahrscheinlich der gefährlichere war. […] Öffentliche Hysterie machte es Präsidenten sehr viel einfacher, die riesigen Summen von notorisch unwilligen Steuerzahlern einzufordern, die für die amerikanische Weltpolitik nötig waren.“408 Fast überall in Westeuropa verschwanden die Kommunisten aus den nationalen Regierungen und wurden zu permanenten politischen Außenseitern. Doch im Jahr 1952 war das Ende dieser Entwicklung nicht absehbar, sondern sie war gerade im Begriff sich durchzusetzen. Wie groß die Angst vor den kommunistischen Parteien 406 Ebd., S. 927 Ebd., S: 929 408 Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme, a.a.O., S. 296 407 119 in Europa war, zeigte sich daran, daß die USA 1948 eine militärische Intervention für den Fall eines Wahlsieges der Kommunisten in Italien geplant hatten409. Auch die französische KP war zu dieser Zeit nicht ohne Einfluß, besonders ihre Position zum Indochinakrieg, war den bürgerlichen Parteien ein Dorn im Auge. So versuchten die bürgerlichen Parteien - nicht ohne Erfolg – sämtliche politischen Positionen an der Frage des Kommunist-Seins zu polarisieren; eine Taktik, die nach dem Zweiten Weltkrieg überall in Europa und den USA angewandt wurde. Am 28. Mai 1952 mobilisierten die französischen Kommunisten für eine Demonstration gegen den frisch nominierten Chef des „SHAPE – Supreme Headquater of the Allied Powers in Europe“ Mathew B. Ridgway. Ridgeway, war im April Oberbefehlshaber der UN-Truppen in Korea gewesen und wurde von den Kommunisten für den Einsatz von bakteriologischen Waffen verantwortlich gemacht. Der Demonstration voraus ging die Verhaftung von André Stil, dem Chefredakteur der kommunistischen Tageszeitung „Humanité“. Dem Aufruf der Kommunisten zur Demonstration folgten nur vergleichsweise wenige Menschen. Nach Zusammenstößen mit der Polizei wurden 718 Menschen verhaftet. Ein halbe Stunde nach dem Ende der Demonstration wurde Jaques Duclos, der Vorsitzende der kommunistischen Fraktion in der Nationalversammlung verhaften. In den nächsten Tagen kam es zu einer landesweiten Verhaftungswelle gegen kommunistische Funktionäre und zur Beschlagnahmung kommunistischer Zeitungen. Für Sartre war dies der Anlaß sich auf die Seite der Kommunisten zu schlagen. Im Juli 1952 schrieb er den ersten Teil von „Die Kommunisten und der Friede“, dem ein zweiter im November und anderthalb Jahre später ein dritter folgte. Seine Biographin Cohen-Solal schreibt über den Sartre dieser Zeit: „Einige Beobachter staunten nicht schlecht über die «Sartresche Wende». In Wirklichkeit beglich der Schriftsteller eigene Rechnungen, als er sich der neuen, putschistischen KPF-Linie anpaßte. Es war wie das Zusammentreffen zweier Aufstandstrategien: Sartre, der Erbe des 19. Jahrhunderts, der die Bourgeoisie so haßte, wie man sie damals haßte; die KPF von 1952, die sich im Kontext des Kalten Krieges auf einen neuen Bürgerkrieg vorbereitete. Henri Martin verhaftet, Jacques Duclos verhaftet, die KPF Opfer einer um sich schlagenden Staatsmacht. Sartre fand alles, woran er seinen Haß festmachen konnte: Er spürte die Dringlichkeit, sprang auf riß sich los […] Innerhalb weniger Minuten wurde alles, was die KPF an Negativem zu verbuchen hatte, getilgt: getilgt die Beschimpfungen von Kanapa zu Hoch-Zeiten des Existentialismus, getilgt die Gemeinheiten von Leclerc zu Les maines sales, vergessen die Pfiffe der Kommunisten, als das Stück später im Kino gezeigt wurde, weggewischt die Beleidigungen von Fadejew auf dem Wroclawer Kongreß zur RDR-Zeit: In wenigen Minuten und für ganze vier Jahre wurde der frühere Schakal, der frühere Iltis, die frühere Viper, die frühere Ratte zum Weggefährten. Sartre selbst hatte nicht einmal diese Gedanken; eine Logik des NichtWiderspruches war nie die seine gewesen, er dachte in Zyklen, praktizierte die Technik der permanenten Bewegung, des Abwägens von Prioritäten und liebte es, wenn Konflikte offen und nicht verdeckt waren.“410 409 410 vgl. Ebd., S. 300 Cohen-Solal, a.a.O., S. 513 120 Welche Auswirkungen hatte dieses Engagement auf Sartres Subjekttheorie? Auf den ersten Blick schien es unmöglich ein freies Subjekt an der Seite einer KPF aufrechtzuerhalten, der Sartre ja vorwarf, daß ihr „Materialismus den revolutionären Entwurf erstickt“411 und „sie ihre Subjektivität wiederentdecken“ 412 müßten. Und tatsächlich rückte der Subjektbegriff immer weiter zur Klasse als Subjekt und immer weiter weg vom Individuum. Die Freiheit des Individuums? Damit war es für den compagnion des routes nicht weit her. In seinen politisch schwärzesten vier Jahren brach er elementar mit seiner Subjekttheorie. Das Individuum? Der Einzelne? Es gab sie für Sartre kaum noch außerhalb der Partei. Im November 1952 schrieb Sartre: „Mit einem Wort: Die Partei ist seine [des Arbeiters, S.O.C.] Freiheit.“413 Sartre verließ den „Dritten Weg“ und schloß sich der KPF an, die er bedingungslos verteidigte. 1961 sollte er über seine Artikelserie „Die Kommunisten und der Friede“ sagen: „In Wahrheit war mir die Luft ausgegangen, ich erkannte, daß ich nichts wußte.“414 In dieser Beziehung ähnelte Sartre Hegel – denn was stand bei Hegel um nicht widerlegt zu werden? MerlauPonty, zu dessen Tod er diese Sätze schrieb, urteilte sehr Weise in seiner Schrift „Sartre et l’ultrabolschevisme“ über den Sartre als compagnion des routes: „Und wenn die Zeitverhältnisse so beschaffen sind […] daß man nicht zugleich freier Schriftsteller und Kommunist oder Kommunist und Opponent sein kann, besteht zwar die Möglichkeit, die marxistische Dialektik, die diese Gegensätze miteinander vereinigte, durch ein ermüdendes Hin und Her zwischen ihnen zu ersetzen, doch mit Gewalt lassen sie sich nicht miteinander versöhnen. Man muß also zurückweichen und von der Seite angreifen, was frontal nicht zu ändern war, und eine andere Aktion als die kommunistische suchen.“415 Es sollte noch weitere 18 Monate dauern, nachdem Merleau-Ponty 1955 diese Zeilen verfaßte, bis Sartre nach der sowjetischen Invasion in Ungarn wieder nach anderen Aktionen und Bündnispartnern suchte. In der Zeit von 1952-56 entwarf er sein politisches Engagement neu: Statt der Gründung einer weiteren Gruppe, unterstützte er die Kommunisten in einer Zeit, da alle anderen Intellektuellen sich von der KPF abwandten. „Weiß Sartre nicht, daß im selben Augenblick, in dem er derlei Schändliches äußert, Tausende in den Moskauer Kerkern dahinvegetieren oder in die »finsteren und stinkenden Leitungen der Strafkolonisation« (Solschenizyn) geschwemmt werden […]? Weiß er nicht, daß auch noch nach Stalins Tod – von den Schriftstellern einmal abgesehen – zweieinhalb Millionen Inhaftierte oder Verschwundene in der eisigen Hölle der großen Strafkomplexe des Gulag ihr Leben fristen? Hat er nie von den zwei oder drei Millionen »Umsiedlern« gehört, die aus den Völkern der Balkaren, Tschetschenen, Inguschen, Kalmücken, Krimtartaren und anderen »bestrafter Völker« stammten und unter Stalin massenhaft deportiert wurden?“416 fragt Lévi. 411 Sartre, Jean-Paul: Materialismus und Revolution, a.a.O., S. 215 Sartre, Jean-Paul: Falsche Wissenschaftler und falsche Hasen, a.a.O. , S. 67 413 Sartre, Jean-Paul: Die Kommunisten und der Friede, in: Sartre, Jean-Paul, Krieg im Frieden II, a.a.O. , S. 203 414 Sartre, Jean-Paul: Über Merleau-Ponty, in: Sartre. Jean-Paul: Gesammelte Werke 2. Autobiographische Schriften, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 116 415 Merleau-Ponty, Maurice, Sartre et l’ultrabolschevisme, in: Les aventures de la dialectique, zit. n.: Cohen-Solal, a.a.O., S. 532 416 Lévy, Bernard-Henri: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, München, Wien, 2002, S. 417 412 121 Er wußte es. Doch er wurde zum „Hypostalinist“ (Edgar Morin) – ein Stalinist, der im Gegensatz zum „Hyperstalinisten“, welcher alle Kritik am Stalinismus brüsk als bourgeoise Verschwörung abtut, alle Kritik gelten ließ, sich um sie aber nicht scherte und trotzdem in seinem bittersüßen Wahn blieb. Gab es eine Linie zwischen dem Sartre des dritten Weges und dem Sartre des Stalinismus? Zumindest im Reflex den Unterdrückten zu Hilfe zu eilen, zeigte sich eine Sartresche Kontinuität. Die Kommunisten wurden wegen einer Demonstration festgenommen? Antikommunismus breitete sich im Land aus? Sartre ließ in seinem römischen Urlaub alles stehen und liegen, um den Kommunisten zu Hilfe zu eilen. „Wenn er sich der KPF zu diesem Zeitpunkt trotz allem näherte, so vor allem deshalb, weil ihm die Absicht der Regierung, diese Partei zum Schweigen und ins Gefängnis zu bringen, unannehmbar erschien: ein absoluter Notfall.“417 In diesem Fall blieb Sartre dem unterdrückten Subjekt treu – mit dem gravierenden Unterschied, daß seine vormalige Gleichsetzung des Subjekts mit dem Einzelnen nicht nur in die Gleichsetzung des Subjekts mit der Klasse, sondern direkt in die Gleichsetzung mit der ganzen KPF mündete. In gewisser Weise näherte sich Sartre Marcuse nun von der anderen Seite: Die Betonung des gesellschaftliche Drucks auf den Einzelnen war bei Marcuse nach seiner Heideggerzeit stets von höherem Rang als das Betonen des grundsätzlich in seinen Entscheidungen frei seienden Menschen. Nur schoß Sartre – auf der Überholspur der Betonung des gesellschaftlichen Zwangs – an Marcuse vorbei und schnürte das Subjekt in Parteistiefel. Der Bruch mit Camus Die neue Position des Compagnion des Routes brachte Konsequenzen mit sich: Den Bruch mit Camus. Mit ihm war eine Annäherung an die KPF nicht zu machen. In einem erbitterten Wortgefecht, das in der französischen Literaturgeschichte seinesgleichen suchte, brachen die beiden miteinander. Vorausgegangen war Camus Veröffentlichung von „Der Mensch in der Revolte“, das bei der gesamten Redaktion der Temps Modernes durchfiel. Vor die Frage gestellt, über das Buch zu schweigen oder es schlecht zu besprechen, wählte man die zweite Variante, da man dachte, daß ein Schweigen als noch größere Beleidigung aufgefaßt werden könnte. Schließlich wählte man Jeanson aus, eine Rezension darüber zu schreiben. Camus reagierte auf diesen Verriß mit einem öffentlichen Schreiben an Sartre. Die Härte des Tons ließ mehr vermuten, als eine rein politische Auseinandersetzung. Dennoch war die unterschiedliche politische Konzeption beider Autoren Grundlage für den Bruch: Sartre auf der einen Seite, der das konkrete Subjekt zugunsten der Partei fallenließ, auf der andern Seite Camus Philosophie, die mit den Anarchosyndikalisten sympathisierte, weil er dort die größtmögliche Übereinstimmung zwischen der Verwirklichung des Subjekts (im Gegensatz zu Sartre im Sinne vom Einzelnen, vom Individuum) und notwendiger politischer Organisation sah. „Atmen heißt urteilen. Es ist vielleicht falsch zu sagen, das Leben sei eine unaufhörliche Wahl. Aber es ist richtig, daß man sich kein Leben vorstellen kann, das jeglicher Wahl beraubt ist.“418 schrieb Camus in der Einleitung zum „Menschen 417 418 Cohen-Solal, a.a.O., S. 521 Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Reinbeck bei Hamburg, 1991 , S. 11 122 in der Revolte“. Dies bedeutete ein Festhalten am starken, wenn auch abstrakten Subjekt Mensch. Im Gegensatz zu Sartre beharrte Camus auf dem Haß und der Ablehnung gegenüber der Gewalt: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das sich weigert zu sein, was es ist. Die Frage ist, ob diese Weigerung ihn zur Vernichtung der anderen und seiner selbst führen kann, ob jede Revolte mit der Rechtfertigung des allgemeinen Todschlags enden muß, oder ob sie im Gegenteil ohne Anspruch auf eine unmögliche Schuldlosigkeit, das Prinzip einer angemessenen Schuld entdecken kann.“419 Während für Sartre die politische Gewalt legitim war, bedeute sie für Camus ein Greuel. Dem Marxismus setzte er den Anarchismus der ersten Internationale entgegen: „Die Geschichte der ersten Internationale, in der der deutsche Sozialismus unaufhörlich gegen das freiheitliche Denken der Franzosen, Spanier und Italiener ankämpft, ist die Geschichte des Kampfes der deutschen Ideologie und dem mittelmeerischen Geist.“420 Doch Camus Analyse schwelgte oft mehr in den schönen Worten, denn an einer praktischen Lösung der Probleme der Zeit. Camus beschwor eine menschliche Natur, deren „unbezwingbare Forderungen“ gegen den geschichtlichen Absolutismus stünden und „deren Geheimnis das Mittelmeer mit seiner Verschwisterung von Geist und hartem Licht bewahrt. Das revoltierende Denken, das der Kommune oder des revolutionären Syndikalismus hat diese Forderungen dem bürgerlichen Nihilismus wie den cäsarischen Sozialismus gegenüber immerfort verleugnet.“421 „Verschwisterung von Geist und hartem Licht“ und ähnliche Formulierungen mit denen Camus ans Werk ging, ließen den Bürgersohn der Familie Schweitzer – Sartre -, der gerade seine proletarische Ader entdeckte, aufschreien und er schleuderte Camus entgegen, daß dieser, statt in der wirklichen Welt, in der „Republik der schönen Seelen“ wohne. Auf der einen Seite der Bürgersohn Sartre, auf der anderen Seite der Bauernsohn eines Algeriers. Später bezeichnete Sartre Camus einmal als „kleinen Gassenjungen aus Algier“, der den Philosophen spiele. Beide traten mit dem Anspruch dem Gestus des schriftstellerischen Alleinherrschers über die französische Literatur auf, gepaart mit sich überschneidenden Frauengeschichten war dies eine explosive Mischung. Auch Jahre später mischten sich bei Sartre noch Bewunderung und Verachtung: „In intellektueller Hinsicht durfte man nicht zu weit, denn er wurde leicht kopfscheu; ein bißchen war er immer noch der kleine Gassenjunge aus Algier, sehr ungezogen und frech. Er ist vermutlich mein letzter Freund gewesen.“422 Der Ton des Disputs sprach Bände: „Ich will deshalb antworten: ganz ohne Zorn, aber zum ersten Mal, seit ich sie kenne, ohne jede Schonung.“, schrieb Sartre. Und weiter: „Ein Gemisch aus unbewußter Selbstgefälligkeit und Verwundbarkeit hat einen immer davon abgehalten, Ihnen die ganze Wahrheit zu sagen. Das Ergebnis ist, daß Sie einer dumpfen Maßlosigkeit zum Opfer gefallen sind, die Ihre inneren Schwierigkeiten verdeckt und die Sie, glaube ich mediteranes Maß nennen.“ 423 Zwischen den beiden größten französischen Schriftstellern dieses Jahrhunderts 419 Ebd., S. 13 Ebd., S. 242 421 Ebd., S. 243 422 Sartre, Jean-Paul: Selbstportrait mit siebzig Jahren, Interview mit Michel Contat, in: Sartre, Jean-Paul: Gesammelte Werke, Autobiographische Schriften 2, XXX., S. 253 423 Sartre, Jean-Paul: Antwort an Albert Camus, in: Sartre, Jean-Paul: Krieg im Frieden, a.a.O., S. 27 420 123 entbrannte ein Streit, der, dem Ton nach zu urteilen, weit über das politische Maß hinausging, Dennoch basierte er auf politischen Unterschieden. Der „Hypostalinist“ Sartre verteidigte die UdSSR und den Kommunismus gegen das bürgerliche Frankreich: „Ja, Camus, ich finde diese Lager wie Sie untragbar: aber ebenso untragbar die Art, wie die «sogenannte bürgerliche Presse» sie jeden Tag ausschlachtet. […] Das einzige Gefühl das diese Nachricht [der Existenz der Lager, S.O.C.] in ihm [dem Anitkommunisten, S.O.C.] hervorrief, war – ich sträube mich fast, es auszusprechen – Freude. Freude, weil er darin endlich einen Beweis für seine Sache sah und weil man jetzt gespannt sein konnte, wie es weiterging.“424 Die Lektüre dieses Streites mutet heute – nach 60 Jahren – absurd an. Doch der Geist des Bürgertums der damaligen Zeit war unzweifelhaft. Antoine Pinay, der damalige Ministerpräsident der fünften Republik sprach über das Ideal der französischen Ordnung: „Die Ordnung der Finanzen spiegelt sich in der Ordnung der Wechselkurse wider, die Währungsordnung in der Wirtschaftsordnung, die Gesellschaftsordnung in der Sittenordnung.“425 Gepaart mit der Verfolgung der KPF waren dies eindeutige Signale. Sartres früherer Philosophie zufolge müsse man sich entscheiden: Schweigen hieße sich der vorherrschenden Tendenz zu beugen – und das war die des Antikommunismus. Oder dagegen auf Seiten der KPF Partei zu beziehen. Der Position Camus warf er vor: „Sie tadeln das europäische Proletariat, weil es den Sowjets nicht öffentlich seine Mißbilligung ausgesprochen hat, aber sie tadeln auch die Regierungen Europas, weil sie Spanien in die UNESCO aufnehmen wollen; in diesem Fall sehe ich für sie nur noch eine Lösung: die Galapagosinseln. Denn die einzige Möglichkeit, den Sklaven dort zu helfen, scheint mir im Gegenteil darin zu liegen, daß man die Partei der von hier ergreift.“ Zumindest schien Sartre – für seine eigene Person, seine eigene Subjektivität – noch an die Grundlage der freien Entscheidung zu glauben. Auch wenn seine politischen Texte mit diesen Positionen brachen, so hatten sie doch noch Geltung für die öffentliche und private Person Jean-Paul Sartre. Auf ihrer Grundlage fällte er die Entscheidung ins Lager der Kommunisten zu wandern – und auch 1956 sich von der KPF zu trennen. Die dazwischen liegende Periode von 1952-1956 gehörte zu seiner Dunkelsten und entschuldigt keinesfalls seine Artikel- und Interviewserien dieser Zeit. Nach einem Besuch in der Sowjetunion im Jahre 1954 bediente er das mit André Gide begonnene Genre vom „Bericht eines Schriftstellers nach einem Besuch in der UdSSR“. Er behauptete allen ernstes, daß in der UdSSR „die totale Freiheit der Kritik herrscht“. „»Habe Sie den Eindruck«, fragt der Journalist, »daß es in der Sowjetunion einen besonderen Menschentyp gibt?« Ja, natürlich antwortet Sartre. Und wäre es nur wegen dieser freundlichen »Pionierlager«, wo man die Kinder »von sieben Jahren an« daran gewöhnt, vor großen »Stalinportraits« »zu tanzen« und »vergnügt zu sein«. Haben Sie das Gefühl, daß sich die Frage der »gesellschaftlichen Privilegien« dort mit derselben Schärfe stellt »wie bei uns«? Lieber Himmel, nein! Es gibt fast nicht einmal einen kleinen »Kern einer Elite«, die geneigt wäre, sich zur »Schicht auszubilden«; außerdem ist diese Elite »der Kritik« zugänglich; ja sie unterwirft sich »permanenter Selbstkritik« und ist durchaus gewillt, ihr Privilegien aufzugeben […]. In der Sowjetunion besitzt der Bürger die »volle Freiheit der Kritik«. Er »kritisiert mehr und auf viel effektivere 424 425 Ebd., S. 37f zit. n.: Cohen-Solal, a.a.O., S. 520 124 Weise« als »der französische Arbeiter«. Er tut es – darin liegt das höchste Verdienst! - »nicht in einem Café«, sondern »öffentlich« und in voller, uneingeschränkter »Verantwortung«.“426 Später, in einem Interview mit Michele Contat anläßlich seines siebzigsten Geburtstag äußerte sich Sartre über die Artikel folgendermaßen: „[…] nach meinem Besuch in der Sowjetunion habe ich gelogen. Na »gelogen« ist vielleicht zu viel gesagt: Ich verfaßte einen Artikel – den übrigens Cau zu Ende schrieb, weil ich krank war, ich hatte in Moskau ins Krankenhaus gehen müssen -, in dem ich über die UdSSR freundliche Dinge sagte, die ich nicht wirklich dachte. Ich tat das meinerseits, weil ich der Meinung war, wenn man bei Leuten zu Gast gewesen sei, dann könne man sie nicht, kaum wieder zu Hause, mit Dreck bewerfen, und andererseits, weil ich mir über die UdSSR und meine eigenen Ideen nicht ganz klar war.“427 Gelogen? Nicht selbst geschrieben? Als Intellektueller sich nicht über seine eigenen Ideen im klaren sein? Dies waren sehr schwache Entschuldigungen und Selbsterkenntnisse eines Siebzigjährigen. Sartre sollte anfällig bleiben für die Faszination der politischen Aktion, auch wenn sie den Hang zum Totalitarismus hatte. Zu Sartres Verteidigung kann nur gesagt werden, daß sich die KPF von anderen kommunistischen Parteien unterschied, die KPI unter Togliatti ausgenommen – zu der Sartre immer ein enges Verhältnis hatte –, da es ihr gelang, neben den üblichen „Apparatschicks“, Künstler und Intellektuelle zu versammeln. Sie verfügte als eine der wenigen KPs über ein literarisches und kulturelles Umfeld. Im Rahmen seiner Aktivitäten traf er unter anderem auf Brecht, Chaplin und Picasso. Er lernte Heidegger und Lukács kennen, freundete sich mit Togliatti an, der nach 1956 öfter für „Les Temps Modernes“ schrieb und unterhielt Kontakt mit Moravia Silone, Ungaretti, Piovene, Pablo Neruda und Carlo Levi sowie dem „Kulturpapst“ der KP, den Surrealisten Louis Aragon. Die Vorstellung eines parierenden Parteisoldaten wäre völlig deplaziert. Er fällte die Entscheidung der KPF zu helfen im Rahmen seiner Philosophie der Freiheit – und irrte mit ihr. Doch er irrte nicht in allem: Als die französische Regierung den Matrosen Henry Martin, der Flugblätter gegen den Krieg in Vietnam verteilte, festnahm, unternahm die KPF eine breite Kampagne gegen den Indochinakrieg und zur Befreiung Martins. Sartre verfaßte mit anderen – darunter auch Jacques Prévert - ein ganzes Buch über Martin, in dem er das Portrait eines Matrosen meißelte, das aus dem gleichen Marmor wie die stalinistischen Denkmäler stammen könnte. Martin wurde schließlich „vorzeitig entlassen“. Keine andere gesellschaftliche Kraft in Frankreich außer der KPF war in der Lage effizient gegen den Krieg vorzugehen. In dieser, seiner „hypostalinistischen“ Zeit, sollte er wenigstens mit seiner Position gegen den Kolonialkrieg recht behalten. Sartres Subjekttheorie dieser Zeit kann damit umrissen werden, daß er eine offizielle Theorie vertrat, in der das Subjekt in der Partei aufging und eine, die für den politischen Intellektuellen galt. Die zweite sollte sich in den nächsten Jahren wieder durchsetzen und den Einzelnen nicht mehr in der Partei aufgehen lassen. Für Sartres Ansprüche an sich selbst galt weiterhin die freie Entscheidung, auf dessen Grundlage er die Solidarität mit der KPF wählte. 426 427 Lévi, Bernard-Henry, a.a.O., S. 415 Sartre, Jean-Paul: Selbstportrait mit siebzig Jahren, a.a.O. , S. 272 125 Dem Weltgeist in die Nüstern spucken Marcuse und der Traum von der Rückkehr zum Institut für Sozialforschung Über die Zeit Marcuses beim OSS ist wenig bekannt. Posthum wurden seine „Feindanalysen“ publiziert, die einen kleinen Einblick in die ersten Jahre Marcuses beim Geheimdienst gaben. Bekannt ist, daß er ein Fellowship am Russian Institute der Columbia University wahrnahm und ein Angebot des Russian Research Center der Harvard University in Cambridge hatte. Doch der Tod seiner Frau Sophie bestimmte, bevor Marcuse Pläne für eine Rückkehr zum von Horkheimer geleiteten Institut für Sozialforschung schmiedete, sein Leben: „Teddie428 hat schon ganz recht: der Tod ist ein Absurdität, und die einzige Möglichkeit mit ihm fertigzuwerden, ist sie zu verdrängen. Helfen tut doch nichts. […] Ich bin noch nicht so weit, entscheiden zu können, was jetzt geschieht. […] Diese letzten Monate haben mir ganz stark eingeprägt, daß ich eigentlich nur noch das tun sollte, was ich für richtig halte. Für alles andere ist keine Zeit mehr. Ich bin vielleicht zum ersten Mal frei, die Entscheidungen zu machen – und ich verstehe jetzt die Unannehmlichkeiten der Freiheit“429 Nach einem Besuch in Frankfurt schrieb Marcuse an Horkheimer sechs Monate später, im Oktober 1951: „[…] die wenigen Tage in Frankfurt haben mir wieder einmal gezeigt, daß in einem halbstündigen Gespräch zwischen uns mehr herauskommt als in wochenlangen isolierter oder berufsmäßiger Bemühung. […] Wenn Sie bereit sind, dem Weltgeist in die Nüstern zu spucken, mache ich gerne mit – aber das Spucken muß sich lohnen. […] Ich bin so egoistisch geworden, daß mir an der »Flaschenpost« jetzt weniger gelegen ist als an der Erfüllung unserer verbleibenden Lebensjahre.“430 Trotz der großen Verbundenheit Marcuses gegenüber Horkheimer blieben die Nüstern des Weltgeistes unbespuckt. Marcuses Rückkehr zum Institut scheiterte daran, daß „sich die alte Konstellation aus der Zeit der Trennung Marcuses von Horkheimer wieder herstellten. Horkheimer und das Institut wollten Marcuse gegenüber – dem allerdings während der langen Krankheit seiner Frau durch Kredite geholfen war – keine finanziellen Verpflichtungen eingehen; Marcuse – inzwischen ein 55jähriger Mann – wollte nicht auf gut Glück nach Deutschland gehen; Adorno bekundete unverhohlene Eifersucht.“431 Und so erreichte Horkheimer am 3.6.1954 ein weiterer Brief Marcuses in dem er schrieb: „Sie werden inzwischen schon […] gehört haben, daß ich ein Angebot der Brandeis University angenommen habe: full professorship in the Department of Political Science. […] – denn ich denke selbstverständlich nicht daran, dort die Jahre meines noch verbleibenden Berufslebens zu verbringen. Aber ich kann nur abwarten, wie sich die Dinge bei Ihnen entwickeln.“432 428 gemeint war Adornos Kosename Marcuse, Herbert: Brief an Max und Maidon Horkheimer sowie Friedrich und Carlota Pollock, 3. März 1951, in: Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcoctail. 1946-1995, Band 2, Hamburg, 1998, S. 58 430 Marcuse, Herbert: Brief an Max Horkheimer, 18. Oktober 1951, in: Kraushaar, a.a.O., S. 62f 431 Wiggershaus, a.a.O., S. 517f 432 Marcuse, Herbert: Brief an Max Horkheimer, 3.6.1954, zit. n.: Wiggershaus, a.a.O., S. 519 429 126 Marcuse gab also die Hoffnung nicht auf, doch noch einmal mit Horkheimer arbeiten zu können. Erfüllen sollte sie sich nicht. Statt dessen arbeitete er an seinem Freudbuch, daß 1955 mit dem Titel: Eros and Civilasation erschien. Als hätte der Weltgeist Marcuses Begehrlichkeit, ihm in die Nüstern zu spucken, zur Kenntnis genommen, revanchierte er sich auf seine Weise: Neben Marcuse sollte vier Jahre später jemand anderes ebenfalls an einem Buch, genauer gesagt an einem Drehbuch über Freud arbeiten: Sartre, der in Geldnot geraten war, lieferte dem Regisseur John Huston ein Freud-Drehbuch für einen – wäre das Drehbuch umgesetzt worden – achtstündigen Film. Nachdem das Einzige was Marcuse in jenen Jahren publizierte, eine Besprechung von Sartre war, sollten sich ihre Arbeitsschwerpunkte ein weiteres Mal kreuzen. Doch diesmal mit weit mehr Sympathien füreinander. Marcuses: Eros and Civilization 1955 Marcuses letztes Buch, “Vernunft und Revolution“, lag 14 Jahre zurück und dennoch schien er nahtlos an seine alten Schriften anknüpfen zu können. In seinen letzten Schriften konstatierte er ein verwaltetes Subjekt und im Gegensatz zu Sartre, der vom Subjekt der totalen Freiheit zum Arbeiter in der Partei als temporäre Verwirklichung der Freiheit überging, blieb er bei seiner Konzeption und vertiefte sie. Einigkeit zwischen beiden Theorien bestand in der gesellschaftlichen Dominanz über den Einzelnen. Doch Marcuse kam in den USA zu anderen Schlüssen als Sartre in Frankreich. Während in Frankreich durch eine einflußreiche KPF eine gesellschaftliche Kraft existierte, die – wenn auch keine annehmbare – eine Perspektive auf den Sozialismus bot. Weiterhin sorgte sie für ein kulturelles Umfeld, das als metapolitisches Feld verstanden werden konnte. Die große kulturindustrielle Vereinnahmung des Einzelnen wie in den USA fand in Frankreich nicht in dem Maße statt, um von einer kulturellen Hegemonie sprechen zu können. Die Kommunisten hatte mit der „Humanite“ eine wichtige Zeitung in der eine Gegenöffentlichkeit organisiert werden konnte. Marcuses Beobachtungen in den USA, wo Kommunisten und Sozialisten eine politisch zu vernachlässigende Größe waren und die Subjekte bereits in ganz anderem Maße durch die Kulturindustrie geprägt wurden, mußten different ausfallen. Die USA mit Hollywood konnte als Mutterland der Kulturindustrie angesehen werden. Die Verschmelzung von politischer Ideologie und Subjektivität war in den USA ein weit dringlicheres und offensichtlicheres Thema als in Frankreich. Es galt also zu erklären, wie es um die psychische Situation der Einzelnen bestellt war. Deshalb suchte Marcuse mit der psychoanalytisch geprägten Kulturtheorie Freuds nach Wegen, um die gesellschaftlichen und subjektiven Transformationen zu erklären. Marcuses Grundannahme war, daß aus der Logik der Produktion Rückschlüsse auf die Transformation der Individuen zu schließen wären. Dabei seien die Individuen nicht als aufgeklärte anzusehen, da ihnen das gleiche Schicksal wie der Aufklärung selbst widerfuhr. Die Aufklärung blieb für die kritische Theorie vor der Aufklärung der ökonomischen Verhältnisse stehen. Marcuses Konzeption war der „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer sehr nah. Man könnte sagen, daß Marcuse danach suchte die „Dialektik der Aufklärung“ triebtheoretisch zu fundieren. Großes Augenmerk legte er auf die prinzipielle Möglichkeit des Subjekts auf gesellschaftliche und damit persönliche Veränderung. Die Triebstruktur der Subjekte stünde, so Marcuse, in direktem Bezug zum sie umgebenden gesellschaftlichen Produktionssystem. Mehr noch: Die Subjekte seien 127 auf dem Weg nur noch zu Anhängseln der Produktion zu werden. Die Austauschbarkeit des Einzelnen im Produktionsprozeß habe, so Marcuse, grundlegende Auswirkungen auf die Beziehungen der Menschen: „Die Entfremdung der Arbeitsleistung ist fast vollständig. Die Mechanik des Fließbands, die Routine des Bürobetriebes, das Ritual von Kauf und Verkauf sind jeder Beziehung zu menschlichen Möglichkeiten entkleidet. Arbeitsbeziehungen sind in hohem Maße zu Beziehungen zwischen Personen als austauschbaren Objekten wissenschaftlicher Lenkung geworden.“433 Dahinter verberge sich die Ideologie, „daß Produktion und Konsum die Beherrschung des Menschen durch den Menschen rechtfertigt und ihr Dauer verleiht.“434 Dies habe Auswirkungen auf die Wissenschaft der Psychologie: „Die traditionelle Grenze zwischen der Psychologie einerseits und der politischen und Sozialphilosophie andererseits ist durch die Lage des heutigen Menschen unscharf geworden: ehemals autonome und identifizierbare Prozesse sind durch die Funktion des Individuums im Staat übernommen und absorbiert worden – durch das öffentliche Dasein des Einzelnen. So wandeln sich psychologische in politische Probleme: private Verwirrungen spiegeln heute in viel unmittelbarer Weise die Verwirrung des Ganzen wider, und die Heilung persönlicher Störungen hängt viel direkter als ehedem von der Heilung der Gesamtstörung ab.“435 Durch die Konstatierung der Störungen des Einzelnen als gesellschaftliche Störungen, ließ sich eine Konzeption des menschlichen Wesens ableiten, die ihre Determination durch die Kultur erhielt. Ähnlich wie Sartre akzeptierte auch Marcuse keinen Kern des Subjekts der durch erste Natur bestimmt war: „Der Bereich der Natur ist völlig verschieden vom Bereich der Freiheit: in die Kausalitätsgesetze kann keine subjektive Autonomie einbrechen und kein aus dem Bereich der Sinne kommendes Faktum kann die Autonomie des Subjekts bestimmen (denn sonst wäre das Subjekt nicht frei). Und doch muß die Autonomie des Subjekts eine »Wirkung« in der objektiven Wirklichkeit haben, und die Ziele, die das Subjekt sich selbst setzt, müssen wirkliche sein.“436 Das was den Subjekten als „Natur“ erschien, war für Marcuse nichts anderes, als die die Subjekte umgebende Gesellschaft. Marcuse widersprach der Auffassung, daß „der Eros als Trieb die (reine) Natur des Menschen ist, sondern [er] versteht ihn als geschichtlich entwickeltes schöpferisches Potential, mithin als die aktuell erreichten menschlichen Fähigkeiten.“437 Das Projekt seiner neuen Freudrezeption war klar umrissen: Marcuses Überlegungen unternahmen den Versuch, „die tabuisierten Einsichten der Psychoanalyse (tabuisiert sogar in der Psychoanalyse selbst) auf eine Deutung der Grundtendenzen der Kultur anzuwenden.“438 Anders gesagt: Nicht nur das Subjekt, sondern ebenso die Gesellschaft gehöre auf die Couch. 433 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt /M, 1980, S. 103 Ebd., S. 101 435 Ebd., S. 7 436 Ebd., S. 172 437 Flego, Gvozden: Erotisieren statt sublimieren, in: Institut für Sozialforschung: Kritik und Utopie im Werk von Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1992, S. 194 438 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, a.a.O., S. 13 434 128 Die wohl streitbarsten Momente des Buches bestanden darin, daß Marcuse seine Lesart Freuds auch als die von Freud selber vertrat und damit in Konflikt mit den neofreudianischen Theoretikern geriet. Besonders seine Ansicht, daß „[…] die Triebe selbst »historische« sind. […]“ und das „es keine Triebstruktur »außerhalb« der historischen Struktur“439 gebe, verärgerte all jene, deren Theorien auf biologischen Triebsubstanzen aufbauten. Angelehnt an Freuds „Unbehagen an der Kultur“ konstatierte Marcuse: „Kultur beginnt dort, wo auf das primäre Ziel – nämlich die vollständige Befriedigung von Bedürfnissen – mit Erfolg verzichtet wird.“440 Freuds Fragestellung am Ende von „Das Unbehagen in der Kultur“ lautete: „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.“441 Freud stellte diese Frage 1930, nachdem bereits ein Weltkrieg mit den schlimmsten Massakern der bisherigen Menschheitsgeschichte getobt hatte. Marcuses Antwort auf diese Frage im Jahr 1955, nachdem das Undenkbare Wirklichkeit geworden war, konnte nicht mit großem Vertrauen in die Kulturentwicklung formuliert werden. Vielmehr analysierte er das Möglichwerden von Auschwitz als Resultat bisheriger Kultur: „Konzentrationslager, Massenvernichtung, Weltkriege und Atombomben sind kein »Rückfall in die Barbarei«, sondern die hemmungslose Auswirkung der Errungenschaften der modernen Wissenschaft, Technik und Herrschaftsformen über Menschen. Und diese erfolgreichste Unterwerfung und Vernichtung des Menschen durch den Menschen geschieht auf der Höhe der Kultur, in einem Zeitpunkt, wo die materiellen und intellektuellen Errungenschaften der Menschheit die Schaffung einer wirklich freien Welt zu erlauben scheinen.“442 Es war nach zwei Weltkriegen notwendig geworden, diese Analogie zwischen der bisherigen Kultur und der durch sie produzierten Grausamkeit herzustellen. Dabei war die Ausgangssituation paradox: Die westlichen Zivilisationen verfügten über die technischen Möglichkeiten, die ein Leben jenseits der Not hätten ermöglichen können; doch anstatt eine Welt einzurichten, die von Not und Hunger befreit gewesen wäre, kam es zu zwei Weltkriegen. Marcuse resümierte: „Da es die Kultur selbst war, die dem modernen Menschen »diese Wunde zufügte« [die Wunde der Entfremdung, S.O.C.], kann nur eine neue Form der Kultur sie heilen.“443 Doch worin sollte sich diese neue Kultur von der alten unterscheiden? Was war das spezifische Moment an der alten Kultur, das in der Lage war, den Individuen, der „lebendige Substanz der Geschichte“444, ihre Entmenschlichung als Lust zu präsentieren? Und wie könnte eine andere Kultur beschaffen sein, die diese „Heilung“ ermöglichte? Der freudschen Triebtheorie zufolge, kennzeichnete der unauflösliche Konflikt zweier Grundtriebe das menschliche Wesen: Eros und Thanatos (wobei Freud 439 Ebd., S. 132 Ebd., S. 17 441 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: Freud, Sigmund: Studienausgabe, Band IX, Frankfurt /M, 2000, S. 270 442 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, a.a.O. , S. 10 443 Ebd., S. 184 444 Ebd., S.106 440 129 daneben auch ein Nirwana-Prinzip kannte445). Aus diesen Trieben folgten zwei Prinzipien: Das Lustprinzip auf Seiten des Eros und das Realitätsprinzip auf Seiten des Thanatos. Das Lustprinzip definierte „die Grundorientierung der menschlichen Triebe, wie sie sich ohne alle äußere Einflüsse auswirken würden; das Realitätsprinzip dagegen ihre – phylogenetisch und onthogenetisch – sich entfaltende Kontrolle und Umformung durch Anpassung an die objektiven Existenzbedingungen.“446 Marcuse plädierte für eine Neubestimmung der Begriffe in dem Sinne, daß der Begriff des Realitätsprinzips nicht ausreichend sei, um das zu bezeichnen, was den Fortschritt der westlichen Kultur und Zivilisation beherrsche. „Wir bezeichnen dies Realitätsprinzip als das Leistungsprinzip; und wir versuchten nachzuweisen, daß Herrschaft und Entfremdung – der vorherrschenden gesellschaftlichen Organisation der Arbeit entspringend – in hohem Maße die den Trieben durch dieses Realitätsprinzip auferlegten Forderungen bestimmen.“447 Das Leistungsprinzip, so Marcuse, sei die „vorherrschende historische Form des Realitätsprinzipes“448 Die gesellschaftliche Realität sei, so Marcuse, von einem absurden Widerspruch erfüllt: Auf der einen Seite verfügten die fortgeschrittenen Industriegesellschaften über die technischen Möglichkeiten Hunger und Armut zu besiegen und zu einer freieren Gesellschaft, die sich durch ein Ausbleiben von Verteilungskämpfen auszeichnen könnte, überzugehen. Auf der anderen Seite weise die Gesellschaft in realitas ein Höchstmaß an Unterdrückung und Gewalt auf. Dieses Paradoxon fände sich, so Marcuse, direkt im Subjekt wieder: „[…] Je näher die reale Möglichkeit rückt, den Einzelnen von den ehemals durch Mangel und Unreife gerechtfertigten Einschränkungen zu befreien, desto mehr steigert sich die Notwendigkeit, diese Einschränkungen aufrecht zu erhalten und immer funktionstüchtiger zu gestalten, damit sich die bestehende Ordnung nicht auflöst. Die Zivilisation muß sich gegen das Traumbild einer Welt verteidigen, die frei sein könnte.“449 Aus dem Widerspruch zwischen der realen Möglichkeit einer anderen Welt und dem real herrschenden Gesellschaftssystem kam Marcuse dazu den Begriff der zusätzlichen Unterdrückung zu definieren: „Zusätzliche Unterdrückung: die durch die soziale Herrschaft notwendig gewordene Beschränkungen. Sie unterscheiden sich von der (Grund-) Unterdrückung, der Triebmodifizierung, die für das Fortbestehen der menschlichen Rasse in der Kultur unerläßlich ist.“450 Marcuse Konzeption ging von einem widersprüchlichen Subjekt aus. Das Subjekt verfügte bei ihm über einen Kern, der nach Befreiung strebe, aber gleichzeitig über eine gesellschaftlich implementierte Triebstruktur, die es das Leistungsprinzip verinnerlichen lasse. In Marcuses Theorie interiorisierte das moderne Subjekt die gesellschaftlichen Determinanten sogar soweit, daß die traditionelle Rolle des Vaters durch die moderne Verwaltung übernommen werde: „Der innerhalb der Familie und in seiner individuellen biologischen Autorität beschränkte Vater wird, mit viel höherer Machtvollkommenheit, in der Verwaltung wieder aufgerichtet, in der Verwaltung, 445 vgl. Marcuse, Herbert: Trieblehre und Freiheit, in Marcuse, Herbert: Psychoanalyse und Politik, Frankfurt /M, 1968, S. 12 446 Arnason, Johann Pall: Von Marcuse zu Marx, Neuwied & Berlin, 1971, S. 146 447 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, a.a.O. , S.129 448 Ebd., S. 40 Ebd., S. 95 450 Ebd., S. 40 449 130 die das Leben der Gesellschaft erhält, und in den Gesetzen, die die Verwaltung schützen. Diese letzte und sublimste Interaktion des Vaters kann nicht »symbolisch« durch Emanzipation überwunden werden; es gibt keine Freiheit vor der Verwaltung und ihren Gesetzen, denn sie erscheint als die höchsten Garantien der Freiheit selbst. Die Auflehnung gegen sie wäre wiederum das äußerste Verbrechen – diesmal nicht gegen das Despot-Tier, das die Befriedigung verbietet, sondern gegen die weise Ordnung, die die Güter und Dienst für die fortschreitende Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse sicherstellt. Jetzt erscheint die Auflehnung als das Verbrechen gegen die gesamte menschliche Gesellschaft und daher jenseits jeder Sühne und Erlösung.“451 Doch genau diese „große Weigerung“ sei nötig gegen eine Welt „in der weite Gebiete in Armut leben“. Dies liege „nicht mehr in erster Linie am Mangel menschlicher und natürlicher Hilfsmittel, sondern an der Art, wie diese Mittel verteilt und ausgenutzt werden.“452 Die Zivilisation habe sich also gegen das Traumbild einer Welt zu verteidigen, die frei sein könnte. In diesem Zusammenhang sprach Marcuse von der „Automatisierung des Über-Ich“. An die Stelle des Patriarchen der Familie, der maßgeblich zur Ausbildung des Über-Ichs beitrug, trat die verwaltete Welt mit ihren Institutionen. Damit war die alte Rolle der Familie, die vielerorts als „Keimzelle der Gesellschaft“ bezeichnet wurde, historisch überholt, die „technische Aufhebung des Individuums“ spiegle sich im Abstieg der sozialen Funktion der Familie wieder. Die Verwaltung, die an die Stelle des traditionellen Vaters trete, setzte dagegen den „großen Niemand“ (Arendt): „Auf ihrem Gipfelpunkt scheint sich die Konzentration der ökonomischen Macht in Anonymität zu verwandeln: von den Begegnungen und eigenen Gesetzen des Apparates scheint jedermann, selbst wenn er an der Spitze steht, machtlos zu sein.“453 Die Leistungsprinzipien der fortgeschrittenen Industriegesellschaften, so Marcuse, würden direkt im Ich verankert: „Das Ich erlebt das Dasein als »Herausforderung«, als »Entwurf«, es erfährt jeden Daseinszustand als eine Einschränkung, die überwunden werden muß, als etwas, das in etwas anderes umzuformen ist. Das Ich wird darauf geprägt, erfolgreich tätig zu sein, ehe noch irgendeine besondere Situation solch eine Haltung erfordert.“454 Marcuse zitierte hier Sartresche Begrifflichkeiten, als er vom Entwurf schrieb. Es war das erste Mal, das er in seiner Arbeit einen – wenn auch leisen – Bezug zu Sartre herstellte. Den Begriff des Entwurfes sollte er in späteren Arbeiten noch häufiger verwenden. Den Zustand dessen, was mit den objektiven technischen Möglichkeiten zu erreichen sei, bezeichnete Marcuse als Abschaffung zusätzlicher Unterdrückung: “Die Versöhnung zwischen Lust- und Realitätsprinzip hängt nicht vom »Überfluß für alle« ab. Die einzig richtige Fragestellung ist die, ob vernünftigerweise ein Kulturstand vorstellbar ist, in dem menschliche Bedürfnisse in einer Weise und in einem Maße befriedigt werden, die die Abschaffung zusätzlicher Unterdrückung erlauben.“455 451 Ebd., S. 93 Ebd., S. 93f 453 Ebd., S. 99 454 Ebd., S.111 455 Ebd., S. 151 452 131 In der Einschätzung der Psychoanalyse, der eigentlichen Theorie des Subjekts, begannen sich Gemeinsamkeiten zwischen Sartre und Marcuse herauszubilden. Zwar war Marcuse weit davon entfernt Sartres Positionen der freien Wahl und des Fehlens eines Unterbewußten zu teilen, doch dessen Attacken richteten sich vornehmlich gegen die biologische Vorstellung eines Unbewußten. Im „SaintGenet“ zeichnete er ja bereits ein Bild einer übermächtigen Gesellschaft und auch in „Der Ekel“ war ebenfalls das Erdrücken des Einzelnen durch die Welt zu spüren. Für Marcuse, bei dem das Subjekt in viel stärkerem Maß als bei Sartre verwaltet war, versagte die Psychoanalyse, wenn sie gesellschaftlichen Faktoren außer acht lasse. Er schrieb: „Aber an einem entscheidenden Punkt scheint die psychoanalytische Methode zu versagen: die Geschichte hat sich »hinter dem Rücken« der Individuen und über den Einzelnen hinaus fortentwickelt und die Gesetze der historischen Prozesse haben auf diese Weise mehr die verdinglichten Institutionen als die Individuen beherrscht.“456 So wie für Sartre die Bewußtwerdung einer „Urwahl“ zum Grundstock seiner psychoanalytischen Praxis gehören sollte, bei der eine Aufklärung über die gesellschaftlichen Zustände und Zuschreibungsprozesse ein Teil des Heilungsprozesses war, so war auch für Marcus eine „unpolitische“ Psychoanalyse undenkbar. Die Existenz der zusätzlichen Unterdrückung analysierte Marcuse in den USA wie in der UdSSR. Damit unterschied er sich von Sartre, der sich damals auf dem Höhepunkt seiner Solidarität mit der KPF befand. Einen Satz wie Marcuses: „Tüchtigkeit und Unterdrückung reichen sich die Hand: die Produktivität der Arbeit zu steigern, ist das geheiligte Ideal des Kapitalisten wie der stalinistischen Stachanow-Methode. Diese Auffassung der Produktivität hat aber ihre historischen Grenzen: es sind diejenigen des Leistungsprinzips. Jenseits dieser Domäne hat die Produktivität andere Inhalte und eine andere Beziehung zum Lustprinzip: in den Vorgängen der Phantasie sind sie vorweggenommen, die sich freihalten vom Leistungsprinzip, während sie den Anspruch eines neuen Realitätsprinzips unterstützen.“457 wäre von Sartre erst nach 1956 unterschrieben worden. Zu diesem Zeitpunkt vertrat Sartre noch das Bild der glücklichen Kinder, „die unter Stalinbüsten spielten“. Erst nach dem Einmarsch der UdSSR in Ungarn sollte die Annäherung zwischen Sartre und Marcuse weitergehen. Welche Möglichkeiten boten sich für Marcuse, um dieser erdrückenden Welt entgegenzutreten und Ausblicke auf eine bessere Welt zuzulassen? Marcuse beantwortete diese Frage damit, daß er der Kunst die Rolle zuschrieb. Sie böte, so Marcuse, einen Ausblick auf eine andere Form des Lebens. Daneben sah er in Sinnlichkeit und Phantasie Gegengifte gegen die Entfremdung: „Phantasie sieht das Bild der Wiederversöhnung des Einzelnen mit dem Ganzen, des Wunsches mit der Verwirklichung, des Glücks mit der Vernunft. Für das geltende Realitätsprinzip ist diese Harmonie ins Reich der Utopie entrückt, aber die Phantasie besteht darauf, daß es Wirklichkeit werden muß und kann: daß hinter der Illusion ein Wissen steht. Die Wahrheiten der Vorstellungskraft werden erst realisiert, wenn die Phantasie selbst Form annimmt, wenn sie ein Universum der Wahrnehmung und des Verständnisses – ein subjektives und gleichzeitig objektives Universum schafft. 456 457 Ebd., S.107 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt /M, 1980, S. 155 132 Dies geschieht in der Kunst.“458 Für Marcuse stellte Kunst die „sichtbarste »Wiederkehr« des Verdrängten“ dar. „Die Kunst verbündet sich mit der Revolution. Das kompromißlose Bekenntnis zu den unverfälschten Wahrheitsgehalten der Phantasie erfaßt die Wirklichkeit vollkommener.“459 Die große Triebkraft der Kunst stelle die Phantasie dar: „Der Wahrheitswert der Phantasie bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern ebensosehr auf die Zukunft: die Formen der Freiheit und des Glücks, die sie aufruft, erheben den Anspruch, historische Wirklichkeit zu werden.“460 Über die Phantasie und die Kunst sei es möglich die repressiven Kontrollen abzuschaffen, welche „die Kultur der Sinnlichkeit auferlegt“ habe. Der Übermacht der Gesellschaft war für Marcuse nur mit „der großen Weigerung“ entgegenzutreten: „Die »große Weigerung« ist der Protest gegen unnötige Unterdrückung, der Kampf um die höchste Form der Freiheit, »ohne Angst zu leben«.“461 Sie sei eine Möglichkeit der Subjekte gegen ihre gesellschaftliche Fragmentierung vorzugehen. „In einer entfremdeten Welt stehen Exemplare der Gattung einander gegenüber: erst Eltern und Kinder, Männer und Frauen, dann Herr und Knecht, Chef und Angestellter. Sie treten zu erst einmal in den spezifischen Formen der universellen Entfremdung miteinander in Beziehung.“462 Auffällig war, daß es für Marcuses Subjekte – im Gegensatz zu früheren Schriften – Möglichkeiten gab, sich zumindest teilweise dem großen Ganzen zu entziehen. Zwar war Marcuse weit davon entfernt das Bild einer neuen Gesellschaft aufzuzeigen – dies geschah nur ex-negativo – doch gegenüber den Schriften, die von der ungeheuren Verdunklung des Faschismus geprägt waren, entstanden nun wenigstens Möglichkeiten und Wege für eine andere Form des Lebens. Sicherlich waren Marcuses und Sartres Theorien Kinder ihrer Zeit. Marcuse war in den USA mit einer ganz anderen kulturindustriellen Entwicklung konfrontiert als Sartre in Frankreich. Das „Überschwappen“ der amerikanischen Massenkultur nach Frankreich sollte erst später erfolgen. So war es nicht verwunderlich, daß Marcuse Momente der amerikanischen Massenkultur früher und klarer erkennen konnte, als dies anderen möglich war. Für Sartre sollte nun die Zeit des längst überfälligen Bruchs mit den Kommunisten anstehen. „Der Spiegel“ widmete dem Bruch Sartres mit den Kommunisten eine Titelseite und unterschrieb sie treffend mit: „Moskaus schmutzige Hände. Von den Barrikaden gefallen: Jean-Paul Sartre“463 Der Bruch mit den Kommunisten: Ungarn 1956 Wie definierte Sartre selbst sein Verhältnis zu den Kommunisten? Gegenüber Pierre Naville bezeichnete er es als „unabhängig“ und nannte sich „einen Verbündeten der Kommunisten“464. Mit dem Einmarsch der roten Armee in 458 Ebd., S. 143 Ebd., S. 149 460 Ebd., S. 148 461 Ebd., S. 149 462 Ebd., S. 249 463 Der Spiegel, 1956, Nr. 49, Titelseite 464 Sartre, Jean-Paul: Antwort an Pierre Naville, in: Sartre, Jean-Paul: Krieg im Frieden II, Reinbek bei Hamburg, 1982, S. 214 459 133 Ungarn änderte sich Sartres Haltung und der „Verbündete“ wurde zum einfachen Kommunisten – gemeint ist damit, daß Sartre an seiner sozialistischen Grundhaltung festhielt, aber seine Bande zur KP aufgab. Im November 1956 schrieb er in L’Express: „Ich verurteile die sowjetische Aggression voll und ganz, ohne die geringste Einschränkung. Ohne das russische Volk dafür verantwortlich zu machen, wiederhole ich, daß seine gegenwärtige Regierung ein Verbrechen begangen hat… Und für mich ist das Verbrechen nicht nur der Angriff auf Budapest mit Panzern, sondern auch das er ermöglicht worden ist…durch zwölf Jahre Terror und Dummheit…Ich sage, daß eine Wiederaufnahme der Beziehung zu denen, die heute die KPF führen, jetzt nicht mehr möglich ist und nie wieder möglich sein wird. Jeder einzelne Satz, jede einzelne Geste von Ihnen ist das Ereignis von dreißig Jahren Lüge und Verknöcherung. Ihre Reaktionen sind einfach verantwortungslos.“465 Bernard-Henri Lévy weist darauf hin, daß Sartres Verurteilung zwar in scharfem Ton geschah, eine tatsächliche Ablösung von der UdSSR allerdings erst 1968 stattfand466. Dem gegenüber sei ein Wort aus Sartres Autobiographie „Die Wörter“ gegenübergestellt, in dem er resümiert: „Seit ungefähr zehn Jahren bin ich ein Mann, der geheilt aus einem langen, bitteren und süßen Wahn erwacht […]“467Auf jeden Fall war die Zeit, in der Sartre die Freiheit des Arbeiters in der Partei enden sah, vorbei. Sartre blieb Kommunist, doch dieses Mal nahm er den Bruch mit der KPF in Kauf und den ungarischen Arbeitern, deren Sozialismusmodell er teilte, eilte er mit der Feder zu Hilfe. Cohen-Solal urteilte über diesen Schritt: „Genauso schnell und genauso überzeugt, wie er im Frühjahr 1952 von Rom aus der KPF zu Hilfe geeilt war, stürzt er im Oktober 1956 von Rom aus zur Unterstützung der unterdrückten Ungarn los.“468 Zur Einschätzung des ungarischen Aufstandes schrieb er: „Diese Arbeiterräte, die sich von den ersten Tagen des Aufstandes an konstruiert haben, die niemals aufgehört haben zu funktionieren, die immer noch funktionieren, sie haben den bewaffneten Widerstand in einen Generalstreik verwandelt, sie sind es, die es in mehreren Provinzstädten geschafft haben, mit reaktionären Umtrieben fertig zu werden, sie haben Kádár gezwungen, mit ihnen zu verhandeln: nach der Niederschlagung der Revolte waren sie die einzig lebendige, zugleich sozialistische und nationale Kraft, die sich sowohl den Russen wie der Reorganisation der Bürokratie widersetzte; […] Was ist das für ein Sozialismus, der darauf versessen ist, die durch das Proletariat gewählten Kontrollorgane zu zerstören? Und wenn er sie als wirkliche Repräsentanten des Volkes anerkannte, wie kann er dann heute ohne sich zu disqualifizieren, ihre Führer verhaften lassen? […] Meine kommunistischen Freunde haben manchmal geschriehen: «Räte überall!» Das ist ein schönes Programm. Jetzt müßten sie ein wenig genauer werden: «Räte überall außer in Ungarn»“469 Sartre kommunistische Überzeugung definierte er gegen das Vorgehen der UdSSR. Es sah in der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes einen Verrat an den kommunistischen Idealen und Prinzipien. Wenn man Sartres politische L’Express, 9. November, 1956, zit.n.: Cohen-Solal, a.a.O., S.552 siehe: Lévy, Bernard-Henri, a.a.O., S. 419ff 467 Sartre, Jean-Paul: Die Wörter, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 143f 468 Cohen-Solal, a.a.O., S. 552 469 Sartre, Jean-Paul: Das Gespenst Stalins, in: Krieg im Frieden II, a.a.O., S. 252f 465 466 134 Veränderung benennen wollte, so war diese am besten mit dem Wandel von Parteizum Rätekommunisten bezeichnet. Den Idealen der Revolution blieb er treu: „Nur eine Volksfront kann unser Land retten“, schrieb er, „nur sie kann unsere kolonialen Krebsgeschwüre heilen, die Wirtschaft aus ihrem Malthusianismus herausreißen, ihr einen neuen Impuls geben, eine Massenproduktion unter Arbeiterkontrolle organisieren, um das französische Lebensniveau zu heben; nur sie kann die Grundlagen einer sozialen Demokratie legen, die nationale Souveränität zurückerobern, den atlantischen Block zerbrechen und die Macht Frankreichs in den Weltfrieden stellen.“470 Sartre kehrte zu seiner Theorie des Subjekts zurück, doch dieses Mal mit der nötigen Aufwertung der gesellschaftlichen Zwänge. Das zur Freiheit verurteilte Subjekt tauchte wieder in seinen Schriften auf. Er schrieb: „[…] die Volksfront oder der Stillstand, man muß wählen.“471 Auch wenn sich Sartre in den Jahren von 1952-1956 der Partei verschrieben und untergeordnet hatte, so geschah auch dies auf der Grundlage von „Das Sein und das Nichts“. Sartre hatte einmal gewählt und nun wählte und entschied er sich erneut. Diesmal für den Bruch mit der KPF: „[…] ja, es ist der Moment, es ist der richtige Moment, vielleicht ist es sogar schon zu spät! Damit die Dinge soweit gekommen sind, damit derselbe Irrtum, zehnmal angeprangert, noch einmal auftaucht, muß die französische KP schwer krank sein; wenn man nicht einen energischen Schritt tut, wird ein Krebsschaden entstehen.“ Selbstverständlich hatte diese Position auch in Sartres Umgebung Konsequenzen: Jeanson, der die Rezeption über Camus „Der Mensch in der Revolte“ geschrieben hatte, hielt Sartres Position für überzogen. Es folgte der Bruch. Schlußendlich hatte Sartre damit sowohl mit Camus wie mit Jeanson gebrochen, aber dafür eine eigene Position widergewonnen. Sartre hatte sein politisches Engagement klar umrissen. Der „Rückzug ins Private“ oder das Fernbleiben von politischer Aktivität war mit Sartres Philosophie nicht in Einklang zu bringen. Die nächsten sozialen Kämpfe, zu deren Teilnahme sich Sartre entschied, waren die Kämpfe gegen den Kolonialismus. Damit tauchte für Sartre auch ein neues Subjekt der Befreiung auf, das er mit Marcuse teilte: Die kolonialen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Unabhängiger Sartre Der Kampf für die Befreiung in der Dritte Welt. 1956-1964 waren die produktivsten und qualitativ ergiebigsten Jahre für Sartre. Die Schriften aus dieser Zeit sollten das Fundament für den Respekt und die Anerkennung Marcuses gegenüber Sartre legen und manchmal, in den letzten Jahren ihres Lebens, sollte Marcuse Sartre theoretisch und praktisch näher stehen, als den alten Freunden von Institut für Sozialforschung. Mit großer Sicherheit war für diesen Respekt und diese Wertschätzung Sartres Paradigmenwechsel, weg von der Proklamation der Verantwortung für sich selbst und hin zur Verantwortung für Andere maßgeblich. Nach der gescheiterten Annäherung zur KPF explodierte Sartres Produktivität förmlich. Die Schriften dieser Zeit machten ihm zum „Philosophen des Jahrhunderts“ (Lévi). Sartres Engagement für eine bessere Welt traf auf die ungeteilte Zustimmung Marcuses. In einem Gespräch mit Habermaß 470 471 Ebd., S. 320 Ebd., S. 322 135 stimmte Marcuse der These zu, daß Sartre die einzige Figur außerhalb des „Frankfurter Einzugsbereiches“ (Habermas) gewesen sei, die zur intellektuellen Auseinandersetzung gereizt hätte472. Nachdem auch andere „Compagnons des routes“ (wie z.B. Picasso) ihren Bruch mit der KPF öffentlich gemacht hatten, zeichnete sich das Ende der „ideologischen Immunität“ (Spurk) der UdSSR ab. Spurk weist darauf hin, daß für das Verhältnis „zwischen der Partei und den Intellektuellen in Frankreich […] die Kolonial- und Innenpolitik sicherlich wichtiger war, als der XX. Parteitag der KPdSU.“473 Mit dem Einmarsch in Ungarn konstituierten sich die Beginne der „deuxiéme gauche“, neuer linker Strömungen in Frankreich, die unorthodoxe Lesweisen des Marxismus entwickelten. Nachdem Sartre kein Engagement gegenüber dem spanischen Bürgerkrieg – im Gegensatz zu Camus, für den der Anarchismus in Spanien der politische Ausgangspunkt war – entwickelte und auch sein Engagement im Zweiten Weltkrieg scheiterte, war nun „sein“ Krieg gekommen. Er wurde zur tragenden Figur der französischen Linken durch sein Engagement gegen die Kolonialherrschaft. Mendès-France hatte nach der Niederlage in Dien Bien Phu Frieden geschlossen, im gleichen Zuge wurde Tunesien innere Autonomie zugebilligt. Doch die Situation in Algerien blieb unverändert: Die mächtige Lobby der Siedler, die „Pieds-noirs“ versuchten den Staus Quo in Algerien zu halten. Als Resultat dieser Politik kam es am 7. November 1954 zu einer Serie von Attentaten in Algerien. „Die Regierung Edgare Faure löste die Regierung Mendès-France ab. Die Regierung Guy Mollet löste die Regierung Edgar Faure ab. Als Generalgouverneur in Algerien folgte auf Edmond Naegelen Roger Léonard. Auf Roger Léonard folgte Jacques Soustelle. 1956 schließlich wurde Roberte Lacoste zum Residierenden Minister in Algerien ernannt. In knapp sechs Jahren erlebten die Franzosen in der Metropole und die Franzosen in Algerien mehr als sechs Politiker, die die unangenehme «Affaire», wenn nicht lösen, so doch wenigstens verwalten sollten.“474 Sartres Position gegenüber der Algerienfrage war eindeutig. Er trat für ein bedingungsloses Ende der Kolonialherrschaft ein. Die Texte aus jener Zeit zeigten einen Sartre, dessen Marx-Revision in der Frage nach der Stellung des Subjekts zu höchst fruchtbaren Resultaten führte. Er begann wieder die Auswirkungen der politischen Systeme auf den Einzelnen zu untersuchen, womit er methodisch sehr nah an Marcuse geriet; denn warum sonst schrieb dieser „Triebstruktur und Gesellschaft“, wenn nicht, um die gesellschaftlichen Veränderungen in der Veränderung der Triebstruktur des Einzelnen zu erfassen? Dabei gingen beiden von einer Übermacht des Systems aus, die den Einzelnen ihre Charaktermasken aufoktroyierten. Beide griffen dabei auf eine marxsche Grundüberlegung zurück: Im Vorwort des Kapitals schrieb Marx: “Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um Personen nur, sowie sie die Personifikation ökonomischen Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformationen als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich 472 Habermaß, Jürgen, Bovenschen, Silvia, u.a., a.a.O. , S. 21 Spurk, Jan: Bastarde und Verräter. a.a.O., S. 515 474 Cohen-Solal, a.a.O., S. 563 473 136 machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.”475 Eben von diesen „Personifikationen ökonomischer Kategorien“ gingen Sartre und Marcuse aus. In einer Rede, die Sartre vor einer Versammlung gegen den Algerienkrieg hielt, sagte er: „Und wenn ich »Kolonialsystem« sage, dann verstehe man mich recht: es handelt sich nicht um einen abstrakten Mechanismus. Das System existiert, es funktioniert; der Teufelskreis des Kolonialismus ist eine Realität. Diese Realität ist verkörpert in einer Millionen Kolonisatoren, Söhnen und Enkeln von Kolonisatoren, die vom Kolonialismus geformt sind und die nach den Prinzipien des Kolonialsystems denken, sprechen und handeln.“476 Dabei gerate die ökonomische Wirklichkeit, so Sartre, zunehmens in Konflikt mit ihrem liberalen, aufklärerischen Ursprung. Wo vormals der Universalismus des bürgerlichen Liberalismus vorherrschte, kehre sich dieser in Rassismus um: „Eine der Funktionen des Rassismus besteht darin, den latenten Universalismus des bürgerlichen Liberalismus zu kompensieren: da alle Menschen die gleichen Rechte haben, macht man aus dem Algerier einen Untermenschen.“477 Kurz: dem Algerier werde der Subjektstatus verweigert. Hätten die Kolonisatoren anders sein können? Nein, antwortete Sartre, nicht solange sie Kolonisatoren seien. „[…] Es ist nicht wahr, daß es gute Kolonialherren gäbe und andere, die böse sind: es gibt Kolonialherren, das ist alles. Wenn wir das begriffen haben, werden wir verstehen, warum die Algerier recht haben, zunächst politisch den Kampf gegen dieses wirtschaftliche, soziale System aufzunehmen, und warum ihre Befreiung und die Befreiung Frankreichs nur aus der Zerschlagung der Kolonialherrschaft hervorgehen kann.“478 Auffällig an Sartres Schriften war das erneute Wechselspiel zwischen „Eigenem“ und „Anderem“. Die Befreiung Frankreichs – hier das Eigene - könne nur aus der Befreiung vom Kolonialsystem – dort der Andere - hervorgehen. Hier benutzte Sartre in seinen Schriften die Kollektivsubjekte „Frankreich“ und „Algerien“, wobei diese weniger die eigentlichen Individuen ersetzten, sondern vielmehr das bürgerliche „Wir“ repräsentierten. Problematisch daran war, daß er sowohl „Frankreich“ als auch „Algerien“ als Homogenitäten darstellte. Er benutzte das bürgerliche „Wir“, um ein Höchstmaß an Identifikation beim Leser auszulösen. So schrieb er z.B. „Wir sind alle Mörder“, um zu kennzeichnen, daß das Schweigen der Partizipation am Kolonialismus gleichkomme. Auch wenn der Bruch mit der KPF weiterhin bestand hatte, mußten sich zwangsläufig Gemeinsamkeiten in den antikolonialen Positionen finden. Ein Mitglied der KPF beschrieb das Verhältnis Sartre-KPF zu dieser Zeit wie folgt: „Man kann nichts mit Ihnen machen, aber auch nichts ohne sie.“ Aus dem Jahr 1957 datierte ein kleiner Text von Sartre, der wohl zu seinen schönsten und leidenschaftlichsten gezählt werden könnte: „Ihr seid fabelhaft“. Das Wort „formidable“ wurde in Frankreich gerade zum Modewort. Jean Nohain, ein populärer Radio- und später Fernsehmoderator wiederholte diese Worte wöchentlich, um den Franzosen für ihre Hilfe gegen die Not einzelner Familien zu danken. Das Konzept der Show war einfach: Eine Familie schilderte ihre Not und 475 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, 1962, S. 16 Sartre, Jean-Paul: Der Kolonialismus ist ein System, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 28 477 Ebd. 478 Ebd., S. 16 476 137 Jean Nohain rief die Franzosen dazu auf mit Matrazen, Hausrat, Konserven, Medikamenten oder Kleidungsstücken zu helfen. „Unversehens sah sich jene notleidende französische Familie im Besitz eines Reichtums, den sie diesem besonderen, illusorischen Moment von Großzügigkeit, dieser zugleich herzlichen wie trügerischen landesweiten Mobilisierung zu verdanken hatte.“479 Mit anderen Worten: Die Kulturindustrie hielt Einzug in Frankreich. Was für die Exilanten der kritischen Theorie im Mutterland der Kulturindustrie längst Teil ihrer Analysen zum präformierten Subjekt war, kam nun auch nach Frankreich, das im Begriff war sich zu modernisieren. Jean Nohain war dabei nur eines der Rädchen im System. „Ihr seid fabelhaft“ schallte es einer Nation aus den Radio- und Fernsehgeräten kurz bevor die IV Republik untergehen sollte. Für Sartre war dieses Frankreich gar nicht so fabelhaft, er diagnostizierte: „Wir sind krank, schwer krank; fiebernd und entkräftet, verfolgt von seinen alten Träumen von Ruhm und Ahnung seiner Schande, schlägt Frankreich um sich inmitten eines undeutlichen Alptraums, den es weder fliehen noch entschlüsseln kann. Entweder wir werden Klarheit gewinnen, oder wir werden krepieren.“480 Krepiert war das reale Frankreich nicht, aber in einer solchen Krise, daß die IV Republik nicht mehr lange überlebten. Die Algerienfrage wurde immer dringlicher, da es der französischen Armee nur noch mit Terror gelang, ihre Macht aufrechtzuerhalten, und Folter gehörte in Algerien zum Alltag. „Aber in der Folter, diesem sonderbaren Match, scheint der Einsatz radikal: der Folterer kämpft mit dem Gefolterten um den Titel Mensch, und alles geschieht, als ob nicht beide gleichzeitig der Spezies Mensch angehören könnten.“481 Diesem pardoxen Frankreich also, rief Nohain zu: „Ihr seid fabelhaft !“ Sartre konterte: „Wenn wir uns weigern, uns selbst an die Erforschung der französischen Wahrheit zu machen, während wir fähig sind, unsere alten Matratzen auf den 4 CV zu stapeln, um sie irgendeinem Jean Nohain vor die Füße zu werfen, so tun wir das aus Angst. Angst unser wahres Gesicht nackt zu sehen.“482 In gewisser Weise war hier wieder der alte Sartre aus den „Überlegungen zur Judenfrage“, der mit radikalem Engagement zur Entscheidung drängte: „Über die Lösung des Algerienproblems konnten Freunde verschiedener Meinung sein, sich aber weiterhin schätzen. Aber die standrechtlichen Erschießungen? Aber die Folterungen? Kann man mit jemanden, der sie billigt, noch befreundet sein? [...] Das Mißtrauen lehrt uns eine neue Einsamkeit kennen: wir sind von unseren Nachbarn getrennt durch die Furcht, verachten zu müssen oder verachtet zu werden.“483 Der ganze Stil des bürgerlichen „Wir“ redete vom Einzelnen, der sich entscheiden müsse. Dabei war sich Sartre sehr wohl um die gesellschaftlichen Zwänge bewußt: „Das System, das ist die Ohnmacht an der Macht.“484 schrieb er. In gewisser Weise schienen die alten existentialistischen Prinzipien wieder aufzuerstehen, doch das bewußte Subjekt war einer Mischung aus freier Entscheidung und Präforation gewichen: „[...] uns demoralisiert nur die künstliche Unwissenheit in der man uns 479 Cohen-Solal, a.a.O., S. 558 Sartre, Jean-Paul: Ihr seid fabelhaft, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, a.a.O., S. 38 481 Sartre, Jean-Paul: Ein Sieg, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, a.a.O., S. 58 482 Sartre, Jean-Paul: Ihr seid fabelhaft, a.a.O., S. 42 483 Ebd., S. 43 484 Sartre, Jean-Paul: Die Frösche, die einen König haben wollen, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, a.a.O., S. 83 480 138 hält und die wir selbst mit aufrechterhalten.“485 Ähnliches meinten einmal Adorno und Horkheimer, als sie von „Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“486 schrieben. Sartres Formel, daß der „Mensch Freiheit in Situation“ sei, tauchte modifiziert wieder auf – nur diesmal als „[...] die Situation entscheidet.“487 Die Situation, das blieben aber dennoch die Subjekte. Neue Fragen tauchten auf: „Sind es die Menschen, die das System geschaffen haben, oder hat das System die Menschen geschaffen?“488 Die Frage blieb offen. Ein neues, immenses theoretisches Projekt sollte aus diesen Fragen geboren werden: Die „Kritik der dialektischen Vernunft“. Man müsse sich entscheiden – dies blieb dennoch. „Das Sein und das Nichts“, während der Zeiten der größten Unterdrückung der Menschheitsgeschichte geschrieben, rang damals dem erdrückenden System Individualismus ab und auch nun stellte Sartre die Frage nach dem Einzelnen: „Damals durfte die deutsche Bevölkerung nicht behaupten, von den Konzentrationslagern nichts gewußt zu haben. «Von wegen!» sagten wir. «Sie wußten alles!» Wir hatten recht, sie wußten alles, und erst heute können wir es verstehen: denn auch wir wissen alles. Die meisten hatten Dachau oder Buchenwald niemals gesehen, aber sie kannten Leute, die wieder andere kannten, die den Stacheldraht gesehen oder in einem Ministerium Einblick in vertrauliche Notizen genommen hatten. Sie dachten wie wir, daß diese Informationen nicht zuverlässig seien, sie schwiegen, sie mißtrauten einander. Können wir sie heute noch verurteilen? Können wir uns noch die Hände in Unschuld waschen? Wie viele Matratzen müßten wir an der lace de la Concorde abgeben, um die Welt vergessen zu lassen, daß in unserem Namen Kinder gefoltert werden und daß wir dazu schweigen?“489 Sartres Engagement gegen den Kolonialismus ging so weit und war von solcher Wichtigkeit, daß auf einer Demonstration am 3. Oktober 1960 Schilder von Anhängern eines französischen Algeriens getragen wurden, auf denen zu lesen war: „Erschießt Jean-Paul Sartre“. Die OAS nahm dies wörtlich und plazierte eine Bombe in Sartres Wohnung. Doch zuvor spitzte sich die Situation in Frankreich zu und die IV. Republik ging unter. De Gaulle trat erneut auf den Plan. In weiser Voraussicht schrieb Sartre: „Ein großer Mann ohne Funktion ist für eine Nation gefährlich; auch wenn er sich in ein entlegenes Dorf zurückgezogen hat. Schweigt er, dann hört man seine Vergangenheit. General de Gaulle schweigt seit langem, aber seine Vergangenheit blieb unter uns.“490 Wenig später sollte de Gaulle erneut an der Spitze Frankreichs, der neuen V. Republik stehen. Oder anders gesagt: „Mit den Bomben von Algerien flog die IV. Republik in die Luft.“491 485 Sartre, Jean-Paul: Ihr seid fabelhaft, a.a.O., S. 39 Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt /M, 1988, S. 129 487 Sartre, Jean-Paul: Der Prätendent, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, .a.a.O., S. 68 488 Sartre, Jean-Paul: Die Frösche, die einen König haben wollen, a.a.O., S. 84 489 Sartre, Jean-Paul: Ihr seid fabelhaft, a.a.O., S. 44 490 Sartre, Jean-Paul: Der Prätendent, a.a.O., S. 62 491 Spurk, a.a.O., S. 523 486 139 Marx und die UdSSR Marcuses: Soviet Marxism: A Critical analyses Nachdem Marcuse dem Weltgeist nicht wie angedacht mit einer Rückkehr zum Institut für Sozialforschung nach Frankfurt in die Nüstern spucken konnte, publizierte er die Ergebnisse seiner Arbeiten über die UdSSR. 1953 schrieb er an Horkheimer: „noch ein Jahr über Russisches zu arbeiten, [...] das hängt mir zum Hals raus.“492 Die Publikation „Soviet Marxism: A Critical analyses“ sollte seine Arbeiten über die UdSSR abschließen. Vor allem ging es Marcuse darum die UdSSR mit Marxschen Mitteln zu analysieren und eventuelle Analogien zur westlichen Welt herauszuarbeiten. Dabei begann Marcuse seine Analyse mit den ökonomischen Grundlagen der UdSSR. Durch ihr Programm der nachgeholten Industrialisierung sei sie in einer historischen Situation, in der sie sich von der Arbeits- und in der Sexualmoral kaum vom Westen unterscheide. Das Individuum sei in der UdSSR, „in der Massenproduktion und Massenmanipulation zum Schrumpfen des Ichs und zur administrativen Verortung seiner materiellen und geistigen Bedürfnisse“493 geführt worden. Während in der bürgerlichen Gesellschaft die „Gleichschaltung der privaten und öffentlichen Existenz“ weitgehend unbewußt und „hinter dem Rücken der Individuen“ stattfände, sei sie in der UdSSR „Teil der totalen Mobilmachung der Individuen für die Erfordernisse konkurrierender, totaler Industrialisierung.“494 Die „autonome Persönlichkeit“, das „autonome Subjekt“ sei durch das Anwachsen technischer Kontrollen zersetzt worden. Marcuse blieb beim Glücksanspruch der Einzelnen; zwar gestand er der UdSSR ein Mindestmaß an Unterdrückung zu, um den Mangel zu beseitigen, doch dies rechtfertige nicht die zusätzliche Unterdrückung, die in der UdSSR herrsche. Die Ethik der Werte weise eine hohe Ähnlichkeit mit jener der bürgerlichen Gesellschaft auf: „Schwere Arbeit als solche ist […] kein Wert, wohl aber schwere Arbeit für den Sozialismus und Kommunismus; nicht jedes auf den Wettbewerb eingestellte Verhalten, sondern nur der sozialistische Wettbewerb; nicht das Eigentum, sondern nur das sozialistische Eigentum; nicht der Patriotismus, sondern nur der Sowjetpatriotismus und so fort. Für das Individuum bedeutet dies keinen Unterscheid, solange es keine Wahl hat und der Staat definiert, was Sozialismus und Kommunismus sind und diese Definitionen durchsetzt.“495 Der Tenor des Buches bestand darin, daß auch die UdSSR nicht das erwünschte „Reich der Freiheit“ für die Individuen war. Statt dessen orientiere sie sich an staatskapitalistischen Modellen. Auch Lenin sprach von der UdSSR als staatskapitalistischer Ökonomie. Die Probleme der Revolution faßte er wie folgt zusammen: „Uns genügt nun diese Kulturrevolution, um ein vollständig sozialistisches Land zu werden, aber für uns bietet diese Kulturrevolution ungeheure Schwierigkeiten sowohl rein kultureller (denn wir sind Analphabeten) als auch materieller Natur (denn um Kultur zu haben, braucht man eine bestimmte Entwicklung der materiellen Produktionsmittel, braucht man eine bestimmte 492 Marcuse-Horkheimer, 9.2.1953, zit. n. Wiggershaus, a.a.O., S. 517 Marcuse, Herbert: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied und Berlin, 1964, S. 240f 494 Ebd., S. 241 495 Ebd., S. 244 493 140 materielle Basis).“496 Die Bezeichnung „Staatskapitalismus“ benutzte Lenin, um deutlich zu machen, daß im Rußland der Revolution nicht einmal derartig kapitalistische Verhältnisse herrschten, daß eine Revolution wie von Marx erdacht stattfinden könnte und ein „Staatskapitalismus“ bereits ein Fortschritt zu den archaischen Verhältnissen des zaristischen Rußlands gewesen sei. Er schrieb: „Sie merkten jedoch nicht [jene, die den Begriff Staatskapitalismus kritisietren, S.O.C.], daß die Bezeichnung "Staatskapitalismus" bei mir gebraucht wurde: ERSTENS, um den historischen Zusammenhang unserer gegenwärtigen Position mit der Position in meiner Polemik gegen die sogenannten linken Kommunisten herzustellen, und auch damals schon suchte ich zu beweisen, daß der Staatskapitalismus höher stehen würde als unsere heutige Wirtschaftsweise“497 Akzeptierte man diese Analyse Lenins, so war es nicht verwunderlich, daß nach der NEP und der nachgeholten Industrialisierung Ähnlichkeiten zwischen beiden Systemen bestanden. Das Programm der UdSSR bestand in der „totalen Industrialisierung“ oder wie es in der dortigen bürokratischen Sprache hieß: Vorrang der Hauptabteilung I vor der Hauptabteilung II. Gemeint war damit, daß die Produktion von Produktionsmitteln Vorrang vor der Produktion von Konsumgütern hatte. Letztendlich war es für das Individuum irrelevant, ob es im Osten oder im Westen einer repressiven Moral ausgesetzt war: „Ob der Arbeitstag auf fünf Stunden und weniger reduziert wird oder nicht, ob die freie Zeit des Individuums diesem gehört oder nicht, ob es seinen »Unterhalt verdienen« muß, indem es das für die Lebensbedürfnisse Notwendige herbeischafft oder nicht – all das kann durch die Individuen selbst überprüft werden [...] Wenn das Sowjetregime die repressive Moral nicht entsprechend lockern kann oder lockern will, dann wird es nach seinen eigenen Maßstäben immer irrationaler“498 Dabei betonte Marcuse vor allem das Wechselspiel von Ideologie und Wahrheit. Mit der Methode der immanenten Kritik suchte Marcuse danach die UdSSR mit marxschen Mitteln an ihren eigenen Ansprüchen zu analysieren. Die Originalität der Arbeit bestand in dem Unterfangen die Sowjetunion mit gerade der Theorie zu konfrontieren, um deren Verwirklichung sie sich offiziell bemühte. Dabei kam er zu dem Schluß, daß die „historische Schranke“ (Marx) der marxschen Philosophie nicht gefallen sei, sondern die UdSSR durchaus mit Mitteln der kritischen Philosophie zu analysieren sei und mit Marx selbst kritisiert werden konnte. Der Dialektik von Wahrheit Ideologie komme dabei, so Marcuse, besondere Bedeutung zu, da eine klare Trennung von dem, was einst Ideologie war, unmöglich sei, da bestimmte Momente der Ideologie zur Wahrheit geworden seien. Marcuse ging davon aus, daß „der Sowjetmarxismus […] keine bloße Ideologie ist, die vom Kreml propagiert wird, um seine Politik zu rationalisieren und zu rechtfertigen, sondern daß er in verschiedenen Formen die Realität der Entwicklung ausdrückt.“499 Ein Moment des marxschen Denkens bestünde darin den zukünftigen sozialistischen Staat „im Hinblick auf die tatsächlichen Subjekte“, die ihn konstituierten, zu behandeln und nicht „im Hinblick auf spezifische 496 vgl. Lenin, Wladimir I.: Über das Genossenschaftswesen , in: Lenin, Werke, OstBerlin, 1973, Band 33, Seite 453 bis 461 497 Ebd. 498 Marcuse, Herbert: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, a.a.O. , 1964, S. 245ff 499 Ebd., S. 23 141 Institutionen.“500 Dabei komme den Begriffen von Subjekt und Objekt eine exponierte Stellung zu. Das Proletariat bleibe bis zur Revolution Objekt kapitalistischer Herrschaft und „als solches Bestandteil des kapitalistischen Systems“. Dabei komme dem Sozialismus als gesellschaftliches Übergangsmoment zur freien Gesellschaft eine widersprüchliche Rolle zu. „Die erste Phase des Sozialismus kettet den Arbeiter noch an seine spezifische Funktion, behält die »knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit« noch bei, und damit den Automatismus zwischen Rationalität und Freiheit; die rationale Weise die Gesellschaft zu entwickeln, widerstreitet der Selbstverwirklichung des Individuums. Das Interesse des Ganzen erheischt noch das Opfer der Freiheit, und Gerechtigkeit für alle schließt noch Ungerechtigkeit ein.“501 Ein elementares Problem komme dem verdinglichten Bewußtsein zu. „Verdinglichung“ (Lukács) bestehe in dem Moment, da „der Kapitalismus als ein »erfolgreiches Geschäft« fortbesteht und den Lebens Standard seiner arbeitenden Klassen sogar noch erhöht“502 und die arbeitenden Klassen „zum Bestandteil des kapitalistischen Systems werden“. Genau dies sei in der Geschichte des Kapitalismus passiert. Trotz aller Krisenhaftigkeit war es dem Kapitalismus möglich den Lebensstandard der Arbeiter zu erhöhen – Ironischerweise durch die Konkurrenz zur UdSSR, der gegenüber sich der Kapitalismus als Alternative zu präsentieren hatte. Bereits 1858 schrieb Engels an Marx, daß „das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert. So daß diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen.“503 Lenins Festhalten am „revolutionären Proletariat“ habe sich, so Marcuse, als von Anfang an unzulänglich erwiesen. Durch die „Zusammenarbeit der Klassen“ drohte der Begriff des Proletariates als „revolutionärem Subjekt“ ungültig zu werden. Dem hatte Lenin die „Strategie der Avantgarde“ entgegengestellt: „Lenins Strategie der Avantgarde anerkannte faktisch, was sie in der Theorie leugnete, daß nämlich ein grundlegender Wandel in den objektiven und subjektiven Bedingungen der Revolution eingetreten war.“504 So waren die verschiedenen Sozialdemokratien mehr organischer Ausdruck der realen ökonomischen Verhältnisse, denn „Verräter“ an der Idee des Marxismus. Grundlage aller Transformationsprozesse bliebe die Ökonomie. Marcuse bezog damit eine Position, die in der Diktatur Stalins, „die Erfordernisse des Gesellschaftssystems“505 sah. Auch Stalin sei nur Ausdruck eines Systems: „Die Führer selbst sind nicht immun – sie sind nicht die absoluten Herren der Unterdrückung. Die Umstände, die die Maschine gegen ein besonderes Ziel in Gang setzten, scheinen die Endkonstellationen zahlreicher sich kreuzender Strömungen in den Ressorts der jeweiligen Bürokratien zu sein.“506 Der Staat, so Marcuse, sei „die Manifestation des wirklichen (gesellschaftlichen) Interesses, aber 500 Ebd., S. 41 Ebd., S. 40 502 Ebd., S. 41 503 Engels an Marx, 7. 10. 1858, in: MEW 29, Berlin /Ost, 1973, S. 358 504 Marcuse, Herbert: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, a.a.O. , S. 49 505 Ebd., S. 114 506 Ebd., S. 116 501 142 als solche ist der Staat »noch nicht« mit den Interessen des Volkes identisch, das er regiert.“507 Auffällig an Marcuses Analyse der Sowjetunion war seine zurückhaltende Kritik. Zwar fand Marcuse deutliche Worte gegenüber der Rolle der Kunst in der UdSSR, die Anteil habe „an der wachsenden Ohnmacht individueller Autonomie und Erkenntnis“508, doch kaum ein Wort über die Lager, den Antisemitismus oder die Schauprozesse. Kein Zweifel: Marcuse sah in der UdSSR nicht die freie Gesellschaft verwirklicht, aber er hegte Hoffnungen auf eine Transformation der UdSSR; darauf daß mit „dem fortschreitenden Rückgang der Knappheit“ ein Verschwinden der „repressiven Moral“ einhergehe. Marcuse hoffte sogar auf ein „Nachlassen der Unterdrückung.“509 Zwar sah Marcuse nicht – wie Sartre bis 1956 – die UdSSR als Land „in dem die uneingeschränkte Freiheit der Kritik herrscht“, doch auch Marcuses Analysen ließen eine gewisse Schärfe vermissen. Hätte man die Politik der KPdSU nicht schärfer verurteilen müssen? Hätte man nicht von den zwei oder drei Millionen „Umsiedlern“ sprechen müssen, von den bestraften Völkern der Balkaren, Tschetschenen, Inguschen, Kalmücken und anderer? Hätte man nicht deutlicher von den Schauprozessen und dem Antisemitismus sprechen müssen? Reichte es die Unterdrückung auf „Knappheit“ zurückzuführen? Was für ein Sozialismus war das, in dem sich jeder zwanzigste Bürger in einem Straflager befand? Oder, um es mit Merleau-Ponty und dem frühen Sartre auszudrücken: „Wenn in der UdSSR auf zwanzig Einwohner ein Saboteur, ein Spion und ein Faulenzer kommt, während bereits mehr als eine Säuberung das Land «gereinigt» hat, wenn man heute zehn Millionen Sowjetbürger «umerziehen» muß, wo doch die Säuberlinge vom Oktober 1917 schon über zweiunddreißig Jahre alt sind, dann heißt das, daß das System selbst seine Opposition schafft. Wenn permanente Repression herrscht und wenn der Repressionsapparat keineswegs abstirbt, sondern sich im Gegenteil verselbstständigt, dann heißt das, daß sich das Regime im Ungleichgewicht etabliert, daß Produktivkräfte von den Produktionsformen erstickt werden.“510 Marcuses „Sowjetmarxism“ wirkte wie ein taktisches Buch, daß es sich mit dem orthodoxen Flügel des Marxismus nicht ganz verscherzen wollte. Zwar waren grundlegende Theoreme der kritischen Theorie enthalten und die Rolle des Subjekts in der UdSSR wurde keinesfalls als ideal angesehen, doch tendierte Marcuse – ähnlich wie Sartre – nicht zu sehr dazu das Geschehen in der UdSSR zu entschuldigen? Reichte die marxsche Analyse der UdSSR, die zeigen sollte, daß diese nicht die Verwirklichung der marxschen Gedankenwelt war, aus? Tatsächlich sollte Marcuse mit Sartre eine Schwäche – die gleichzeitig eine unglaubliche Stärke war - verbinden, die sich aus ihrem Konzept des sich einmischenden, politisch aktiven Intellektuellen ergab. Wenn man sich einmischte, Position bezog, so konnte man dies - wie viele andere es taten - von einem abstrakten Standpunkt aus tun, z.B. aus der „Republik der schönen Seelen“, wie Sartre Camus vorwarf. Doch nahm man das Ideal des mündigen Subjektes ernst, so mußte in dieser Welt Position bezogen werden und es mußten reale politische Strömungen unterstützt oder kritisiert werden. Dieses „Abenteuer Praxis“ 507 Ebd., S. 120 Ebd., S. 135 509 Ebd., S. 247 510 Merleau-Ponty, Maurice / Sartre, Jean-Paul: Die Tage unseres Lebens, a.a.O., S. 22f 508 143 beinhaltete damit auch, sich stärker täuschen zu können, als dies im akademischen Elfenbeinturm möglich war. Sowohl Marcuse wie Sartre waren nicht frei davon. So begrüßten beide – Sartre wie Marcuse gleichermaßen – auch die kubanische Revolution und noch 1969 sollte Marcuse schreiben, daß „Fidel, Che und die Guerillas“ von den Begriffen „Freiheit, Sozialismus und Befreiung“ nicht zu trennen seien511. Intermezzo: Sartre entdeckt Freud Sartres: Freud. Ein Drehbuch Drei Jahre nach Marcuses Freudbuch „Eros and Civilisation“ arbeitete Sartre an einem Werk, das ihm einen Ausweg gegen seine Geldsorgen bot, aber erst posthum erschien. Zwar war Sartre nie arm, aber ein bürgerliches Verhältnis zu Geld entwickelte er nie. Im Gegenteil, seine Großzügigkeit war bekannt. Er unterstützte mehrere Freunde und Freundinnen finanziell ohne sich groß um sein Bankkonto zu kümmern. 1958 sollte sich dies rächen, so daß Sartre von dem Regisseur John Huston eine Auftragsarbeit annehmen mußte. Huston plante die Verfilmung des Lebens von Sigmund Freud und suchte einen Drehbuchautor. „Der linke Sartre war zwar Antifreudianer, doch ich meinte, daß er der ideale Autor für das Freud Drehbuch wäre. Er war ein Philosoph, der Freuds Werk beherrschte und es objektiv und scharfsinnig behandeln könnte.“512 Dies war die Meinung von John Huston, und sie war ein schwerer Irrtum. Sartre war weit davon entfernt Freuds Werk zu kennen. Nach einem intensiven Freud-Studium schickte Sartre Huston ein dreihundert Seiten starkes Drehbuch, was zu erst von ihm angenommen wurde und Sartre mit der Auflage es zu kürzen, zurückgesandt wurde. Sartres Kürzung bestand im Hinzufügen weiterer Seiten. Bei einer Eins-zuEins-Verfilmung wäre dabei ein Film von sieben bis acht Stunden Länge herausgekommen. Später äußerte sich Sartre über das Freud-Projekt folgendermaßen: „An diesem Projekt war schon etwas recht Komisches: Man verlangte eine Arbeit über Freud, den Großmeister des Unbewußten, ausgerechnet von mir, der ich ein Leben lang behauptet hatte, es gebe kein Unbewußtes. Übrigens wollte Huston anfangs nicht, daß ich vom Unbewußten spreche. An dieser Frage ist das Ganze dann schließlich gescheitert. Die Arbeit an dem Film hat mir vor allem eine bessere Kenntnis Freuds gebracht und mich veranlaßt, meine Meinung über das Unbewußte zu ändern.“513 Damit war ein weiterer Berührungspunkt der Theorien von Marcuse und Sartre gelegt: Freud. Ein Kernpunkt von Marcuses Subjekttheorie bestand ja gerade darin, daß die Individuen über ein verdinglichtes Bewußtsein verfügten, welches aus den gesellschaftlichen Entfremdungsmechanismen resultierte. So bot sich nun auch für Sartre ein begriffliches und theoretisches Instrumentarium, mit dem er das Verhältnis von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis besser fassen konnte. 511 siehe: Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, Frankfurt /M, 1969, S. 126 Huston, John: An open book, New York, 1980, S. 294, zit. n.: Cohen-Solal, a.a.O., S. 589 513 Sartre, Jean-Paul: Selbstporträt mit siebzig Jahren, a.a.O., S. 260 512 144 Den methodischen Übergang stellte genau jenes Freudbuch dar. Sartre blieb bei seiner Methode die historische Situation mit den in ihr handelnden Individuen zu konfrontieren: Auf der einen Seite Freud, umgeben von einer antisemitischen und verknöcherten Gesellschaft. Die Psychologie der Zeit? Elektroschocks und Eisbäder. Auf der anderen Seite beschrieb Sartre Cäcilie, getrieben von ihren unbewußten Störungen, eingetaucht in ihre Neurosen. Im Drehbuch rang Freud sich selbst und seiner Umwelt die psychoanalytische Methode ab, und in dem von Sartre gezeichneten Freud wechseln sich Analyse und Selbstanalyse ab. Dabei überschnitten sich die Schicksale: Nach mehreren Irrwegen entdeckte Freud seinen eigenen Ödipuskomplex und war durch diese Erkenntnis in der Lage Cäcilie zu heilen. Die Person Freuds wurde von Sartre als getriebener, großer Mann angelegt, der letztendlich gegen seine Umwelt und sich selbst revoltierte und den Sieg davontrugt. Unterschied sich dieser Freud so sehr von Sartre selbst? Wohl kaum. Wie auch schon in Sartres früheren Texten, war hier Freud nur die Bronze, die in die Sartresche Form gegossen wurde. Die Kategorie der Entscheidung blieb auch im „Freud“ enthalten. Doch neben den Einflüssen der Gesellschaft, die auch auf Freud übermächtig wirkten und in deren Rahmen er sich bewegte, kam in Sartres Schrift das Unbewußte mit hinzu. Freuds Vaterfiguren Meynert, Breuer und Fliess stellten für Sartre Instrumente des freudschen Unterbewußtseins dar, der er sich mit der Entdeckung der Beziehung zwischen der Störung des Patienten und seiner Biographie entledigte. Dennoch blieb das Bewußtsein über die Möglichkeit des Erkennens über das Unbewußte die Triebkraft des Drehbuches. Sartre akzeptierte von nun an das Unterbewußte, aber insistierte weiterhin darauf, daß es der Vernunft grundsätzlich zugänglich sei. Für ihn blieb das Leben nach der Therapie das Leben der Entscheidungen und des politischen Engagements. Was ließ er Freud gegenüber Cäcilie sagen, nachdem er sie heilte? „Jetzt muß man zu leben versuchen.“514 Das Subjekt im Marxismus – Sartres Revision des Marxismus Sartres: Marxismus und Existentialismus Ungefähr vier Jahre nach dem Bruch mit der KPF mündeten Sartres theoretische Bemühungen in der Einnahme eines eigenen Standpunktes zum Marxismus, ausgedrückt in seinem zweiten Hauptwerk, der „Kritik der dialektischen Vernunft“. Bereits 1957 wurde sein Text „Marxismus und Existentialismus“ in „Les Temps Modernes“ und in der polnischen Zeitschrift Twórczość veröffentlicht, in der französischen Ausgabe der „Kritik der dialektischen Vernunft“ war der Aufsatz als Einleitung vorangestellt. Die Zeit von „Marxismus und Existentialismus“ und der „Kritik der dialektischen Vernunft“ war gleichzeitig die, in der die Berührungspunkte zwischen Marcuse und Sartre am größten waren. Vieles ähnelte, deckte sich – nur wenig war verschieden. Ähnlich wie die kritische Theorie insistierte auch Sartre auf einem „Zeitkern der Wahrheit“ (Horkheimer). Der Geltungsanspruch der Philosophie sei ein zeitlich gebundener: “ Philosophie bleibt […] nur so lange wirksam, wie die Praxis, der sie entstammt, vorhanden ist und sie trägt und erhellt. Sie wandelt sich jedoch, sie verliert ihre Einzigartigkeit, sie entäußert sich ihres ursprünglichen und epochemachenden Gehalts in dem Maße, in dem sie nach und nach die Massen 514 Sartre, Jean-Paul: Freud, Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 396 145 durchdringt, um in ihnen und durch sie ein allgemeines Emanzipationsmittel zu werden”515 Konkret bezog Sartre dies auf die Hegelsche Philosophie, die für ihn in der Marxschen seine Aufhebung erfuhr. Philosophie, so Sartre, sei an den sie produzierenden kollektiven Akteur gebunden: „Eine Philosophie tritt nämlich, wenn sie in voller Wirklichkeit steht, niemals als träge, unveränderliche Sache, als passive und bereits vollendete Einheit des Wissens auf; aus der gesellschaftlichen Bewegung hervorgegangen, ist sie Antrieb für sich selbst und frißt sich in die Zukunft hinein [Herv. v. m., S.O.C.]; denn diese konkrete Totalisierung ist zugleich abstrakter Entwurf für den Vollzug absolut endgültiger Vereinigung; demgemäß ist die Philosophie als Untersuchungs- und Erklärungsmethode zu bestimmen; das Vertrauen, das sie in sich selbst und ihre künftige Entwicklung setzt, spiegelt nur die Überzeugung der sie tragenden Klasse wieder.”516 Damit besitze die Wahrheit ein Art Trägerschicht, in der konkreten Geschichte sei dies die Klasse. Doch Philosophie sei nicht gleichzeitig Kritik. Die kritische Philosophie entstamme einer Situation der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung, denn „die unmittelbare Reaktion der Unterdrückten auf die Unterdrückung ist die Kritik.”517 Hegel, so Sartre, verkörpere die höchste Dignität des Wissens. In der hegelschen Philosophie steige der Geist stetig auf, er objektiviere, entfremde und gewinne sich unaufhörlich zurück. Doch je höher die hegelsche Objektivierung des Geistes voranschreite, desto weiter entferne sie sich vom tatsächlichen, realen Leben der Subjekte. Sartre insistierte hier – genau wie Marcuse – auf das wahre Moment Kierkegaards für den „Schmerz, das Bedürfnis, die Leidenschaft, die menschliche Mühsal durch Erkenntnis weder überschreitbare noch abwandelbare Realitäten“518 waren. Auch die Aufhebung Kierkegaards sah Sartre in der kritischen Theorie Marxens verwirklicht, die die objektiven Bedingungen im Subjekt widerspiegelte. “Folglich hat Marx zugleich Kierkegaard und Hegel gegenüber recht, weil er mit ersterem die Spezifität der menschlichen Existenz behauptet und mit letzterem die konkreten Menschen in seiner objektiven Realität erfaßt.”519 Doch vor allem ging es Sartre – genauso wie Marcuse – darum den Marxismus als lebendige Theorie zu bewahren. Das bedeutete zwangsläufig ihn gegenüber dem orthodoxen Marxismus-Leninismus, aber noch viel mehr der stalinschen Transformation zu entreißen. Ein Projekt, mit dem Sartre keinesfalls allein war. In Deutschland war das ganze Projekt des Institutes für Sozialforschung, das unter Grünberg ursprünglich „Institut für Marxismus“ geheißen hatte und einer siegreichen Arbeiterrevolution übergeben werden sollte, als eine Revision des Marxismus angelegt, wobei diese Revision gerade die kritischen Momente Marxens herausarbeiten wollte. Die daraus resultierende „Kritische Theorie“ stand genauso wie Bloch oder Lukacs im Zeichen des Unterfangens, den Marxismus als lebendige, die Gegenwart erklärende und verändernde Theorie zu begreifen und zu modifizieren. Eben gegen jenen offiziellen Parteimarxismus der UdSSR zog Sartre in der französischen Form der Revision, dem Existentialismus zu Felde. Sowohl die Kritische Theorie, als auch Sartres Existentialismus nach 1956, sahen sich einem 515 Ebd., 1964, S. 8 Ebd. 517 Ebd., S. 9 518 Ebd., S. 13 519 Ebd., S. 15 516 146 Marxismus verpflichtet, in dem die Befreiung und der Glücksanspruch des Subjekts das zentrale Telos waren. Beiden ging es um die Abgrenzung des Parteimarxismus „östlicher“ Prägung. Konkret warf Sartre diesem vor: Die „Trennung von Theorie und Praxis führte zu einer Umformung der Praxis in einen prinzipienlosen Empirismus und einer Umwandlung der Theorie in ein reines und starres Wissen. Andererseits wurde die – von einer für ihre eigenen Irrtümer blinden Bürokratie – durchgeführte Planwirtschaft eben dadurch zu einer die Realität vergewaltigenden Willkür, und weil man die zukünftige Produktion einer Nation in Büros – oftmals außerhalb ihres Hoheitsgebietes – festlegte, hatte diese Gewalt einen absoluten Idealismus zum Komplement: man unterwarf a priori Menschen und Dinge den Ideen; widersprach die Erfahrung dann den Voraussetzungen, so konnte sie nur Unrecht haben. Die Budapester Untergrundbahn war in der Vorstellung von Rakosi bereits verwirklicht; wenn die Bodenbeschaffenheit von Budapest nicht erlaubte, sie zu bauen, dann war eben der Boden konterrevolutionär.”520 Der Marxismus verkam im Osten, so Sartre, zur blanken Legitimationsideologie. Die offenen Begriffe wurden zu geschlossenen Phrasen, die nichts mehr erklärten, sondern nur noch der Aufrechterhaltung des status quo dienten: “Sie sind nicht länger Schlüssel, Interpretationsschemata: sie geben sich selbst den Anschein eines schon totalisierten Wissens. Der Marxismus erhebt, um mit Kant zu sprechen, diese singularisierten und fetischisierten Begriffe zu konstitutiven Begriffen der Erfahrung. Der eigentliche Inhalt dieser Typbegriffe besteht stets aus vergangenem Wissen; der heutige Marxist macht daraus ein ewiges Wissen. Seine einzige Sorge bei der Analyse ist es, diese »Abstraktionen« unterzubringen.”521 Anders ausgedrückt: Der sowjetische Marxismus bestand nur noch aus Zuordnungsritualen. Die Erfahrung des Besonderen, oder um mit Adorno zu sprechen, das Nicht-Identische wurde liquidiert. In Sartres Worten ausgedrückt: “Die totalisierende Untersuchung ist der Scholastik der Totalität gewichen. Das heuristische Prinzip »das Ganze vermittels der Teile zu suchen« ist dem terroristischen Verfahren geworden, »die Besonderheit zu liquidieren«.”522 Demgegenüber gelte es einen Marxismus zu stellen, der sich des Subjektes wieder annehme und das subjektive Leben der Einzelnen zum Ausgangspunkt der Theorie mache. Dies sei, so Sartre, der Existentialismus. Seine historische Grenze liege an der Stelle, da der Marxismus zur Theorie des Subjektes zurückkehre. Der Existentialismus ginge in ihm auf. Auch dieser Gedanke war der Kritischen Theorie nicht fern. Wie sonst sollte das Unterfangen verstanden werden, Marx und Freud zu verbinden? Warum Freud, wenn nicht um die Theorie des Subjekts mit der Marxschen Theorie des Objekts zu verbinden? Sartre schrieb, der Existentialismus suche den Menschen „wo er geht und steht, bei seiner Arbeit, zu Hause und auf der Straße.”523 Dabei gehe es keinesfalls darum in einen kantschen Idealismus zurückzufallen. “Man kann auf zwei Arten in den Idealismus geraten: die eine besteht darin, daß man das Wirkliche in der Subjektivität auflöst, die andere besteht darin, daß man alle eigentliche Subjektivität zugunsten der Objektivität leugnet. Die Wahrheit ist aber die, daß die Subjektivität weder alles noch nichts ist; sie bildet nur einen Moment des objektiven Prozesses (der Verinnerlichung der Äußerlichkeit), und zwar ein 520 Ebd., S. 22 Ebd., S. 25 522 Ebd., S. 26 523 Ebd. 521 147 Moment, das sich unaufhörlich aufhebt, um ebenso unaufhörlich immer wieder ins Spiel zu treten.”524 Mit anderen Worten: Subjekt und Objekt waren für Sartre, ebenso wie für Marcuse dialektisch in einem historischen Prozeß vermittelt. “Für uns [die Existentialisten, S.O.C.] wird die Wahrheit, ist sie geworden und wird sie geworden sein.”525 Doch wo sollte der Existentialismus konkret ansetzen? Was war sein spezifisches Erkenntnismoment? Sartre schrieb: Der Existentialismus „beabsichtigt, ohne den marxistischen Thesen untreu zu werden, diejenigen Vermittlungen zu finden, die es erlauben, das Konkrete in seiner jeweiligen Besonderheit, das Leben, den wirklichen und ausgestandenen Kampf und die Personen aus den allgemeinen Widersprüchen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hervorgehen zu lassen.”526 Das bedeutete, daß der sartresche Existentialismus für sich beanspruchte, eine Art marxsche Theorie des Subjekts zu sein. Hierzu führte kein Weg an der Psychoanalyse vorbei. Um zu begreifen, warum die Einzelnen zu dem geworden waren, was sie sind, bedurfte es der Psychoanalyse. “Allein die Psychoanalyse ermöglicht heute ein eingehendes Studium der ersten Versuche, in denen ein Kind noch ganz im Dunkeln tappend – ohne es zu begreifen – die ihm von den Erwachsenen auferlegte gesellschaftliche Rolle spielen sucht; nur die Psychoanalyse kann uns zeigen, wie es an dieser Rolle erstickt, wie es sie abzustreifen versucht oder wie es gänzlich in sie hineinwächst. Und nur sie allein ermöglicht, den ganzen Menschen im Erwachsenen zu finden, d.h., über seine jeweiligen momentanen Bestimmungen hinaus, auch das Gewicht seiner Geschichte. Und es ist völlig abwegig zu glauben, diese Disziplin sei mit dem dialektischen Materialismus unverträglich.”527 Diese Sätze hätte ebensogut Herbert Marcuse schreiben können. Ihm und Sartre ging es darum die Schnittstellen zwischen Individuum und Gesellschaft zu verstehen, um sie der Veränderung zugänglich zu machen. An diesem Relais zwischen Subjekt und Objekt, am Moment der gesellschaftlichen Vermittlung plazierten sich sowohl die kritische Theorie Marcuses, wie die existentialistische Sartres. Sowohl Sartres „Marxismus und Existentialismus“, bzw. die „Kritik der dialektischen Vernunft“ wie Marcuses „Eros and Civilisation“ und „Der eindimensionale Mensch“ suchten nach einer Erweiterung des Marxismus im Verstehen um das menschliche Geworden-Sein. Sartre argumentierte: “Die Marxisten von heute kümmern sich nur um die Erwachsenen: wenn man sie liest könnte man glauben, wir kämen an dem Tag zur Welt, an dem wir unser erstes eigenes Geld verdienen; sie haben ihre eigene Kindheit vergessen, und alles geschieht bei ihnen, als verspürten die Menschen ihre Selbstentfremdung und Versachlichung erstmalig bei ihrer eigentlichen Berufsarbeit, während sie doch jeder schon als Kind in der Arbeit seiner Eltern erlebt. [...] Der Existentialismus glaubt dagegen, diese Methode einbeziehen zu können, weil sie den Ansatzpunkt des Menschen in seiner Klasse, d.h. die jeweilige Einzelfamilie als Vermittlung zwischen der allgemeinen Klasse und dem Individuum entdeckt hat: die Familie wird wirklich im und durch den allgemeinen Geschichtsablauf konstituiert und 524 Ebd., S. 31 Ebd., S. 28 526 Ebd., S. 49 527 Ebd., S. 51 525 148 doch als ein Absolutes in der Tiefe und Undurchschaubarkeit der Kindheit erlebt”528 Der Existentialismus sollte die Lücke schließen, die der offizielle Marxismus zwischen Subjekt und Objekt hinterlassen hatte, da er dazu tendierte die Subjektivität in einem solchen Maß unter die objektiven Verhältnisse zu subsumieren, daß der Einzelne kaum noch von Belang war. Sicherlich war dieses starke Hervorheben der Subjektivität gegenüber dem Marxismus in vielen Momenten der Epoche geschuldet: Der Marxismus vor der 68er Bewegung war starr geworden und viele Marxisten empfanden wie Sartre. Auch andere insistierten auf eine andere Marxrezeption: Verschiedentlich versuchten Theoretiker und Theoretikerinnen dem Marxismus das Subjekt im Sinne des Einzelnen wieder abzuringen. Bloch fragte beispielsweise, in welchen Bereichen die UdSSR den Marxismus nicht nur zur Unkenntlichkeit, sondern eben zur Kenntlichkeit gebracht habe. Die vielerorts versuchte Verbindung Freuds mit Marx stellte einen ähnlichen Versuch dar. Sartre formulierte die Problemstellung des Existentialismus so: Der Existentialismus „lehnt es ab, das wirkliche Leben den unausdenkbaren Zufällen der Geburt zu überlassen, um über eine Allgemeinheit nachzudenken, die darauf beschränkt ist, sich unendlichfach in sich selbst widerzuspiegeln. Er beabsichtigt, ohne den marxistischen Thesen untreu zu werden, diejenigen Vermittlungen zu finden, die es erlauben, das Konkrete in seiner jeweiligen Besonderheit, das Leben, den wirklichen und ausgestandenen Kampf und die Personen aus den allgemeinen Widersprüchen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hervorgehen zu lassen.”529 Der gegenwärtige Marxismus, so Sartre, “gliedert ein, aber er entdeckt sonst weiter nichts [...]”530 Die Ähnlichkeiten zu Marcuse waren erstaunlich: Sartre und Marcuse gingen beide den Weg vom Heideggerschüler zum Marxisten und beide kamen – unabhängig voneinander – an den Punkt der Erweiterung des Marxismus durch die Psychoanalyse. Man könnte sagen, daß bei beiden ihr heideggersches Erbe Früchte trug. Wenn es stimmte, daß der Existentialismus Heideggers von „Sein und Zeit“ dem Individuum „zu Hilfe eilte“, dann fanden sich beide in derselben Funktion, diesmal gegenüber dem Marxismus, wieder. Auch hier drohte der praktische Marxismus Moskaus das Individuum zu erdrücken und zur bloßen Manövriermasse zu degradieren, wogegen Sartre wie Marcuse ihm zu Hilfe eilten und die Subjektivität des Einzelnen adäquat verorten wollten. Sie wollten den Einzelnen gerade nicht als Zuordnungsritual begriffen wissen, es ging darum, „dem Menschen innerhalb des Marxismus wieder seinen Platz zurückzuerobern.”531 Beide suchten danach die Frage zu beantworten wie der Mensch zu dem, was er geworden war, wurde. Man könnte auch sagen, daß beide am Punkt der Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt mit ihren Theorien ansetzten. “Diese verschiedenen Realitäten deren Sein dem Nichtsein der Menschheit direkt 528 Ebd., S. 52f Sartre, Jean-Paul: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik, Reinbek bei Hamburg, 1964, S. 49 530 Ebd., S. 49 531 Ebd., S. 69 529 149 proportional ist, stehen zueinander dank der Vermittlungen [Herv. v. m., S.O.C.] durch menschliche Beziehungen und zu uns in manigfaltigen Verhältnissen, die an sich untersucht werden können und müssen. Geprägt von seiner Arbeit und den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen, existiert der Mensch als Produkt seines Produktes zugleich in Mitten seiner Produkte und bildet die Substanz der ihn zersetzenden <Kollektive>; auf jeder Lebensebene erfolgt ein Kurzschluß, eine horizontale Erfahrung, die dazu beiträgt, ihn auf der Grundlage seiner materiellen Ausgangsbedingungen zu ändern: das Kind erlebt nicht nur seine Familie, es erlebt auch – teilweise durch sie, teilweise selbständig - die kollektive Umwelt; und es ist wiederum die Allgemeinheit seiner Klasse, die sich ihm in dieser besonderen Erfahrung enthüllt.”532 Die Grenzen dieser Theorie der Vermittlung bestanden für Sartre darin weder in Objektivismus, d.h. ein völlig determiniertes Individuum vorauszusetzen, noch in Subjektivismus, im Sinne des jederzeit mündigen sich seiner selbst und die Welt verstehenden Subjekts auszugehen, zu enden. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt stelle sich für beide als dialektisches dar: „gewiß ist das Individuum durch das gesellschaftliche Milieu bedingt, und gewiß wendet es sich darauf zurück, um es seinerseits zu bedingen; das – und nichts anderes – macht ja gerade seine Realität aus.”533 Doch die Realität sei eine, die nicht ständig bewußt sei und die die hintergründige, verborgene Geschichte der Produktionszusammenhänge ausblenden konnte: “Die Realität des Marktes, wie unerbittlich auch immer seine Gesetze sein mögen, beruht samt allen Einzelheiten seiner konkreten Erscheinung auf der Realität selbstentfremdeter Individuen und auf deren Trennung.”534 Auch in dieser Frage waren sich Marcuse und Sartre einig, doch dieses Mal war es Marcuse, der mit dem Zugeständnis der „rebellischen Subjektivität“ vom präformierten Subjekt - zumindest teilweise - abrückte. Für Sartre war die Vorstellung eines gänzlich präformierten Subjektes sowieso unannehmbar, da mit einem solchen keine historische Veränderung möglich gewesen wäre. Dennoch gab es auch für ihn das Moment der gesellschaftlichen Verselbstständigung: “Der Mensch macht also seine Geschichte, daß besagt, er objektiviert und entfremdet sich darin; in diesem Sinne erscheint die Geschichte, die das reine Werk der Gesamttätigkeit aller Menschen ist, ihnen als fremde Macht, und zwar in dem Maße, in dem sie den Sinn ihrer (selbst örtlich glücklich verlaufenen) Unternehmungen im gegenständlichen Gesamtergebnis nicht wiedererkennen.”535 In gewisser Weise befand sich Sartre mit dieser These in größter Nähe zur Position Adornos und Horkheimers aus der „Dialektik der Aufklärung“. Auch dort suchten die Menschen zur Besiegung der Angst nach Systemen, die in letzter Konsequenz noch mehr Angst produzierten und nicht mehr kontrollierbar waren. Die Grenze der Entfremdung lag für Sartre in der Möglichkeit auf eine veränderte Geschichte, die sich auf eine andere Zukunft hin entwarf. Sartre zufolge stecke in jeder Handlung, jeder Tat gleichzeitig ein Entwurf auf den hin das Individuum sich totalisiere. “ Selbst das rudimentärste Verhalten muß sich zugleich mit Bezug auf reale, vorliegende Faktoren, die es bedingen, und mit Bezug auf ein bestimmtes zukünftiges Objekt, das es entstehen zu lassen sucht, bestimmen. Das aber nennen 532 Ebd., S. 66 Ebd., S. 59 534 Ebd., S. 65 535 Ebd., S. 73 533 150 wir Entwurf.”536 Die Kategorie des Entwurfs – auch eine Analogie zu „Das Sein und das Nichts“ – lag für Sartre direkt in der Dialektik der Zeit begründet. Dialektik selbst falle in sich zusammen, so Sartre, wenn „die Zeit nicht dialektisch ist, d.h. wenn man so etwas wie ein Wirken der Zukunft als solcher ablehnt.”537 Von diesem theoretischen Ausgangspunkt ausgehend, sei der Mensch grundsätzlich als Negation bestimmt. Darunter verstand er das „Insgesamt des Möglichen“ des Individuums, „das ihm verschlossen bleibt“ – genau jenes Moment, an dem die Kritik an der Situation der bestehenden Gesellschaft beginne: “Für die benachteiligten Klassen stellt jeder kulturelle, technische und materielle Aufschwung der Gesellschaft eine Minderung, eine Verarmung dar; die Zukunft ist beinahe gänzlich verriegelt. So werden die sozialen Möglichkeiten, positiv oder negativ, als Determinationsschema der persönlichen Zukunft erlebt. Und selbst das höchstindividuell Mögliche ist nur die Verinnerlichung und Ausgestaltung eines gesellschaftlich Möglichen.”538 Man könnte sagen, daß Sartre von zwei Subjekten ausging: Ein onthologisches Subjekt, daß als Träger von Wahrheit auftrat und in dem qua des Menschseins, also über die Vernunft, sämtliche Potentiale angelegt waren, die es zu einem wirklich freien Subjekt hätten machen können und ein real existierendes, gesellschaftliches Subjekt, das den Verhältnissen entfremdet gegenüberstand – ebenfalls eine Gemeinsamkeit zu Marcuse. Durch diese Konzeption des Subjekt zwischen Möglichem und Versperrtem bekam seine Dialektik von Subjekt und Objekt ihren Sinn: „Man müßte dazu [zur Beschreibung der vollen Dialektik von Subjektivem und Objektivem, S.O.C.] die notwenige Verknüpfung der <Verinnerlichung des Äußerlichen> und der <Veräußerung des Innerlichen> aufweisen. Die Praxis ist nämlich ein Übergang des Objektiven zum Objektiven durch Verinnerlichung; der Entwurf, der sich als subjektive Überschreitung der Objektivität auf Objektivität hin zwischen den objektiven Verhältnissen des Milieus und den objektiven des Möglichkeitsbereiches erstreckt, stellt an sich die bewegende Einheit der Subjektivität und Objektivität, dieser Grundmomente der Aktivität, dar. Die Subjektive erscheint mithin als notwendiges Moment des objektiven Geschehens.”539 Durch den „Überhang des Objekts“ (Adorno) lief der Mensch für Sartre Gefahr, in eindimensionales Denken zu geraten: „All diese Mauern sind ein einziges Gefängnis, und dieses Gefängnis ist ein einziges Leben, ein einziger Akt: jede Bedeutung ändert sich, formt sich unaufhörlich um, und ihre Umformung strahlt auf den anderen aus. Die Totalisierung muß also die mehrdimensionale Einheit des Aktes entdecken; unsere alten Denkgewohnheiten laufen Gefahr, diese Einheit, die die Bedingungen der wechselseitigen Durchdringung sowie der relativen Autonomie der Bedeutung bildet, ungebührlich zu vereinfachen; [...]”540 Philosophie, die sich als Theorie totalisiere, müsse, so Sartre, „die Mehrdimensionalität entdecken“ – eine These, die Marcuse sofort unterschrieben hätte. Bei Sartre hieß dies „progressiv-regressive Methode“. 536 Ebd., S. 75 Ebd. 538 Ebd., S. 78 539 Ebd., S. 79 540 Ebd., S. 90 537 151 Die Kritische Theorie und der französische Existentialismus waren Kinder ihrer Zeit und Orte. Wären sie bei einer anderen historischen Entwicklung zu solch bedeutenden Theorien aufgestiegen? Hätten sie einen ähnlichen Wirkungskreis erlangt, wenn die russische Revolution nicht gescheitert wäre und sich nicht um jene Freiheit des Subjekts gekümmert hätte, die Sartre und Marcuse so vehement einforderten? Oder wären sie überflüssig gewesen? Sehr weise schrieb Sartre über die historische Schranke des Existentialismus: „Von dem Tage an, da der Marxismus sich der Untersuchung der menschlichen Dimension, d.h. der Untersuchung des existentialistischen Entwurfes zuwendet und die Grundlegung des anthropologischen Wissens aufnehmen wird, hat der Existentialismus keine Existenzberechtigung mehr.”541 Sartres: Kritik der dialektischen Vernunft Die Ankündigungen, die Sartre in „Marxismus und Existentialismus“ machte, definierten den Rahmen der „Kritik der dialektischen Vernunft“: Eine neue Vermittlungstheorie sollte geschrieben werden, die sich auf marxistischem Fundament bewegte. Tatsächlich waren die Gemeinsamkeiten zwischen Sartres „Kritik der dialektischen Vernunft“ und dem frühen Marx der „ÖkonomischPhilosophische Manuskripte“ erheblich. Marxens Versuch der Verbindung der Hegelschen Philosophie mit der politischen Ökonomie um die Schnittstellen zwischen Individuum und Gesellschaft auszumachen, fanden bei Sartre ihr Pendant. Der Ausgangspunkt Marxens, daß die Produktionsverhältnisse und die damit verbundene Arbeit in direktem Zusammenhang zur Charakter- und Wertebildung der Menschen stünden, griff Sartre auf. Doch die „Kritik der dialektischen Vernunft“ sollte, so Sartres Anspruch, über den Marxismus hinausgehen. Sie sollte eine „strukturelle Anthropologie“ werden. Sein Ausgangspunkt war folgender: „Wenn die Geschichte von dialektischen Gesetzen beherrscht wird und wenn diese Gesetze vom Menschen erkannt werden können, also nicht als bloße Produkte des menschlichen Bewußtseins zu betrachten sind, sondern aus der Geschichte selber abgelesen werden, was wäre dann der Wahrheitswert dieser Gesetze, wenn das menschliche Bewußtsein sie nicht legitimieren könnte? Kurz, Sartres Meinung nach kann die Behauptung, die Geschichte werde von dialektischen Gesetzen beherrscht, nur dann legitimiert werden, wenn es tatsächlich eine diese Gesetze verstehende, weil selber dialektisch existierende Rationalität gibt.“542 Dabei betonte Sartre, ähnlich wie Marcuse, die grundsätzliche Unzulänglichkeit des Positivismus. Dieser frage nur nach dem was sei, nicht nach dem Sein-Sollen. Damit würde er letztendlich nur auf eine Verdopplung des Bestehenden hinauslaufen und sich selbst als Entwurf voraussetzen. Oder um es mit Sartre zu sagen: „Die Zukunft ist also Wiederholung der Vergangenheit“543 T T Sartres definierte die theoretische Methode des Existentialismus als ein Zusammentreffen von Materialismus und Idealismus. Materialismus in dem Sinne, daß die bearbeitete Materie eine elementare Vermittlungsinstanz darstelle, idealistisch in dem Maße, da es ein erkennendes Subjekt benötige. Anders 541 Ebd., S. 143 Fretz, Leo: Knappheit und Gewalt: Kritik der dialektischen Vernunft, in: König, Traugott (hg.): Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 247f 543 Sartre, Jean-Paul: Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek bei Hamburg, 1967, S. 24 542 152 ausgedrückt: Vernunft und Geschichte standen bei Sartre in einer dialektischen Beziehung. „Wenn die dialektische Vernunft die Vernunft der Geschichte sein soll, muß dieser Widerspruch selbst dialektisch erlebt werden. Das heißt: der Mensch erleidet die Dialektik, indem er sie schafft, und er schafft sie, indem er sie erleidet. [...] Die Dialektik ist das Totalisierungsgesetz, was bewirkt, daß es Kollektive, Gesellschaften, aber nur eine Geschichte gibt, das heißt Realitäten, die sich dem Individuum aufzwingen. Gleichzeitig muß es aus Millionen Individuen gewoben sein.“544 Oder an anderer Stelle: „[...] die Vertiefung der individuellen Praxis wird uns zeigen, daß sie das äußere Feld verinnert (indem sie eben durch die Aktion ein praktisches Feld absteckt); umgekehrt jedoch werden wir im Werkzeug und in der Objektivierung durch die Arbeit eine intentionale Entäußerung der Interiorität erkennen.“545 Ebenso stehe der Philosoph in diesem Zusammenhang. Sartre schrieb über die Verortung des Wissenschaftlers bzw. des Philosophen – und jeder der Protagonisten der kritischen Theorie hätte das unterschrieben: „Unser Problem ist ein kritisches und zweifellos ist dieses Problem selbst von der Geschichte aufgeworfen worden. Aber es geht eben gerade darum, in der Geschichte und in diesem Augenblick der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften die Instrumente des Denkens, durch die die Geschichte sich denkt, als gleichzeitig praktische Instrumente, durch die sie sich schafft, zu prüfen, zu kritisieren und zu begründen.“546 T Die existentialistische Methode, so Spurk, „ist also repressiv-progressiv und analytisch-synthetisch. Im Hin und Her zwischen dem Objekt und seiner Epoche, d.h. in der einfachen, inerten Verknüpfung der Epoche und des Objekts zeichnet sich plötzlich ein lebendiger Konflikt ab. Denn der Mensch als Epoche enthält in sich die die Epoche als hierarchisierte Bedeutungen, und die Epoche enthält dieses Objekt in seiner Totalisierung.“547 Dabei verändere das Individuum seinen Status: Vom Objekt zum Subjekt und umgekehrt. Der Einzelne war für Sartre Objekt seiner Epoche als „Empfänger“ von Werten, Denkrastern und Vermittlungen und reproduziere als Subjekt die Totalität. Das Subjekt wurde zum Subjekt-Objekt. Nur durch die Überwindung des objektiven Zwangs erlange das Individuum Subjektivität im Entwurf: „Im Erlebnis entreißt (vécu) wendet sich die Subjektivität gegen sich selbst und entreißt sich der Objektivierung. Es hat deshalb seinen Platz im Ereignis des Handelns. Der projezierte Sinn der Aktion erscheint in der Realität als Wahrheit im Prozeß der Totalisierung.“548 T Doch wie funktionierten die Vermittlungen genau? Sartre gab folgendes Beispiel: „Von meinem Fenster aus sehe ich einen Straßenarbeiter auf der Straße und einen Gärtner, der in einem Garten arbeitet. Zwischen ihnen ist eine mit Glasscherben bedeckte Mauer, die das bürgerliche Eigentum, in dem der Gärtner arbeitet, schützt. Keiner von ihnen hat also eine Ahnung von der Anwesenheit des anderen; jeder von ihnen, völlig von seiner Arbeit beansprucht, denkt nicht einmal daran, sich zu fragen, ob es auf der anderen Seite Menschen gibt. Ich dagegen, der sie sehe, ohne selbst gesehen zu werden, bin ihnen gegenüber durch meine Stellung 544 Ebd., S. 37 Ebd., S. 74 546 Ebd., S. 42 547 Spurk, Jan, a.a.O., S. 555 548 Ebd., S. 556 545 153 und diesen passiven Überblick «situiert»: ich «mache Ferien» in einem Hotel, ich verwirkliche mich in meiner Zeugentätigkeit als kleinbürgerlicher Intellektueller.“549 Eine Dreiecksbeziehung entstehe: Der Philosoph sei derjenige der einen Bezug zwischen dem Arbeiter und dem Gärtner herstellt. Doch ohne das Wissen um sich selbst und den Anderen wäre es nicht möglich den Arbeiter als Arbeiter und den Gärtner als Gärtner zu identifizieren: „Und indem ich mich zu dem mache, was ich bin, erkenne ich sie als die, zu dem sie sich machen, das heißt so, wie sie ihre Arbeit hervorbringt.“550 Die Kontinuitäten und Brüche zu „Das Sein und das Nichts“ wurden deutlich: Während Sartre in „Das Sein und das Nichts“ beim Anderen stehenblieb, kamen nun in der „Kritik der dialektischen Vernunft“ weitere Vermittlungsinstanzen hinzu: Die Mauer als bearbeitete Materie, die die Klassenpositionen im Sinne der Eigentumsabgrenzung virulent machen sollte oder die jeweilige Arbeit, über die gesellschaftliche und private Identitäten hergestellt werden, erweiterten die einst idealistische Theorie um die nötigen materialistischen Momente. Sartre blieb also nicht mehr bei der „Intersubjektivität“ stehen, sondern ergänzte seine Theorien an entscheidenden Stellen um den marxschen Arbeitsbegriff und die Einbeziehung der bearbeiteten Materie. Arbeit und Materie wurden zu zentralen Vermittlungsinstanzen. Doch wie ging es konkret weiter? Menschlichen Beziehungen bestanden aus weit mehr als diesen drei Personen, komplexe, arbeitsteilige Gesellschaften waren nicht mehr für den einzelnen Betrachter zu durchschauen. Tatsächlich, so Sartres These, hingen all diese Individuen zusammen: „Hüten wir uns diese Vermittlung auf einen subjektiven Eindruck zu reduzieren: man kann nicht sagen, daß für mich diese beiden Arbeiter keine Kenntnis voneinander haben. Sie haben durch mich genau in dem Maße keine Kenntnis voneinander, wie ich durch sie zu dem werde, was ich bin.“551 Die Theorie von Subjekt und Objekt begann sich zu bewegen. Das Subjekt wurde zum Objekt und umgekehrt: „Unmöglich unter den Mensch zu existieren, ohne daß sie durch mich und für mich und für sie zu Objekten werden, ohne daß ich für sie Objekt bin, ohne daß ich durch sie meine Subjektivität ihre objektive Realität gewinnt als Verinnerung meiner menschlichen Objektivität.“552 So entstanden Interaktionen, zwischen Subjekten die durch die „bearbeitete Materie“ vermittelt wurden: Sobald beispielsweise eine Zeitmeßmaschine mit dem Ziel die Effektivität des Arbeiters zu erhöhen, aufgestellt würde, veränderten sich die Beziehung der Menschen untereinander. Grundsätzlich, so Sartre, seien die Menschen einander durch Arbeit entfremdet, doch durch die Einbeziehung der bearbeiteten Materie weite sich die Entfremdung aus. Nach Sartre sei eine gänzliche Aufhebung der Entfremdung kaum möglich, da mit ihr die Aufhebung der Arbeit selbst einherginge. Die Geschichte der Gesellschaften sei neben der von Klassenkämpfen, so Sartres große These, auch die Geschichte des Kampfes gegen die Knappheit gewesen: 549 Sartre, Jean-Paul: Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S. 105f Ebd., S. 106 551 Ebd., S. 108 552 Ebd., S. 111 550 154 „Man muß jedoch daran denken, daß dieses einseitige Verhältnis der umgebenden Materialität zu den Individuen in unserer Geschichte in einer besonderen kontingenten Form auftritt, weil das ganze menschliche Geschick – zumindest bis jetzt – ein erbitterter Kampf gegen den Mangel ist.“553 Soweit schienen die Kritische Theorie und Sartres Existentialismus nicht auseinander: Bei Adorno/Horkheimer war die Angst ein Motor der Geschichte, für Sartre der Mangel, die Knappheit. Der Mangel, so Sartre weiter, sei eine von der Epoche abhängige Kategorie: „Daher ist der Mangel trotz seiner Kontingenz eine grundlegend menschliche Beziehung zur Natur und zu den Menschen. In diesem Sinne muß man sagen, daß es der Mangel ist, der uns zu diesen Individuen macht, die diese Geschichte hervorbringen und sich als Menschen definieren. Ohne den Mangel ist zwar eine dialektische Praxis und sogar die Arbeit denkbar.“554 Sartre ging davon aus, daß das verbindende Band zwischen den Mensch das Bedürfnis sei. Der Mangel definiere die Einzelnen epochal, d.h. überspitzt gesagt, daß zur Zeit der französischen Revolution kein Mangel an Fernsehern vorherrschte. Was jeweils der Mangel sei, definiere die Epoche, in der die Menschen lebten, „diese natürliche Substanz oder jenes hergestellte Produkt existieren nur in einem bestimmten sozialen Feld in nur ungenügender Anzahl in bezug auf die Anzahl der Mitglieder der Gruppen oder der Bewohner der Gegend; es gibt nicht genug davon für alle. Daher existiert für jeden alle Welt (die Gesamtheit) insofern, als der Verbrauch irgendeines Produktes durch andere dort hinter ihm hier eine Chance entzieht, einen Gegenstand derselben Ordnung zu finden und zu verbrauchen.“555 Unter dem Blickwinkel, daß Sartre die nächsten Jahre als, man könnte sagen, „Militanter Botschafter“ durch die Welt reiste und vor allem gegenüber den Revolutionen der Dritten Welt größte Sympathie hervorbrachte, war seine Theorie einleuchtend. Die Geschichte des Reichtums der Ersten Welt war gleichzeitig die Geschichte der Armut der Dritten Welt. Nicht zuletzt war die menschliche Geschichte auch immer die Geschichte der Arbeit und der ungerechten Eigentumsverteilung – ob als Grundbesitz, Wissensressourcen, Militärtechnologie oder Kapital. Die menschliche Geschichte war, mit Marx gesprochen, die Geschichte von Klassenkämpfen, in denen es Gruppen oder Kollektiven darum ging, Eigentumsverhältnisse zu verändern oder zu erhalten – damit war sie zwangsläufig auch die Geschichte der Gewalt. „Das bedeutet nach Marx, daß die Revolution – die er für nahe bevorstehend hielt - nicht bloß Erbin eines Bankrotts wäre und daß das Proletariat durch die Umwandlung der Produktionsverhältnisse bald in der Lage wäre, diesen gesellschaftlichen Mangel in einer neuen Gesellschaft zu absorbieren. Erst später sollte die Wahrheit zu Tage treten, als man in der sozialistischen Gesellschaft aus dem gigantischen Kampf gegen den Mangel neue Widersprüche entstehen sah.“556 Grundsätzlich seien, so Sartre, alle Menschen durch eine „negative Solidarität“ miteinander verbunden. Mangel müsse nicht zwangsläufig in Gewalt münden, dennoch stelle der Besitz des Anderen (dies gelte genauso für Gruppen, Kollektive und Klassen) grundsätzlich den Mangel des Eigenen dar. Die Gewalt sei „vielmehr die ständige Unmenschlichkeit der menschlichen Verhaltensweisen als verinnerter Mangel, kurz das, was jeden in jedem den Andern und das Prinzip des Übels sehen läßt. Deshalb muß es, damit die 553 Ebd., S. 130 Ebd., S. 131 555 Ebd., S. 135 556 Ebd., S. 157 554 155 Ökonomie des Mangels Gewalt ist, nicht notwendig zu Massakern oder Einkerkerungen, also zu sichtbarer Gewaltanwendung kommen, auch nicht einmal zu dem gegenwärtigen Plan ihrer Anwendung.“557 Dabei hafte den gegenwärtigen Gesellschaften das Gewaltmoment systematisch an: „Man verstehe uns recht, wenn wir sagen, daß eine Gesellschaft ihre unterernährten Produzenten bestimme und ihre Toten auswähle.“558 Das bedeutete, daß in den kapitalistischen Gesellschaften von vornherein ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung Bergarbeiter, Lehrer oder Arbeitslos sei. Über die Menge des Geldes, das eine Gesellschaft oder Klasse in ein Gesundheitswesen investiert, regele sich beispielsweise die Anzahl der Toten und das Lebensalter der Menschen. Von vornherein könnten nur eine bestimmte Anzahl der Menschen einer Gesellschaft zu den Besitzenden, Forschenden, Arbeitenden, usw. gehören. Oder um mit Sartre zu sprechen, „der Tausch als Zweikampf kennzeichnet vielmehr den Menschen des Mangels.“559 Diese spezifisch historischen Konstellationen machten es möglich, daß sich die jeweiligen Gruppen- oder Klasseninteressen bildeten. Wenn man unter Gruppenund Klasseninteressen „verstehen würde, daß ein subjektiver Charakter des Individuums mit den subjektiven Charakteren aller Anderen übereinstimmte, müßte man zunächst die Dialektik der Alterität außer acht lassen, die diese Übereinstimmung als solche unmöglich macht.“560 An dieser Position wurde ein Wandel Sartres gegenüber seiner Zeit als „compagnon de route“ deutlich. Während zu jener Zeit die Subjektivität des Arbeiters für Sartre in der Partei aufging, stellte sich nun eine grundsätzliche Differenz zwischen dem Mensch-Sein und dem Klasseninteresse heraus. Die Subjektivität des Menschen konnte also nicht in seiner Gesamtheit in der Klasse aufgehen – eine Position, die, einmal durchgehalten, die Marxisten vor so manch totalitärer Entwicklung bewahrt hätte. Das Konzept des „Anderen“ bedurfte aber auch der realen Klassengemeinsamkeit: „Die konkrete Einheit der Bourgeoisie kann also nur in einer gemeinsamen Ablehnung der gemeinsamen Praxis der Arbeiter realisiert werden.“561 Dabei verschwömmen, so Sartre, die Grenzen zwischen Sein und Tun: Die Arbeiterin, die jeden Tag acht Stunden in einer Haarwaschmittelfabrik denselben Handgriff erledige, sei in diesem Tätigkeitsmoment genau das, wozu sie gemacht werde. Anders ausgedrückt: „Dieser minuziöse Apparat, in dem alles wie durch einen sadistischen Willen minuziös geregelt ist, ist gleichzeitig die Arbeiterin selbst.“562 Dennoch blieben Momente außerhalb dieses Prozesses, die sich mit der Wirklichkeit der Arbeit an der Maschine vermischten. In der Phantasie, so Sartre, in diesem Fall in der erotischen, vermischen sich die Grenzen von Subjekt und Objekt. Anhand des Beispiels einer Arbeiterin – das Marcuse übrigens sehr schätzte und in „Der eindimensionale Mensch“ aufgriff – exemplifizerte Sartre seine These von der temporären Einheit aus Arbeit und Persönlichkeit weiter: Durch die Monotonie 557 Ebd., S: 158 Ebd., S, 163 559 Ebd. 560 Ebd., S. 218 561 Ebd., S. 227 562 Ebd., S. 248 558 156 der Arbeit entstehe eine „Hingabe“ an die Maschine, die sich wiederum in sexuellen Hingabephantasien der Frau widerspiegelten. Was war jetzt die „wahre“ oder „echte“ Frau? Was war gesellschaftliche Prägung und was eigentliche Subjektivität? Gab es ein ursprüngliches Subjekt in diesem Beispiel? Für Sartre war die Subjektivität der Frau untrennbar mit ihrer Arbeit verknüpft: „Die Frau kann an das Vergnügen des Vorabends denken, von dem des nächsten Tages phantasieren oder unbestimmt die Erregung anläßlich einer Lektüre wieder heraufbeschwören; sie kann auch aus dem sexuellen Bereich ausbrechen und sich der Verbitterung über ihre persönliche Lage hingeben. Das Wesentliche besteht darin, daß das Objekt dieser Phantasien gleichzeitig das Subjekt selber ist, das beide ständig ineinanderübergehen. [...] Die Bedingtheit der Person ist also selbst der zukünftige Widerspruch – der plötzlich eintreten wird -, aber sie ist dieser Widerspruch in seiner gegenseitigen Zweideutigkeit“563 Das bedeutete, daß das Individuum seiner Subjektivität nicht beraubt war, sondern die Subjektivität innerhalb der aufgezwungen Objektwelt entstand, die direkt aus dem Objekt – in diesem Falle der Maschine – entsprang und wieder die sie umgebende Welt hervorbrachte und in ihr einging. Dazu gehörte für Sartre der Widerstand gegen die Arbeit genauso wie die Momente der unbewußten Hingabe an sie. Durch die grundsätzliche Ersetzbarkeit der (Arbeits-)Subjekte im Kapitalismus sei es historisch möglich gewesen, so Sartre, Kollektivinteressen als Arbeiter zu entwickeln. Mit Sartres Worten ausgedrückt: „Jeder ist der Gleiche wie die Anderen, insofern er Anderer ist als er selbst.“564 Die „Kritik der dialektischen Vernunft“ machte an der Stelle weiter, wo „Das Sein und das Nichts“ endete. In „Das Sein und das Nichts“ blieb Sartre beim Individuum stehen, daß die Welt hervorbringe. Die gesamte "Kritik der dialektischen Vernunft" war zwar von ihrem inneren Aufbau ähnlich angelegt, doch schlug der Prozeß der Hervorbringung der Welt regelmäßig in die Hervorbringung des Subjekts durch die Welt um. Das erste Buch der "Kritik der dialektischen Vernunft" begann mit der individuellen Praxis, die zum „Praktischinerten“ führte. Dann folgte die Materie, die in das Leben der Menschen trete und zum Schluß kamen die Kollektive. Das zweite Buch behandelte „Von der Gruppe zur Geschichte“. Die Struktur der "Kritik der dialektischen Vernunft" erschien induktiv; vom Individuum zur Geschichte aufsteigend. Tatsächlich produzierte sich das Individuum in den objektiven Prozessen, wurde selbst Objekt und brachte sich wieder als Subjekt hervor. Dabei war der Bezugsrahmen der Sartreschen Philosophie nicht weniger als die gesamte Menschheitsgeschichte - ihm ging es um die Rekonstruktion der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft. Konsequenterweise kam dem Marxismus dabei nur eine temporäre Gültigkeit zu, die allerdings nach Sartre als einzige die Gegenwart zu erklären vermochte. Er selbst verstand das Projekt der "Kritik der dialektischen Vernunft" als „strukturelle Anthropologie“. Ähnlich Hegels „Phänomenologie des Geistes“, die auch als Menschheitsgeschichte gelesen werden konnte, war es ebenso möglich Sartres "Kritik der dialektischen Vernunft" als solche zu lesen: Daher seine Methode vom Einzelnen auszugehen und in der Geschichte und der Gruppe als Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes zu enden. 563 564 Ebd., S. 249 Ebd., S. 277 157 Für die Rekonstruktion des Subjekts war besonders Sartres Beschreibung dessen, was er als „praktisch-innertes“ bezeichnete, erwähnenswert: „es ist das, was uns umgibt und bedingt. Ich brauche nur einen Blick aus dem Fenster zu werfen: Ich werde Autos sehen, die Menschen sind und deren Fahrer Autos sind, einen Polizisten, der an der Straßenecke den Verkehr regelt, und weiter hinten eine automatische Regelung des gleichen Verkehrs durch rotes und grünes Licht, hundert Forderungen, die vom Boden zu mir aufsteigen, Fußgängerpassagen, Verkehrsschilder, Verbote, Kollektive (eine Zweigstelle der «Crédit Lyonnais», ein Café, eine Kirche, Wohnhäuser und suche eine sichtbare Serialität: Leute stehen vor einem Laden Schlange), Instrumente (die mit ihrer versteinten Stimme ihre Benutzungsweise angeben, Gehsteige, Fahrdamm, Taxisstand, Autobushaltestelle usw.). All diese Wesen – die weder Dinge noch Menschen, sondern praktische Einheiten des Menschen und des inerten Dinges sind –, all diese Forderungen betreffen mich noch nicht direkt. Gleich werde ich auf die Straße hinuntergehen und dann werde ich ihr Ding sein, ich werde eine Zeitung, jenes Kollektiv, kaufen und der praktisch-inerte Komplex, der mich belagert und bezeichnet, wird sich plötzlich enthüllen [...]“565 Im Vokabular der Kritischen Theorie: die verwaltete Welt brach sich im Subjekt. An diesem Punkt war die kritische Theorie und der französische Existentialismus auf einer Linie: Das Subjekt in der verwalteten Welt wurde – in beiden Theorien zu einem großen Teil gemacht. Oder um es mit Sartre auszudrücken: Die Erfahrung des Subjekts in der verwalteten Welt ist „nicht mehr das positive Moment, das man schafft, sondern das negative Moment, in dem man in der Passivität hervorgebracht wird durch das, was der praktisch-inerte Komplex aus dem gemacht hat, was man selber gerade gemacht hat.“566 Unter der Prämisse, das der Einzelne, durch das „praktisch-inerte Feld“, wie Sartre sagen würde, hervorgebracht wird, war natürlich auch der Begriff der Freiheit neu zu definieren. „Man unterstelle uns vor allem nicht“, schrieb Sartre, „die Behauptung, daß der Mensch in allen Situationen frei ist, wie es die Stoiker behaupten. Wir wollen genau das Gegenteil sagen: nämlich daß alle Menschen Sklaven sind, insofern sich ihre Lebenserfahrung im praktisch-inerten Feld abspielt und zwar genau in dem Maße, wie dieses Feld ursprünglich durch den Mangel bedingt ist.“567 Endlich revidierte Sartre seinen idealistischen Freiheitsbegriff und ersetzte ihn durch einen politischen. Dennoch lag der gesamten Sartreschen Konzeption – wie auch Marcuses – der Gedanke zugrunde, daß der Mensch als Gattungswesen frei sein mußte, um ihn überhaupt versklaven zu können. Den Institutionen falle bei der Interiorisierung von Gesellschaft im Einzelnen, so Sartre, eine besondere Bedeutung zu. Sie seien ein „Verdinglichungskomplex“. „Vermittels des Macht-Menschen, der sich – durch Zeremonien und bekannte Tänze – als Institutution-Sein offenbart, glaubt das organisierte Individuum sich selbst als durch den institutionellen Komplex in der Gruppe integriert zu begreifen (und das ist es auch tatsächlich, was jeder Staatsbürger glaubt und sagt), während die Institution in Wirklichkeit nur in einem bestimmten Moment de Rückbildung der Gruppe und als genauer Index ihrer Desintegration auftauchen kann.“568 Das 565 Ebd., S. 346 Ebd., S. 360 567 Ebd., S. 354 568 Ebd., S. 641 566 158 sartresche Subjekt war umgeben von erdrückenden, beeinflussenden, befehlenden oder disziplinierenden Momenten. Mittlerweile war seine Theorie an einen Stand gelangt, an dem sie mit der von Marcuse unter dem Blickwinkel „Individuum und Gesellschaft“ fast Deckungsgleich waren. Anders ausgedrückt: Das reine Subjekt existierte nicht (höchstens im epistimologischen Sinne), es wurde zum SubjektObjekt. Man merkte der "Kritik der dialektischen Vernunft" an, unter welchen Mühen sie geschrieben wurde. Mehrfache Wiederholungen, lange ausgedehnte Passagen, die versuchten einen Punkt zu fassen, ihn wieder losließen, wieder aufgriffen, wendeten – ein ständiges oszillieren von Subjekt und Objekt, subjektivem im Objekt, objektivem im Subjekt. Was sich an manchen Stellen wie ein Rausch laß, wurde teilweise auch in solchem geschrieben. Die "Kritik der dialektischen Vernunft" verlangte Sartre alles ab: Das Projekt der „politischen Grundlegung der Anthropologie“ war nur durch die Einnahme von Corydran-Tabletten möglich. „Nach einem schweren Abendessen und einigen Stunden schlechtem, künstlichen, durch vier oder fünf Schlaftabletten erzwungenem Schlaf begann er gleich nach dem Aufstehen mit Kaffee, gefolgt von Corydran: ein, zwei Tabletten, die er nebenbei während der Arbeit einnahm... Am Ende des Tages war das Röhrchen – manchmal auch zwei – leer. Ein leeres Röhrchen für dreißig, vierzig neue SartreSeiten. Manchmal war die blaue Tintenschrift ruhig, besonnen, linear – die Wörter aneinandergepreßt -, floß munter dahin, nach rechts gebeugt, nach unter abfallend, jedoch immer unter Kontrolle. Von Zeit zu Zeit dagegen gab es ein Gewitter, einen Sturm, die Entladung, den unkontrollierten Wahn: geschundene, deformierte, monströse, nach links, nach unten verdrehte, gedehnte, vergrößerte, anarchische, über die Zeilen springende, reduzierte oder überdimensionale, volltrunkene Wörter. So ist die Critique de la raison dialektique geschrieben. In einem hastigen Fluß wildgewordener Wörter und aneinandergereihter, kompakter, manchmal schlecht gebauter Sätze. In Phasen von Übererregung und Drogeneinnahme mit allen möglichen Begleiterscheinungen, nach vorne, zurück, halt, nach vorne und so weiter und so fort... in einem wahnwitzigen Kampf gegen sich selbst, gegen einen müden Körper, gegen die Zeit und gegen den Schlaf. Und mit Riesendosen. Denken wir nur an das Programm, daß er sich für einen vierundzwanzigstündigen Tag auferlegte: zwei Päckchen Zigaretten - «Boyard mais» - plus zahlreiche mit dunklem Tabak gestopfte Pfeifen; dazu ein Liter Alkohol – Wein, Bier, klare Schnäpse, Whiskey usw.; zweihundert Milligramm Amphetamine, fünfzehn Gramm Aspirin; mehrere Gramm Barbiturate, ganz zu schweigen von Kaffe, Tee und den Fetten seiner täglichen Ernährung.“569 Diesem Programm, so wie Cohen-Solal es beschreibt, entspricht auch die "Kritik der dialektischen Vernunft" – ein Buch, daß nur unter der völligen Vernachlässigung von Sartres Gesundheit geschrieben werden konnte. Das die „Kritik der dialektischen Vernunft“ so viele Wiederholungen und unklare Formulierungen beinhaltete war neben Sartres exzessiven Lebenswandel auch dem Umstand eines Bombenattentates auf Sartres Wohnung zuzuschreiben. Gallimard und er beschlossen das Buch so schnell wie möglich zu publizieren, bevor ein weiteres Attentat vielleicht erfolgreicher wäre. Sartre hätte sich publizistisch zurücklehnen und auf sein Werk blicken können – was sollte nun noch kommen? Alle, die in Frankreich noch kamen, konnten nicht 569 Cohen-Solal, a.a.O., S. 574 159 an Sartre vorbei. Im Bereich der Theorie des Subjekts war Sartre eine solche Autorität geworden, daß es nur möglich war, von „der anderen Seite“ Theorie zu betreiben. Es war z.B. kein Zufall, daß bei Foucault kaum vom epistemologischen Subjekt die Rede war und es in seinem Werk fast bedeutungslos erschien. Der außerparlamentarischer Botschafter Sartres: Die Unabhängigkeit Algeriens und das Vorwort zu Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ Sartre hatte in Frankreich den Status eines außerparlamentarischen Ministers zugeschrieben bekommen. „Einen Voltaire verhaftet man nicht.“ hatte de Gaulle über Sartre gesagt. Mit der "Kritik der dialektischen Vernunft" zementierte Sartre seinen Rang als überragender Intellektueller Frankreichs. Der Einzige seiner Generation, der ihm diesem Platz hätte streitig machen können verstarb im Januar 1960 bei einem Autounfall: Albert Camus. Diesmal fand Sartre gerechtere Worte über seinen ehemaligen Weggefährten. In den nächsten Jahren war er als „militanter Botschafter“ (Cohen-Solal) unterwegs und repräsentierte dabei das linke bzw. linksliberale Frankreich. Er reiste nach China, Kuba, Brasilien, Jugoslawien und wieder in die UdSSR. Wie zerrissen die französische Gesellschaft war und welchen Rang Sartre darin einnahm, zeigte sich vor allem in seinem Engagement gegen den Algerienkrieg. Francis Jeanson, der einst den Artikel gegen Camus verfaßt und der den Disput zwischen Sartre und Camus ausgelöst hatte, kämpfte mittlerweile im Untergrund gegen die französische Kolonialmacht in Algerien. Als er an Sartre herantrat, um ihn um Unterstützung zu bitten, lief er offene Türen ein. Die „Temps Modernes“ und ihr Umkreis sammelten Unterschriften für einen Text der mit „Recht zum Ungehorsam im Algerienkrieg“ überschrieben und von 121 Personen des öffentlichen Lebens unterschrieben war. Der Text wurde sofort verboten und durfte in keiner öffentlichen Zeitung gedruckt werden. Die Oktoberausgabe der „Temps Modernes“ erschien mit zwei leeren, provokanten Seiten. Als im September der Prozeß gegen Mitglieder der „Réseau Jeanson“ begann, kurierte Sartres Namen überall. Der Vorsitzende des Gerichtes rief erzürnt: „Ich warne Sie, kein Sartre hier!“570 Sartre avancierte zum Staatsfeind Nr. 1. Am 3. Oktober versammelte sich die französische Rechte mit 6000-7000 Menschen auf dem Champs-Elysées. Auf ihren Plakaten war zu lesen: „Erschießt Jean-Paul Sartre“, „Algerien bleibt französisch“, usw.. De Gaulles Politik bestand in dem Konzept: Friedenstauben für die Einen, Knüppel für die Anderen. Die Tageszeitung „Paris Jour“ titelte: „De Gaulle: Ich verzeihe Voltaire, aber nicht den Staatsdienern.“ Es blieb nicht bei Demonstrationen. Am 22. April 1961 versuchten die Generäle Salan, Challe, Jouhand und Zellen in Algier die Macht zu übernehmen. Die OAS (organisation da l’armée secrète), ein Sammelbecken für alle von der Unabhängigkeit Algeriens vor den Kopf gestoßenen), begann mit Attentaten. Am 13. Mai 1961 explodierte eine Bombe in den Redaktionsräumen von „Les Temps Modernes“, am 19. Juli eine in Sartres Wohnung und am 7. Januar 1962 eine weitere. Der Kampf Sartres und vieler Anderer zahlte sich aus, doch bot das Resultat nur mäßigen Anlaß zur Freude. Am 1. Juli 1962 war Algerien unabhängig. Sartre 570 siehe Cohen-Solal, a.a.O., S. 640ff 160 kommentierte: „Man muß zugeben, daß Freude nicht angebracht ist: seit sieben Jahren ist Frankreich ein tollwütiger Hund, der am Schwanz einen Kochtopf hinter sich herschleift und jeden Tag ein wenig mehr über sein eigenes Getöse erschrickt. Jeder weiß heute, daß wir ein Volk armer Leute ruiniert, ausgehungert, massakriert haben, damit es auf die Knie geht. Es ist stehengeblieben. Doch um welchen Preis! In dem Augenblick, wo die Delegationen die Sache beendeten, befanden sich zwei Millionen vierhunderttausend Algerier in den Lagern des langsamen Todes; mehr als eine Million haben wir umgebracht. Die Felder liegen brach, die Duras sind von Bomben verwüstet, der Viehbestand, der karge Reichtum der Bauern, ist verschwunden. Nach sieben Jahren muß Algerien am Nullpunkt anfangen: zunächst den Frieden erringen, dann mit allergrößter Anstrengung jenes produzierte Elend überwinden, unser Abschiedsgeschenk.“571 1961 in Rom traf Sartre das erste Mal mit Frantz Fanon zusammen. Fanon, schwer krank, bat Sartre eindringlich das Vorwort zu „Die Verdammten dieser Erde“ zu schreiben sowie dessen Publikation zu beschleunigen. Ein halbes Jahr später starb Fanon; „Les damnés de la terre“ wurde in 17 Sprachen übersetzt und überschritt die Auflage von 1 Million Exemplaren – es wurde zu einem Klassiker der 68er Bewegung. Das Vorwort Sartres wurde zu seinem engagiertesten Text für die dritte Welt, mit dem sich auch Marcuse solidarisierte. Einer der am häufigsten – auch von Marcuse - zitierten Aussprüche Sartres bezog sich auf das Recht zum Widerstand, auch mit Gewalt: „[…] wenn die Gewalt heute abend begonnen hätte, wenn es auf der Erde niemals Ausbeutung noch Unterdrückung gegeben hätten, dann könnte die demonstrative Gewaltlosigkeit vielleicht den Streit besänftigen. Aber wenn das ganze System bis zu Euren gewaltlosen Gedanken von einer tausendjährigen Unterdrückung bedingt ist, dann dient eure Passivität nur dazu, euch auf die Seite der Unterdrücker zu treiben“572 Sartre war kein Pazifist aus Prinzip – genau wie Marcuse. Für beide existierte ein Recht auf Widerstand der Unterdrückten, daß Gewalt einschloß, sofern es die Gewalt der Schwachen war. Die Gewalt blieb für beide etwas zu verabscheuendes und von einer Verherrlichung waren sie meilenweit entfernt. Ebenso bezweifelten sie, daß die Gewalt einen großen Nutzen brächte – im Gegenteil: „Lesen sie Fanon“, schrieb Sartre, „und sie werden erkennen, daß zur Zeit ihrer Ohnmacht das kollektive Unterbewußtsein der Kolonisierten die Mordlust ist. Diese zurückgehaltene Wut dreht sich, wenn sie nicht ausbricht, im Kreise herum und richtet unter den Unterdrückten selbst Verheerungen an. Um sich von ihr zu befreien, schlachten sie sich untereinander ab: die Stämme kämpfen gegeneinander, weil sie den eigentlichen Feind nicht angreifen können […].“573 Sartre und Fanon behielten damit auf tragische Weise bis heute Recht. Was war die Rolle des Einzelnen? Für Sartre existierte keine Neutralität: Im Angesicht des Terrors der Kolonisation könne man sich nicht neutral verhalten. Man müsse wählen: „Heute steht die sengende Sonne der Folter am Zenit und blendet alle Länder. Unter diesem Licht gibt es kein Lachen, das nicht falsch klänge, kein Gesicht, das sich nicht schminken 571 Sartre, Jean-Paul: Die Schlafwandler, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, a.a.O., S. 133 572 Sartre, Jean-Paul: Vorwort, in Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt /M, 1981, S. 22f 573 Ebd., S. 17 161 müßte, um die Wut oder Angst zu kaschieren, keine Handlung, die nicht unseren Ekel oder unsere Komplizenschaft verriete.“574 Das Ende der Restaurationszeit Bei Betrachtung der Sartreschen Werke bis 1964 unter dem Blickwinkel des Subjekts, fällt vor allem die Schwierigkeit einer Positionsbestimmung auf. In der "Kritik der dialektischen Vernunft" vertrat Sartre einen Subjektbegriff, der es endlich vermochte das Mitlaufen, das Schweigen, die Entfremdung der Menschen gegenüber ihrer eigenen Unterdrückung zu erklären. Über eine solche Theorie verfügte auch Marcuse. Andererseits lebten beide, – bis zu diesem Jahren allerdings eher Sartre, Marcuse dann in den folgenden Jahren –, nach dem Subjektbegriff von „Das Sein und das Nichts“. Es schien als galten für die beiden Philosophen zwei Theorien: Die eine für das Gros der Gesellschaft und eine andere für ihre eigene Praxis. Sie waren sich einig darüber, daß die übergroße Mehrheit der Menschheit in Knechtschaft und Entfremdung lebte; sie selbst aber verkörperten nahezu perfekt das Bild des vernunftgeprägten, freien Subjekt. Man könnte sagen, daß ihr politisches Leben eine Gegensubjektivität zur präformierten Subjektivität darstellte und in den folgenden Jahren sollten viele ihrem Entwurf folgen. Marcuses populärstes Werk war in der Entstehung: „Der eindimensionale Mensch“ sollte die erfolgreichste Publikation werde, die die kritische Theorie bis heute hervorgebracht hat. Darin stellte sich das gleiche Problem: Die eindimensionalen Subjekte Marcuses verloren in dem Maße an Gültigkeit, desto mehr Menschen ihn lasen und ihr Leben und Handeln mit Hilfe seines Denkens planten und einrichteten. Nach Jahren der Niederlagen der Linken – vor allem der, daß nach dem 2. Weltkrieg der Kapitalismus eine Prosperitätsphase durchlief und sich restaurierte, anstatt, wie von Marcuse und Sartre gehofft, einer anderen ökonomischen Ordnung zu weichen – trat eine neue soziale Bewegung in den Industrienationen auf den Plan, die später unter dem Namen „‘68er“ in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingehen sollte. Ihre Theoretiker? Jean-Paul Sartre, aber vor allem: Herbert Marcuse. Die Welt hatte sich in schier unglaublichem Tempo verändert. Als de Gaulle kam, gab es eine Millionen Fernsehgeräte in Frankreich, als er ging waren es zehn Millionen. Die industrialisierten Staaten der Welt prosperierten am „Goldenen Zeitalter“, die Technik hielt Einzug in Millionen von Haushalten. Das Arrangement von Gewerkschaften und Kapital, in Deutschland sogar mit dem Wort „Sozialpartner“ versehen, garantierte dem Westen einen relativen Frieden und die Integration der Arbeiterklasse in den „Sozialstaat“. „Für 80 Prozent der Menschheit hörte das Mittelalter in den fünfziger Jahren mit einem Schlag auf; genauer gesagt, in den sechziger Jahren wurden sich die Leute bewußt, daß es zu Ende war.“ 575 Doch vor allem erfüllte sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine Vorhersage von Marx, die dieser zwar für weit vorher prognostiziert hatte, aber sich erst jetzt vollständig erfüllte: Der Untergang des Bauerntums. „Daß sich die Vorhersage von Marx, daß das Bauerntum durch die Industrialisierung ausgerottet werden würde, schließlich in den Ländern, die eine rasche Industrialisierung 574 575 Ebd., S. 27 Hobsbawm, a.a.O., S. 364 162 durchlebten, offenkundig bewahrheitete, ist weniger erstaunlich als ein ganz unerwartetes Phänomen: Die Anzahl der Bauern und Landarbeiter verringerte sich auch dort, wo die Industrialisierung ganz augenscheinlich ausgeblieben war, nämlich in Ländern, die die Vereinten Nationen mit allen möglichen Euphemismen für die Begriffe »rückständig« und »arm« zu umschreiben versuchten. Während junge, hoffnungsvolle Linke Mao Tse-tungs Strategie für den revolutionären Sieg propagierten – die Mobilisierung der unzähligen Millionen Landarbeiter für den Kampf gegen die umzingelten städtischen Hochburgen des Status quo –, verließen diese Millionen ihre Dörfer und übersiedelten selbst in die Städte.“576 Während die Bauern nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fast überall die Hälfte oder mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellten, waren sie nun fast überall in der Minderheit. Wie sich erst mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 herausstellte, war die bipolare Welt – trotz des kalten Krieges –, eine relativ stabile Welt gewesen, gemessen an der ersten Hälfte des Jahrhunderts. In der dritten Welt war die Entkolonialisierung nahezu abgeschlossen. Die Landkarten von 1914 waren 50 Jahre später in kaum einem Kontinent dieselben geblieben. War es also verwunderlich, daß die Mehrzahl der Menschen der „sozialen Marktwirtschaft“ mit keynsianistisch gesteuerter Ökonomie die Treue hielt? Mit Sicherheit war die Frage einfacher zu beantworten, als die Frage warum einst so viele Menschen dem Faschismus folgten. Um so erstaunlicher kam für viele die neue soziale Bewegung der 68er, die in fast allen westlichen Ländern zu einer Revolution der Kultur führte. Wohl zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte war es aufgrund des technologischen Fortschritts möglich geworden, den Mangel und die Knappheit ein für alle mal zu besiegen. Die Wirklichkeit sah anders aus: Der kalte Krieg und der Antikommunismus hatten ihren Zenit überschritten und das ungebremste Wirtschaftswachstum sollte nicht anhalten. Nun rächte sich, daß das Zeitalter des Antifaschismus (denn fast alle Regierungen nach 1945 basierten auf antifaschistischen Legitimationen oder Mythen) die Reflexion auf später vertagte. Vor allem in Deutschland war es die 68er Bewegung, die die Entnazifizierung einforderte. Der kalte Krieg lief in den folgenden Jahrzehnten vergleichsweise weniger Gefahr, heiß zu werden. Die USA akzeptierten ein kommunistisches China und vor ihrer Haustür ein sozialistisches Kuba, die Berliner Mauer schloß die Grenze der Systeme. Nur einmal, während der Kubakrise, drohe der kalte Krieg noch einmal heiß zu werden. Für Sartre und Marcuse brach in ihren Theorien eine „optimistischere Zeit“ an, da sie die Studentenbewegung begrüßten und die Bewegung sie. Sartre war auf dem Höhepunkt seines Ruhmes angekommen, was der ihm zugedachte Nobelpreis für Literatur 1964, den er ablehnte, belegte. Marcuse populärsten Jahre sollten ihm noch bevorstehen und seine Sympathie für Sartre dahin bringen, daß er über ihn sagte: „Sartre war schon immer mein Über-Ich“577 Für Marcuse und Sartre änderte sich viel: Eine soziale Bewegung, die beide unterstützten und an der sie teilhatten, erforderte ein anderes Denken, als dies in 576 577 Ebd., S. 367 Hayman, Ronald, a.a.O., S. 655 163 ihren Theorien der Entfremdung zum Ausdruck kam. Bisher war es möglich, die Theorie ex-negativo zu betreiben, in dem Sinne das man sagen konnte: Das hier ist keine Freiheit. Trotz alledem hielten sich beide an ein die jüdische Tradition des sogenannten Bilderverbots, d.h. sie weigerten sich das Bild einer freien Gesellschaft zu zeichnen. Formulierungen einer positive Utopie fandet sich bei keinem der beiden Denker, dort wo es eine gegeben hatte – Sartres Entwurf eines Nachkriegsfrankreichs – blieb sie verschollen und erfuhr keine Neuauflage. Mit den Worten Marcuses ausgedrückt: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der großen Weigerung hingegeben haben und hingeben.“578 Die Theorie war also vor große Aufgaben gestellt. Den „Achtundsechzigern“ ein weiteres, zynisches „Ihr seid fabelhaft“ wie der starren und verstaubten Nachkriegszeit entgegenzuschmettern, wäre am Kern des Problems vorbeigegangen. 578 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Hamburg, 1988, S. 267 164 5. 1968 und die Folgen: Kulturkampf zwischen Revolution und Reform - Rebellische Subjektivität „ES IST UNMÖGLICH, EINE ZEITUNG, GLEICH VON WELCHEM TAG ODER VON WELCHEM MONAT ODER VON WELCHEM JAHR ZU ÜBERFLIEGEN, OHNE AUF JEDER ZEILE ZEICHEN DER ERSCHRECKENDSTEN MENSCHLICHEN VERDERBTHEIT ZU BEGEGNEN UND GLEICHZEITIG DER ERSTAUNLICHSTEN PRAHLEREI MIT ANSTAND UND GÜTE, AUßERDEM DEN UNVERSCHÄMTESTEN BEHAUPTUNGEN ÜBER FORTSCHRITT UND ZIVILISATION.“ CHARLES BAUDELAIRE „AUF DEM BOULEVARD BONNE NOUVELLE SCHWINGT SEINE SCHELLE DER KÖTER DER PRESSE BELLT SEIN AUFREIZENDES GELÄUTE UND BLUT AUF DER ERSTEN SEITE UND BLUT AUF DER ZWEITEN SEITE UND BLUT AUF DER DRITTEN SEITE UND BLUT AUF DEM HINTERN DEM HINTERN DES HINTERN AUF DEM HINTERN BLATT BEREIT SCHON ZUM NÄCHSTEN STREIT“ JACQUES PRÉVERT Die Welt im Wandel Die Welt von 1964 bis 1989 war von drei großen Momenten gekennzeichnet: Die Studentenbewegung mit ihrem Höhepunkt im Jahre 1968, die ökonomische Krise von 1973 und der Zusammenbruch des Ostblocks 1989. Der technologische Fortschritt und der Untergang des Bauerntums waren einschneidende demographische und kulturelle Ereignisse. Während die Städte der 3. Welt an der unglaublichen Menge von Einwanderern aus den ländlichen Gebieten überquollen und verslumten, konnten die reicheren Länder diese Bewegung, sofern sie nicht schon in den 20er Jahren des Jahrhunderts stattfand, besser abfedern. Durch die Pattsituation der Weltmächte füllten sich die Lohntüten der Arbeiter und Angestellten in den westlichen Gesellschaften zunehmens, da es unumgänglich geworden war, ein politisches System aufzubauen, das die Arbeiter 165 in die westlichen Gesellschaften integrierte – wollte man nicht die innere Opposition stärken. „Der große Weltboom hatte es unzähligen Familien (kleinen Angestellten, Inhabern kleiner Läden und Geschäfte, Bauern, und im Westen auch den bessergestellten Facharbeitern) mit bescheidenem Einkommen ermöglicht, ihren Kindern ein Vollzeitstudium zu bieten. Denn der westliche Wohlfahrtsstaat offerierte Studenten die verschiedensten Förderungsmöglichkeiten, wobei die USA 1945 den Anfang machten, indem sie ehemaligen Soldaten Stipendien anboten. [...] In den siebziger Jahren hatte sich die Anzahl der Universitäten auf der Welt schließlich mehr als verdoppelt. [...] Die Massen der jungen Männer und Frauen und ihrer Lehrer waren nur noch in Millionen oder wenigstens Hunderttausenden zu zählen.“579 1939 gab es im Deutschland 40.000 Studenten, die allesamt nur ein gutbürgerliches Leben im Jugendstadium repräsentierten und in organisierter Form zumeist einen reaktionären Anstrich hatten. Im Jahr 2002 entsprach die Anzahl von 40.000 Studenten einer einzigen Universität in einer Stadt der Größe Hannovers. In manchen kleineren Städten nahmen Studenten einen Anteil von bis zu 33% der Gesamtbevölkerung ein (Giessen). Im Jahr 2002 lebten allein in Berlin 132.553 Studenten.580 Da das Bauerntum weltweit auf dem Rückzug war und die neuen Technologien immer mehr ausgebildete Arbeiter benötigten, kam es nach dem sog. „Sputnikschock“ zur Öffnung der Universitäten. In marxistischen Termini ausgedrückt: Die herrschenden Klassen benötigten ein weitaus größeres Reservoir an qualifizierten Arbeitern. Da ein Hochschulstudium meist mit einem besseren Leben gleichbedeutend war, schickten viele, die es wenn auch sich leisten konnten oder es sich nur unter größtem Verzicht leisten konnten, ihre Kinder auf die Universitäten. Damit entstand ein neues soziales Milieu, das zwischen den Klassen „hing“. Auf der einen Seite war der den Studenten zugedachte Entwurf ein kleinbürgerliches Leben (dem sich – nebenbei angemerkt – auch viele der einst aktiven 68er später hingaben), auf der anderen Seite war ihre finanzielle Situation meist mit der einer einfachen Kassiererin vergleichbar. Wer war also besser geeignet, sich für die Theorien einer „Neuen Linken“ zu begeistern? Die Kommunistischen Parteien der einzelnen Länder – wenn sie noch nicht bedeutungslos waren – beharrten auf der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt. Den meisten – damals leninistisch geprägten – Parteien entging dabei, daß sich die Struktur der Arbeiterklasse grundlegend änderte. In den USA arbeiteten mittlerweile mehr Arbeiter in den Hamburgerläden von „McDonalds“ als in der Stahlindustrie. „Die Zahl der Arbeiter in der Textil- und Bekleidungsindustrie der Bundesrepublik Deutschland sank zwischen 1960 und 1984 um mehr als die Hälfte; dafür wurden in den frühen achtziger Jahren für jeweils hundert deutsche Arbeiter vierunddreißig Arbeiter von der deutschen Textilindustrie im Ausland eingestellt (1966 waren es noch weniger als drei gewesen). Die Eisen-, Stahl- und Werftindustrien begannen aus den frühen Industriestaaten allmählich völlig zu verschwinden, tauchten dafür aber in Brasilien und Korea, in Spanien, Polen, und Rumänien wieder auf. Die alten Industriegebiete verkamen zu sogenannten 579 Hobsbawn, a.a.O., S. 375 Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, R4.1, WS 2000/2001 / Gemeindeverzeichnis GV 2000, Stand: August 2002 580 166 rustbelts (Rostgürtel) – ein in den USA der siebziger Jahre erfundener Begriff.“581 Was war also mit dem „revolutionären Subjekt“ geschehen? Die meisten kommunistischen Parteien hingen einem Industrieproletariat an, das – wo es nicht fast völlig verschwunden war – von der Schließung ihrer Betriebe bedroht war. Keine besonders gute Ausgangssituation für eine Revolution klassischen Typs. Ein Mitarbeiter Sartres, der 1962 der „Temps Modernes“ beitrat, drückte diese Erkenntnis provokativ in einem Buchtitel aus: „Der Abschied vom Proletariat“. Dieser Mitarbeiter war Àndre Gorz. Die neue „Zwitterklasse“ der Studenten – zwischen materieller Armut und dem Versprechen auf ein Leben in der Mittelschicht – war besonders empfänglich für die Theorien einer Linken, die mit den Kommunistischen Partein gebrochen hatte und die UdSSR nicht länger als legitimes Experiment marxscher Philosophie ansah. Vor allem aber war sie höchst mißtrauisch gegenüber Autoritäten, was sie dem emanzipatorischen, subjektorientierten Marxismus näherbrachte. Verschiedene Momente galten als Auslöser der Bewegung: Sicherlich war der sich zuspitzende Vietnamkrieg eines der beherrschenden Themen, das in den Ländern, wo die 68er aktiv waren, heftigst diskutiert wurde. 550.000 amerikanische Soldaten waren in Vietnam statioiert und während der Kubakrise von 1962 war es keinesfalls sicher, daß der kalte Krieg nicht doch noch drohte, heißer zu werden. Am 21. 10. 1967 gingen in Washington 250.000 Menschen auf die Straße und demonstrierten gegen den Vietnamkrieg. In Deutschland brachte die Notstandsgesetzgebung die Menschen auf die Straße. Viele sahen dadurch – nach der 1956 erfolgten Wiederbewaffnung – die Bundesrepublik auf dem Weg zu einem aggressiven und totalitären Staat heranwachsen. Die größten Auswirkungen hatte die 68er Bewegung jedoch in Frankreich und Italien: beide Länder standen vor Revolutionen, da die Studentenunruhen auf die Arbeiter übergriffen und es zu Generalstreiks kam. Die Regierung des General de Gaulle wankte so stark, daß sie den Elysée-Palast verließ, um sich in Deutschland mit hohen französischen Offizieren zu beraten. „Der Studentenaufstand der späten sechziger Jahre war das letzte Hurra der alten Weltrevolution. Er war revolutionär im Sinne der alten Utopie, eine permanente Umkehr der Werte zu erreichen und eine neue, perfekte Gesellschaft zu erschaffen; er war revolutionär im operativen Sinne, dieses Ziel durch Aktionen auf den Straßen, mit Barrikaden und durch Bomben und Überfälle aus dem Hinterhalt zu erreichen. Er war global nicht nur, weil die Ideologie der revolutionären Tradition von 1789-1917 universell und internationalistisch gewesen war – selbst eine derart nationalistische Bewegung wie die separatistische baskische ETA, ein typisches Produkt der sechziger Jahre, behauptete in gewisser Hinsicht, marxistisch zu sein –, sondern weil die Welt, in der die studentischen Ideologen lebten, zum ersten Mal wirklich global war. Dieselben Bücher (darunter 1968 mit größter Sicherheit die von Herbert Marcuse) erschienen nahezu gleichzeitig in den Studentenbuchhandlungen von Buenos Aires, Rom und Hamburg. Dieselben Revolutionstouristen überquerten Ozeane und Kontinente zwischen Paris, Havanna, São Paolo und Bolivien. Die erste Menschheitsgeneration, für die schnelle und billige Flugverbindungen und Telekommunikation etwas völlig normales war – die Studenten der späten sechziger Jahre –, hatten keinerlei 581 Ebd., S. 382 167 Probleme zu erkennen, daß die Geschehnisse an der Sorbonne, in Berkeley oder Prag Teil desselben Ereignisses im selben globalen Dorf waren […].“582 Der Name Marcuses wurde innerhalb der „Neuen Linken“ sogar noch häufiger genannt, als der von Che Guevara583. Mit seinem „One-Dimensional-Man“ trat Marcuse, so Wiggershaus, an die Seite Sartres584 und auch er handelte nach dem Bild des unabhängigen Intellektuellen, das Sartre vorgelebt hatte. Die Kluft zwischen Marcuse und den Frankfurtern wurde stetig größer und man kann sagen, daß er in dieser Zeit Sartre näher stand, als seinen alten Freunden vom „Institut für Sozialforschung“. Das Buch einer Bewegung Marcuses: Der eindimensionale Mensch „Der eindimensionale Mensch“ war eine Bestandsaufnahme der kritischen Theorie Marcuses zum Nachkriegskapitalismus. Wie war der restaurierte Kapitalismus organisiert? Was hielt ihn zusammen, ließ ihn sich gegen andere Gesellschaftssystem durchsetzen? Wie erhielt sich die Diskrepanz zwischen der durch den technischen Fortschritt theoretisch machbar geworden Utopie einer Welt ohne Hunger und der Wirklichkeit von der bipolaren Welt mit der Drohung eines Atomkrieges am Leben? Was behinderte die Möglichkeit der Erfüllung des einst von der kritischen Theorie postulierten „Recht auf Glück“ der Individuen? Marcuses Zielsetzung des Buches las sich bescheiden: „Im Brennpunkt meiner Analysen stehen Tendenzen in den höchstentwickelten gegenwärtigen Gesellschaften. Es gibt weite Bereiche innerhalb und außerhalb dieser Gesellschaften, wo die beschriebenen Tendenzen nicht herrschen – ich würde sagen: noch nicht herrschen. Ich entwerfe diese Tendenzen und biete einige Hypothesen, nichts weiter.“585 Tatsächlich war das Buch weit mehr als das: In ihm fand sich nicht weniger als die theoretische Legitimation auf Widerstand gegen die fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Diese theoretische Sprengkraft war einer der Gründe, warum es eine solch große Leserschaft fand. Dabei waren Marcuses Argumente keinesfalls neu, sie stellten vielmehr einen verdichteten, klaren und griffigen Höhepunkt seiner Arbeiten dar. Kernpunkt der kritischen Theorie Marcuses blieb das Beharren auf der Möglichkeit einer Welt jenseits des Kapitalismus: „Wäre das Individuum nicht mehr gezwungen sich auf dem Mark als freies ökonomisches Subjekt zu bewähren, so wäre das Verschwinden dieser Art von Freiheit eine der größten Errungenschaften der Zivilisation.“586 Mit „Der eindimensionale Mensch“ plante Marcuse keineswegs ein Manifest für eine neue Bewegung zu schreiben, tatsächlich war es die politische Quintessenz seines Denkens bis 1964. Geprägt vom Scheitern der deutschen Revolution, dem Aufstieg des Faschismus und dem Fortbestehen des Kapitalismus nach dessen Fall war es eine Abrechnung mit der spezifischen Form des Kapitalismus nach 1945 582 Ebd., S. 554 Katsiaficas, George: The Imagination of the New Left: A global analysis of 1968, Boston, 1987, zit.n.: Hobsbawn, a.a.O., S. 550 584 vgl. Wiggershaus, a.a.O., S. 677 585 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Hamburg, 1988, S. 20 586 Ebd., S. 22 583 168 und dessen Geschichtslosigkeit: „Der Vernichtungskrieg hat noch nicht stattgefunden, die nazistischen Ausrottungslager wurden abgeschafft. Das Glückliche Bewußtsein verdrängt den Zusammenhang.“587 Die Kernthese Marcuses war unmißverständlich: Die Menschen im spätindustriellen Kapitalismus waren dumm gehalten und dumm gemacht worden. Die gesellschaftlich vorgegebene Kultur zielte auf die Begrenztheit ihres Denkens und Verstandes und machte sie zu eindimensionalen Menschen, deren Denken sich widerspruchsfrei durch die kulturindustriellen Normen reproduziere. Marcuse sah in der Kulturindustrie einen zentralen Garanten zur Weiterführung der Unterdrückung: „Das Nichtfunktionieren des Fernsehens und verwandter Medien könnte so erreichen, was die immanenten Widersprüche des Kapitalismus nicht erreichten – den Zerfall des Systems.“588 Die Übermacht der Gesellschaft als Objekts über das Subjekt schien grenzenlos. Tatsächlich reflektierte Marcuse, wie vor ihm bereits Adorno im Kapitel über Kulturindustrie in der „Dialektik der Aufklärung“, einen historischen Bruchpunkt im Umgang der Gesellschaft mit dem Einzelnen. Überhaupt war die „Dialektik der Aufklärung“ die große Inspirationsquelle für den „One-Dimensional-Man“. 1962 schrieb Marcuse an Adorno und Horkheimer bezüglich ihrer Planungen zu einer Neuauflage: „Ein ungeheures Buch, das in den beinahe zwanzig Jahren seit es geschrieben wurde, nur noch ungeheurer geworden ist. Aber auch nichts was inzwischen von den Herren sotzoologen pschickologen publiziert worden ist, kommt auch nur an eine Fußnote des Buches heran.“589 Der Kapitalismus hatte sich verändert: Die Durchsetzung des Fordismus in den USA, aber auch der europäische Faschismus, begründete eine Kultur, in der die Arbeiter Teil des Ganzen sein sollten – selbstredend keinesfalls in ökonomischer Gleichberechtigung, aber dennoch als Kultur-, bzw. Produktempfänger. Ausdruck und Möglichkeit dieses Einheitsbewußtseins stellten die neuen Medien des Radios und Fernsehens dar. Oder mit den Worten Henry Fords gesprochen: „Sie können jede Farbe haben, solange es schwarz ist“. Dieser Satz symbolisierte, was mit Eindimensionalität gemeint war: Zu denken, daß jede Farbe zu haben sei, während die Wirklichkeit aus Schwarz bestand. Die Vergesellschaftung des Bewußtseins, so Marcuse, sei der Kern des neuen Typus des Kapitalismus, in dem die neuen Formen der Propaganda mittels der neuen Technologien jeden Haushalt erreichten: „Die massive Vergesellschaftung beginnt zu Hause und hemmt die Entwicklung des Bewußtseins und Gewissens. Autonomie zu erreichen, erfordert Bedingungen, unter denen die unterdrückten Dimensionen der Erfahrung wieder lebendig werden können; ihre Befreiung erfordert die Unterdrückung der heteronomen Bedürfnisse und weisender Befriedung, die das Leben in dieser Gesellschaft organisiert.“590 Während das Establishment die permanente Verfügbarkeit sämtlicher Farben proklamierte, wurde jenen, die der schönen, neuen Welt nicht trauten mit dem Knüppel gedroht: „Der Grad, in dem es der Bevölkerung gestattet ist, den Frieden zu stören, wo immer es noch Friede und Stille gibt, unangenehm aufzufallen und 587 Ebd., S. 103 Ebd., S. 257 589 Herbert Marcuse: Brief an Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, 21. August 1962, in: Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung, Hamburg, 1998, Band II, S. 155 590 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a a.O., S. 256 588 169 die Dinge zu verhäßlichen, vor Vertraulichkeit überzufließen und gegen die guten Formen zu verstoßen, ist beängstigend. Beängstigend, weil er die gesetzliche, ja organisierte Anstrengung ausdrückt, das ureigene Recht des nächsten nicht anzuerkennen, Autonomie selbst in einer kleinen reservierten Daseinssphäre zu verhindern.“591 Die neue Form der Herrschaft bestand für Marcuse in einer Maschinerie, die im Begriff war sich zu verselbstständigen. Dem Einzelnen bliebe im Falle des Protestes nur ein bürokratischer Niemand an der Spitze. Das Komplizierte an dieser neuen Form politischer Herrschaft bestand in ihrer Undurchschaubarkeit. So wie Foucault das Prinzip des Panoptikums als maßgeblich verantwortlich für Introjektion von Herrschaftswerten zeichnete, bestand auch für Marcuse die Herrschaftsarchitektur aus eine riesigen Maschinerie, die letztendlich sogar für jene die an ihrer Spitze standen, undurchschaubar blieb. Das historisch neue an dieser Form des Kapitalismus bestand letztendlich nur in einer altbewährten Tendenz: Der Eroberung neuer Märkte. Nur das diese Märkte in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften nicht ausschließlich die Kolonien der 3. Welt waren, sondern das vormals Private der Arbeiter und Angestellten. Fernsehen und Radio brachen in die einstige Stille des Privaten ein, Vergnügungszentren boomten, Illustrierte eroberten den Markt. 1953 erschien der erste „Playboy“, – Ausdrück einer öffentlicher werdenden Sexualität. Überall wo vormals nicht markvermittelte Beziehungen zwischen den Menschen herrschten, übernahm der Markt die Kontrolle. Der Effekt: Die „zwanghafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren“ (Adorno). Reflexion, Emanzipation, Unbotmäßigkeit und Eigensinn blieben dabei auf der Strecke. “Die Anpreisung der immergleichen Waren unter verschiedenen Markennamen, das wissenschaftlich fundierte Lob des Abführmittels in der geschleckten Stimme des Ansagers zwischen Traviata- und Rienziouvertüre ist allein schon wegen seiner Läppischkeit unhaltbar geworden. Endlich kann einmal das durch den Schein der Auswahlmöglichkeit verhüllte Diktat der Produktion, die spezifische Reklame, ins offene Kommando des Führers übergehen.”592 Das Resultat? Der homo oeconomicus. So wie für Sartre die Subjekte zu SubjektObjekten wurden, waren sie dies auch für Marcuse. Was bei Sartre das „praktischinnerte“ Feld und „Die Anderen“ genannt wurde, existierte in Marcuses Theorie schon immer. „Die Anderen“ waren bei Marcuse ganz einfach „die Menschen des täglichen Lebens“: „Um zu leben, hängen Menschen von Chefs, Politikern, Stellungen und Nachbarn ab, die sie dazu verhalten, das zu sagen und zu meinen, was sie sagen und meinen; die gesellschaftliche Notwendigkeit zwingt sie dazu ein »Ding« (einschließlich ihrer eigenen Person, ihres Denkens und Empfindens) mit seinen Funktionen zu identifizieren. Wieso wissen wir das? Weil wir fernsehen, dem Radio zuhören, Zeitungen und Illustrierte lesen, mit den Menschen reden.“593 Durch die Kulturindustrie war den Menschen, so Marcuse, auch das nötige sprachliche Instrumentarium abhanden gekommen, um die Gesellschaft adäquat kritisieren zu können: „Indem die Menschen ihre eigene Sprache sprechen, sprechen die Menschen auch die Sprache ihrer Herren, Wohltäter und Werbetexter. 591 Ebd., S. 255 Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/ M, 1988, S. 168f 593 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O. , S. 207 592 170 Daher drücken sie nicht nur sich selbst aus, ihre eigene Erkenntnis, ihre Gefühle und Bestrebungen, sondern auch etwas anderes als sich selbst.“594 Dieses „andere“ bestand für ihn in der Reproduktion des Vorgegebenen. Die tätige Leistung des eigenen Denkens werde erdrückt von der großen Maschine des Ganzen. „Es war die totale Mobilisierung der materiellen und geistigen Maschinerie, die ganze Arbeit leistete und ihre mystifizierende Macht über die Gesellschaft installierte. Sie diente dazu, die Individuen unfähig zu machen, »hinter« der Maschinerie jene zu sehen, die sich ihrer bedienten, von ihr profitierten und jene, die für sie zahlten.“595 Bei der so diagnostizierten Ausgangslage schien es schwer, Ansatzpunkte für bessere Zeiten zu sehen. Was war für den Theoretiker zu tun? Eine neue Flaschenpost zu verkorken? Oder eine Revision an einem entscheidenden Punkt der Theorie zu tätigen? Marcuse diagnostizierte den „schwächsten Punkt der kritischen Theorie: „[...] ihre Unfähigkeit, die befreienden Tendenzen innerhalb der bestehenden Gesellschaft aufzuweisen.“596 Diese Revision kündigte Marcuse mehrfach an (ohne sie tatsächlich einzulösen), was zu Störungen im Verhältnis mit Adorno/Horkheimer führte und wohl einen Teil dazu beitrug, daß Marcuse auch im letzten versuchten Anlauf nicht mehr nach Frankfurt zurückkam. Statt dessen konnte man sagen, daß Marcuse und Sartre an diesem entscheidenden Punkt der Theorie, kollektive Akteure der Befreiung aufzuzeigen und mit ihnen solidarisch zu leben, weit mehr gemeinsam hatten, als Marcuse mit den Frankfurtern. Differenzen zwischen Marcuse und Sartre gab es vor allem in der Verortung dieses kollektiven Akteurs. Während Sartre an der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt festhielt, wurde Marcuses sog. „Randgruppentheorie“ populär: „Unter der konservativen Volksbasis befindet sich jedoch das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewußtsein. […] Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, daß sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz und Ordnung. Die Tatsache, daß sie anfangen sich zu weigern, das Spiel mitzumachen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert. Nichts deutet darauf hin, daß es ein gutes Ende sein wird.“597 Während Marcuse also bei der „traditionellen“ Arbeiterklasse ein eindimensionales Bewußtsein diagnostizierte, setzte er seine Hoffungen auf die sog. „Randgruppen“. Diese Verschiebung des revolutionären Subjektes, machte ihn in den Kreisen des orthodoxen Marxismus verhaßt598. Ein Schicksal, daß er mit Sartre teilte599. Von 594 Ebd., S. 208 Ebd., S. 204 596 Ebd., S. 265 597 Ebd., S. 267 598 siehe Beispielsweise: Holz, Hans Heinz: Utopie und Anarchismus. Zur Kritik der kritischen Theorie Herbert Marcuses, Köln, 1968. Sowie: Steigerwald, Robert: Herbert Marcuses dritter Weg, Köln, 1969. 599 siehe beispielsweise: Schaff, Adam: Marx oder Sartre?, Wien, 1964 595 171 chinesischer Seite wurde entschlossen Sartres und Marcuses Position abgelehnt – bezeichnenderweise wurden dabei beide zwar als „existentialistischer Marxismus“ bzw. „psychoanalytischen Marxismus“ unterschieden, doch im gleichen Atemzug verurteilt, als „Verbindung verschiedenster Ideologien, die Individualismus und Anarchismus miteinander vermischten.“600 Für die chinesische KP waren die Unterschiede zwischen Marcuse und Sartre so marginal, daß sie es nicht für Wert hielten, zwischen ihnen zu unterscheiden und wo sie es taten, kamen Marcuse und Sartre letztendlich doch in den selben Topf. Und auch der orthodoxe Marxismus der UdSSR nahm beide kaum positiver auf. Marcuses radikales Eintreten für eine Gesellschaft neuen Typs zielte auf ein wirkliches historisches Novum ab: Sowohl den real existierenden Demokratien des Westens, wie dem real existierenden Kommunismus des Ostens sprach er die Basis für eine gerechte Welt ab: „Die verhängnisvolle wechselseitige Abhängigkeit der einzigen beiden »souveränen« Gesellschaftssysteme in der gegenwärtigen Welt drückt die Tatsache aus, daß der Konflikt zwischen Fortschritt und Politik, zwischen dem Menschen und seinem Herren total geworden ist. Wenn der Kapitalismus sich der Herausforderung des Kommunismus stellt, so stellt er sich seinen eigenen Möglichkeiten: eine beachtliche Entwicklung aller Produktivkräfte, nachdem die privaten Profitinteressen zurückgestellt wurden, die solch eine Entwicklung hemmen. Wenn der Kommunismus sich den Herausforderungen des Kapitalismus stellt, so stellt auch er sich seinen eigenen Möglichkeiten: ein beachtlicher Komfort, Freiheiten und ein Erleichterung der Lebenslast. Beide Systeme enthalten diese Möglichkeiten bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und in beiden Fällen ist der Grund dafür in letzter Instanz derselbe – der Kampf gegen eine Lebensform die die Grundlage der Herrschaft auflösen würde.“601 Der Zirkel zwischen Anpassung der Subjekte an die herrschenden Zustände sowie der Anpassung der herrschenden Normen an die Subjekte bestimmte das Bild, das Marcuse von den Einzelnen zeichnete. Dabei sprach er dem Kapitalismus nach 1945 eine neue Qualität und Quantität zu, er ging soweit zu sagen, daß eine „neue Gesellschaft“ entstanden war: „Verglichen mit ihren Vorgängerinnen, ist sie in der Tat eine »neue Gesellschaft«. Traditionelle Unruheherde werden jetzt beseitigt oder isoliert, auflösende Elemente gebändigt. Die Haupttendenzen sind bekannt: Konzentration der Volkswirtschaft auf die Bedürfnisse der großen Konzerne, wobei die Regierung sich als anregende, unterstützende und manchmal sogar kontrollierende Kraft betätigt; Verflechtung dieser Wirtschaft mit einem weltweiten System von militärischen Bündnissen, monetären Übereinkünften, technischer Hilfe und Entwicklungsplänen; allmählicher Angleichung der Arbeiterund Angestelltenbevölkerung, der Führungstypen bei den Unternehmer- und Arbeitgeberorganisationen, der Freizeitbeschäftigungen und Wünsche der verschiedenen sozialen Klassen; Förderung einer prästabilen Harmonie zwischen Wissenschaft und nationalem Anliegen; Angriff auf die Privatsphäre durch die Allgegenwart der öffentlichen Meinung, Auslieferung des Schlafzimmers an die Kommunikation der Massenmedien.“602 Die traditionelle Arbeiterklasse, die Marx vor Augen hatte, als er ihr die Würde und gleichermaßen die Bürde zusprach, die befreiende Klasse für die Freiheit aller 600 Frankfurter Rundschau, 31.3.1981, zit. nach Claussen, Detlev: Spuren der Befreiung Herbert Marcuse, Darmstadt, 1981 S. 7 601 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 75 602 Ebd., S. 39 172 Menschen zu sein, hatte sich transformiert. Die Integration ins System, so Marcuse, sei nicht nur das Moment der Partei- und Gewerkschaftsspitzen, sondern greife auch auf den Einzelnen über. „Der Proletarier auf früheren Stufen des Kapitalismus war zwar das Lasttier, das durch die Arbeit seines Körpers für die Lebens- und Luxusbedürfnisse sorgte, während er in Dreck und Armut lebte. Damit war er die lebendige Absage an diese Gesellschaft. Demgegenüber verkörpert der organisierte Arbeiter in den fortgeschrittenen Bereichen der technologischen Gesellschaft diese Absage weit weniger deutlich und wird gegenwärtig, wie die anderen menschlichen Objekte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der technischen Gemeinschaft der verwalteten Bevölkerung einverleibt.“603 Doch wie war dies praktisch möglich geworden? Wie funktionierte diese systemintegrierende Vermittlung konkret? Für Marcuse fand sie auf verschiedenen Ebenen statt: Zu allererst in der gestiegenen Anzahl der Konsumgüter und deren kulturindustrieller Vermarktung: „Die Erzeugnisse durchdringen und manipulieren die Menschen; sie befördern ein falsches Bewußtsein, das gegen seine Falschheit immun ist. Und indem diese vorteilhaften Erzeugnisse mehr Individuen in mehr gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden, hört die mit ihnen einhergehende Indoktrination auf, Reklame zu sein; sie wird Lebensstil, und zwar ein guter – viel besser als früher -, und als guter Lebensstil widersetzt er sich qualitativer Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin die Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden. Sie werden neubestimmt von der Rationalität des gegebenen Systems und seiner quantitativen Ausweitung.“604 Anders ausgedrückt: Durch die Reklame, bekam der Fetischcharakter der Ware eine weitere Dimension. Während beispielsweise ein Parfüm hunderttausendfach hergestellt und beworben wurde, sollte der Einzelne das Gefühl bekommen, als Einziger einen exklusiven Duft auszustrahlen. In diesem Zusammenhang entstehe, so Marcuse, das „glückliche Bewußtsein“. Dieses führe jedoch nur zu oberflächlichem Glück und diene letztendlich zur Verdeckung, Tarnung und Verschleierung der eigentlichen Geschichte, die sich hinter dem Rücken der Subjekte abspiele. Das glückliche Bewußtsein „reflektiert den Glauben, daß das Wirkliche vernünftig ist und daß das bestehende System trotz allem die Güter liefert. Die Menschen werden dazu gebracht, im Produktionsapparat das wirksame Subjekt von Denken und Handeln zu finden, dem ihr persönliches Denken und Handel sich ausliefern kann.“605 Dabei existierte für Marcuse ein Missverhältnis zwischen dem eindimensionalen Bewußtsein der Einzelnen und der realen Funktionsweise dieses neuen Typus des Kapitalismus. Die Kontinuitäten, die zu Auschwitz geführt hatten, seien nicht beseitigt worden: im Gegenteil. Für Marcuse besaß dieser neue Typ des Kapitalismus dieselben Widersprüche, die die Konzentrationslager hervorgebracht hatten. „Die Welt der Konzentrationslager [...] war keine besonders entsetzliche Gesellschaft. Was wir dort sahen, war das Bild, in gewissem Sinne die Quintessenz der höllischen Gesellschaft, in der wir jeden Tag stecken.“606 603 Ebd., S. 46 Ebd., S. 32 605 Ebd., S. 98 606 Ionesco, E., in: Novelle Revue Française, Juli, 1956, zitiert in: Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Hamburg, 1988, S. 99 604 173 Kollektive Verdrängung halte davon ab, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Die Psychoanalyse sei daher die notwendige Methode, die zur Dechiffrierung des Einzelnen im Ganzen tauge. Freud konstatierte er, daß er „in der Psyche des Individuums die Verbrechen der Menschheit aufdeckte, in der individuellen Krankheitsgeschichte die Geschichte des Ganzen.“607. Das Leid des Patienten sei „[...], in gewissem Sinn […] eine Protestaktion gegen die kranke Welt, in der er lebt.“608 Neben dem Fetischcharakter der Ware bestand für Marcuse auch in der neuen Art der Sprache ein Moment, das die Menschen zur Begriffslosigkeit führe. „Diese Sprache, die den Menschen unausgesetzte Bilder aufnötigt, widersetzt sich der Entwicklung und dem Ausdruck von Begriffen.“609 Doch gerade Begriffe seien nötig, um die Gesellschaft zu erklären. Statt dessen nähmen in der Kulturindustrie Sätze die Form suggestiver Befehle an. „[…] sie sind eher evokativ als demonstrativ. Die Aussage wird zur Vorschrift; die gesamte Kommunikation hat einen hypnotischen Charakter und gleichzeitig einen Anstrich von falscher Vertraulichkeit - das Ergebnis beständiger Wiederholung und geschickt gelenkter, ans Volk gerichteter Unmittelbarkeit der Kommunikation. Diese wendet sich direkt an den Empfänger – ohne die durch Status, Bildung und Amt gesetzte Distanz und findet ihn oder sie in der zwanglosen Atmosphäre von Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer vor. Dieselbe Vertraulichkeit wird durch die personalisierte Sprache hergestellt, die in der fortgeschrittenen Kommunikation eine erhebliche Rolle spielt. Es ist die Rede von »Ihrem« Kongreßabgeordneten, »Ihrer« Autobahn, »Ihrem« bevorzugten Drugstore, »Ihrer« Zeitung; »Ihnen« wird sie gebracht, »Sie« werden eingeladen, usw. Auf diese Weise werden aufgenötigte, genormte und allgemeine Dinge und Funktionen als »speziell für Sie« dargeboten. Es verschlägt wenig, ob die so angesprochenen Individuen daran glauben oder nicht. Der Erfolg deutet darauf hin, daß die Selbstidentifikation der Individuen mit den Funktionen befördert wird, die sie und andere ausführen.“610 Durch diesen hypnotischen Charakter der Sprache sei es zunehmend unmöglich geworden, Dinge von Wichtigkeit von unwichtigen zu unterscheiden. Erfahrungen würden reduziert auf die Schnittstellen des täglichen Lebens, so daß die Dinge von Belang als solche nicht mehr auszumachen seien. Dem gegenüber existiere ein realer, größerer Zusammenhang von Erfahrungen – eine ebenso wirkliche empirische Welt. „[…] Diese […] ist heute noch die der Gaskammern und Konzentrationslagern, von Hiroshima und Nagasaki, von amerikanischen Cadillacs und deutschen Mercedeswagen, die des Pentagon und des Kreml, nuklearer Städte und chinesischer Kommunen, von Kuba, von Gehirnwäsche und Massakern. Aber die wirkliche, empirische Welt ist zugleich die, in der diese Dinge als selbstverständliche hingenommen, vergessen oder verdrängt werden oder unbekannt sind, in der die Menschen frei sind. Es ist eine Welt, in der der Besen in der Ecke oder der Geschmack »von etwas wie Ananas« recht wichtig sind, in der die tägliche Mühe und tägliche Bequemlichkeiten vielleicht die einzigen Tatbestände sind, die alle Erfahrung ausmachen. Und dieses zweite, beschränkte empirische Universum ist ein Teil des ersten; die Mächte, die das erste beherrschen, gestalten auch die beschränkte Erfahrung. [...] Die operationelle oder behavioristische Übersetzung gleicht Worten wie »Freiheit«, »Regierung«, 607 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 102 Ebd., S. 197 609 Ebd., S. 114 610 Ebd., S. 110f 608 174 »England« solchen wie »Besen«, und »Ananas« an und die Realität jener der Realität dieser.“611 Im Universum der Kommunikation glichen sich Banales und Wichtiges an. Anders ausgedrückt: Wenn ein Militär eine wichtige Nachricht zu versenden hatte, so mußte der Überbringer der Nachricht fünfzig Nachrichten auswendig lernen – ohne zu wissen, welche Nachricht von wirklicher Wichtigkeit gewesen war. Für den Überbringer wurde es unmöglich, die eigentliche Nachricht zu erkennen. Nach diesem Prinzip funktionierte für Marcuse die Gesellschaft neuen Typs. Das Individuum werde in „Eindimensionalität“ gehalten und verfüge über keinerlei kritisches Denkinstrumentarium, das zur Dechiffrierung des Ganzen tauge und statt zielgerichteter Verschleierung sei ein verselbstständigtes Ganzes an der Spitze des Systems, das noch immer durch Klassenantagonismen funktioniere. „Die Gesellschaft ist in der Tat das Ganze, das eine unabhängige Macht über die Individuen ausübt. Und diese Gesellschaft ist kein unfaßbarer »Geist«. Sie hat ihren empirischen, festen Kern in dem System von Institutionen, die etablierte und geronnene Beziehungen zwischen Menschen sind. Die Abstraktion von diesem Kern verfälscht die Messungen, Befragungen und Berechnungen – aber in einer Dimension, die in den Messungen, Befragungen und Berechnungen nicht erscheint und dadurch mit diesen nicht in Konflikt gerät und sie nicht stört. Sie behalten ihre Exaktheit und sind gerade in ihrer Exaktheit mystifizierend.“612 Als weiteres Moment der Entfremdung identifizierte Marcuse die Technik als „Vehikel der Verdinglichung“. Technik könne, so Marcuse, zum Guten wie zum Schlechten beitragen. Der gegenwärtige Stand der Technik befähige die Menschheit ein Leben ohne Hunger zu führen – statt dessen schlage sie in ihr Gegenteil um und drohe vermittels der Atombombe die menschliche Spezies und alles weitere Leben auf der Erde auszurotten. Der spezifische Charakter der Technik, so Marcuse, entwerfe jedoch eine „geschichtliche Totalität“. Dieser geschichtliche Entwurf überführe den Logos der Technik, so Marcuse, in den Logos der Herrschaft. „Eine elektronische Rechenmaschine kann einem kapitalistischen wie einem sozialistischen Regime dienen; ein Zyklotron kann für eine Kriegs- wie für eine Friedenspartei ein gleich gutes Werkzeug sein. Diese Neutralität wird in Marx polemischer Behauptung angefochten, daß die »Handmühle eine Gesellschaft mit Feudalherren ergibt, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten«. Nun wurde diese Behauptung in der Marxschen Theorie selbst eingeschränkt: die gesellschaftliche Produktionsweise, nicht die Technik sei der grundlegende historische Faktor. Werde die Technik jedoch zur umfassenden Form der materiellen Produktion, so umschreibe sie eine ganze Kultur; sie entwerfe eine geschichtliche Totalität – eine »Welt«.613 Anbei: Der Begriff der „geschichtlichen Totalität“ und der des „Entwurfes“ stammten von Sartre614 – Marcuse übernahm in der „Der eindimensionale Mensch“ explizit einige von Sartres philosophischen Elementen615. Was war also zu tun? Wie diesem modernen Koloß begegnen? An welchen Stellen waren Ansatzpunkte, die Anlaß zur Hoffnung boten? Die Ausgangsdiagnose war 611 Ebd., S. 194f Ebd., S. 205 613 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Hamburg, 1988, S. 169 614 vgl. Sartre, Jean-Paul: Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S. 77 615 vgl. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 18, 47 612 175 denkbar schlecht: „Die gesellschaftliche Stellung des Individuums und seine Beziehung zu anderen scheinen nicht nur durch objektive Qualitäten und Gesetze bestimmt, sondern diese Qualitäten und Gesetze scheinen auch ihren geheimnisvollen und unkontrollierbaren Charakter zu verlieren; sie erscheinen als berechenbare Manifestation (wissenschaftlicher) Rationalität. Die Welt tendiert dazu, zum Stoff totaler Verwaltung zu werden, die sogar die Verwalter verschlingt. Das Gewebe der Herrschaft ist zum Gewebe der Vernunft selbst geworden, und diese Gesellschaft ist. Verhängnisvoll darein verstrickt.“616 Es war also mit dieser Diagnose nicht möglich eine Position zu beziehen, die Vertrauen in Reformen im klassisch sozialdemokratischen Sinn gerechtfertigt hätte. Vielmehr bleib Marcuse gegenüber der Frage „Was tun?“ auf marxistischer Seite in dem Sinne, daß er die Systemfrage stellte. Für Marcuse mußte das ganze System durch ein anderes ersetzt werden. Der Einzelne könne dem modernen Koloß der verwalteten Welt gegenüber keine andere Haltung einnehmen als „die große Weigerung“, wenn er sich nicht selbst korrumpieren wollte. Doch hier endete das Problem nicht: Wie war die „große Weigerung“ zu artikulieren? Mit der Sprache? „Die Anstrengungen, die große Weigerung in der Sprache wiederzugewinnen, erleiden das Schicksal, von dem absorbiert zu werden, was sie widerlegen.“617 Marcuses Antwort auf diese Frage war auch die traditionelle der kritischen Theorie: Die Kunst vermöge dies zu leisten. „Ob ritualisiert oder nicht, enthält Kunst die Rationalität der Negation. In ihren fortgeschrittenen Positionen ist sie die Große Weigerung – der Protest gegen das, was ist.“618 In seiner Bestimmung, was diese große Kunst sei und was nicht, war sich Marcuse nicht immer sicher. Zumeist jedoch umfaßte Marcuses Kunstbegriff die großen Klassiker des Bürgertums und endete beim Surrealismus. Man könnte sagen, daß er ein Bild von Cezanne bereits für gewagt hielt. Die neuen Formen der Kunst, die sich mit dem Protest paarten, waren für Marcuse eher Teile der Eindimensionalität denn Quell von Mehrdimensionalität. „Als moderne Klassiker haben die Avantgardisten und Beatniks an der Funktion teil, zu unterhalten, ohne das gute Gewissen der Menschen guten Willens zu gefährden.“619 Erst in seinem „Versuch über die Befreiung“ erweiterte Marcuse seinen Kunstbegriff und ließ z.B. auch Raum für die Kunst des Kochens620. Die „ästhetische Dimension“ blieb für ihn Hoffnungsquelle gegen die herrschende Eindimensionalität: Sie bewahre „sich noch eine Freiheit des Ausdrucks, die den Schriftsteller und Künstler befähigt, Menschen und Dinge bei ihrem Namen zu nennen – das sonst Unnennbare zu nennen.“621 1966 gestand er allerdings den vormals abgeurteilten „Beatniks“ und „ Bohemiens“ Momente Individualität zu: „Das Individuum wird authentisch als Ausgestoßener, Drogensüchtiger, Kranker oder Genie. Etwas von dieser Authentizität ist noch im »Bohemien«, selbst im »Beatnik« enthalten; beide Gruppen stellen eben noch geschützte und gestattete Manifestationen individueller Freiheit und individuellen 616 Ebd., S. 183 Ebd., S. 90 618 Ebd., S. 83 619 Ebd., S. 90 620 Ebd., S . 54 621 Ebd., S. 258 617 176 Glücks dar, an denen der Bürger nicht teilhat, der Freiheit und Glück eher in den Begriffen seiner Regierung und Gesellschaft definiert als in seinen eigenen.“622 Einen Wechsel in seiner Position nahm er bezüglich dem von ihm früher als „befreiende Kraft der Sexualität“ bezeichneten Aufbrechen der herrschenden Sexualmoral ein. Während er noch in „Eros and Civilastion“ gegen die Prüderie der 50er Jahre schrieb und sich von einer freieren Sexualität eine befreiende Wirkung auf die Gesellschaft versprach, mußte er nun feststellen, daß die Sexualität der Massenkultur ihrer befreienden Möglichkeiten beraubt war. Er bescheinigte der Sexualität ihre Eingliederung in die Reklame und Arbeitsbeziehungen, so daß auch sie Teil des kontrollierten Ganzen wurde: „Die Zerstörung der Privatsphäre in Apartmenthäusern und Vorstadtheimen hebt die Schranken auf, die das Individuum früher vom öffentlichen Dasein trennten, und stellt die attraktiven Qualitäten anderer Ehefrauen und Ehemänner leichter zur Schau. [...] Das Sexuelle wird in die Arbeitsbeziehungen und die Werbetätigkeit eingegliedert und so kontrollierter Befriedigung zugänglich gemacht.“623 Dennoch ließ Marcuse von seiner Vorstellung des „neuen Menschen“ nicht ab. Für ihn sehr untypisch formulierte er eine positive Utopie in Form eines Phantombildes des Subjekts. Er definierte die wünschenswerten Charaktereigenschaften des Subjekts wie folgt: „Heute im gedeihenden Kriegsführungs- und Wohlfahrtsstaat, scheinen die menschlichen Qualitäten eines befriedeten Daseins asozial und unpatriotisch – Qualitäten wie die Absage an alle Härte, Kumpanei und Brutalität; Ungehorsam gegenüber der Tyrannei der Mehrheit; das Eingeständnis von Angst und Schwäche (die vernünftigste Reaktion gegenüber dieser Gesellschaft!); eine empfindliche Intelligenz, die Ekel empfindet angesichts dessen, was verübt wird; der Einsatz für die schwächlichen und verhöhnenden Aktionen des Protestes und der Weigerung.“624 Wo die kritische Theorie auch weiterhin stehen sollte, war für Marcuse klar. Er schloß sein Buch mit den eindringlichen Worten: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der großen Weigerung hingegeben haben und hingeben.“625 Die Anfänge der 68er Bewegung Marcuses Solidarität Es fällt schwer ein historisches Datum zu finden, daß den Beginn der 68er Bewegung markierte. Wahrscheinlich konnte das Jahr 1955 als Ursprung der Bürgerrechtsbewegung, die der Vorläufer der 68er Bewegung war, bezeichnet werden. Ein ganz normaler Vorgang in den rassistischen USA löste weiten Protest aus: Die schwarze Rosa Parks wurde verhaftet, weil sie sich in Montgomery weigerte, ihren Platz im Bus für einen weißen Mann zu räumen. Hiernach kam es 622 Marcuse, Herbert: Das Individuum in der »Great Society«, in: Marcuse, Herbert: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt /M, 1970, S. 171 623 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 94 624 Ebd., S. 253 625 Ebd., S. 267 177 zu weiten Protesten, und die ersten Bürgerrechtsgruppen organisierten sich. Dieses Ereignis konnte als die Geburtsstunde der schwarzen Bürgerrechtsbewegung angesehen werden. Höhepunkt dieser Bewegung war das Jahr 1963, als Martin Luther King vor dem Lincoln-Memorial der US-Hauptstadt seine weltberühmte "I have a dream"-Rede hielt, worin er sagte: “Statt seine heiligen Verpflichtungen zu erfüllen, hat Amerika den Negern einen Scheck gegeben, der mit dem Vermerk zurückgekommen ist: "Keine Deckung vorhanden". Aber wir weigern uns zu glauben, daß die Bank der Gerechtigkeit bankrott ist. Wir weigern uns zu glauben, daß es nicht genügend Gelder in den großen Stahlkammern der Gelegenheiten in diesem Land gibt.“ 626 King rekurrierte dabei auf Schätzungen, wonach ein getöteter Vietcong ca. ein halbe Millionen Dollar kostete, für einen Schwarzen aber nur 50 Dollar aufgewendet wurden – nur ein Moment der Diskriminierung von Schwarzen in den USA. Die Anfänge der 68er Bewegung solidarisierten sich mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung: „Bei den Bürgerrechtskämpfen im Süden der USA, bei denen seit Anfang der 60er Jahre versucht wurde, durch sit-ins die Aufhebung der Rassentrennung in Restaurants, Geschäften und öffentlichen Verkehrsmittel zu erzwingen, wurden auch Studenten – und nicht nur schwarze – Opfer weißer Gewalt. In Berkley war es zum Free Speech Movement gekommen, hatten Studenten für das Recht gekämpft, auf dem Universitätskampus Geld für u.a. für die Organisationenen der Bürgerrechtsbewegung zu sammeln, waren im Dezember 1964 bei einem sit-in-Streik 800 Studenten verhaftet worden – die größte Massenverhaftung in der Geschichte der USA. Studenten waren es auch, die gegen den Krieg in Vietnam protestierten und sich gegen ihre Einberufung durch Verbrennen der Einberufungsbefehle wehrten.“627 Auch begannen 1964 die ersten Studenten mit der Bestreikung von Universitäten: Als der radikale Schwarzenführer Malcom X „auf dem Campus der kalifornischen Universitätsstadt Berkeley Redeverbot erhält und sämtlichen Studentengruppen ein Versammlungsverbot erteilt wird, organisieren sich die betroffenen Studenten zu einer «Free Speech Movement». Als – am 2.10. – ein Student aus Protest das Verbot übertritt, wird er von der Campus-Polizei verhaftet. Beim Versuch ihn abzutransportieren wird jedoch der Einsatzwagen von 3.000 Studenten eingekesselt und – das Dach als Rednertribüne benutzend – über 36 Stunden auf dem Campus festgehalten. Als dann – am 2.12. – ein Disziplinarverfahren gegen vier Studenten eröffnet werden soll, besetzen 6.000 Studenten unter Anführung des Philosophiestudenten Mario Savio und der Folksängerin Joan Baez das Verwaltungsgebäude der Universität und funktionieren es in eine «Free University of California» um. Als daraufhin die Staatspolizei das Gebäude in einer nächtlichen Aktion räumt und annähernd tausend Besetzer verhaftet, wird am Morgen des 3. 12. auf dem Campus der Generalstreik ausgerufen, der – am 8. 12. – schließlich mit der Erfüllung aller studentischen Forderungen und einer Generalamnestie aller Beschuldigten endet.“628 Bereits ein Jahr später verschärfte sich die Situation an den Universitäten, besonders in Berkeley, das als Zentrum der Revolte galt: „In über dreißig amerikanischen Universitäten und Colleges beteiligen sich über 100.000 Studenten 626 http://www.derriere.de/King/Martin_Luther_King_5.htm, Stand: Dezember, 2002 Wiggershaus, a.a.O., S. 678 628 Kraushaar, Wolfgang: Notizen zu einer Chronologie der Studentenbewegung, http://www.partisan.net/archive/1967/2667112.html, Stand: Dezember, 2002 627 178 am Vietnam Day. In Berkeley gehen dabei 1.000 Polizisten und 700 Nationalgardisten mit aufgepflanzten Bajonetten gegen 10.000 Studenten vor, die am Militärstützpunkt Oakland die weitere Verschickung von amerikanischen Truppen nach Südvietnam zu verhindern versuchen.“629 Marcuses Engagement und seine Solidarität mit den Studierenden ließen seine Professur, auf die er so lange warten mußte und die ihm so viele Mühen bereitet hatte, auf dem Spiel stehen. Als die Studenten in Brandeis zur Unterstützung der kubanischen Revolution aufriefen, folgten verschiedene Professoren – unter ihnen Marcuse. Michael G. Horowitz beschreib die Situation in Brandeis folgendermaßen: „With the emergence of Communist Cuba, the Waltham campus became more polarized than ever. Faculty support for Castro, though confined to a minority, threatened for the first time to stamp a Marxist label on Brandeis. At that point, the mostly Jewish, mostly moderate-to-liberal philanthropists who had funded the university since 1948, threatened to sever the purse strings if Brandeis turned firebrand. Sachar got the point. His first head-on challenge came during the Cuban missile crisis, when the acclaimed anthropologist Kathleen Aberle closed an address to students with the words, "Viva Fidel! Kennedy to hell!" Sachar reprimanded her for "reckless" and "irresponsible" remarks, Aberle resigned, and Marcuse was in the forefront of a campus move to reproach the president for stifling academic freedom. (For its part, the American Association of University Professors declined to censure the university.) It was the aging Marcuse’s most significant political act in America and it cost him the tenured position he had waited years to attain. With Marcuse, it might be added, went the intellectual frontline of the faculty, and the university has never quite recovered from the exodus.”630 Die Situation spannte sich weiter an, da die schwarze Bürgerrechtsbewegung immer mehr Solidarität – vor allem bei den Studenten der Universitäten – fand und sich der Widerstand gegen den Vietnamkrieg ausweitete. Der 1965 veröffentlichte Aufsatz Marcuses: „Kritik der reinen Toleranz“ war seinen Studenten an der Brandeis University zugedacht. Dahinter verbarg sich mehr als die akademische Dankbarkeit eines Hochschullehrers gegenüber seinen Studenten. Den Studenten, die sich gegen den Vietnamkrieg organisierten, für die schwarze Bürgerrechtsbewegung Geld sammelten oder für das Wahlrecht in Teilen der Südstaaten unter Einsatz ihres Lebens kämpften, attestierte er: „Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalt, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am wenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht ihnen Enthaltung zu predigen.“631 Marcuses Vertrag in Brandeis wurde erwartungsgemäß nicht verlängert. Frei davon, sich um seine Stelle noch groß Sorgen machen zu müssen, machte Marcuse aus seinem Herzen keine Mördergrube. Horowitz berichtete: „During his final year at Brandeis, as his contract was being terminated, Marcuse became a vociferous critic of American policy in Vietnam. After the U.S. began its intensive bombing of 629 Ebd. Horowitz, Michael G.: Portrait Of The Marxist As An Old Trouper, in: Playboy, Sept., 1970 (US) und auf: http://www.marcuse.org/herbert/PlayboyInt709.htm#pedagogy , Stand: Dezember, 2002 631 Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz, in: Wolff, Robert Paul / Moore, Barrington / Marcuse, Herbert: Kritik der reinen Toleranz, S. 127f, Frankfurt /M, 1966, S. 127f 630 179 North Vietnam in February 1965, he delivered his most scathing polemic: "When I came to this country in the Thirties," he exclaimed in an unusual show of emotion, "there was a spirit of hope in the air. Now I detect a militarism and a repression that calls to mind the terror of Nazi Germany." Needless to say, that sealed his departure, but he wasn’t allowed to leave without a standing student ovation, a yearbook dedication, and a gala student reception.”632 Dennoch erhielt er 1965 – 67 jährig – noch einen Lehrstuhl an der Universität von Kalifornien in San Diego. Von Naturrecht auf Widerstand Marcuses: Repressive Toleranz und ein Nachwort auf Walter Benjamin Zwei Texte aus seiner Zeit in Brandeis sollten noch Erwähnung finden: Zum einen das Nachwort, welches Marcuse für einen 1965 erschienenen Sammelband mit Texten Walter Benjamins geschrieben hatte und sein berühmt gewordener Aufsatz über „Repressive Toleranz“. Im Nachwort zu Benjamin verwies Marcuse ein weiteres Mal auf die alles durchdringende und den Einzelnen erdrückende Gesellschaft und stellte die kritische Theorie in die Tradition der Revolution: “Glück ist Erlösung vom Schicksal, aber wenn das Schicksal das der zur Geschichte gewordenen Gesellschaft ist, d.h. der als Recht gesetzten Unterdrückung, dann ist Erlösung ein materialistisch-politischer Begriff: der Begriff der Revolution”633 Benjamin habe, so Marcuse, die kritische Theorie in diesem Sinne gedacht. Und er präzisierte, was er unter revolutionärem Kampf verstand: “Der revolutionäre Kampf geht um die Stillstellung dessen, was geschieht und geschehen ist – vor allen positiven Zielsetzungen ist die Negation das erste Positive. Was der Mensch dem Menschen angetan hat, muß aufhören, radikal aufhören – dann erst und dann allein können die Freiheit und die Gerechtigkeit anfangen.”634 Der gegenwärtigen Gesellschaft räumte er keine Chance auf eine Reformierung ein. Das zwanzigste Jahrhundert stehe weit mehr in der Kontinuität der Greuel des Faschismus, denn in Brüchen damit. Zur Verwirklichung des Glückes der Menschen sei eine radikal andere Gesellschaft nötig, die mit der kapitalistischen Ökonomie breche: „Das Denken erfährt den »Choc«, der es unfähig macht, in den überlieferten Bahnen weiterzudenken; die Negation wird zu seinem konstruktivsten Prinzip. Eines der Resultate ist die Unmöglichkeit des Staunens darüber, daß die Dinge, die wir unter und seit dem Faschismus erlebt haben, »im zwanzigsten Jahrhundert >noch< möglich sind«. Sie sind die Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts, das einer Abkunft behaftet bleibt und sie erfüllt.”635 Im Gegensatz zu seinen früheren Texten stellte Marcuse die Revolution wieder stärker in den Mittelpunkt der Theorie. In „Der eindimensionale Mensch“ diagnostizierte er noch die eindimensionalen Subjekte, mit dem Aufkommen der Studentenbewegung wurde Marcuse zunehmens optimistischer. Später modifizierte er seine Subjekttheorie dahingehend, daß er die Möglichkeit einer „rebellischen 632 Horowitz, a.a.O. Marcuse, Herbert: Nachwort, in: Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt /M, 1965, S. 101 634 Ebd. , S. 104 635 Ebd. , S. 105 633 180 Subjektivität“ neben der „eindimensionalen“ sah. Das Nachwort zu Benjamin bedeutete dahingehend einen Wendepunkt, daß Marcuse die Unabdingbarkeit einer Revolution für die Durchsetzung einer gerechteren Welt in einer Deutlichkeit thematisierte, die in seinen anderen Schriften eher zwischen den Zeilen standen. Marcuse sollte bei dieser Deutlichkeit bleiben. In einem 1964 an der University of Kansas gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Ethik und Revolution“636 bekräftigte er diese Position. Der Aufsatz „Repressive Toleranz“ gehörte mit Sicherheit zu seinen am meisten gelesenen Texten. Darin verschärfte er die Tonart: „Der Verfasser ist sich dessen voll bewußt, daß gegenwärtig keine Macht, Autorität oder Regierung vorhanden ist, die eine befreiende Toleranz in Praxis übersetzen würde, doch er meint, daß es die Aufgabe und Pflicht des Intellektuellen ist, an geschichtliche Möglichkeiten, die zu utopischen geworden zu sein scheinen, zu erinnern und sie zu bewahren – daß es seine Aufgabe ist, die unmittelbare Konkretheit der Unterdrückung zu durchbrechen, um die Gesellschaft als das zu erkennen, was sie ist und tut.“637 Marcuse entfaltete darin die These daß die moderne Form der Toleranz nichts anderes als eine Herrschaftstechnik sei. Dabei rekurrierte er auf die Entstehung der Toleranz in dem Sinne, daß der ursprüngliche Sinn der Toleranz ein zu tiefst demokratischer gewesen war: „Die Duldung der freien Diskussion und das gleiche Recht gegensätzlicher Positionen sollte die verschiedenen Formen abweichender Ansichten bestimmen und klären: ihre Richtung, ihren Inhalt, ihre Ansichten. Aber mit der Konzentration ökonomischer Macht und der Integration gegensätzlicher Standpunkte einer Gesellschaft, welche die Technik als Herrschaftsinstrument benutzt, wird effektive Abweichung dort gehemmt, wo sie unbehindert aufkommen konnte: in der Meinungsbildung, im Bereich von Information und Kommunikation, in der Rede und in der Versammlung.“638 Die ursprüngliche Idee von der Toleranz basiere auf einem Machtvakuum, das zur politischen Stabilität der Pluralität bedurfte. Die verschiedenen, mit dem Begriff der Toleranz verbunden Bürgerrechte entstanden, so Marcuse, aus der Prävention des Bürgerkrieges. Doch in der neuen Form des Kapitalismus, der „Tyrannei der Mehrheit“, so Marcuse, herrsche Diskussion im Überfluß: „Alle Standpunkte lassen sich vernehmen: der Kommunist und der Faschist, der Linke und der Rechte, der Weiße und der Neger, die Kreuzzügler für Aufrüstung und die für Abrüstung. Ferner wird bei Debatten in den Massenmedien die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete, und Propaganda geht einher mit Erziehung, Wahrheit mit Falschheit.“639 Die neue Art der Toleranz trage eine nivellierendes Moment in sich, die ein Mittel sei „den Kampf ums Dasein zu verewigen und die Alternativen zu unterdrücken.“640 Die neue Toleranz beinhalte vor allem eines: Toleranz gegenüber der Herrschaft, dazu gehöre die „Nachsicht gegenüber der systematischen Verdummung von Kindern wie Erwachsenen durch Reklame und Propaganda, die Freisetzung von unmenschlicher zerstörender Gewalt in Vietnam, das Rekrutieren und die 636 Marcuse, Herbert: Ethik und Revolution, in: Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft 2, a.a.O., S. 143ff 637 Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz, in: Wolff, Robert Paul / Moore, Barrington / Marcuse, Herbert: Kritik der reinen Toleranz, a.a.O. , S. 93 638 Ebd., S. 106 639 Ebd., S. 105 640 Ebd., S. 94 181 Ausbildung von Sonderverbänden, die ohnmächtige und wohlwollende Toleranz gegenüber unverblümten Betrug beim Warenverkauf.“641 Dies seien keine Verzerrungen, sondern das Wesen des Systems selbst. Die Toleranz trete dort auf den Plan, wo ursprünglich widersprüchliche Interessen am Werke seien: beim Arbeiter, dessen Interessen der Betriebsleitung entgegen stünden, beim Konsumenten, der ein gegenteiliges Interesse zu den Produzenten habe, usw. Diese neue Ideologie der Toleranz bildete für Marcuse den gesellschaftlichen Kitt zwischen den eigentlich widersprüchlichen Interessen. Hinter dieser Toleranz stünden weiterhin die traditionellen Gewalten der Herrschaft („Polizei, Armee, Aufseher aller Art“). Die Subjektvorstellungen Marcuses hatten sich jenseits der „rebellischen Subjektivität“ nicht sonderlich stark geändert. Noch immer betonte er das präformierte Individuum, das qua seines Menschseins befähigt sei auch anders zu leben, nämlich „als ein menschliches Wesen, das imstande ist, frei zu sein mit den anderen.“642 Stärker als bisher betonte er die Notwendigkeit des Umsturzes, um eine Gesellschaft herzustellen, „worin der Mensch nicht an die Institutionen versklavt ist, welche die Selbstbestimmung von vornherein beeinträchtigt.“643 Ein Unterschied zu seinen früheren Schriften war jedoch auffällig: Im Einklang mit der kritischen Theorie Adornos und Horkheimers hielt Marcuse bisher an den Errungenschaften des Liberalismus fest. In der „Repressiven Toleranz“ brach er damit und gestand den Gruppen, die er für eine andere Welt kämpfen sah, einen höheren Stellenwert zu, als der Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten des traditionellen Liberalismus: „Den kleinen und ohnmächtigen Gruppen, die gegen das falsche Bewußtsein kämpfen, muß geholfen werden: ihr Fortbestehen ist wichtiger als die Erhaltung mißbrauchter Rechte und Freiheiten, die jenen verfassungsmäßige Gewalt zukommen lassen, die diese Minderheit unterdrücken. Es sollte mittlerweile klar sein, daß die Ausübung bürgerlicher Rechte durch die, die sie nicht haben, voraussetzt, daß die bürgerlichen Rechte jenen entzogen werden, die ihre Ausübung verhindern, und das die Verdammten dieser Erde nicht nur die Unterdrückung ihrer alten, sondern auch ihrer neuen Herren voraussetzt.“644 Mit anderen Worten: Marcuse rechtfertigte eine Übergangszeit der Unterdrückung nach einer Revolution. Letztendlich war dies nichts anderes als die alte marxsche Vorstellung der „Diktatur des Proletariats“, angereichert mit Positionen aus Platons „Der Staat“: „Wo der Geist zum Subjekt-Objekt der Politik und ihrer Praktiken gemacht worden ist, ist geistige Autonomie, die Anstrengung des reinen Denkens, eine Sache politischer Erziehung (oder vielmehr Gegenerziehung) geworden.“645 Nur daß im Gegensatz zu Marx an die Stelle des Proletariates die „kleinen und ohnmächtigen Gruppen“ treten sollten. Von dem Verdacht, eine avandgardistische Erziehungsdiktatur nicht abzulehnen, war Marcuse nicht ganz freizusprechen. Anders gefragt: Wie stand Marcuse dem chinesischen Model des Sozialismus entgegen, der mit seiner „Kulturrevolution“ solche Momente einer Erziehungsdiktatur verwirklichte? Er stand ihr, ebenso wie der kubanischer Revolution, wohlgesonnen gegenüber: 1969 äußerte er sich wie folgt: “Ein anderes 641 Ebd. Ebd., S. 98 643 Ebd. 644 Ebd., S. 121 645 Ebd., S. 123 642 182 Zeichen ist die Entwicklung der kubanischen Revolution; dort wird nach meiner Meinung der Versuch gemacht, eine sozialistische Gesellschaft von unten her aufzubauen, anstatt sie von oben durch Bürokratie und autoritäre Mittel zu errichten. Vermutlich ist die chinesische Kulturrevolution ein ebensolcher Versuch.”646 Das war ein Holzweg, den er mit Sartre gemeinsam ging. Auch Sartre sprach seine große Sympathie für die kubanische und die chinesische Revolution aus. Doch die Etikettierung des Befürworters einer „Erziehungsdiktatur“ wollte Marcuse nicht ohne weiteres für sich gelten lassen: „Ich würde heute nicht einfach von Erziehungsdiktatur sprechen. […] Vielleicht noch Erziehungsdiktatur innerhalb der Demokratie, aber nicht Erziehungsdiktatur schlechthin.“647 In der Frage des revolutionären Subjekts schwankte er. Während in „Der eindimensionale Mensch“ noch die Randgruppen Träger der Revolution waren, schrieb er 1969: „Die radikale Umgestaltung eines sozialen Systems hängt immer noch von der Klasse ab, welche die menschlich Basis des Produktionsprozesses bildet. In den fortgeschrittenen Ländern ist dies die Arbeiterklasse. […] Da sie »an sich«, aber nicht »für sich« (objektiv aber nicht subjektiv) die revolutionäre Klasse ist, bleibt ihre Radikalisierung an Katalysatoren außerhalb ihrer Reihen gebunden.“648 Tatsächlich war diese schwankende Position in hohem Maß der Entwicklung der sozialen Bewegung geschuldet: Als 1968 die Revolte in Italien und Frankreich auch auf die Arbeiter überging, und Generalstreiks beide Länder lahm legten, schien für einen kurzen Moment die Revolution tatsächlich greifbar nah. Es schien als habe Marcuse seine Position gegenüber der Arbeiterklasse nach diesen Ereignissen modifiziert. Praktische Solidarität Marcuse in Deutschland Marcuses Popularität ging weit über die Grenzen der USA hinaus. Seine akademische Bekanntheit in Deutschland stieg schlagartig durch seine Teilnahme am 15. Deutschen Soziologentag in Heidelberg, wo er ein Referat über Max Weber hielt. In seinem Text „Industrialisierung und Kapitalismus im Werk von Max Weber“ unternahm er eine scharfe Kritik Webers. Unter anderem warf er Weber vor, daß dieser die Ebene der technischen Vernunft nicht verlasse649 und damit in die unkritische Affirmation des Kapitalismus650 münde. Am 22. Mai 1966 nahm er als Hauptreferent auf dem vom SDS veranstalteten Kongreß mit dem Titel „Vietnam – Analyse eines Exempels“ teil, der von mehr als 2.000 Studenten und Professoren besucht wurde. Der Austragungsort: Frankfurt am Main. So kam Marcuse, der 1964 zwar eine Gastprofessur in Frankfurt inne hatte651, dann doch noch zurück an die alte Wirkungsstätte, doch nicht mehr als 646 Marcuse, Herbert: Zu aktuellen Problemen der Emanzipationsbewegung, Ein Interview, in der Zeitschrift “abriss”, Januar 1969, S. 3 647 Habermas / Bovenschen, u.a.: Gespräche mit Marcuse, a.a.O., S. 30 648 Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, Frankfurt /M, 1969, S. 83 649 Marcuse, Herbert: Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, in: Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft 2, 1979 , S. 111 650 Ebd., S. 108 651 Herbert-Marcuse-Archiv, Archivzentrum der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, http://www.stub.uni-frankfurt.de/archive/marcusevita.htm, Stand: 15.12.2002 183 Mitarbeiter des Institutes für Sozialforschung, sondern als gefeierter Mentor und Lehrer der neuen Linken. Auf dem Kongreß berichtete er von seiner Zuneigung zu den gegen den Vietnamkrieg protestierenden Studenten: „Auffallend ist die spontane Einheit von politischer, intellektueller und instinktiver sexueller Rebellion – eine Rebellion im Benehmen, in der Sprache, in der Sexualmoral, in der Kleidung. […] man spürt da etwas, das über die politische Opposition hinausgeht und eine neue Einheit darstellt: eine Einheit von Politik und Eros. Ein Bild, das mir im Gedächtnis bleibt: Ich war in Berkeley am Vietnamtag und habe Demonstrationen mit 2000-4000 Studenten gesehen, die nach dem Truppenbahnhof marschierten, wo die Truppentransporte der Eingezogenen abgehen. Der Zug der Demonstranten hielt vor der Polizeibarrikade; es gab einige, entweder Provokateure oder einfach Unbesonnene, die den Zug plötzlich aufreizen wollten, die Polizeiblockade zu durchbrechen; das hätte natürlich nur blutige Köpfe gegeben. Im letzten Augenblick hatte man sich anders besonnen, und es geschah, was schon oft in solchen Situationen geschehen war: die Demonstranten setzten sich auf die Straße, Arm in Arm, Jungen und Mädchen, die Liebkosungen beginnen, die Gitarren kommen raus, Volkslieder werden gespielt, und auf diese Weise ist die Gefahr wenigstens für einen Augenblick abgewendet, »aufgehoben« in der Einheit von Politik und Erotik. Ich mag hier vollkommen romantisch sein, ich will das zugeben, aber ich sehe in dieser Einheit eine Verschärfung und Vertiefung der politischen Opposition.“652 Zu Disharmonien mit Adorno und Horkheimer kam es im Mai 1967 653. Horkheimer, der gegenüber Marcuse die Position vertrat, daß sich die Kritische Theorie nicht nur auf „die eine Seite des Bestehenden“ richten dürfe, antwortete er im Juni 1967 mit Sartre: „Der Terror ist mir so gut wie Dir zuwider, aber ich kann über die wesentliche Differenz seiner gesellschaftlichen Funktion nicht so leicht hinweggehen. Die Gewalt, die in der Verteidigung des nackten Lebens gegen einen mörderischen, tausendfach überlegenen Angreifer ausgeübt wird (werden muß), ist sehr verschieden von der angreifenden und mörderischen Gewalt. Und welches die reale Funktion einer Philosophie ist, die beide Gewalten gleichsetzt, das hat Sartre in seinem Vorwort zu Fanons Les Damnés de la terre gezeigt.“654 Die Position Marcuses und Sartres stieß bei Adorno auf heftige Ablehnung. Dazu kam, daß Sartre durch seine frühen Heideggerbezüge bei Adorno und Horkheimer alles andere als beliebt war. Mit Sartres Namen an der eigenen Seite gegen Adorno und Horkheimer zu argumentieren, löste bei Adorno ein „frösteln“ aus: „Nach einem Brief, wie dem von Herbert fängt es an, einen zu frösteln, wenn es nicht schon längst damit angefangen hat.“655 Nie war Marcuse Sartre näher als in diesen Jahren – näher vielleicht als den alten Freunden vom Institut. Es schien, daß Marcuse seinerseits gegenüber der unausgesprochenen, jahrelang bestehenden Solidarität mit den Frankfurtern, Einschränkungen gemacht hatte. So nahm er 1967 das Angebot der Freien Universität Berlin, als Honorarprofessor zu lehren, an. In dieser Zeit entstand der Band „Das Ende der Utopie“. Aus posthum veröffentlichten Aufzeichnungen Horkheimers ging hervor, was er über Marcuses Aktivitäten dachte: „Eine herrlich einfache Welt wird da vorausgesetzt ohne den 652 Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung, Band II, a.a.O., S. 207 653 Adorno an Horkheimer, 31. Mai 1967, in: Kraushaar, a.a.O., S. 233 654 Marcuse an Horkheimer, 17. Juni 1967, in: Kraushaar, a.a.O., S. 261 655 Adorno an Horkheimer, 20. Juni 1967, in: Kraushaar, a.a.O., S. 263 184 leisesten Hinweis auf die Verkettung von Schuld und Wohltat, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Freiheit und Zwang. Man hat zwar Dialektik studiert, ja sogar Bücher darüber geschrieben, um jedoch für Intellektualität noch Reklame zu machen, ist nichts trivial genug.“656 Der Ton mäßigte sich zwar zunächst wieder, doch die Differenzen zwischen Marcuse (und Sartre, der die Position Marcuses teilte) auf der einen Seite und Horkheimer und Adorno auf der anderen waren letztendlich unüberbrückbar. Horkheimer glaubte, daß ein neues Regime „sich als schlimmer erweisen würde“. Er glaubte, daß sich mit Hilfe der Protestierenden „wenn auch gegen ihre Absicht, einzig ein Regime durchsetzen, das anstatt durch größere Freiheit viel mehr durch straffere Bürokratisierung gekennzeichnet wäre.“657 Marcuse blieb zwar bei seiner grundsätzlichen Solidarität mit Adorno und Horkheimer, doch schien diese so stark bedroht, daß er sie in einem Brief an die beiden thematisierte: „Die Solidarität mit Euch ist mir eine ernste Sache: was gibt es denn heute noch als die paar Menschen, die man zu treffen Glück hat und bei denen man bleiben könnte.“658 Doch die Solidarität von einst so aufrechtzuerhalten wie bisher schien Marcuse kaum noch möglich, nachdem das Frankfurter Seminar von Studenten besetzt worden war und die Institutsleitung die Polizei gerufen hatte. Marcuse schrieb an Adorno: „Wir wissen (und sie wissen), daß die Situation keine revolutionäre ist, nicht einmal eine vor-revolutionäre. Aber dieselbe Situation ist so grauenhaft, so erstickend und erniedrigend, daß die Rebellion gegen sie zu einer biologischen, physiologischen Situation zwingt: man kann es einfach nicht mehr ertragen, man erstickt und muß sich Luft schaffen. Und diese frische Luft ist nicht die eines »linken Faschismus« (contradictio in adjecto!), es ist die Luft, die wir (wenigstens ich) auch einmal atmen möchte und die sicher nicht die Luft des Establishment ist. Ich diskutiere mit den Studenten, ich beschimpfe sie, wenn sie meiner Ansicht nach stupide sind und den Anderen in die Hände spielen, aber ich würde wahrscheinlich nicht die schlechteren, scheußlichen Waffen gegen ihre schlechten zu Hilfe rufen. Und ich würde an mir (an uns) verzweifeln, wenn ich (wir) auf der Seite einer Welt erscheinen würden, die den Massenmord in Vietnam unterstützt oder zu ihm schweigt und alle Bereiche ihrer eigenen unterdrückenden Macht zur Hölle verwandelt.“659 Adorno antwortete ihm: „Schroff gesagt: daß Du wegen der Dinge in Vietnam oder Biafra einfach nicht mehr leben könntest, ohne bei den studentischen Aktionen mitzumachen, betrachte ich als eine Art Selbsttäuschung. Reagiert man aber wirklich so, dann müßte man nicht nur gegen das Grauen der Napalmbomben protestieren, sondern ebenso gegen die unsäglichen Folterungen chinesischen Stils, welche die Vietcong dauernd verüben.“660 Zu einem – bereits geplanten – klärenden Treffen kam es nicht mehr. Adorno starb. War die Debatte in ihren Grundzügen nicht bekannt? Erinnerten die Positionen zwischen Marcuse und Horkheimer/Adorno nicht an die Debatte Sartre vs. Camus? Hatte nicht Camus auch Sartre vorgeworfen, von den sowjetischen Lagern zu 656 Horkheimer, Max: Marcuses Vereinfachungen: Verstreute Aufzeichnungen 1950-1971, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 14: Nachgelassene Schriften, Frankfurt /M, 1988, S. 1963f 657 Horkheimer an Marcuse, 28. November 1967, in: Kraushaar, a.a.O., S. 324 658 Marcuse an Horkheimer und Adorno, 1. Dezember 1968, in: Kraushaar, a.a.O., S. 494 659 Marcuse an Adorno, 5. April, 1969, in: Kraushaar, a.a.O., S. 602 660 Adorno an Marcuse, 5. Mai 1969, in: Kraushaar, a.a.O., S. 624f 185 schweigen und einseitig Position zu beziehen? Hatte nicht Sartre geantwortet, daß man sich in der wirklichen Geschichte entscheiden müsse und nicht „in der Republik der schönen Seelen“ leben könne? Ähnlichkeiten waren kaum zu übersehen, doch was den Stil und den Ton anging, blieben die Frankfurter sensibler und mehr um Klärung – denn um öffentliche Auseinandersetzung – bemüht als die beiden Pariser einst. Sartre und die Studentenbewegung Und Sartre? Wie stand er den 68ern und Marcuse gegenüber? Auch wenn sich in seinem Werk kaum ein Rekurs auf Marcuse finden läßt, so ist dennoch berichtet, daß er Marcuse gelesen hatte. Am 20 Mai 1968 sprach er im großen Hörsaal der Sorbonne, der seit einer Woche von Studenten besetzt war. Ähnlich Bilder wie die von Marcuses Auftritten gingen um die Welt, als Sartre in dem völlig überfüllten Hörsaal sprach. Auf die Theorien Marcuses angesprochen, sagte er: „Das ist ein Philosoph… Marcuse sagt, daß die einzigen Gruppen, durch die die Gesellschaft verändert werden kann, die Randgruppen sind: «Unsere Hoffnung kann nur von den Hoffnungslosen kommen» schreibt er in seinem letzten Buch, Der eindimensionale Mensch. Ich stimme ihm nicht nur zu, sondern ich denke auch, daß das eine der Bedeutungen der Studentenrevolte ist.“661 Andererseits gab es auch Unterschiede zwischen ihren Positionen. In einem Spiegel-Interview sagte Sartre 1968: „Wichtig ist, das eine Aktion stattgefunden hat, die doch alle für undenkbar gehalten hatten. Wenn sie diesmal stattgefunden hat, so kann sie sich abermals ereignen, und das entkräftete den revolutionären Pessimismus Marcuses.“662 Man konnte Marcuse auch ein anderes Argument entgegenhalten: Paul Mattick schieb über ihn, daß er selbst Zeuge für eine “nichtfetischisierte Rationalität”663 sei. Gegenüber Marcuse nahm Sartre – unter dem Eindruck des „Pariser Mai“ wenig verwunderlich – eine klassisch-marxistische Haltung ein: Die Arbeiterklasse bleibe das revolutionäre Subjekt. Gewiß war diese Aussage den spezifisch französischen Verhältnissen geschuldet, wo sich große Teile der Arbeiter mit den Studenten solidarisierten und mit ihnen zusammen kämpften, so daß der Pariser Mai 1968 in Frankreich die größten revolutionären Unruhen seit 1871 darstellten. Sartre nahm innerhalb der internationalen 68er Bewegung keinesfalls eine solch herausragende Stellung wie Marcuse ein. Dennoch hatte auch er Einfluß auf ihr Denken, besonders bei den Pariser Akteuren des 22. März. Cohn Bendit sagte später: „Man hat uns Marcuse als Lehrmeister <anhängen> wollen, purer Unsinn. Keiner von uns hat Marcuse gelesen. […] Die politischen Militanten der Bewegung des 22. März haben fast alle Sartre gelesen.“664 Nachdem Cohn-Bendit sich von seiner linken Vergangenheit losgesagt hatte, schienen ihm Sartre und Marcuse doch nicht mehr so weit voneinander entfernt: „Herbert Marcuse war für mich nachträglich das Musterbeispiel eines opportunistischen Philosophen, wie dies auf 661 Zit. n. Cohen-Solal, a.a.O., S. 697 Der Spiegel, 15. Juli 1968, Nr. 29, 22. Jahrgang, S. 61 663 Mattick, Paul Kritik an Herbert Marcuse. Der eindimensionale Mensch in der Klassengesellschaft, Frankfurt /M, 1969, S. 59 664 Cohen-Solal, a.a.O., S. 690 662 186 eine andere Art und Weise auch Jean-Paul Sartre war.“665 Vielleicht sagt dieses Urteil mehr über den Ureilenden, denn über die Beurteilten aus. Oskar Negt jedenfalls resümierte über Cohn-Bendit: „Die aufdringlich radikale Pose, die Daniel Cohn-Bendit wie ein Markenzeichen demonstriert, ist in dem Maße in einen produktiven politischen Arbeitsprozeß eingegangen, wie er mit Amt und Funktion im bestehenden System ausgestattet wurde.“666 Wie eng Sartre mit den 68ern verbunden war, demonstriert vielleicht die Tatsache, daß es Alain Geismar war, der bei Simone de Beauvoir eingeladen war und sie und Sartre in die Maiereignisse einweihte. Sartre verteidigte die Revolte: „Wer die Leute als «Anarchisten» bezeichnet, die gegen die stalinistischen Bürokraten und die Technokraten der Konsumgesellschaft aufbegehren und verlangen, Menschen sollten nicht länger nur Produkte und Objekte sein, sondern ihr Herr über ihr Schicksal, der klebt ihnen ein «Gift»-Etikett auf eine Bewegung, der man schaden will, weil sie neu, weil sie auf unverfälschte Weise revolutionär ist, weil sie die alten Apparate bedroht. Was die jungen Revolutionäre wollen, ob nun bürgerlicher Herkunft oder nicht, ist keineswegs Anarchie, sondern genaugenommen die Demokratie, eine wirklich sozialistische Demokratie, die noch nirgends mit Erfolg verwirklicht worden ist.“667 Warum hätte er sie auch nicht unterstützen sollen? In fast allen Slogans des Pariser Mais ging es um das Verhältnis des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft668 und darum, die Rechte des Individuums zu erweitern und stärken. Die große Mehrheit der Protagonisten ging davon aus, daß das Subjekt Mensch im Kapitalismus in einem nicht akzeptablen Ausmaß zum Objekt von Herrschaftsinteressen gemacht werde. In sehr vielen Dingen glich Sartres politisches Engagement den Vorstellungen und Überzeugungen der 68er. Sartre selbst begriff sich als Mittler zwischen den politischen Studenten und seiner Generation. 1969 schrieb er: „Wir werden es euch erklären, wir, ein paar Erwachsene, sie nicht ganz so verfault oder sich zumindest ihrer Fäulnis einigermaßen bewußt sind. Begreift ihr eigentlich, was das in Frankreich heißt: Kulturrevolution?“669 Ebenso wie Marcuse hegte Sartre Sympathien für die chinesische Kulturrevolution. Doch Sartre sollte sich – nicht zum ersten Mal in seinem Leben – viel stärker als Marcuse im revolutionären Impetus verrennen. Zwar war Sartre gemäßigter als noch 1952, als er behauptete, daß der Arbeiter seine Freiheit in der Partei fände, doch seine Sympathien für die Maoisten trug er öffentlich zur Schau. Er führte zu dieser Zeit ein Art „Doppelleben“: Zum einen fand er neue Freunde bei den Maoisten der „Gauche Prolétarienne“, zum anderen arbeitete er an seinen großen Flaubert-Studien. Noch einmal wollte Sartre etwas in die Wagschale Daniel Cohn-Bendit: Sie war keine ‚engagierte’ Philosophin..., Vortrag von Daniel Cohn-Bendit auf der Hannah Arendt Tagung 1994 in Bremen, aus: http://www.nakayama.org/polylogos/philosophers/arendt/arendt-philo.html, Stand: 20.12.2002 666 Negt, Oskar: Achtundsechzig, Göttingen, 1995, S. 343 667 Sartre, Jean-Paul: Der neue Gedanke vom Mai 1968, Interview in: Le Nouvel Observateur, 26. Juni 1968, zit. n.: Sartre, Jean Paul: Der Mai ’68 und die Folgen, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 49 668 Siehe zu den Plakaten des Pariser Mai: http://burn.ucsd.edu/paristab.htm, Stand: 23.12.2002 669 Sartre, Jean-Paul: Die geprellte Jugend, Interview in: Le Nouvell Observateur, 17. März 1969, zit. n.: Sartre, Jean-Paul: Der Mai ’68 und die Folgen, a.a.O., S. 79 665 187 werfen: Eine Essenz seines Denkens und den Abschluß seiner Bemühungen, den Menschen zu verstehen. Die Flaubert Studie sollte nicht weniger sein, als „alles was man von einem Menschen wissen kann.“ Wieder griff Sartre zu Corydran: „er wird nervös und schrullig. Wiederholt sieht man die Arme mit gebogenem Ellenbogen bewegen, als sei er mit eigenartigen Flügelchen ausgestattet: Besorgniserregende Ticks. Er raucht und trinkt wie zu den schlimmsten Zeiten.“670 Doch zuvor trat ein anderes Ereignis auf den historischen Plan: Die Ausweitung der 68er Bewegung nach Osten mit dem Prager Frühling. Der Prager Frühling und der Vietnamkrieg Sartres ungebrochenes Engagement In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 rücken Truppen von fünf Warschauer Pakt Staaten in die Tschechoslowakische Sozialistische Republik ein. Dem voraus waren Reformversuche der kommunistischen Partei der CSSR gegangen. Alexander Dubcek, erster Sekretär der Partei, wurde mit dem gesamten Politbüro verhaftet und in die Sowjetunion gebracht. Am 26. August 1968 mußten sie im "Moskauer Protokoll" die Rücknahme der eingeleiteten Reformen versprechen. Unter einem Appell gegen die Besetzung der CSSR durch die UdSSR fanden sich neben anderen Namen auch die von Sartre und Marcuse. Beide lehnten die Besetzung der CSSR entschieden ab671. Sartre schrieb über die sowjetische Besatzung: „Der Sozialismus ist in die lange Nacht des Mittelalters zurückgesunken. Ich erinnere mich, daß meine Freunde in der Sowjetunion mir 1960 sagten: «Geduld, das braucht vielleicht seine Zeit, aber sie werden sehen: Der Prozeß ist irreversibel.»; seitdem habe ich manchmal das Gefühl, daß nichts irreversibel war – außer der fortgesetzten, starrsinnigen Selbsterniedrigung des Sozialismus.“672 Die Subjekte sah Sartre weiterhin der Entfremdung unterworfen und in dem Aufbegehren der CSSR einen Versuch, gerade diese zu durchbrechen. „Ein Keil treibt den anderen: Die «Herrschaft der DINGE», die in der alten Republik bestand, wurde zerstört und durch «Die Herrschaft anderer DINGE» ersetzt, die alte Entfremdung gegen eine neue Entfremdung eingetauscht.“673 Dabei bewertete er den Sozialismus Moskauer Prägart als dem Kapitalismus des Westens in der Verdinglichung der Einzelnen ebenbürtig. Auch hier herrschte Einigkeit mit Marcuse. Für beide waren weder der „Sozialismus der aus der Kälte kam“ (Sartre) noch das „präformierte Individuum“ (Marcuse) des Westens annehmbare Zustände. Man könnte sagen, daß beide in dieser Zeit eine praktische Politik des dritten Weges betrieben hatten: Ablehnung gegenüber den imperialistischen Manifestationen der UdSSR in der CSSR wie denen der USA in Vietnam. Marcuses Gegnerschaft zu diesem Krieg war bekannt und auch Sartre engagierte sich gegen den Vietnamkrieg. 670 Cohen-Solal, a.a.O., S. 701 siehe Haymann, a.a.O., S. 617 672 Sartre, Jean-Paul: Der Sozialismus, der aus der Kälte kam, in: Sartre, Jean-Paul: Plädoyer für die Intellektuellen, Reinbek bei Hamburg, 1995, S. 348 673 Ebd., S. 354 671 188 Sartre war Vorsitzender der „Russel-Tribunals“, das von dem 94-jährigen Bernard Russel ins Leben gerufen worden war. In ihm sollte entschieden werden, ob die „Anklage auf Kriegsverbrechen […] gegen die Regierung der Vereinigten Staaten sowie gegen die von Südkorea, Neuseeland und Australien […]gerechtfertigt sind.“674 Das Tribunal kam zu dem Schluß: „Die amerikanische Regierung ist nicht schuldig, den modernen Völkermord erfunden zu oder auch nur unter anderen Möglichkeiten einer Antwort auf den Guerillakrieg ausgesucht zu haben. […] Die amerikanische Regierung ist schuldig, eine Politik der Aggression und des Krieges, die auf den totalen Völkermord abzielt, einer Politik des Friedens vorgezogen zu haben […] Wenn ein Bauer auf einem Reisfeld mit einem Maschinengewehr niedergemäht wird, dann treffen diese Schüsse uns alle.“675 Sartre und Marcuse engagierten sich auf zahllosen Veranstaltungen und Kongressen, in Interviews und auch bei Demonstrationen gegen die Politik der USA und der UdSSR. Die gemeinsame Basis des Protestes? Die Vorstellung einer Welt, in der die Subjektivität nicht unter den Interessen der Weltmächte zermahlen wird. Sartre und die Maoisten Die letzten Jahre Sartres waren – wie so oft in Sartres Biographie – von Brüchen gekennzeichnet. Bevor er 1973 erblindete, sah man ihn in der Öffentlichkeit meist an der Seite Pierre Victors, den er 1970 über Geismar kennengelernt hatte. Die französischen Maoisten hegten keinesfalls allergrößte Sympathie für Sartre, vielmehr stellte er für sie ein nützliches Instrument dar. Als die Gruppe „Gauche prolétarienne“ verboten wurde, geriet auch ihre Zeitung „La Cause du Peuple“ in Gefahr. Binnen kurzer Zeit wurden beide Herausgeber verhaftet. Was sagte De Gaulle einst über Sartre? „Einen Voltaire verhaftet man nicht.“ Jetzt benutzte Sartre diesen Status, um sich schützend vor die „Gauche prolétarienne“ zu stellen. Auf fast jeder Seite stand einem Siegel gleich: „Herausgegeben von JeanPaul Sartre und Simone de Beauvoir“. Am ersten Mai 1970 erklärte Sartre seine Absichten: „Es handelt sich darum, das Manöver der Regierung zu vereiteln, die mit wiederholten Beschlagnahmungen die Zeitung ruinieren und mit der Behauptung, ihre Artikel seien Aufrufe zum Mord, diskreditieren will.“676 CohenSolal berichtete, daß im ursprünglichen Text der Erklärung stand: „[…] erkläre ich mich solidarisch mit allen Aktionen […]“, was in der nächsten Ausgabe revidiert wurde in „allen Artikeln“. Dieser feine, aber doch gravierende Unterschied mag deutlich machen, daß Sartre nicht mehr in die bedingungslose Solidarität von 1952 zurückfiel. Er äußerte zwar Anerkennung für das Werk Maos677, doch ein Maoist wurde er nicht. Die Bezeichnung „Maoist“ war in Frankreich ohnehin zweifelhaft: Alle marxistischen Strömungen neben der KPF wurden als „Maoisten“ bezeichnet – ob sie dies nun waren oder nicht. Die bürgerliche Öffentlichkeit reagierte auf Sartres Rückendeckung mit Erstaunen und Ablehnung. Doch nicht alle teilten diese Reaktion. Ein alter Gegner Sartres, 674 Sartre, Jean-Paul: Eröffnungsrede, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, a.a.O., S. 249 675 Sartre, Jean-Paul: Völkermord, in: Wir sind alle Mörder, a.a.O., S. 298f 676 La cause de Peuple, 1. Mai 1970, zit. n.: Cohen-Solal, a.a.O., S. 716 677 siehe: Sartre, Jean-Paul / Gavi, Philippe / Victor, Pierre: Plädoyer für die Intellektuellen, Reinbek bei Hamburg, 1976 , S.76 189 dessen Philosophie fast ausnahmslos ohne Subjekt auskam, gesellte sich an seine Seite: Michele Foucault. Die Gegnerschaft zwischen De Beauvoir und Foucault war bekannt und auch Foucaults wütender Ausspruch, nachdem Simone de Beauvoir „die dümmste Frau der Welt“ sei. Was die beiden zusammenbrachte war nicht ganz klar, in jedem Fall entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den beiden so gegensätzlichen französischen Meisterdenkern. Cohen-Solal schreibt: „An Sartres Seite wird man in den jetzt folgenden Monaten fast ständig den lächelnden Kahlkopf Michel Foucault sehen […]“678 Vielleicht war der Impetus der Foucaultschen Philosophie, in der das Subjekt in einem gesellschaftlichen Panoptikum existierte und der späten Sartreschen, bei den das Individuum immer mehr unter die Räder der Entfremdung geriet, doch nicht so weit voneinander entfernt, wie es anfänglich schien. Mit Sicherheit teilten beide die gleichen Ziele – mit Marcuse gesprochen: „Was der Mensch dem Menschen und der Natur angetan hat, muß aufhören, radikal aufhören – dann erst und dann allein können die Freiheit und die Gerechtigkeit anfangen.“679 Beide hätten diese Worte unterschrieben und sie können als inhaltliche Grundlage ihres gemeinsamen Engagements verstanden werden. Wie hatten sich für Sartre die Subjekte verändert? Welche Rolle kam der Partei, der Gruppe und dem Einzelnen zu? Zu erst einmal verlagerte Sartre sein Engagement: Man sah den kleinen Philosophen aus Protest gegen das Verbot der „La Cause du Peuple“ auf der Straße Zeitungen verkaufen oder auf einem Faß stehend, vor Renault-Arbeiter sprechend. Warum tat er das? Sartre antwortete: „]…] ich bin ein Intellektueller, und es hat vor nunmehr einem Jahrhundert das Bündnis des Proletariats und der Intellektuellen gegeben. Es stellte eine beachtliche Kraft dar. Seit Anfang dieses Jahrhunderts besteht es nicht mehr; wir müssen es wieder zusammen bringen. Arbeiter und Intellektuelle müssen es wieder verwirklichen – nicht, damit die Intellektuellen den Arbeitern gute Ratschläge erteilen, sondern um eine neue eigene Masse zu bilden, die den Standpunkt der Intellektuellen verändert, die sie in ihrem Handeln selbst umwandelt und damit eine feste und gefürchtete Vereinigung schafft.“680 Das „Bündnis zwischen Intellektuellen und den Arbeitern“ zielte zweifelsohne auf den Marxismus ab. Das erneute „Zusammenbringen“ dieses Bündnisses meinte nichts anderes als eine Revitalisierung des Marxismus. So sah Sartre in den Arbeitern die revolutionäre Kraft und vertrat einen Marxismus, der dem „Kommunistischen Manifest“ ähnlich war. Schnädelbach formulierte die Wendungen des Sartreschen Denkens und der Kritischen Theorie wie folgt: “Schematisch gesprochen beginnt Sartre mit reiner Philosophie und kommt bei Marx und einer umfassenden Gesellschaftstheorie an, während die Frankfurter marxistisch und gesellschaftstheoretisch beginnen, um sich dann immer mehr in die Philosophie zurückzuziehen. Auch wenn man darauf besteht, Horkheimer und Adorno seien von allem Anfang Philosophen gewesen und Sartre sei bis zuletzt Philosoph geblieben, stimmt das Bild einer gegenläufigen 678 Cohen-Solal, a.a.O., S. 720 Marcuse, Herbert: Nachwort, in: Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt, a.a.O., S. 104 680 Sartre, Jean-Paul: Rede vor Renault-Arbeitern, in: Sartre-Jean-Paul: Plädoyer für die Intellektuellen, Reinbek bei Hamburg, 1995, S. 385f 679 190 Entwicklung, nur spielt sich die dann zwischen reiner Philosophie und Sozialphilosophie ab.”681 Sartre fiel nicht noch einmal in den Impetus der bindungslosen Gefolgschaft gegenüber einer Gruppe, die sich eines angeblich revolutionären Proletariates verschrieben hatte, zurück. Er war sich sehr wohl bewußt, daß das Proletariat in dieser historischen Phase nicht ausschließlich revolutionär war und nur auf die „Gauche prolétarienne“ wartete, um zuzuschlagen. Sartre schrieb: „Wenn die Arbeiterklasse – wie gegenwärtig – zwar in bestimmten Winkeln protestiert, in ihrer Gesamtheit aber nicht protestiert, sondern sich ruhig verhält, hat sie dann wirklich den ernsthaften Wunsch, alles zu verändern? Was ist eine Arbeiterklasse, die nicht zutiefst antikapitalistisch ist? Und die Arbeiterklasse ist es nicht.“682 Damit ähnelte sein Standpunkt eher dem Marcuses, denn dem der Maoisten. Sowohl Sartre wie auch Marcuse sahen in der Arbeiterklasse das potentielle Subjekt der Befreiung, aber nicht das historisch konkrete. Beide trauten der Stundentenbewegung Anstöße zu, um einen Aufklärungsgedanken in die Arbeiterschaft zu transportieren. Die Situation des Arbeiters beschrieb Sartre mit folgenden Worten: „Derselbe Arbeiter, der am Arbeitsplatz sich in einer fusionierenden Gruppe befindet, kann vollständig serialisiert sein, wenn er bei sich zu Hause oder in anderen Situationen seines Lebens ist. Wir haben es also mit sehr verschiedenen Formen des Klassenbewußtseins vor uns: einerseits ein fortgeschrittenes Bewußtsein, andererseits ein quasi inexistentes Bewußtsein, und zwischen den beiden eine Reihe von Vermittlungen.“683 Sartre subsumierte das Individuum nicht mehr wie einst unter die proletarische Manövriermasse. Mit dem revolutionären Impetus der Maoisten – was die Dringlichkeit der Veränderung der Verhältnisse anging – konnte er mehr anfangen, als mit ihrem deduktiven Klassenaktivismus. Marcuse und Sartre erhofften sich nach einem Leben, daß letztendlich von mehr politischen Niederlagen als Siegen geprägt war, eine verändernde Kraft, die es schaffen sollte, den Zielen des Glücks und der Gerechtigkeit näher zu kommen. Das es dazu nicht kommen sollte lag nicht am mangelnden Engagement der beiden alternden Philosophen. Marcuse nach ’68: Rückkehr zur Kunst Marcuses: Versuch über die Befreiung und Konterrevolution und Revolte 1970 erschien Marcuses kleines Buch „Versuch über die Befreiung“. Darin sprach er offen über den Bruch mit dem „Bilderverbot“ einer besseren Gesellschaft, an das sich die Frankfurter Schule weiterhin hielt – so zumindest seine Ankündigung: „Ich meine, daß diese restriktive Auffassung revidiert werden muß und das sich diese Revision angesichts der tatsächlichen Evolution der gegenwärtigen Gesellschaften 681 Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule, in: Hrsg. V. Traugott König: Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg, 1988, S.19 682 Sartre, Jean-Paul / Gavi, Philippe / Victor, Pierre: Plädoyer für die Intellektuellen, a.a.O. , 126 683 Sartre, Jean-Paul, in: Massen, Spontaneität, Partei, in: Sartre, Jean-Paul: Mai’68 und die Folgen II, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 93 191 empfiehlt, ja notwendig wird.“684 Übrig blieb davon allerdings nichts anderes, als das was die kritische Theorie Herbert Marcuses schon immer sagte. Auch im „Versuch über die Befreiung“ ging Marcuse darüber nicht hinaus. Sieben Seiten vor dem Schluß des Buches konstatierte er: „Wir stehen noch immer der Forderung gegenüber, die »konkrete Alternative« zu setzen.“685 Alles was er diesbezüglich tat, war die Determinanten einer neuen Gesellschaft zu umreißen, wobei er sich gegen ein blankes Zerschlagen des Alten wehrte. Dies würde vernachlässigen, daß „das Alte nicht einfach schlecht ist, daß es die Güter liefert und daß die Leute wirklich an ihm interessiert sind. Es kann viel schlimmere Gesellschaften geben – es gibt solche. Das System des korporativen Kapitalismus habe das Recht, darauf zu beharren, daß diejenigen, die für seine Ersetzung arbeiten, ihr Handeln rechtfertigen.“686 Damit äußerte Marcuse nichts anderes, als das klassische Hegelsche Theorem von der Dialektik der „Aufhebung“: “Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es so viel als aufbewahren, erhalten bedeutet und zugleich so viel als aufhören lassen, ein Ende machen. Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein entnommen wird, um es zu erhalten. – So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber es darum nicht vernichtet ist.”687 Und auch sonst blieb Marcuse sich treu: Über den Impuls Marxscher Theorie votierte er für eine neue Aufteilung der Zeit, womit letztendlich auch eine Neuverteilung des Eigentums einhergehen würde. Über diese „Neuaufteilung des Zeit“ würde sich, so Marcuse, sogar die menschliche Triebstruktur verändern und das Leistungsprinzip würde einer „ästhetischen Dimension“ weichen. Man könnte – augenzwinkernd – sagen, daß Marcuse die marxsche Maxime, wonach es im Kommunismus jedem freistehe „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“688, dahingehend erweiterte, daß jeder neben dem „kritischen Kritiker“ auch ein künstlerischer Künstler werde. Zumindest gestand Marcuse der Kunst der 68er mittlerweile „befreiende Momente“ zu. Dennoch unterschied sich seine Auffassung von Kunst nicht sonderlich davon, was in der „FAZ“ unter Kunst verstanden wurde. Mit anderen Worten: So revolutionär Marcuse auch war, so sehr er sich eine befreite Welt wünschte, so sehr war er auch das was man als „Kulturkonservativ“ bezeichnen könnte. Kunst bedeutete für Marcuse immer ein nicht-kommerzielles Moment: „Die Entsublimierung läßt die traditionelle Kultur, die illusionistische Kunst unbesiegt hinter sich; ihre Wahrheiten und ihre Ansprüche bleiben gültig neben und zusammen mit der Rebellion, innerhalb derselben gegebenen Gesellschaften. Die rebellische Musik, Literatur und Kunst werden auf diese Weise mühelos vom Markt absorbiert und geformt – entschärft.“689 Zu Gute konnte man ihm halten, daß er in der neuen Form der Kunst immerhin eine Basis für eine befreite sah: „Der Sieg über diese unmittelbare Vertrautheit, die «Vermittlungen», die aus vielen 684 Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, a.a.O., S. 15 Ebd. S. 126 686 Ebd., S. 127 687 Hegel, G.W.F.: Die Wissenschaft der Logik, Erster Teil, Hrsg.: Lasson, Hamburg, 1975, S. 94 688 Marx, Karl / Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 33 689 Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, a.a.O., S. 74 685 192 Formen rebellischer Kunst eine befreiende Kraft in gesellschaftlichem Umfang machen würden (eine umstürzende Kraft als), müssen erst noch gewonnen werden.“690 Christian Fuchs weist am Beispiel Blumfelds darauf hin, daß im Gegensatz zu Marcuses Kunstverständnis Pop- und Rockmusik durchaus befreiende und kritische Momente in sich bergen kann691. Es fällt schwer, der Kunst eines Jan Garbarek oder Keith Jarrett nicht befreiende Momente zuzusprechen. Sartre war gegenüber anderen Formen der Kunst als den klassischen aufgeschlossener: Thelonious Monks Jazz gehörte zu dem, was er am liebsten hörte. Die befreienden Momente, die Marcuse noch der Kunst um 1968 zusprach, fehlten zwei Jahre später in „Konterrevolution und Revolte“ wieder – er konstatierte: „Die Spannung zwischen Kunst und Revolution scheint unüberwindlich.“692 Der Rockmusik schrieb er ins Stammbuch: „Als die Weißen die Musik übernahmen, fand ein bezeichnender Wandel statt: der weiße »Rock« ist, was sein schwarzes Vorbild nicht ist, nämlich Veranstaltung. […] Die »Gruppe« wird zu einer verdinglichten Entinität, welche die Individuen absorbiert; sie ist »Totalität«, sofern sie das individuelle Bewußtsein überwältigt und ein kollektives Unbewußtsein mobilisiert, das ohne gesellschaftliche Grundlage bleibt.“693 Marcuse verkannte dabei, daß für die Generation der 68er ein neues Kunstempfinden unumgänglich war, da sie mit der traditionellen Kunst auch die Repräsentationsfunktion der Väter-Generation einhergehen sah. Nicht umsonst hatte die Kunst zu jener Zeit einen auf den ersten Blick wilden Charakter. Dabei trat in Deutschland das bizarre Phänomen auf, daß sich die Generation, die Europa in Schutt und Asche legte, über das Zubruchgehen der Saalbestuhlung bei einem Konzert in Hamburg aufregte. Was ließ Marcuse als Kunstwerk zu? Shakespeare, Goethe, Proust, Celan, Brecht, Beckett, Stockhausen (aber auch Sartre) – diese Namen tauchten bei Marcuse oft auf. An ihnen zeigte er, wie er seinen Kunstanspruch verwirklicht sah. Warum hing dieser Kunstanspruch so hoch? Warum war es ein solch akademisches Kunstverständnis? Zu allererst sah er die Beschädigungen des Individuums als so schwerwiegend an, daß alles was zum Aufrechterhalt des Status Quo beitragen konnte, als verdächtig erschien. Für Marcuse waren die bestehenden Gesellschaften der Innbegriff des Falschen, oder wie Adorno es in der „Minima Moralia“ ausdrückte: „Es gibt nicht Wahres im Flaschen“. In diesem Sinne blickte Marcuse auf die Kunst. Kunst mußte für Marcuse eine eigene Dimension von Wahrheit besitzen, in deren ästhetischer Form Protest und Versprechen liegen mußte. Nachdem sich die 68er Bewegung in viele kleine Flügel gespalten hatte – aus ihr ging die Autonomen-, die Hausbesetzer-, die Ökologie-, die Bürgerrechts-, die Schwulen und Lesben- und die Frauenbewegung hervor – sah der alte Marcuse, wie der junge existentialistische des ersten Hegelbuches, das Individuum wieder in 690 Ebd., S. 75 vgl. Fuchs, Christian: Zur Aktualität ausgewählter Aspekte des Werks Herbert Marcuses, o.A., 2002, S. 58ff 692 Marcuse, Herbert: Konterrevolution und Revolte, in: Marcuse, Herbert: Gesammelte Schriften 9, Frankfurt /M, 1987, S. 113 693 Ebd., S. 112 691 193 Gefahr. Die in der Bewegung aufgekommene „rebellische Subjektivität“ drohte im „business as usual“ unterzugehen. Dagegen formierten sich Flügel der 68er Bewegung neu und gewannen an Bedeutung: die Frauenbewegung betrat wieder die Weltbühne. Subjekt Mann - Subjekt Frau: Die Frauenbewegung Sartre und Marcuse zur Frauenbewegung Während der späte Sartre von der Öffentlichkeit unbeachteter blieb als zuvor, wurde Simone de Beauvoir durch die Frauenbewegung zur vielzitierten Person. Eines der Strandartwerke der Bewegung: „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir aus dem Jahr 1949. Daß Sartre selbst nichts zur Frauenfrage bzw. zur Frauenbewegung publizierte, lag vor allem daran, daß dies die Domäne von Simone de Beauvoir war. Das Gros ihrer Bücher waren ihm gewidmet, so wie er das meiste seiner Werke ihr zugedacht hatte. Die Widmungen „Für Nestor“ und „Für Castor“ – wie sie sich gegenseitig nannten – oder „Für Jean-Paul Sartre“ fanden sich vor fast all ihren Romanen, Theaterstücken oder philosophischen Werken. So wie die kritische Theorie der 30er und 40er Jahre einen interdisziplinären Ansatz verfolge und jeder Mitarbeiter für die Bearbeitung eines speziellen Bereiches in der Theorie zuständig war, funktionierte auch die Arbeit zwischen Sartre und de Beauvoir. Er korrigierte ihre, sie seine Bücher. Warum also noch etwas zum Feminismus publizieren, wenn die Lebensgefährtin die grande personne des Feminismus war? Simone de Beauvoir soll einmal gesagt haben, daß ihr wichtigstes Werk ihr Leben gewesen sei. Den Stellenwert den Sartre darin hatte, brauchte nicht mehr betont zu werden. Zahlreiche Bücher behandelten dieses Thema. So ist es zu erklären, daß Sartre, der sonst zu jeder wichtigen politischen Bewegung etwas publizierte, zum Feminismus - außer in einem Interview mit Simone de Beauvoir – nichts schrieb. Das gemeinsame Leben und die Organisation ihrer Liebe in freier und gleichberechtigter Art galten vielen als Entwurf einer gleichberechtigten Partnerschaft. Noch heute steht die Philosophie des Duetts Sartre/De Beauvoir in der Auseinandersetzung feministischer Wissenschaftskritik694. Auch Marcuse entging die Diskrepanz zwischen dem Subjekt Mann und dem Subjekt Frau keinesfalls. Mit seinem Vortrag „Marxismus und Feminismus“, den er 1974 an der Standford University hielt, versuchte er seine Sicht des Feminismus darzulegen. Das dazu verwendete Instrumentarium war marxistisch. Er konstatierte: „Erstens: Die Bewegung [Die Frauenbewegung, S.O.C.] entstand und entfaltete sich in einer patriarchalischen Zivilisation; daraus folgt, daß zunächst mit Begriffen diskutiert werden muß, die dem gegenwärtigen Status der Frauen in dieser Zivilisation entsprechen. Zweitens entwickelt sich die Bewegung in einer Klassengesellschaft; drin liegt das erste Problem. Frauen sind keine Klasse im Marxschen Sinne des Begriffs. Die Beziehung zwischen Mann und Frau geht quer durch die Klassen, aber die unmittelbaren Bedürfnisse und Möglichkeiten der Frauen sind weitgehend von ihrer Klassenzugehörigkeit geprägt.“695 Marcuse ging davon aus, daß männliches und weibliches Bewußtsein kulturell determiniert seien, 694 Siehe: Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/ M, 1991, S. 31 Marcuse, Herbert: Marxismus und Feminismus, in: Claußen, Detlev: Spuren der Befreiung – Herbert Marcuse, a.a.O. , S. 262 695 194 diese „Qualitäten freilich zur »zweiten Natur« werden.“696. Anders gesagt: MannSein und Frau-Sein bestand für Marcuse weitestgehend in der sozialen Konstruktion, die von ihren Trägern und Trägerinnen nicht durchschaut werde. Dabei galt für Marcuse was ihm für alle Unterdrückung galt: „Freilich wird alle Sublimierung durch die Macht der Gesellschaft erzwungen, aber das unglückliche Bewußtsein dieser Macht durchbricht bereits die Entfremdung. Freilich nimmt alle Sublimierung die gesellschaftliche Schranke der Triebbefriedigung hin, aber sie überschreitet diese Schranke auch.“697 Durch diese Überschreitung war, so Marcuse, die Frauenbewegung möglich geworden. Marcuses Begriffsinstrumentarium war schon immer auf die Befreiung aller Menschen ausgerichtet: “Der Begriff menschlicher Freiheit schließt Unterschiede zwischen Mann und Frau aus, [...]”698 So galt ihm auch der Begriff der Freiheit höher als der der Gleichberechtigung. Marcuse differenzierte die Anliegen der Frauen in zwei Bereiche: Zum einen in jene, die nach Gleichberechtigung im Bestehenden verlangten, und in jene die über die Gleichberechtigung im Bestehenden hinausgingen, die feministischen Sozialistinnen. Ihnen sprach er eine transzendierende Kraft der Erneuerung zu. Versteckt kritisierte Marcuse die Teile der Frauenbewegung, die „nur“ nach Gleichberechtigung strebten. Sie sah er mit dem Problem konfrontiert, daß sie das Leistungsprinzip, – mit der sich darin befindlichen Entfremdung – aufrechterhalten und reproduzieren müßten. Im selben Atemzug wandte er sich gegen die biologische Determination von Männern und Frauen. Der Vorstellung, daß Frauen qua ihrer Natur befähigter seien, für eine bessere Welt einzustehen, begegnete er mit den Worten: „Ein einziger Blick auf die Photographien weiblicher Aufseher in Konzentrationslagern zeigt, bis zu welchem Grad auch Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft institutionalisiert und dehumanisiert werden können.“699 Trotzdem solidarisierte sich Marcuse – bei aller Kritik – auch mit dem Teil der Frauenbewegung, der „nur“ nach Gleichberechtigung strebte. Die Bedeutung, die er der Frauenbewegung beimaß, demonstrierte am besten sein Vortrag „Marxismus und Feminismus“, der die einzige Einladung war, die er in jenem akademischen Jahr annahm700. Doch wie verortete Marcuse die Subjektivität innerhalb der Frauenbewegung? Die Ausgangssituation der Frauenbewegung beschrieb er damit, daß die spezifischen Eigenschaften einer Frau irrelevant seien, sie sei „immer Subjekt und Objekt zugleich”701 Dem Flügel des feministischen Sozialismus schrieb er die Möglichkeit zu über den Subjekt-Objekt-Status hinauszugehen – sogar zur „dritten Kraft der Revolution zu werden“, der Fraktion die für Gleichberechtigung im Bestehenden eintrat, hielt er warnend entgegen: “Auf der anderen Seite sollte Gleichheit zwischen Mann und Frau nicht bedeuten, daß die Frauen gleichberechtigt als Ausbeuter und Unterdrücker fungieren; etwa als gleichwertige Konkurrenten im business.”702 696 Ebd. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O. , S. 95 698 Marcuse, Herbert: Zu aktuellen Problemen der Emanzipationsbewegung, Ein Interview, in Zeitschrift “abriss”, Januar 1969, S. 13 699 Marcuse, Herbert: Marxismus und Feminismus, a.a.O., S. 270 700 Ebd., S. 261 701 Marcuse, Herbert: Zu aktuellen Problemen der Emanzipationsbewegung, a.a..O. , S. 13 702 Ebd. 697 195 Eine weiterführungswürdige Tradition sah Marcuse in der „Romantischen Liebe“, die gegen das Prinzip der männlichen Roheit einstand. Feminine Eigenschaften, die in den bestehenden Gesellschaften ausgebildet würden, wären dadurch nutzbar gemacht, daß die Emanzipation der Frau „die individuellen, eigenen erotischen Qualitäten entgegen den herrschenden Normen befreien“703 könnten. Mit anderen Worten: Die Durchsetzung femininer Subjektivität könnte oder müßte ein integraler Bestandteil eines neuen sozialistischen Projektes sein. Es wäre ein Moment „kreativer Reziptivität“ statt "repressiver Produktivität“ Doch konnte er damit den speziellen Repressionen, den Frauen ausgesetzt waren und sind Rechnung tragen? Reichte das Konzept der „Romantischen Liebe“ um der spezifischen Unterdrückungsgeschichte von Frauen gerecht zu werden? Reflektierte Marcuse auch die „spezifische Deformation der Frau?“704 Xenia Rajewski wies darauf hin, daß Marcuse ihnen in dem Moment, da sich Frauen gegen ihre traditionelle Rolle zu wehren begannen, eine erneute Zuschreibung nach altem Muster angedeihen ließ – er „funktionalisiere sie im Rahmen einer Konzeption eines anderen, eines besseren Lebens für alle Menschen noch einmal – einer Konzeption an deren Ausarbeitung sie selbst wiederum keinen Anteil hätten.“705Anders ausgedrückt: Die Deformation der Subjekte in der Theorie Marcuses orientierten sich am männlichen Subjekt, Frauen als „anderes Subjekt“ erschienen als „Negativabdruck“ (Rajewski) des in der Sinnlichkeit eingeschränkten Mannes. Dabei stellte sich die Frage in wie weit Frauen überhaupt ein gesellschaftlicher Subjektstatus eingeräumt wurde: Die Instrumentalisierung von Frauen als Sexualobjekt „war gleichzeitig verbunden mit ihrer NichtZulassung als gesellschaftliches Subjekt, sie erfaßt sie mit Haut und Haaren, ihren Körper und ihren Kopf, oder auch, wenn man so will, ihren Körper ohne Kopf.“706 Doch Marcuse war nicht abzusprechen, daß er sich – lange bevor die Frauenbewegung der 70er Jahre auf die Repressionen öffentlich aufmerksam machte – um die Freiheit und Gleichheit von Frauen bemühte und sie lange vor anderen in seine Schriften aufnahm. Die Rolle des Vordenkers in dieser Frage konnte er sicherlich nicht beanspruchen – diese Würde (und auch Bürde) fiel Simone de Beauvoir zu. Das unterschlagene Subjekt der Revolutionäre - Ein letztes Gefecht für die freie Subjektivität: Marcuses: Die Permanenz der Kunst Eines seiner letzten Gefechte schlug Marcuse gegen die Kunstvorstellungen der leninistischen Marxisten und des orthodoxen Teils der 68er Bewegung. Ihre statische Kunstvorstellung kritisierte Marcus auf der Basis, daß er ihnen eine Unterschlagung der Subjektivität vorwarf. Marcuse kritisierte: „Das Individuum in seiner unreduzierten Subjektivität, seinem eigenen Bewußtsein galt nur als »Element« des Klassenbewußtseins. Damit wurde aber eine der Vorbedingungen 703 Ebd., S. 270 Siehe Rajewsky, Xenia: Die zweite Natur – Feminismus als weibliche Negation, in: Claußen, Detlev: Spuren der Befreiung, a.a.O., S. 250 705 Ebd., S. 252 706 Ebd., S. 257 704 196 der Revolution abgedrängt, nämlich, die Verankerung der Notwendigkeit radikaler Veränderung in der psychischen Struktur der Individuen, ihrem Bewußtsein und Unbewußten, ihren Triebzielen. In dieser Interpretation verfiel die Marxsche Theorie selbst jener Verdinglichung, die sie im Gesellschaftlichen aufspürte und bekämpfte: die Subjektivität wurde zum Atom der Objektivität; sie wurde ihr ausgeliefert und zu ihrem (wenn auch rebellierenden) Vollzugsorgan gemacht.“ 707 Der offizielle Marxismus-Leninismus, aber auch studentische Gruppen, die dieser Marx-Interpretation anhingen, verfielen, so Marcuse, in einen „reduktionistischen Begriff von Bewußtsein“708 Sie reduzierten die Subjektivität auf die Kategorie des „bürgerlichen Begriffs“ und vernachlässigten so das in dem Begriff der Subjektivität selbst steckende Potential der Revolution. Dem Subjekt, das sich nur als Klasse verwirklichen könne, fehle das eigenständige Moment – es werde zur Reproduktion des Bestehenden dadurch, daß der Subjektivität nicht Neues hinzugefügt werde. Das Subjekt, das sich als Klasse verwirklichte, bliebe weiter unter dem Überhang des Objekts, anstatt aus ihm herauszutreten. Marcuses Konzeption und Vorstellung des Subjekts sahen anders aus: „[…] befreiende Subjektivität konstituiert sich in der inneren, nur ihm eigenen Geschichte des Individuums. Sie ist nicht identisch mit seiner gesellschaftlichen Existenz. Es ist die Geschichte der Begegnungen, die dem Individuum widerfahren, seiner Leidenschaften, seines Glücks und seiner Trauer – Erfahrungen, die nicht in seiner Klassenlage gründen müssen und durch sie begreifbar sind. […] Haß, Lust, Liebe und Verzweiflung lassen sich leicht dem Überbau zuordnen, als »ideologisch« der Psychologie zuweisen und dadurch von den Belangen der radikalen Praxis abzurücken; sie mögen keine Produktivkräfte im eigentlichen Sinne der politischen Ökonomie sein – für jeden Menschen sind sie entscheidende Kräfte: Wirklichkeit.“709 Marcuse nahm den Strang des frühen Marx im Sinne eines radikalen Humanismus wieder auf und kämpfte um die Verwirklichung einer freieren, wirklichen und individuellen Subjektivität. Auch in seinen letzten Schriften blieb Marcuse bei seiner theoretischen Position Subjekt und Objekt betreffend: In seiner Theorie blieb die menschliche Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Vernunft als das am Menschen zu befreiende Wesen – stets war Marcuse in der Sorge, daß falsche, erdrückende Objekte die menschlichen Möglichkeiten verbauen würden. Sartre traute den politischen Bewegungen dabei scheinbar mehr befreiende Potenz zu. Er proklamierte, daß der Intellektuelle seinen Platz im Volk einnehmen müsse, „der ihn erwartet“. Ein Vorhaben, das er selbst auch nicht konsequent durchhielt. Während er tagsüber mit „Gauche Proletarienne“ das praktizierte, was er für seinen Platz im Volk hielt, arbeitete er an seinem „Flaubert“ – ein Projekt, was für das Gros der Volksmassen gänzlich ohne Bedeutung war. Wie der junge Marcuse, der mit heideggerschem Duktus das Subjekt verteidigte, so blieb auch der Alte Anwalt des Einzelnen: „Der Spott auf die Innerlichkeit, auf die »Seelenzergliederung« in der Literatur, den Brecht als Zeichen revolutionären Bewußtseins deutete, ist nicht sehr weit entfernt von der Verachtung des Kapitalisten gegenüber einer profitlosen Dimension des Lebens. […] Sicher gehört der Begriff des Individuums als des sich in Solidarität frei entwickelnden 707 Marcuse, Herbert: Die Permanenz der Kunst, in: Marcuse, Herbert: Schriften IX, a.a.O., S. 199 708 Ebd., S. 200 709 Ebd., S. 201 197 Menschenwesens erst dem Sozialismus an. […] Die Negation des Individuums als eines »bürgerlichen«Begriffs erinnert heute an faschistische Praxis. Solidarität, Gemeinschaft ist nicht Aufgeben des Individuums: sie entspringt in autonomer individueller Entscheidung; sie ist Solidarität von Individuen, nicht Massen.“710 Oder mit den Worten Sartres ausgedrückt: „"Der Marxismus wird zu einer unmenschlichen Anthropologie degenerieren, wenn er nicht den Menschen als seine Grundlage reintegriert.“711 Sartre nach ´68: Rückkehr zu Flaubert oder was kann man heute von einem Mensch wissen? Sartres Flaubert Die letzten Arbeiten Sartres, in denen er noch von seinem Augenlicht gebrauch machen konnte, sollten zugleich der Versuch sein, nochmals ein großes Werk abzuliefern: Die Flaubert-Studien. Auf ungefähr 3000 Seiten sezierte Sartre Gustav Flaubert. Seine Frage? Nicht mehr und nicht weniger als: „Was kann man heute von einem Menschen wissen?“712 Einen weiten Weg hatte Sartre zurückgelegt von „Das Sein und das Nichts“, in dem das Subjekt Kulminationspunkt der Wahrheit war, bis hin zu den Sätzen, die den Flaubert einleiten: „Ein Mensch ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelheit wiederhervorbringt.“713 Die Beschäftigung mit Flaubert war Sartre nicht neu. Schon in „Das Sein und das Nichts“ widmete er sich über mehreren Seiten Flauberts Psyche714. Sein damaliger Beschluß über Flaubert? Eine Vertagung: „Wir hoffen, an anderer Stelle versuchen zu können, anläßlich Flauberts und Dostojewskis zwei Beispiele […] zu geben.“715 Tatsächlich sollte der Beginn des Flaubert-Buches erst Jahrzehnte später erfolgen – wieder mit Hilfe von Aufputschmitteln716 und wieder sollte das Werk unvollendet bleiben: „Den vierten Band könnte ein anderer schreiben“, so Sartre, „ausgehend von den dreien, die ich geschrieben habe. Trotzdem, dieser Flaubert nagt an mir wie ein schlechtes Gewissen.“717 Der „Flaubert“ stellte Sartres Versuch der Exemplifizierung seiner eigenen Theorie dar. Dieses monumentale Werk hatte nur den einen Sinn: Zu überprüfen, ob Sartre mit Sartres Theorie arbeiten konnte. Er selbst sagte über das Flaubert-Projekt: „Ziel meines Flaubert-Buches ist es nun, von diesen theoretischen Erörterungen, die letztlich zu nichts führen, wegzukommen und ein konkretes Beispiel dafür zu geben, wie man es hätte machen können. […] Die Frage, auf die ich in diesem Buch eine Antwort geben will ist folgende: Kann ich mit all diesem Methoden einen Menschen untersuchen, und wie bedingen sich diese Methoden dabei 710 Ebd., S. 220f Sartre, Jean-Paul (1964): Marxismus und Existentialismus, a.a.O., S. 191 712 Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie I, Reinbek bei Hamburg, 1986, in: Gesammelte Werke: Schriften zur Literatur 5, S. 7 713 Ebd. 714 Vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 958-963 715 Ebd., S. 986 716 Siehe Sartre, Jean-Paul: Selbstportrait mit siebzig Jahren, a.a.O. , S. 216 717 Ebd., S. 216 711 198 wechselseitig, welchen Stellenwert enthalten sie schließlich?“718 Warum ausgerechnet Flaubert? Sartre antwortet: „Er begann mich zu fesseln, gerade weil ich in ihm in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von mir selbst erkannte. Ich fragte mich einfach: «Wie war ein solcher Mensch möglich?»“ 719 Das genaue Gegenteil? War Flaubert, der bürgerliche Schriftsteller, Sartre so entgegengesetzt? Betrachtete man die Entwürfe, die beide ihrem Leben gaben, dann traf die Gegensätzlichkeit zu, warf man aber einen Blick auf die Tatsache, daß beide zu den größten Schriftstellern Frankreichs gehörten, so existierten zwangsläufig Parallelen. An anderer Stelle antwortete Sartre auf die Frage, warum er Flaubert gewählt habe: „Weil er das Imaginäre ist. Bei ihm bin ich an der Grenze, an der Schwelle zum Traum. […] Flaubert ist eine der sehr seltenen historischen oder literarischen Erscheinungen, die eine solche Menge an Informationen über sich selbst hinterlassen hat. Seine Korrespondenz enthält nicht weniger als dreizehn Bände, von denen jeder etwa 600 Seiten enthält.“720 Das Gegenteil von Sartre? Sartre hinterließ vier Bände Korrespondenz mit Simone de Beauvoir und unzählige Tagebücher, wobei das Gros dieser Seite des Sartreschen Werkes verlorengegangen ist. Flaubert war weniger das Gegenteil Sartres, denn würdiger Gegner auf gleicher Stufe. Zu fragen war also viel mehr: Wie näherte sich Sartre diesem verzerrten Spiegelbild seines eigenen Ruhmes? Die Methode Sartres war nicht neu. Er hatte sie in der „Kritik der dialektischen Vernunft“ und in „Marxismus und Existentialismus“ dargelegt. Auch wenn Sartre von der Subjektivität als „einzelnes Allgemeines“ sprach, so oszillierten Subjekt und Objekt doch ständig. Flaubert wurde als durch die Epoche hervorgebrachter Mensch dargestellt, der an ständig neuen Wendepunkten seines Lebens durch die eigene Entscheidung seinen Entwurf von sich machte. Diesen freien Entwurf fundamentierte Sartre auf der – wie er es nannte – „Urwahl“, um deutlich zu machen, daß sich hinter der freien Entscheidung ein Abbild der gesellschaftlichen Entwürfe im Kleinen widerspiegelte. „In dieser Urszene wird gemäß Sartres Theorie nicht das Unbewußte konstruiert, sondern das Subjekt als Einheit, freilich als eine falsche, als trügerische Einheit. Denn in der Konstitution, die nicht in reiner Passivität, sondern in einer Wahl erfolgt, nimmt das Subjekt das Bild des Anderen als seine Wahrheit an.“721 Man könnte – mit den Worten einer anderen Theorie – sagen, daß Sartre einen kriminologischen Diskurs gegenüber seinen Subjekten betrieb. Flaubert wurde seziert. Seine Kindheit säuberlich zerlegt in Kapitel, die die Namen „Vater“, „Mutter“, „der ältere Bruder“ oder „Die Geburt des jüngeren Bruders“ trugen. Flauberts jugendlicher Werdegang trug Überschriften wie „Das imaginäre Kind“, „Vom imaginären Kind zum Schauspieler“, „Vom Dichter zum Künstler“ und „Einen Beruf ergreifen“. Kurz: Flaubert wurde so haarklein mit dem sartreschen Besteck tranchiert, daß nach Fertigstellung aller Bände über Flaubert nur noch eins übrig blieb: Sartre. Flaubert? Aufgearbeitet und „alles was man von diesem Menschen wissen konnte“ war gesagt. Die Buchdeckel geschlossen - und Sartre hatte auch Flaubert besiegt, seine „Rechnung“722 war beglichen, Flaubert war „vom Hals geschafft.“723 718 Sartre, Jean-Paul: Sartre über Sartre, a.a.O., S. 173 Ebd., S. 175 720 Ebd., S. 174 721 Schneider, Manfred: Eine ästhetische Theorie des Trugs: «Saint Genet», in: König, Traugott (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 171 722 Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie I, a.a.O. , S. 7 719 199 Doch warum ausgerechnet Flaubert und nicht: „Alles was man über einen Arbeiter oder eine Versicherungsangestellte wissen kann“? Seine Freunde der „gauche proletarienne“ drängten Sartre einen „Roman für das Volk“ zu schreiben – gemeint war Agitationsliteratur. Doch dies war für Sartre ohne Reiz – hatte er doch schon einmal dieses Sujet betreten, und mittlerweile wußte er um den intellektuellen Preis. Mit Flaubert war eine andere Rechnung offen: Die Konzeption der „Madame Bovary“ stand der Sartreschen Philosophie diametral entgegengesetzt. Emma Bovarys Selbstmord schien den objektiven Umständen geschuldet gewesen zu sein: Die letzten Sätze, die Flaubert Charles Bovary sprechen ließ lauteten: „Das Schicksal ist daran Schuld“724 Eingeleitet wurden sie von der Kommentierung des Erzählers: „Er fügte sogar ein großes Wort hinzu, das einzige, daß er je gesprochen hatte.“725 Das große Wort von der „Schuld des Schicksals“ war mit Sartres früher Philosophie unmöglich in Einklang zu bringen. Eine Person war für Sartre „die absolute Selbstwahl“726, fern eines Schicksals objektiver Bestimmungen. Bei Flauberts Konzeption der Madame Bovary war klar, daß der Selbstmord Emmas das Resultat der sie erdrückenden Gesellschaft war – sie war Opfer der Umstände. „Emma Bovary gibt sich als Mensch ihren Leidenschaften, Ängsten und Wünschen, ihren guten und bösen Absichten hin, lebt sie, leidet an ihren Widersprüchen, scheitert an der Unmöglichkeit ihrer Lösung, wird immer beziehungsunfähiger, vereinsamt zunehmend, versucht vergeblich ihr Leiden durch Krankheit abzuwehren und zu heilen, und bringt sich um. Ihre Umwelt, das System, ihre Mitspieler und Beteiligten: ihr Ehemann, der Landarzt Charles Bovary, der Apotheker Homais, der Priester Bourisien, ihr Freund Léon und noch ein Dutzend anderer Figuren, haben allesamt keinen Anteil daran, hatten nur gute Absichten, haben vernünftig und wohlanständig gehandelt, haben getan, was zu tun war, sind unschuldig an dem Tod. Niemand kann ihnen einen Vorwurf machen.“727 Flauberts lieh sich die bürgerlichen Tugenden der handelnden Personen aus, um sie zu einem Werkzeug des Bösen zu machen: Jede tugendhafte Handlung des Einzelnen war harmlos für Emma Bovary – zusammen erzeugten Sie einen tödlichen Druck. Flaubert stellt in seinem Werk „ein System von Bürgern dar, die gute Mittel sind, verfügbar, selbstbeherrscht, arbeitsam, moralisch, gesund, in den Beziehungen untereinander aufgehend und in dem selben Maß auch erfolgreich, freilich um den Preis, im gleichen Maß das Menschsein aufzugeben.“728 Jeder von Ihnen war ein „einzelnes Allgemeines“, aber kein allgemeines Einzelnes. Das war Sartres offene Rechnung: Wie kam ein Mensch wie Flaubert dazu die „Madame Bovary“ zu schreiben? Wie kam dieses behütete Kind, der „kleine Gustave“ dazu ein solches Werk zu verfassen?729 723 Vgl. Lévy: Bernard-Henry, Sartre, a.a.O., S. 130 Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Sitten der Provinz, Zürich, 1987, S. 404 725 Ebd. 726 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 953 727 Dörner, Klaus: Die Wiedergeburt der Psychiatrie aus der Philosophie in Sartres Flaubert und die Kritik an Sartre daraus, in: König, Traugott: Sartres Flaubert lesen. Essays zu Der Idiot der Familie, Reinbek bei Hamburg, 1980, S. 80 728 Ebd., S. 81 729 Beantwortet werden kann diese Frage hier nicht. Eine Zusammenfassung der Biographie Flauberts würde den Rahmen der Arbeit weit überschreiten. 724 200 Sartre setzte das Sezierbesteck an: Zweifache Entschlüsselung. „Als objektiver Ausdruck eines relativ subjektunabhängigen Bewandtniszusammenhanges, der sich vor allem als Sprachsystem manifestiert, und subjektiv als Einheit von Stilmerkmalen, in denen sich die individuelle Art und Weise kundgibt, wie ein bestimmtes Subjekt diesen Zusammenhang aneignet und aufhebt, teils ihn erhaltend, teils ihn verändernd.“730 Mit Sartres Worten: „Das er [der Mensch, S.O.C.] durch die einzelne Allgemeinheit der menschlichen Geschichte allgemein und durch die allgemeinmachende Einzelheit seiner Entwürfe einzeln ist, muß er zugleich von beiden Enden her untersucht werden.“731 Dabei benutzte Sartre neue Begriffe. Mit „Konstitution“ bezeichnete er das, „was man aus jemanden gemacht hat“. Dem gegenüber stand sein Begriff der „Personalisation“, womit er das „Überschreiten“732 dessen, was die Konstitution der Person ausmachte, bezeichnete – in seinen früheren Worten: der freie Entwurf eines Menschen. Vieles in Sartres Flaubert erinnerte an die Zeit von „Das Sein und das Nichts“. Es schien, als habe Sartre seine alten Fäden wieder aufgenommen und versuchte nun in einem gewaltigen Unterfangen alles, was er an Begriffen entworfen hatte, noch einmal anzuwenden, doch diesmal sollten die Leerstellen gefüllt werden. Was in „Das Sein und das Nichts“ fehlte wurde nachgeliefert. Sartre beschrieb, wie ein Mensch gemacht wurde und sich gleichzeitig selbst erschuf. Die Analyse der Kindheit wurde zu einem zentralen Moment der Sartreschen Methode zur Dechiffrierung Flauberts: „Die Zuneigung des Kindes kann aufrichtig, das heißt empfunden sein. Die Bravheit des Kindes dagegen ist eine Vorführung: das Kind gibt sich gerne dafür her, es sagt was die Eltern von ihm verlangen, wiederholt die Gesten, die ihnen Gefallen, es stellt dar.“733 Sartre versuchte nun, die Anteile des Gemacht-Seins stärker zu konnotieren als er dies in „Das Sein und das Nichts“ getan hatte, ohne dabei die ihm eigene Methode des Transzendierens der subjektiven Entwürfe ad acta zu legen. Auch bei Flaubert konstatiert er: „Leider war der Übergang zur Reflexion unvermeidbar.“734 Sartre schwenkte nicht einfach um: Das Subjekt war nicht bedeutungslos geworden, vielmehr ging es Sartre jetzt darum die „Urwahl“ des Einzelnen mit ihrem Brüchen und Kontinuitäten aufzuzeigen. Das ganze sartresche Begriffsuniversum kam noch einmal zum Tragen: Der Entwurf, die Anderen, der Blick, die Imagination, usw. Es schien als wolle Sartre selbst noch einmal Zeugnis vor seiner eigenen Theorie ablegen – diesmal den Einfluß der Gesellschaft, des Objektes miteinbeziehend. Den jungen Flaubert analysierte er folgendermaßen: „Der Unterschied zwischen dem Schauspieler und dem kleinen Gustave, der sich ebenfalls den ganzen Tag lang irrealisiert, besteht darin, das dieser es blind tut unter dem Einfluß von Impulsen, die er nicht kennt und für Zufälle und zugleich für schlaue Inspirationen hält; im übrigen verliert sich das Kind: so, wie es die Imagination betreibt, geht sie im Nicht-Sein auf, ist sie eine Auflösung des Seins, zumal es ohne Auftrag operiert; trotz bestimmten Wiederholungen vage und verschwommen, kommt diese Irrealisierung nicht wie eine Aufgabe auf Gustave zurück; er weiß nicht einmal, daß er dabei die Anderen auffordert, ihn entweder zu demaskieren oder sich mit ihm zu irrealisieren: er spielt vielmehr; wir wissen es, damit das Irreale – das heißt 730 Frank, Manfred: Das Individuum in der Rolle des Idioten. Die hermeneutische Konzeption des Flaubert, in: König, Traugott: Sartres Flaubert lesen, a.a.O. , S. 101 731 Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie I, a.a.O., S. 7 732 Ebd., S. 655 733 Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie II, a.a.O., S. 32 734 Ebd., S. 144 201 der Schein hier die Erscheinungsform und dort das unwiederbringliche Sein ist, gegen das er sich ständig wappnet. Kurz, er ist ein mythomaner Schauspieler, das heißt, er ist sich bewußt, daß er sich scheinbar verwandelt, damit die Anderen, die sich mehr oder weniger täuschen lassen, diesen Schein für sein Sein halten, ihm diesen Schein durch ihr offensichtliches Glaubenschenken als sein Sein zurückschicken und ihn davon überzeugen, daß er es ist.“735 Kam das nicht bekannt vor? Erinnern diese Sätze nicht an den Kellner Pierre aus „Das sein und das Nichts“, der das Kellner-Sein spielte? Und dennoch war etwas anders geworden: Die Verbindung vom Einzelnen zu den Anderen, das SichMachen, bekam ihr Pendant in der Rückkopplung des Gemacht-Seins durch die Anderen. Das dialektische Moment bestand in der Bewußtwerdung des GemachtSeins, der – wie Sartre schrieb – „dialektischen Progression“736. Diese Bewußtwerdung auf erhöhter Stufenleiter markierte einen aufgehobenen Subjektbegriff, aufgehoben im dreifachen Sinne: Getilgt, Erhoben und Bewahrt. Getilgt war der subjektive Zustand des blinden Folgens, des reinen GemachtsSeins, da das Subjekt um die determinierten Anteile der Persönlichkeit sowie seiner Prägung wissen konnte. Erhoben, da ein Bewußtseinsstand erreicht war, der über der „sinnlichen Gewißheit“ (Hegel) stand. Bewahrt waren der Status der Würde des Subjektes und seine exponierte Stellung in der sartreschen Philosophie. In jedem Fall war Sartres Subjektbegriff reicher als zuvor. Ein um die deterministischen Anteile wissendes Subjekt war Sartres Ausweg aus dem Dilemma zwischen Selbstbestimmung und Prägung. Letztlich war dies die Rechtfertigung der eigenen Existenz als kritischer Romancier, Schriftsteller und Philosoph und des Begreifens um die eigene Subjektivität. 3.000 Seiten Flaubert waren geschrieben, und wenn Sartre selbst über „Das Sein und das Nichts“ sagte, daß es „stinklangweilige Passagen geben würde“, dann galt das ebenso für den Flaubert. Die epischen Ausmaße der Flaubert-Bücher verweigerten ihm eine breite Leserschaft ebenso, wie das Fehlen des für Sartre sonst so typischen Aktualitätsbezugs seiner Philosophie. „Das Sein und das Nichts“ versuchte dem Individuum seinen Platz in einer totalitären Welt zurückzugeben, die „Kritik der dialektischen Vernunft“ suchte danach die marxistischen Debatten der Zeit zu fassen und weiterzuentwickeln, aber der „Flaubert“ war mehr Sartres Kampf mit sich selber denn eine Neufassung oder auch Weiterentwicklung seiner Philosophie. So wurde der Flaubert mit Respekt zu Kenntnis genommen, aber im Gegensatz zu Sartres früheren Schriften blieb er unbeachtet. Der letzte Gang Sartre und Marcuse: Alter und Tod In der Fülle der Literatur, die sich über beide Autoren finden läßt, sind die Stellen, die von persönlichen Begegnungen handeln, rar gesät. Das erste gemeinsame Treffen zwischen Sartre und Marcuse fand wohl im Jahr 1974 statt. Ein weiteres, persönliches Treffen kam in der Wohnung von Simone de Beauvoir zustande. Wenig bis gar nichts ist darüber bekannt. Worüber haben sie gesprochen? Worüber bestand Konsens und wo nicht? Bekannt ist lediglich, daß Marcuse geäußert haben soll, daß Sartre schon immer sein großes Vorbild gewesen sei. Mehr weiß man nicht. 735 736 Ebd., S. 148 Ebd., S. 929 202 Im Jahr 1979 starb Herbert Marcuse in Deutschland. Im Gegensatz zu Sartres Tod, der von Simone de Beauvoir chronologisch in der „Zeremonie des Abschieds“ festgehalten und seziert wurde, ist von Marcuses letzten Tagen und Wochen wenig bekannt. Im Frühling 1979 kehrte er nach Frankfurt zurück, um an den Römerberggesprächen teilzunehmen. Bis zum Schluß blieb er seiner Linie im Kampf um das Subjekt treu: „Es geht um jeden Einzelnen und die Solidarität von einzelnen; nicht nur um Klassen und Massen.“737 Daß Marcuse ausgerechnet in Deutschland starb, jenem Land, dem er nach seiner Vertreibung den Rücken kehrte, und nicht in seiner Wahlheimat USA, mag die Rache des Weltgeistes gewesen sein, dem er in die Nüstern spucken wollte. Andererseits sah Marcuse in Europa große Potentiale für eine bessere Welt und so hatte das Schicksal vom Ort seines Todes vielleicht doch etwas von seinem Denken und Leben gegen den Weltgeist. Sein Sohn Peter resümierte: „Ich hatte nicht vollständig begriffen, wie persönlich und tief das Engagement meines Vaters in unmittelbare politische Aktivitäten war, bis ich ihn diesen Sommer in Europa sah und die Rolle, die er spielte… Die Möglichkeiten dort schienen ihm günstiger für ein direktes Engagement zur Veränderung der Welt – und es ist sicher nicht sein geringstes Verdienst, daß wir heute noch ernsthaft sagen können: die Welt verändern.“738 Sartre lebte bis zu seiner Erblindung zwei parallele Entwürfe: Der eine bestand darin, der Autor von „Der Idiot der Familie“ zu sein, der Andere im Weiterführen seines politische Engagements. Mit dem Verlust seines Augenlichtes blieb von der schaffenden Tätigkeit, außer der Weiterführung der beiden Entwürfe im Privaten wenig übrig. Auf der einen Seite Simone de Beauvoir und der Kreis von „Les Temps Modernes“, auf der anderen Seite Pierre Victor, alias Benny Lévi und die Maoisten. Doch in den letzten Jahren war Sartre mehr von Pierre Victor fasziniert als von seinem alten Kreis. Ungeklärt ist, ob sich Sartre im Zustand schleichender Demenz befand und den Gedanken Pierre Victors nicht standhalten konnte, oder ob er sich – wie BernardHenri Lévy behauptet – nochmals zu einem neuen Denken aufschwang. In der Beschreibung des Sartreschen Zustandes sind sich Lévy und de Beauvoir einig. Lévy schreibt über das Jahr 1974: „Damals traf ich mit Sartre selbst zusammen: ein aufgedunsenes Gesicht; der kleine gebrechliche Körper […] – eine übertriebene Wachsamkeit des Auges wie auch eine Schwäche in der Stimme, die nicht zu ihm paßte und die ihn daran hinderte, die Worte deutlich zu artikulieren.“739 Die folgenden sechs Jahre bis zu Sartres Tod sollten einen weiteren Verfall seines Körpers bedeuten – der jahrelange Corydran-, Alkohol- und Tabakmißbrauch machte sich bemerkbar. Doch Sartre zeigte keine Reue – seinem eigenen Ausspruch zufolge, daß es wichtiger gewesen sei die „Kritik der dialektischen Vernunft“ geschrieben zu haben und dafür ein bißchen ruinöser zu sterben. In diese Atmosphäre des körperlichen Verfalls trat also Pierre Victor, der junge Studentenführer der „Gauche Proletarienne“ – selbst in einer Übergangsphase – in Sartres Leben ein. Pierre Victor und seine Gruppe hatten Sartre einst aufgesucht, nachdem Ihre Zeitung verboten worden war. Sie erhofften sich, daß das Etikett „Herausgegeben von Jean-Paul Sartre“ die Zeitung vor weiterer Verfolgung schützte. So konnte man dem bizarren Schauspiel bewohnen, daß der Philosoph 737 taz, 31.7.1979, zit. n.: Claußen, Detlev: Spuren der Befreiung, a.a.O., S. 45 Ebd. 739 Lévy, a.a.O, S. 593 738 203 von Weltrang mit Millionauflage auf den Pariser Strassen zusammen mit Simone de Beauvoir die kleine illegale Zeitung „La Cause du Peuple“ unter die Menschen brachte. Was blieb war die Beziehung zu Pierre Victor. Dieser lebte unter Pseudonym, um seinen wirklichen Namen – Benny Lévi – aus Angst vor der Ausweisung zu verbergen. Die Beziehung zu Lévi war Sartre so wichtig, daß er – dies verdient Erwähnung – dem Präsidenten Giscard d´Estaing persönlich schrieb, um für Victor die französische Staatsbürgerschaft zu erbitten. D´Estaing gewährte die Bitte. Pierre Victor selbst befand sich im Übergang: Weg von der grauen Eminenz der Maoisten, hin zum religiös Suchenden. Nach dem Tod Sartres ging Levi diesen Weg weiter: erst durch den Anschluß an eine Yeshiva (einer Religionsschule), dann „in der Lektüre der Bibel, des Talmud, der Texte des Philon von Alexandria und der Schriften Emmanuel Levinas“740 in Jerusalem. Was war der Stein des Anstoßes, der die Debatte zwischen dem Kreis der „Les Temps Modernes“ einerseits und Lévi auf der anderen Seite auslöste? Eine Woche vor Sartres Tod erschien ein letzter Artikel, besser: ein letztes Gespräch, in dem Sartre mit allem was er bisher geschrieben hatte, erneut radikal brach. Der lebenslange Atheist Sartre sprach darin sogar von der „Auferstehung des Fleisches“. „Den völlig verblüfften Lesern des Novelle Observateur verkündete Sartre also, daß die Bibel einem Philosophen genauso viel zu denken gebe wie Platon, der Rabbi Aktiva genausoviel wie Hegel oder Husserl und daß er, Sartre, so Gott will die ihm verbleibende Zeit dringend darauf verwenden möchte, die beiden Quellen, die beiden Ethiken und die beiden Religionen miteinander zu verbinden, um das biblische Denken mit dem griechischen und dem prophetischen Diskurs mit dem logozentrischen in Einklang zu bringen.“741 Zweifelsohne: Der Einfluß Lévis ließ sich nicht verhehlen. Er warf mehr Fragen auf, als Antworten gegeben werden konnten: Hat Sartre „die unruhige Seele geahnt, die auf der Suche nach etwas anderem war – hat er […] den potentiellen Konvertiten erraten, welcher bereits im Begriff war, von Mao zu Moses und von den Mythologien der Revolution zum heiligen Buchstaben des Talmuds überzugehen? Faszinierte ihn Victors Judentum?“742 War es Victors Weigerung, Sartres physische Schwäche wahrzunehmen oder zu respektieren?743 Gab er ihm das Gefühl, immer noch im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein? War er der einzige gewesen, „der wahnwitzigerweise daran geglaubt hatte, daß ein Werk zu zweit daraus hervorgehen würde und auf diese Weise Sartres Werk weitergeführt werden könnte“744? Oder wurde Sartre, wie Simone de Beauvoir schrieb, einfach manipuliert? War es so, daß „Victor zungenfertig war, er [ihn] mit Worten überschüttete, ohne ihm die Zeit zu lassen, die er benötigt hätte, um sich eine Meinung zu bilden?“745 War es für Sartre die Frage „auf die wichtige Verlängerung seiner selbst zu verzichten“746, 740 Vgl. Ebd., S. 595 Ebd., S. 600 742 Ebd., S. 596 743 Vgl. Cohen-Solal, a.a.O., S. 749 744 Vgl. Ebd., S. 750 745 De Beauvoir, Simone: Die lange Zeremonie des Abschieds, a.a.O., S. 155 746 Ebd. 741 204 die Victor bedeutete? Nötigte er Sartre seine Meinung auf?747 Hatte dieser „tagelang gegen Victor angekämpft, bis er, der Kämpfe überdrüssig, nachgab“748? Schlüssig ist, daß Sartre Zeit seines Lebens Atheist war, und wenn er über Religion sprach, war er nur an ihrer Dechiffrierung interessiert, statt an ihrer Anwendung. Bernard-Henry Lévys Sartre-Biographie wird das Verdienst zu Teil, diesen späten, alten Sartre ernst genommen zu haben. Er interpretierte Sartre aus jüdischer, nichtmarxistischer Sicht, allerdings um den Preis des Verlustes der radikalen Sartreschen Gesellschaftskritik. Für Levy ließ Sartre ein letztes Mal „die Knochen im Kopf zerschlagen“ und die „Versteinerung seiner eigenen Ideen“ zertrümmern, um zu einer neuen Philosophie zu gelangen, einer Philosophie die sich Lévi zufolge auf vier Eckpfeiler berufe: Handeln, Gemeinschaft, Geschichte und Moral. Den Bruch mit dem Marxismus sah Lévi als Konsequenz der Weiterführung der Sartreschen Philosophie: „Schließlich waren alle revolutionären Ideologien – alle Varianten des Marxismus, Leninismus, Stalinismus, Maoismus – in einem Geschichtsbild befangen, das eine »mehrstufige« Abfolge von Produktionsweisen vorsah, die nach einer blutigen, weil unerbittlichen Logik bis zur versprochenen Apokalypse aufeinander folgen.“749 Bezeichnenderweise setzte Lévi das Ende der bürgerlichen Gesellschaft mit der Apokalypse gleich – weit mehr wären statt dessen die Paradiesvorstellungen zu kritisieren, die aus vielen revolutionären Schriften nur nach einer Katharsis, ähnlich der Kreuzigung Jesus, hervorging. Tatsächlich war das gängige Revolutionsmodell durchaus christlich motiviert: Revolution als Auferstehung, der revolutionäre Weg als Leidensweg der Kreuzigung. Lévi setzte diesem das Konzept des jüdischen Messias entgegen: „Vom jüdischen Messias wird dagegen gesagt, daß seine Ankunft bevorstehe und das er zugleich bereits da sei, in jedem Augenblick, in der Seele und in den Handlungen jedes einzelnen Individuums, sofern dieses denn Vorschriften des heiligen Gesetzes gemäß lebe; und damit wird nicht nur dem marxistischen Ökonomismus und dem Reiz des Illegalen, sondern der eschatologischen Illusion eine Absage erteilt, welche, indem sie das Ende auf ein genaues Datum festlegt, ebenso wie viele andere Begradigungen des Geschichtsverlauf das unbarmherzige Gesetz des Massakers rechtfertigt. Der jüdische Messianismus gegen die Fortschrittsmythologie: das ist eine erste Leistung und zwar eine gewaltige.“750 Anders ausgedrückt: Das nach religiösen Gesetzen lebende Subjekt trage den Messias bereits in sich, durch die Handlung, dem Gesetz folgend, könne Krieg und Gewalt fast ausgeschlossen werden. Lévi verfolgte einen radikalen religiösen Subjektivismus, der letztendlich die Auswirkungen des Objekts Gesellschaft auf die psychologische Konstitution der Einzelnen leugnete und an ihrer statt den „Messias des Alltags“ setzte. Doch genau dies war das frühere Sartresche Thema: Der Widerspruch zwischen der Entscheidung des Einzelnen und den objektiven Zwängen des Systems. Kein Wunder also, daß Lévi triumphierte, als Pierre Victor alias Benny Lévy Sartre zum „jüdischen Sartre“ machte. Dieser erschien bei Lévi nach dessen „Denkleistung“ als glücklich und gelöst: Hegel sei „geknackt“, weil das jüdische Volk „metaphysisch gelebt hat und lebt“ und damit Hegel „ausgehebelt“ sei. 747 Ebd., S. 154 Ebd. 749 Lévi, a.a.O., S. 609 750 Ebd., S. 609 748 205 Warum Sartre dieses Denken übernahm bleibt ungewiß. Gewiß ist jedoch eines: Sartre war Zeit seines Lebens im Denken verführbar – weit verführbarer als Marcuse. Von Heidegger, der KPF, von Marx, von den Maoisten und zum Schluß von Lévi. Doch diese Verführbarkeit gehörte zum Sartreschen Denken selbst, damit es nicht erstarrte. Eine andere Frage als die, ob Sartre am Ende seines Lebens aus freien Stücken, Verführbarkeit oder Zwang so dachte, wie er es tat, ist viel wichtiger: Wäre Sartre zum Weltgewissen geworden, zum „Jahrhundertmensch“ (Lévi) mit dem Denken seiner letzten Schriften? Mit Bestimmtheit kann dies Verneint werden. Sartres Originalität zeichnete sich gerade durch seine Verführbarkeit aus: Marx mit Heidegger zu verbinden, Hegel gegen Kant, Kant gegen Hegel, gegen beide mit Marx und dann mit Sartre gegen alle. Geblieben ist dem alten Sartre nur das „Sartre gegen alle“. Wie er mit Camus, Merleau-Ponty und vielen anderen brach, so brach er jetzt mit sich selbst. Mit dem Unterschied, daß er vorher die bewegenden Fragen der Zeit in seiner Philosophie auffing und weiterdachte. Doch genau dies fehlte Sartres letztem Text, auch wenn Lévi davon schreibt, daß es der Auftakt eines neuen großen Werkes sein könnte. Doch diese Zeit war für Sartre vorbei. Bereits der „Flaubert“ war eine Sache, die Sartre mit sich selbst ausmachte – danach konnte nicht mehr viel kommen. Befreit von dieser Last war Sartre ein Schatten seiner selbst. Der schwache Körper, den Sartre stets dem Geiste unterordnete, zollte seinen Tribut und machte ihn auf ein Fehlen seiner Philosophie aufmerksam: die Körperlichkeit. Das sensitive Moment war nicht Sartres Sache: Die Kraft des Denken überstrahlte alles. Und nun, da der Körper schwächer und schwächer wurde, mußte der Geist sich von diesem Körper ein letztes Mal lösen. Wohin? In die Heiligkeit, in die Religion – denn die Bedeutungslosigkeit hätte Sartre niemals akzeptiert. Doch auf keinen Fall hätte Sartre den Weltruhm erlangt, den er genoß, wenn seine letzte Schriften die Essenz seines Denkens dargestellt hätten. Kaum ein Jahr nach Marcuses Tod starb auch Sartre – seinem Sarg folgten 50.000 Menschen751, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Man sprach von der letzten Demonstration 68er. Sie kamen nicht, um seinen letzten Text zu diskutieren. Sie kamen, um Sartre für sein Leben zu danken, jenseits dieser letzten Sartreschen Eskapade. 751 vgl. Cohen-Solal, a.a.O., S. 781 206 6. Das Ende der bipolaren Welt: Globalisierung und Neoliberalismus als Totengräber des Subjekts – Subjektivität nach Marcuse und Sartre „HEUTE SIND REVOLUTION UNMÖGLICH, UNS DROHT DER BLUTIGSTEN UND SINNLOSES DER KRIEG, DIE BESITZENDEN KLASSEN SIND SICH IHRER RECHTE NICHT MEHR SEHR SICHER, UND DIE ARBEITERKLASSE IST IM RÜCKGANG; WIR SEHEN DIE UNGERECHTIGKEIT DEUTLICHER ALS JE ZUVOR, UND WIR HABEN WEDER DIE MITTEL NOCH DEN WILLEN, SIE WIEDERGUTZUMACHEN; DOCH DIE UNGEHEUREN FORTSCHRITTE DER WISSENSCHAFT GEBEN DEN KÜNFTIGEN JAHRHUNDERTEN EINE BEDRÄNGENDE GEGENWART; DIE ZUKUNFT IST DA, GEGENWÄRTIGER ALS DIE GEGENWART: MAN WIRD AUF DEN MOND FLIEGEN, MAN WIRD LEBEN SCHAFFEN, VIELLEICHT.“ JEAN-PAUL SARTRE “DER REVOLUTIONÄRE KAMPF GEHT UM DIE STILLSTELLUNG DESSEN WAS GESCHIEHT UND GESCHEHEN IST – VOR ALLEN POSITIVEN ZIELSETZUNGEN IST DIE NEGATION DAS ERSTE POSITIVE. WAS DER MENSCH DEM MENSCHEN ANGETAN HAT MUß AUFHÖREN, RADIKAL AUFHÖREN – DANN ERST UND DANN ALLEIN KÖNNEN DIE FREIHEIT UND DIE GERECHTIGKEIT ANFANGEN.” HERBERT MARCUSE 10 Jahre nach dem Tod Marcuses und 9 Jahre nach dem Tod Sartres fiel die Mauer des kalten Krieges. Nachdem beide ihr Leben lang für die exponierte Stellung des Subjekts in Theorie und Praxis gegen die erdrückende Macht der gesellschaftlichen Systeme gekämpft hatten, brach die bipolare Welt zusammen. Die erste Bresche in das kommunistische System des Ostblocks wurde 1980 am Tor der Danziger Leninwerft geschlagen. Zwei Monate lang bestreiken die Arbeiter die Leninwerft, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu erzwingen. Am Ende unterzeichnete Lech Walesa in Danzig ein Abkommen, das für einen "sozialistischen Staat" ein Novum war: Neben Lohnerhöhungen und einer besseren Versorgung mit Lebensmitteln gestanden die polnischen Kommunisten erstmals die Gründung unabhängiger Gewerkschaften zu. 207 Die "Solidarnosc" entwickelte sich in der kurzen Zeit ihrer legalen Existenz zum Sprachrohr für Demokratie und Menschenrechte. Selbst ihr Verbot und die Verhängung des Kriegsrechts 1981 konnten ihren wachsenden Rückhalt in der Bevölkerung nicht unterdrücken. 1989 brach Polen als erstes Land mit der Einparteienherrschaft der Kommunisten. Das polnische Beispiel beschleunigte die Entwicklung in Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei. Doch schnell entpuppte sich der neue Frühling der Freiheit als kurzer: Bald wurde deutlich, daß sich die Lebensbedingungen der meisten Menschen im ehemaligen Ostblock nicht verbesserten. Auch im Westen bedeutete der Sieg über den ehemaligen Kontrahenten im Osten meist den Wegfall vormals erkämpfter sozialer Rechte. Mit dem Wegfall des Staatskapitalismus im Osten erschien das Modell des westlichen Kapitalismus als alternativlos. Die große Legitimation des Westens – ihr Konzept der liberalen Demokratie – brauchte nicht mehr wie ein Schutzschild gen Osten gehalten zu werden. Das real existierende kommunistische Wirtschaftssystem war zwar Tod, doch der westliche Kapitalismus war ebenfalls in keinem guten Zustand: In fast allen Industrienationen stieg die Arbeitslosigkeit nach der Weltwirtschaftskrise von 1973 rapide an und trotz eines Wirtschaftsaufschwungs Mitte der 80er Jahre erholte sich der Kapitalismus westlicher Prägung nicht mehr von der Massenarbeitslosigkeit, deren vorläufiger Höhepunkt in Europa Mitte der 90er Jahre erreicht war und seitdem mehr oder weniger stagnierte.752 Mit dem Wegfall der bipolaren Welt war noch ein anderes Szenario zu beobachten: Der Nationalstaat hatte eine bedeutende Schwächung erfahren. „Seit dem Zeitalter der Revolution war er die zentrale politische Institution gewesen, und zwar kraft seines Monopols auf Recht und staatliche Amtsgewalt und dank der Tatsache, daß er zu fast allen Zwecken den Wirkungsbereich für politische Aktion konstituierte. […] Er begann seine Macht rapide an supranationale Entitäten zu verlieren, und absolute Macht insofern, als die Auflösung von großen Staaten und Imperien eine Vielzahl an kleineren mit sich gebracht hatte, die zu schwach waren, um sich in einem Zeitalter internationaler Anarchie behaupten zu können. Und er verlor sein Gewaltmonopol und die historischen Privilegien, die ihm innerhalb seiner Staatsgrenzen zugekommen waren, was sich nicht zuletzt mit der Zunahme von Sicherheits- und Schutzorganisationen und privaten, mit der Post konkurrierenden Kurierdiensten ausdrückte, die ja bislang effektiv überall einem staatlichen Ministerium unterstanden hatten.“753 Dabei ließen sich gegenläufige Tendenzen beobachten: Nach dem Zusammenbruch der UdSSR teilte sich der ehemalige Ostblock in Klein- und Kleinststaaten auf, während die europäischen Länder des Westens ihre ökonomische und politische Union weiter vorantrieben und sogar der bisherigen Weltwährung, dem Dollar, durch den Euro Konkurrenz machten. So die UdSSR nicht nur geschwächt, sondern implodiert förmlich, und an die Stelle des einstigen Imperiums traten lauter kleine Nationalstaaten, von denen die Meisten wohl auch auf absehbare Zeit mit den Attributen „arm und rückständig“ bezeichnet werden können. Die ehemalige Tschechoslowakei spaltete sich und das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien wird heute von unterschiedlichen neu gebildeten Staaten regiert. Die 752 Siehe: http://www.ksh.hu/pls/ksh/docs/eng/e2001/e303/e30303.html, Stand: August 2003 753 Hobsbawm, a.a.O., S. 708 208 politische Landkarte des Ostblocks hatte eine Neuordnung erfahren, und kaum ein Land existiert heute noch in den Grenzen, in denen es die letzten 50 Jahre verbrachte. Während der Osten also auf absehbare Zeit politisch lahm gelegt war, meldeten sich die westeuropäischen Nationalstaaten in Form eines vereinigten Westeuropas auf der Weltbühne zurück. Die Nationalstaaten des Westens waren also keineswegs bedeutungslos, doch waren sie mittlerweile von unten und oben ausgehöhlt worden. Sie waren in die Defensive geraten, gegenüber einer Weltwirtschaft, die sie nicht kontrollieren konnten und gegenüber Institutionen wie der Europäischen Union oder IWF, die sie selbst geschaffen hatten. Sie waren in der Defensive gegenüber ihrer scheinbaren finanziellen Unfähigkeit, all die Dienste, die sie zu Zeiten des kalten Krieges für ihre Bürger eingeführt hatten oder die sie weiter finanzierten, nunmehr nicht finanzieren zu können oder zu wollen. Die kleineren Nationalstaaten waren in der Defensive gegenüber multinationalen Konzernen deren Budgets oft die Steuereinnahmen eines kleinen Landes überschritten. Mit einem Marktkapital von über 240 Mrd. US$754 konnten Konzerne wie Exxon oder Microsoft problemlos mit dem Staatsbudget eines Landes wie Österreich konkurrieren.755 Die multinationalen Konzerne trieben (und treiben) die Konkurrenz der Nationalstaaten geschickt an: Meist produzierten sie an der Peripherie der drei Schlüsselregionen USA, Japan und Europa; „die japanischen Konzerne in Ostasien, die US-amerikanischen in Mexiko und die europäischen in Ostmitteleuropa“756 Das bedeutete, daß sich sowohl die Regierungen der Nationalstaaten sowie deren Arbeiter einem gewaltigen Konkurrenzdruck ausgesetzt sahen. Letztendlich profitierten in ökonomischer Hinsicht nur jene vom Zusammenbruch des Ostblocks, die auch zu Zeiten seines Bestehens nicht zu den Armen dieser Welt gehörten. Die Situation der Dritten Welt verschlimmerte sich weiter: Der französische Ökonom Frédéric F. Clermont faßte zusammen: „Allein die Schulden der Dritten Welt stiegen von 1 300 Milliarden Dollar 1992 auf 2 100 Milliarden Dollar Ende 2000, während die jährlichen Zinszahlungen im gleichen Zeitraum von 167 Milliarden auf 343 Milliarden Dollar anwuchsen. Die Schuldnerstaaten haben im Lauf der Jahre bereits ein Mehrfaches der geliehenen Summen zurückgezahlt. Und wer kein Erdöl zu exportieren hat, bekommt die Verlangsamung des amerikanischen Wirtschaftswachstums voll zu spüren.“757 Dabei traf das Problem der gigantischen Schulden der Nationalstaaten nicht nur die armen Länder – auch die Länder der Ersten Welt wendeten und wenden ein gros ihrer Steuereinnahmen zur Bezahlung alter und neuer Staatsschulden auf. Dabei vergrößerte sich auch die Kluft zwischen Arm und Reich in den Industrieländern: „Im Jahr 1998 verfügten die reichsten 10 Prozent der US-Amerikaner über 76 Prozent der nationalen Vermögenswerte, und mehr als die Hälfte dieser Werte 754 Financial Times Deutschland, Die Top Ten der Global 500 nach Branchen, http://www.ftd.de/ub/di/1053857173052.html?nv=se, Stand: August 2003 755 Österreichs Bruttosozialprodukt betrug 1998 211 Mrd. US$ aus: http://de.wikipedia.org/wiki/%D6sterreich#Wirtschaft_(Daten_1998), Stand: August 2003 756 Le Monde Diplomatique: Atlas der Globalisierung, Berlin, 2003. S. 31 757 In der Schuldenfalle: Das Ende des Wachstums in den USA, http://monde-diplomatique.de/mtpl/2001/05/11/a0012.stext?Name=askRZMCbj&idx=7, Stand: August 2003 209 konzentrierte sich in den Händen von einem Prozent der Bevölkerung.“ 758 Zur selben Zeit saßen und sitzen in den USA 1% der Bevölkerung – vornehmlich Schwarze – in Gefängnissen. Die Spaltung der Industrienationen in drei Klassen zeichnete sich seit Mitte der siebziger Jahre ab: Bourgeoisie, Proletariat und Subproletariat. Es entstanden typische Aus- und Abgrenzungsmechanismen zwischen den Klassen. Das Subproletariat, das in den Industrienationen mehr schlecht als recht vom Wohlfahrtssystem aufgefangen wurde, erntete vom Gros derjenigen Verachtung, das noch Arbeit hatte. In den Ländern der Dritten Welt entwickelten sich neben einer gigantische Ausmaße annehmenden Urbanisierung zu meist paramilitärische Feudalstrukturen. Und mit wenigen Ausnahmen schaffte es keine Regierung der Armut Herr zu werden. Die kurze Zeit der Hoffnung auf eine friedlichere Welt, die sich mit der Machtübernahme Gorbatschows verband, blieb von kurzer Dauer. So erleichternd Gorbatschows Kursänderungen „Glasnost“ und „Perestroika“ gewesen waren, so konzeptlos standen sie den ökonomischen Anforderungen der UdSSR gegenüber. Während im amerikanischen Mittelwesten eine Maschine ein Feld mit der Breite eines Fußballfeldes computergesteuert mähen konnte, brauchte die UdSSR zehn Traktoren um das Feld in derselben Geschwindigkeit mähen zu können. Die computergesteuerten Maschinen des Westens erledigten dieselbe Arbeit billiger und schneller als die personalintensive Produktionsweise des Ostblocks. Während die UdSSR der 20er und 30er Jahre vom Weltmarkt praktisch isoliert und damit krisenunanfällig gewesen war, konnte dies von der UdSSR des Jahres 1989 nicht gesagt werden. Es war die Ironie der Geschichte, daß die Krise des Kapitalismus der UdSSR den Todesstoß versetzte. So standen die USA als Sieger des kalten Krieges konkurrenzlos dar – aufgepumpt mit Militärtechnologie und bis über beide Ohren verschuldet; doch technisch war weit und breit keine Macht zu sehen, die ihnen militärisch hätte Paroli bieten konnte. So verwunderte es auch nicht, daß alle Kriegsparteien, die von den USA angegriffen wurden, bis auf die Führung der Baath-Partei im Irak 1991, lieber das Weite suchten, als sich auf ein Kräftemessen wie einst die Vietkong einzulassen. Während die Ökonomie also weiter mit der Krise kämpfte, entwickelte sich Anfang der 80er Jahre ein neuer Strang der Wissenschaften, der einer industriellen Revolution gleichkam: Die Informatik. Bereits Mitte der 60er Jahre konnte man an den entlegensten Plätzen der Welt beobachten, wie ein Indianer oder ein Tibetaner mit einem Taschenrechner seine Preise addierte. Am Anfang des neuen Jahrtausend zeichnen sich neue Klassenkämpfe an anderen Fronten ab: Durch Patentrecht und Copyright ist es den Bauern der Dritten Welt nicht erlaubt, das ergiebigere, importierte Getreide zur Saat anzupflanzen. Preiswerte Medikamente können nicht in den Länder der Dritten Welt für die Dritte Welt produziert werden, da es gegen das Patentrecht verstoßen würde. Das menschliche Genom, die Software des Menschen, ist im Begriff patentiert zu werden. Noch ist nicht abzusehen, welchen Weg der Kampf um das Patentrecht nehmen wird, doch soviel kann mit Sicherheit prognostiziert werden: Patentrecht und Copyright werden mehr zu Maximierung des Profits, denn im Sinne des Allgemeinwohls eingesetzt werden. 758 Ebd. 210 Mit der Durchsetzung des Computers, vor allem aber des Internets, begann eine technische Entwicklung, deren Ende ebenfalls noch nicht abzusehen ist, aber von der mit Sicherheit gesagt werden kann, daß sie die Weltkommunikation entscheidend verändert. Zwar war es durch Satelliten schon lange möglich Bilder und Ton von einem Ort der Welt zum anderen zu übertragen, aber mit der Erfindung des Internets war es möglich geworden einen Roboter am anderen Ende der Welt zu Kosten eines Ortsgespräches vom heimischen PC zu steuern. Der PC ersetzte praktisch alle technischen Kommunikations- und Unterhaltungsgeräte und das Internet machte es möglich alle Arten von Daten überall in der Welt zu versenden und zu empfangen. Dabei biß sich die Katze in den eigenen Schwanz: Was einst erdacht war, um im Falle eines Atomkrieges eine sichere Kommunikation zu gewährleisten, ist heute eben deshalb – im Guten wie im Schlechten – nicht kontrollierbar. Von den 10% der Weltbevölkerung, die binnen sieben Jahren Online waren, stammte der meiste Teil aus den Industrienationen. Man könnte sagen, daß Afrika nach dem Ende des kalten Krieges in jeder Beziehung Offline war. Der Zusammenbruch der UdSSR sicherte all jenen Parteien, die noch ein marxistisch-leninistisches Parteibuch hatten, – wenn sie sich nicht schon dort befanden – den Schritt in die völlige Bedeutungslosigkeit, wenn nicht gar ihre Auflösung. Lediglich in China und in Indien behielten sie ihre Bedeutung. Der Marxismus war – glaubte man den vermeidlichen Siegern – so Tot wie die UdSSR, dabei wurde meist kein Unterschied zwischen orthodoxem und anderen Spielarten des Marxismus gemacht. Im Zuge des Zerfalls der orthodoxen Marxisten verloren auch die Schriften Sartres und Marcuses an Bedeutung und an Aktualität. Wer wollte schon Marcuses Buch über den Sowjetmarxismus lesen, wenn es ihn nicht mehr gab? Wozu Sartres „Materialismus und Revolution“ studieren, wenn der offizielle Materialismus untergegangen war? Kurz: Mit dem Untergang des offiziellen Marxismus verloren auch seine exponiertesten Kritiker an Bedeutung. Das Veralten ihrer Theorien hing aber auch mit dem Verschwinden der 68er Bewegung zusammen. Nach dem weltweiten „heißen Herbst“ fragmentierte sich die Bewegung in Frauenbewegung, Ökologiebewegung, Hausbesetzerbewegung, Schwulenbewegung, etc. Nach dem Zusammenbruch des Ostens brachen zumeist auch die letzten Überbleibsel linker Gegenkulturen zusammen. Der Kapitalismus – so schien es – hatte auf ganzer Front gesiegt. Erst in den letzten Jahren formierte sich erneut Widerstand. In Seattle stürmten Demonstranten das Tagungsgebäude der IWF und in Prag und Genua kam es zu einer neuen sozialen Bewegung, die als „Globalisierungskritiker“759 bezeichnet werden. 759 Der Autor war in Genua und Prag, jedoch war für keinen der als „Globalisierungsgegner“ bezeichneten der Internationalismus ein Problem – im Gegenteil. Das Wort „Globalisierungskritiker“ verschweigt, was die meisten von ihnen tatsächlich sind: Kapitalismuskritiker. 211 Sartre and Marcuse revisited Die Übermacht der Gesellschaft Viele Dinge an Sartres und Marcuses Schriften sind in der gegenwärtigen Entwicklung des Kapitalismus genauso aktuell wie zur Entstehung ihrer Schriften – andere Dinge, die Auseinandersetzung mit der UdSSR, haben ihren Zeitkern überschritten. Gleichwohl lassen sich aus den Analysen des Sowjetmarxismus heute Lehren ziehen, um gegen die allzu oberflächliche Gleichsetzung von Marxismus und Realsozialismus vorzugehen, der Marx für alle Zeit diskreditieren soll und ein Residuum des Antikommunismus darstellt – in einer Zeit in der Kommunismus mit Ausnahme Nordkoreas und Kubas kein real existierender Kommunismus zu finden ist. Doch um die heutige Welt als Falsche zu entlarven genügt, ein einziger Gedanke Marcuses: Die aktuelle, historisch einzigartige Produktivkraft würde es erlauben der Welt eine Existenz ohne Hunger und Elend zu ermöglichen. Solange sie dies nicht ist, bleibt zu fragen wie sie es werden kann und warum sie es noch nicht ist. Die Frage, warum Millionenmassen ihre eigene Unterdrückung bejahen, hat sich nicht verändert. Im Gegenteil: „Eine komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit herrscht in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation, ein Zeichen technischen 760 Fortschritts.“ Mehr noch: Gegenwärtig befindet sich der Kapitalismus erneut in einer schweren Krise. Clermont beurteil die aktuelle Situation wie folgt: „Was uns bevorsteht, ist keineswegs die "sanfte Landung" oder die "Marktkorrektur", von der die Ideologen der Finanzsphäre ausgehen. Vielmehr erleben wir die ersten Anzeichen der schwersten Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs.“761 Nach dem Untergang der Massenpartei sozialistischen Typs fehlen in den westlichen Gesellschaften jene Kräfte, die noch in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Lage waren den neoliberalen Programmen entgegenzutreten. Durch das „Ankommen“ der 68er Bewegung in den Institutionen haben sich weniger die Institutionen, denn die ehemaligen 68er verrändert. Die großen Demonstrationen der 60er und 70er Jahre schufen eine außerparlamentarische Opposition, verbunden mit neuen kulturellen Leitbildern. Mit der Integration dieser bis heute letzte großen Bewegung, dem letzten „Hurra der alten Weltrevolution“ (Hobsbawm), fehlt heute ein gesellschaftliche Kraft, die in großem Maßstab gegen die verwaltete Welt vorgehen kann und eine Alternative zum herrschenden System darstellt. Anders gesagt: In der momentanen Phase des Kapitalismus herrscht ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Krise, dem ein historisches Minimum an revolutionärem Bewußtsein gegenübersteht. Durch die Existenz eines gigantischen Subproletariats ist es möglich geworden die Vision einer homogenen Arbeiterklasse als Träger der Befreiung weiter ad absurdum zu führen. Wenn Marcuse schrieb, daß „der Nationalsozialismus seinen Anhängern eingehämmert [hatte], daß die Welt eine Kampfbahn ist, in der der mächtigste und effizienteste Konkurrent das Rennen gewinnt“, so gilt daß bis heute. Die Konstitution der Subjekte entspricht der sie prägenden ökonomischen Ordnung. Solange das gesellschaftliche Ganze das 760 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O. , S. 21 Clermont, Frederik F.: Das Ende des Wachstums in den USA: In der Schuldenfalle, a.a.O. 761 212 Resultat blinder Kräfte ist, braucht es blinde Subjekte, die dagegen nicht aufbegehren. Noch heute gilt wie zu Marcuses Zeiten: „Die innere Struktur des menschlichen Daseins würde gerändert; das Individuum würde von den fremden Bedürfnissen und Möglichkeiten befreit, die die Arbeitswelt ihm auferlegt. Das Individuum wäre frei, Autonomie über ein Leben auszuüben, das sein eigenes wäre.“762 In den letzten hundert Jahren erlebten die Medien einen gigantischen Aufstieg. In keinem Land konnte eine Regierung dauerhaft gegen sie herrschen. Dort, wo sie nicht gleichgeschaltet wurden, waren sie zu meist Partner der Macht. Das Mittel der Zensur war im Westen überflüssig geworden. Der Blick in die Vergangenheit zeigt die Möglichkeit, die eine freie Presse gehabt hätte. So waren die Frühschriften von Marx noch zu einem großen Teil der Verteidigung der Pressefreiheit in Preußen gewidmet. Er schrieb: “Auch die Preßfreiheit ist eine Schönheit, [...] die man geliebt haben muß, um sie verteidigen zu können.”763 Die freie Presse ist heutzutage erreicht, das Recht auf freie Meinungsäußerung erkämpft. Doch wofür, wenn alles gesagt werden kann und dennoch die Veränderung hin zu einer Gesellschaft, die die Attribution “vernünftig” verdient, weiter entfernt ist denn je? Wenn Kulturindustrie die monströse Vermittlungsinstanz der Gegenwart ist? “Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert. [...] Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat.”764 Was geschieht mit der Freiheit auf dem Papier, wenn Kulturindustrie ein “Zirkel aus Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis” (Adorno) darstellt, in der die wenigen Äußerung, die während anderer Formen totalitärer Herrschaft der Zensur einheimgefallen wären, völlig unbedeutende Marginalien sind? Das Gros des heute Produzierten wäre nie zensiert worden. Die neuen Technologien politischer Herrschaft765 sind auf die Zensur gar nicht angewiesen. Es scheint, daß ein Typus von politischer Herrschaft dominiert, in dem all jenes, das einmal als subversiv angesehen wurde, aus den Selektionsrastern der Einzelnen im Verschwinden begriffen ist. “Die meisten jungen Menschen am Ende dieses Jahrhunderts wachsen in einer Art permanenter Gegenwart auf, der jegliche organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt.”766 Mit diesem Urteil eröffnet Hobsbawm seinen monumentalen Band über das 20. Jahrhundert. Diese “permanente Gegenwart” braucht sich nicht zu zensieren, da sie sich als das “Ende der Geschichte” ansieht, als sei die beste aller möglichen Welten. Mit dem Ende der bipolaren Weltordnung und des Stalinismus, der sich affirmativ auf Marx bezog, und demgegenüber sich Marx nur angeekelt abgewandt hätte, muß die Frage der Pressefreiheit anders diskutiert werden. Nicht daß dem Gestern ein Kompliment gemacht werden könnte, doch die ökonomischen Bedingungen für eine Welt der Freiheit sind in der Gegenwart vorhanden, “nur” das Bewußtsein zu ihrer Durchsetzung fehlt stärker denn je. Konnte Marx zu seiner Zeit im Proletariat noch einen kollektiven Akteur erkennen, erscheint dies heute mehr als fragwürdig. Pressefreiheit heute muß im Kontext der Freiheit für-wen gedacht werden. Oder mit den Worten Marcuses gesprochen: „Den kleinen und ohnmächtigen Gruppen, 762 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O. , S. 22 MEW 1, Berlin, 1956, S.33 764 Adorno, Theodor W und Horkheimer Max, Dialektik der Aufklärung, a.a.O. , S. 140 765 vgl. Foucault, Michele: Überwachen und Strafen, a.a.O. 766 Hobsbawm, a.a.O. , 1998, S. 17 763 213 die gegen das falsche Bewußtsein kämpfen, muß geholfen werden: ihr Fortbestehen ist wichtiger als die Erhaltung mißbrauchter Rechte und Freiheiten, die jenen verfassungsmäßige Gewalt zukommen lassen, die diese Minderheit unterdrücken. Es sollte mittlerweile klar sein, daß die Ausübung bürgerlicher Rechte durch die, die sie nicht haben, voraussetzt, daß die bürgerlichen Rechte jenen entzogen werden, die ihre Ausübung verhindern, und das die Verdammten dieser Erde nicht nur die Unterdrückung ihrer alten, sondern auch ihrer neuen Herren voraussetzt.“767 In fast allen Ländern der Welt existiert das Recht auf die freie Wahl des Berufes, Sklaverei oder Frondienste sind abgeschafft. An ihre Stelle ist der Vertrag getreten und mit ihm das bürgerliche Eigentum: Eigentum an Produktionsmitteln, wie Eigentum unveräußerlicher demokratischer Rechte. Durch die Aufrechterhaltung dieser Eigentumsäquivokation existiert Arbeit, die das Zentrum menschlichen Lebens und die mögliche Grundlage der Selbstverwirklichung hätte sein können, in den kapitalistischen Ländern nur als entfremdete. Die Freiheit, einen Beruf selbständig zu wählen, ist den meisten durch zahllose Selektionsmechanismen versperrt. Oder mit Sartre zu argumentieren: „Die Beschäftigung, als zu besetzende Stelle und zu spielende Rolle, bestimmt a priori die Zukunft eines abstrakten, aber erwarteten Menschen: soundso viele Ärzte- und Lehrerstellen etc. für das Jahr 1975 implizieren für eine ganze Kategorie von Heranwachsenden einerseits eine Strukturierung des Feldes des Möglichen, die aufzunehmenden Studien, und andererseits ein Schicksal: tatsächlich erwartet sich häufig, noch ehe sie geboren sind, sowohl die Stelle wie auch ihr gesellschaftliches Sein; dieses ist nämlich nichts anderes als die Einheit aller Funktionen, die sie tagtäglich zu erfüllen haben werden. So bestimmt die herrschende Klasse die Zahl der Techniker, des praktischen Wissens gemäß dem Profit, ihrem eigentlichen Zweck.“768 Die Möglichkeit der Entfaltung des Subjekts in Arbeit existiert für das Gros aller Menschen nicht. Arbeit entspricht immer noch dem etymologischen Ursprung des Wortes: Mühsal769. Noch immer stellt sie den Quell des Reichtums der Wenigen und Mühsal und Pein für die Meisten dar. Sie hat sich in ihrem Charakter der Mehrwertbeschaffung seit Marxens Zeiten nicht geändert. Noch immer ist die Demokratisierung der Ökonomie nicht verwirklicht. Verändert hat sich die Art und Weise der politischen Herrschaft. Der staatliche Souverän ist der Bürokratie gewichen, an deren Spitze, wie Hannah Ahrend sagte, immer ein bürokratischer Niemand steht. Die Techniker der Disziplinierung und Konditionierung des Subjekts sind feiner und durchdringender geworden. Auch hier sind Sartre und Marcuse so aktuell wie einst. Mit Sartre gesprochen: „Das System, das ist die Ohnmacht an der Macht.“770 Oder mit Marcuse argumentiert: „Verglichen mit ihren Vorgängerinnen, ist sie in der Tat eine »neue Gesellschaft«. Traditionelle Unruheherde werden jetzt beseitigt oder isoliert, auflösende Elemente gebändigt. Die Haupttendenzen sind bekannt: Konzentration der Volkswirtschaft auf die Bedürfnisse der großen Konzerne, wobei die Regierung sich als anregende, unterstützende und manchmal sogar kontrollierende Kraft betätigt; Verflechtung 767 Ebd., S. 121 Sartre, Jean-Paul, Plädoyer für die Intellektuellen, Reinbek bei Hamburg, 1995, S. 99 769 Kluge, Etymologisches Wörterbuch, Berlin, New York, 1999, S. 50 770 Sartre, Jean-Paul: Die Frösche, die einen König haben wollen, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, a.a.O., S. 83 768 214 dieser Wirtschaft mit einem weltweiten System von militärischen Bündnissen, monetären Übereinkünften, technischer Hilfe und Entwicklungsplänen; allmählicher Angleichung der Arbeiter- und Angestelltenbevölkerung, der Führungstypen bei den Unternehmer- und Arbeitgeberorganisationen, der Freizeitbeschäftigungen und Wünsche der verschiedenen sozialen Klassen; Förderung einer prästabilen Harmonie zwischen Wissenschaft und nationalem Anliegen; Angriff auf die Privatsphäre durch die Allgegenwart der öffentlichen Meinung, Auslieferung des Schlafzimmers an die Kommunikation der Massenmedien.“771 Dabei dringt der Mark immer weiter in jene Bereiche ein, die vormals nicht marktvermittelt organisiert waren. Das Gros der Massenkultur der Gegenwart reduziert die Klassenauseinandersetzungen meist auf die Ebene der Liebe. Hier darf zusammenkommen, was sonst nicht zusammengehört. Die Erfassung der Körper und des Geistes durch den Markt gleicht an, was nicht gleich ist. Mit Marcuse gesprochen: „Die Menschen treten in dieses Stadium als langjährig präparierte Empfänger ein; der entscheidende Unterschied besteht in der Einebnung des Gegenstandes (oder Konflikts) zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen, zwischen den befriedigten und den nicht befriedigten Bedürfnissen. Hier zeigt die sogenannte Ausgleichung der Klassenunterschiede ihre ideologische Funktion. Wenn der Arbeiter und der Chef sich am selben Fernsehprogramm vergnügen und dieselben Erholungsort besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv hergerichtet ist wie die Tochter des ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselben Zeitungen lesen, dann deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen teil hat, die der Erhaltung des Bestehenden dienen.“772 Dabei verschleiert die Kulturindustrie stärker denn je was wichtig ist und was nicht. Durch das Fehlen eines theoretischen Selektionsrasters wird die Wahrnehmung des Subjekts immer noch von repressiver Toleranz geleitet: „In der Überflußgesellschaft herrscht Diskussion im Überfluß und im etablierten Rahmen ist sie weitgehend tolerant. Alle Standpunkte lassen sich vernehmen: der Kommunist und der Faschist, der Linke und der Rechte, der Weiße und der Neger, die Kreuzzügler für Aufrüstung und die für Abrüstung. Ferner wird bei Debatten in den Massenmedien die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete, und Propaganda geht einher mit Erziehung, Wahrheit mit Falschheit.“773 Dabei hat sich die Welt keinesfalls zum besseren gewandelt. Der Hunger ist nicht besiegt, die Armut nicht verringert, sondern ausgeweitet, die Atomwaffen nicht vernichtet, sondern die Arsenale ausgebaut und die Umsetzung der Menschenrechte ferner denn je. Mit Sartre gesprochen: „[…] heute steht die sengende Sonne der Folter am Zenit und blendet alle Länder. Unter diesem Licht gibt es kein Lachen, das nicht falsch klänge, kein Gesicht, das sich nicht schminken müßte, um die Wut oder Angst zu kaschieren, keine Handlung, die nicht unseren Ekel oder unsere Komplizenschaft verriete.“774 771 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O. , S. 39 Ebd., S. 28 773 Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz, a.a.O., S. 105 774 Ebd., S. 27 772 215 Und dennoch hat der Kapitalismus westlicher Prägung eine erstaunliche Integrationsfähigkeit und Überlebensfähigkeit bewiesen. In den Ländern der Ersten Welt hat sich Auschwitz nicht wiederholt. Doch dies lag weit mehr an den Jahren des allgemeinen Wirtschaftswachstums, denn an der Richtigkeit des Konzeptes, die Ökonomie nicht zu planen. Am Anfang des neuen Jahrtausends ist noch nicht abzusehen, wie stark die gegenwärtige Krise des Kapitalismus sein wird. Wird sie wieder, wie in den 20er Jahren, die Arbeiter durch die Welt ziehen lassen um dorthin zu gelangen wo Arbeit ist? Welche Früchte des Zorns werden sie produzieren? Der Antisemitismus ist immer noch vorhanden und der Haß auf Fremdes ist nicht geringer geworden. Müssen die Worte Rosa Luxemburgs und Friedrich Engels wieder ins Bewußtsein gerückt werden? „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei. Was bedeutet ein »Rückfall in die Barbarei« auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte [von Engels, S.O.C.] bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen.“775 Doch heute ist es nicht mehr allein die europäische Zivilisation, die es von ihren technischen Möglichkeiten vermag das ganze Menschheitsgeschlecht auszurotten. Die kantische Frage bleibt: Kann die Menschheit der selbstverschuldeten Unmündigkeit entrinnen? Marcuse und die kritische Theorie verorteten den Nährboden für die Machtübernahme der Nationalsozialisten lange bevor diese tatsächlich an die Macht kamen. Über die damalige Situation schrieb er: „Je mehr sich die deutsche Arbeiterbewegung in die Arbeiteraristokratie und -bürokratie einerseits und die Masse der Arbeitslosen oder nur befristet Beschäftigten andererseits aufspaltete, desto mehr schwand der Glaube an die Verwirklichung des höchsten Ziels und wich dem Geist desillusionierter Sachlichkeit. In einer Volkswirtschaft mit zehn Millionen Arbeitslosen wurde Arbeit von einem Recht zur Vergünstigung, die effizientes und willfähriges Verhalten erforderte. Zudem hatten die Führer der Arbeiterbürokratie durch ihr Handeln den Desillusionierungsprozeß schon lange vor der Machtübernahme durch die Nazis eingeleitet. So war der Grund und Boden für die Eroberung durch den Nationalsozialismus bereitet: Die Aussicht auf Vollbeschäftigung und wirksame Kontrolle der Wirtschaftsprozesse wog schwerer als die Überreste sozialistischen Glaubens”776 Das Recht auf entfremdete Arbeit geht wieder einmal auf die Vergünstigung über. Welchen Nährboden bereiten die gegenwärtigen real existierenden Demokratien? Nach dem Anschlag auf das World Trade Center hat sich in fast allen westlichen Ländern das Verhältnis zwischen Regierung und Volk verschärft. Neben dem ökonomischen „Klassenkampf von oben“ werden in so gut wie allen Ländern neue Techniken der Überwachung eingeführt und legalisiert. Fußballstadien und öffentliche Plätze werden mit Kameras ausgerüstet, die in der Lage sind, die Gesichtsphysiognomie der Gefilmten mit einer Datenbank abzugleichen. Im Übereinstimmungsfall wird Alarm ausgelöst. Anhand moderner Funktechnologie 775 Luxemburg, Rosa: Die Krise der Sozialdemokratie, in: Gesammelte Werke 4, Berlin/Ost, 1987, S.62. In einem Gespräch sagte Marcuse, daß er bei der „letzten Massenveranstaltung, auf der Rosa Luxemburg teilgenommen hat“, anwesend war. Die Salecina-Gespräche, in: Habermas, Jürgen / Bovenschen, Silvia, u.a.: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1978, S.98 776 Marcuse, Herbert: Feindanalysen. Über die Deutschen, a.a.O. , S. 45 216 kann jedes Handy geortet werden, eine Geldabhebung am Automaten kann sofort nachverfolgt werden, und Tausende von Kilometern entfernte Satteliten sind in der Lage, die Schlagzeile einer Zeitung zu entziffern. Nicht die Technik war für die kritische Theorie das Problem: Sie könnte im Guten wie zum Schlechten angewendet werden. Problematischer erschien – wie auch für Sartre – der technische Logos, der die Subjekte selber zu Maschinen degradierte. Die zentrale Frage war also, wer die Herrschaft über die Technik ausübt: Die Nationalsozialisten identifizierten die Juden einst anhand der Unterlagen einer Volkszählung. Was hätten sie mit den neuen technischen Möglichkeiten anrichten können? Die Totenkopf-SS mit Nachtsichtgeräten, Wärmesensoren und computergesteuerter Ausrüstung? Werden all diese Überwachungsmechanismen nur installiert, um die Gesellschaften gegen den Terror zu schützen? Oder verlieren die Herrschenden ihre Legitimation und sorgen vor? Existieren all diese Instrumentarien nur zum Wohle der Menschen, oder stehen sie für den Moment parat, wenn sich die Massen doch noch einmal erheben, um für eine bessere Zukunft zu kämpfen? Auch Marcuse und Sartre wurde vorgeworfen, den Nährboden für den Terrorismus bereitet zu haben. Wann ist jemand Terrorist und wann Freiheitskämpfer? Wer bestimmt das? Was bedeutet ein »Rückfall in die Barbarei« auf unserer Höhe der Zivilisation? Freiheitliches, Gemeinsames Die Grundmotivation Marcuses und Sartres in ihrer Zeit als Existentialisten bestand darin dem Subjekt „zu Hilfe zu eilen“. Dieses Moment durchzog auch ihre späteren Philosophien wie ein roter Fader. Immer wieder kamen beide auf das Subjekt zu sprechen und immer wieder betonten sie die Notwendigkeit der Veränderung des Objekts zur Verwirklichung der Subjektivität. Beide sahen ihre Aufgabe als Intellektuelle in der Verwirklichung „des praktischen Subjekts und die Freilegung der Prinzipien einer Gesellschaft, die dieses hervorbringen und stützen würde.“777 Marcuse und Sartre ging es darum die Schnittstellen zwischen Individuum und Gesellschaft zu verstehen, um sie der Veränderung zugänglich zu machen. An diesem Relais zwischen Subjekt und Objekt, am Moment der gesellschaftlichen Vermittlung plazierten sich sowohl die kritische Theorie Herbert Marcuses, wie die existentialistische Jean-Paul Sartres. Sowohl Sartres „Marxismus und Existentialismus“, bzw. die „Kritik der dialektischen Vernunft“ wie Marcuses „Eros and Civilisation“ und „Der eindimensionale Mensch“ suchten nach einer Erweiterung des Marxismus im Verstehen um das menschliche Geworden-Sein. Permanent rangen sie um eine Konzeption des Subjekts zwischen Möglichem und Versperrtem. Dabei konzipierten sie zwei Subjekte: Zum einen waren ihre Schriften durchzogen von einem Subjekt, das entfremdet, verdinglicht und mit falschem Bewußtsein ausgestattet seinen Platz in einer falschen Welt einnahm. Dagegen stand ein Subjekt, das die beiden Intellektuellen eindrucksvoll vorlebten: Ein tätiges, denkendes, kritisches und sich einmischendes Subjekt, dem die Verdinglichungsmechanismen klar und bewußt waren und das gegen sie ankämpfte. 777 Sartre, Jean-Paul, Plädoyer für die Intellektuellen, a.a.O. , S. 112 217 Beide lebten nach dem Subjektbegriff von „Das Sein und das Nichts“. Es schien als galten für die beiden Philosophen zwei Theorien: Die eine für das Gros der Gesellschaft und eine andere für ihre eigene Praxis. Sie waren sich einig darüber, daß die übergroße Mehrheit der Menschheit in Knechtschaft und Entfremdung lebte; sie selbst aber verkörperten nahezu perfekt das Bild des vernunftgeprägten, freien Subjekts aus „Das Sein und das Nichts“. Man könnte sagen, daß ihr politisches Leben eine Gegensubjektivität zur präformierten Subjektivität darstellte. Die Theorie schützte sie des starken Subjekts vor so manchem Irrtum. Auch wenn die kritische Theorie und der französische Existentialismus bisher von der Prüfung der Macht verschont blieben, deutet doch vieles darauf hin, daß die Theorien Marcuses und Sartres ein Schutz gegen die Vereinnahmung der Einzelnen darstellen. Beide täuschten sich mehrfach: Marcuse über Cuba, China und Vietnam und Sartre darüber hinaus noch kurz über die UdSSR. Doch diese Täuschungen waren immer von kurzer Dauer: Sobald sie sahen, daß die Regime ihrem Ideal der mündigen Subjektivität widersprachen, zögerten sie nicht, ihre Zustimmung in radikale Kritik umzuformen. Der von Marx vorgegebene, kategorische Imperativ alle Verhältnisse umzuwerfen, in dem der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, war Maßstab ihrer Theorien und ihrer politischen Praxis. Jeder neuerliche Versuch einer Revolution wird wieder scheitern, wenn dieser Maßstab Sartres und Marcuses nicht berücksichtigt wird. Dabei nahm die Geschichte von Marcuse und Sartre einen seltsamen Anfang: Die Person Martin Heideggers war bestimmt nicht prädestiniert für das Unterfangen eine Subjekttheorie des Marxismus zu liefern. Daß Marcuse und Sartre sich – unabhängig voneinander – in ein solches Projekt begaben, zeugte mehr von der Hilflosigkeit der bürgerlichen Theorien die Welt zu erklären, denn von der Größe Heideggers. Ebenso zeigte es den Grad der Deformation der marxschen Theorie, daß der Versuch einer Erneuerung mit Heidegger gemacht werden sollte. 1947 schrieb Marcuse an Heidegger: „Wenn man an einen Weltgeist glaubt, möchte man ihn in der schreienden Ironie am Spiele sehen, die aus ihnen einen Vorläufer Sartres macht. Sollten Sie wirklich so in die Geistesgeschichte eingehen?“778 Während Marcuse als Schüler Heideggers schneller als Sartre von dem Plan abwich, Heidegger mit Marx zu verbinden, war Sartres Heideggerlektüre ein Widerstandsakt in deutscher Kriegsgefangenschaft. Zu dieser Zeit ließen sich höchst gegensätzliche Bewegungen beobachten: Sartre ging nach Berlin, aus dem Marcuse emigrieren mußte. Er laß Heidegger in einem deutschen Kriegesgefangenenlager, während Marcuse seine Theorie auf gänzlich andere Füße stellte. Marcuse analysierte das präformierte Subjekt, während Sartre die totale Freiheit des Menschen verkündete. Man könnte sagen, daß Marcuses Theorie der Sartreschen immer ein Stück voraus war, bis es galt in einer realen Bewegung leibhaftige Subjekte zu unterstützen. Hier rekurrierte Marcuse dann auf Sartre, was sie in große Nähe zueinander brachte. 778 Marcuse, Herbert / Heidegger, Martin: Briefwechsel, 28.August 1947, in: Jensen, PeterErwin, a.a.O., S. 135 218 Die Berichte über gemeinsame Treffen und Aktionen sind spärlich: Beide unterzeichneten einen Appell gegen die sowjetische Besatzung der Tschechoslowakei. 6 Jahre später ein Treffen – mehr nicht. Im Jahr 1974 nahmen sie in Paris gemeinsam an einer Diskussionsveranstaltung mit Gavi und Lévy teil – keine Protokolle, keine Aufzeichnungen. Danach trafen Sie sich in der Wohnung von Simone de Beauvoir. Sartres Gesundheitszustand war zu jener Zeit nicht gut – er verlor gerade sein Augenlicht. Marcuse soll zu ihm gesagt haben: „Sartre ist schon immer mein Über-Ich gewesen. Er will vielleicht nicht das Gewissen der Welt sein, aber genau das ist er.“779 Ob Marcuse wirklich von Sartre als „Über-Ich“ gesprochen hat mag, kann nicht mehr geklärt werden. Sicher ist, daß er für Sartre immer sehr nahe Worte gefunden hat, seine schönsten in seinem 6. Kapitel, das er der Neuauflage seiner alten Rezension über „Das Sein und das Nichts“ hinzugefügt hatte. Marcuse schrieb: „Wenn er, wie er fürchtet, eine »Institution« geworden ist, so wäre es eine Institution in der das Gewissen und die Wahrheit Zuflucht gefunden haben.“780 Marcuse stand Sartre in jenen Jahren so nah, daß er sogar mit ihm gegen Adorno argumentierte. Gegenüber Habermaß bestätigte Marcuse, daß Sartre der einzige gewesen sei, der ihn außerhalb des Frankfurter Einzugsbereiches zur intellektuellen Auseinandersetzung gereizt habe. Beiden war gemeinsam, daß sie die Subjektivität als Antipode zur Nation oder der Rasse konzipierten. Mit der Unterordnung des Einzelnen unter reale soziale Bewegungen konnten beide nur insofern etwas anfangen, da sie sich davon Befreiung versprachen: Befreiung von Rassismus, Ausbeutung, Entfremdung, Religion und Sexismus. Dabei kann es – sollte sich die Zivilisation einmal nicht mehr gegen das Traumbild einer Welt verteidigen müssen, die frei sein könnte – zu einem interessanten Paradoxon kommen. Der Subjektbegriff war bei Marcuse und Sartre immer als Verhältnisbegriff gedacht. Ihm gegenüber brauchte es das Objekt. Getreu Hegel hielten beide Subjekt und Objekt für gespalten und in einer besseren Welt zu versöhnen. Dabei könnte es passieren, daß der Subjektbegriff beider eine historische Schranke in dem Moment findet wird, wenn sich das Verhältnis von Subjekt und Objekt tatsächlich verändert. Beide konzipierten ein Subjekt, daß voller Ich-Stärke sein sollte, um dem erdrückenden Objekt Paroli bieten zu können. Die starke Betonung des Subjekts war in hohem Maße den erdrückenden Zeiten geschuldet. Der Begriff des Subjekts gewann als Verhältnisbegriff genau das, was an ihm Verhältnis war. Doch ein Verhältnis ohne Antipoden ist nicht denkbar. Die Versöhnung liegt also in der Aufhebung all dessen, was die Antipoden konstruiert. Mit der Aufhebung des übermächtigen Objekts hätte der Subjektbegriff seine Aufhebung in der bisherigen Form gefunden. Was dann das „Subjekt“ wäre, ließe sich nur sehr grob umreißen. Wahrscheinlich müßte „Das Sein und das Nichts“ neu gelesen werden. Dann könnte überprüft werden, ob es sich tatsächlich um ein anthropologisches Subjekt gehandelt hatte. Was wären die subjektiven Eigenschaften in einer befreiten Welt? Was wäre dann Kunst? Was wäre dann Protestation? Wird die Selbstverwirklichung dann genauso 779 Hayman spricht von einer Bemerkung gegenüber Contat, er gibt als Quelle an: Sartre, Jean-Paul: Ouvres romanesque, S. XLVIII, in Hayman, Ronald; Sartre, a.a.O., S. 655 780 Marcuse, Herbert: Existentialismus, a.a.O., S. 84 219 wichtig sein, wie in der gegenwärtigen Gesellschaft, wo man sie nie erreichen kann, solange man den „Anderen“ nicht ausblenden kann – denn der Arme hat keine Selbstverwirklichung. Braucht es in einer freien Welt das starke Subjekt noch in dem Maße wie Sartre und Marcuse es sich dachten? Wäre es nicht paradox, wenn der Kampf für das abstrakte Subjekt genau dort seine historische Schranke erfahren würde, wo er sich des Sieges gewiß wähnte? Doch sich solcher Fragen zu stellen, ist ein erstrebenswerter Luxus einer zukünftigen Welt. Das Tanzen kommt nach dem Essen. Was hätte Marcuse dazu gesagt? Vielleicht folgendes: „Die einzig richtige Fragestellung ist die, ob vernünftigerweise ein Kulturstand vorstellbar ist, in dem menschliche Bedürfnisse in einer Weise und in einem Maße befriedigt werden, die die Abschaffung zusätzlicher Unterdrückung erlauben.“781 Und wie hätte Sartre geantwortet? Wahrscheinlich so: „Die Wahrheit ist aber die, daß die Subjektivität weder alles noch nichts ist; sie bildet nur einen Moment des objektiven Prozesses, und zwar ein Moment, das sich unaufhörlich aufhebt, um ebenso unaufhörlich immer wieder ins Spiel zu treten.”782 Die momentane Organisation der Welt läßt wenig erhoffen. Die technischen Möglichkeiten sind auf einem Stand, der eine Welt ohne Hunger garantieren könnte, die aber auch neue Formen der Barbarei ermöglichen. Doch vor dem dunkler werdenden Himmel zeichnen sich die hellen und schönen Momente deutlicher ab. Gegenwärtig scheint sich das Widersprechende leidenschaftlich im erzwungenen Kuß zu befinden. Erst wenn die sich scheinbar Liebenden aus der innigen Umarmung bürgerlicher Kälte lösen, kann der Blick frei werden und mit ihm ein Bewußtsein der Freiheit. Jene für die Marcuse und Sartre so leidenschaftlich stritten. In dem Grad in dem es schlimmer geworden ist, ist es auch möglicher geworden. 781 782 Ebd., S. 151 Ebd., S. 31 220