Sartre und die Studentenbewegung

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Inhalt
Inhalt ______________________________________________________ 1
Vorbemerkung ______________________________________________ 5
1.
Auf den Schultern der Aufklärung_________________________ 9
Der Gedanke ________________________________________________________ 9
Die Renaissance des Subjekts __________________________________________ 11
2.
Sozialismus oder Barbarei: Der Scheitern des Liberalismus – Das
Ende der bürgerlichen Subjektivität ____________________________ 17
Der historische Hintergrund
17
Die Heideggerjahre Marcuses
19
Die Grundlage: Sein und Zeit __________________________________________ 19
Philosophie als Schutz vor der Wirklichkeit
24
Marcuses: Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus ____ 24
Konkrete Philosophie abstrakt
25
Marcuses: Über konkrete Philosophie ____________________________________ 25
Sartre vor den Frühwerken
26
The proof of the pudding is in the eating
27
Marcuses: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit _____________ 27
Die Entdeckung: Die Veröffentlichung der Pariser Manuskripte – Marcuses
Wandel von Heidegger zu Marx
29
Marcuses: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus_______ 29
Übergänge: Marcuse Emigration aus Deutschland und Sartres Jahr in
Berlin
32
Die Machtergreifung des Faschismus: Marcuses kritische Theorie / Sartre
und die Phänomenologie
33
Rudimentierte Subjekte
33
Marcuses: Die philosophischen Grundlagen des Arbeitsbegriffes ______________ 33
Kontinuitäten im Bruch: Der Faschismus als Erbe und Kämpfer gegen den
Liberalismus
35
Marcuses: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung _ 35
Die neuen Träger der Theorie
36
Marcuses: Zum Begriff des Wesens _____________________________________ 36
Die Welt als Konstruktion
38
Sartres: Die Transzendenz des Egos _____________________________________ 38
Das Imaginäre als Frage des Bewußtseins
40
Sartres: Die Imagination / Das Imaginäre _________________________________ 40
Philosophie als Gesellschaftskritik
41
Marcuses: Autorität und Familie ________________________________________ 41
Kultur als Beschneidung
44
Marcuses: Über den affirmativen Charakter der Kultur ______________________ 44
Der Mensch als absurde Situation
47
1
Sartres: Der Ekel (La nausee) __________________________________________ 47
Das „Grundsatzprogramm“
49
Marcuses und Horkheimers: Philosophie und kritische Theorie ________________ 49
Wider unkritische Glücksvorstellungen
51
Marcuses: Zur Kritik des Hedonismus ___________________________________ 51
Das Ende des liberalistischen Subjekts
54
3.
Die ungeheure Verdunklung: Der Kampf gegen den
gemeinsamen Feind - Subjektivität im Zeichen der Vernichtung ____ 56
Die Ausgangssituation
56
Zwei Intellektuelle, die nicht ihren Kampf gegen den Faschismus kämpfen können 56
Kriegsausbruch in Frankreich / Sartre als Soldat ____________________________ 58
Essenz des Abschieds vom Institut mit Hegels Ehrenrettung
59
Marcuses: Vernunft und Revolution _____________________________________ 59
Auf dem Weg zu einer Philosophie Nachkriegsfrankreichs
67
Sartres Kriegsgefangenschaft und Widerstandsbewegung ____________________ 67
Die einsame Freiheit
69
Sartres: Das Sein und das Nichts ________________________________________ 69
Die Freiheit wird gesellschaftlich
83
Sartres: Paris unter der Besatzung (1944) _________________________________ 83
Im Kampf gegen den Nationalsozialismus
87
Marcuses: Feindanalysen. Über die Deutschen _____________________________ 87
Schluß
91
4.
Die bipolare Welt: Der “dritte Weg” wider den Krieg im Frieden
– Subjektivität im Kampf unter dem Banner der Freiheit __________ 93
Die historische Situation – Die zwei Blöcke
93
Zwischen einsamem Subjekt und Engagement: Der Existentialismus
wandelt sich.
96
Sartres: Der Existentialismus ist ein Humanismus __________________________ 96
Vorbereitung des 3. Weges
98
Sartres: Materialismus und Revolution ___________________________________ 98
Gesellschaftlicher Zwang und freie Wahl: Portrait des Antisemitismus 102
Sartres: Überlegungen zur Judenfrage ___________________________________ 102
Exemplierte existentialistische Psychoanalyse
107
Sartres: Baudelaire__________________________________________________ 107
Der dritte Weg: Sartres politisches Engagement bis 1952 ____________________ 109
Zu spät besprochener Sartre
113
Marcuses: Rezeption von „Das Sein und das Nichts“ _______________________ 113
Statt eines Vorwortes: 900 Seiten Jean Genet
117
Sartres: Saint Genet _________________________________________________ 117
Der „Compagnon des routes“
119
Sartre als Weggefährte der KPF von 1952-1956 ___________________________ 119
Der Bruch mit Camus _______________________________________________ 122
Dem Weltgeist in die Nüstern spucken
2
126
Marcuse und der Traum von der Rückkehr zum Institut für Sozialforschung _____ 126
Marcuses: Eros and Civilization 1955 ___________________________________ 127
Der Bruch mit den Kommunisten: Ungarn 1956
133
Unabhängiger Sartre
135
Der Kampf für die Befreiung in der Dritte Welt. __________________________ 135
Marx und die UdSSR
140
Marcuses: Soviet Marxism: A Critical analyses ___________________________ 140
Intermezzo: Sartre entdeckt Freud
144
Sartres: Freud. Ein Drehbuch _________________________________________ 144
Das Subjekt im Marxismus – Sartres Revision des Marxismus
145
Sartres: Marxismus und Existentialismus ________________________________ 145
Sartres: Kritik der dialektischen Vernunft ________________________________ 152
Der außerparlamentarischer Botschafter
160
Sartres: Die Unabhängigkeit Algeriens und das Vorwort zu Fanons „Die Verdammten
dieser Erde“ _______________________________________________________ 160
Das Ende der Restaurationszeit
162
5.
1968 und die Folgen: Kulturkampf zwischen Revolution und
Reform - Rebellische Subjektivität ____________________________ 165
Die Welt im Wandel
165
Das Buch einer Bewegung
168
Marcuses: Der eindimensionale Mensch _________________________________ 168
Die Anfänge der 68er Bewegung
177
Marcuses Solidarität ________________________________________________ 177
Von Naturrecht auf Widerstand
180
Marcuses: Repressive Toleranz und ein Nachwort auf Walter Benjamin ________ 180
Praktische Solidarität
183
Marcuse in Deutschland _____________________________________________ 183
Sartre und die Studentenbewegung
186
Der Prager Frühling und der Vietnamkrieg
188
Sartres ungebrochenes Engagement ____________________________________ 188
Sartre und die Maoisten
189
Marcuse nach ’68: Rückkehr zur Kunst
191
Marcuses: Versuch über die Befreiung und Konterrevolution und Revolte ______ 191
Subjekt Mann - Subjekt Frau: Die Frauenbewegung
194
Sartre und Marcuse zur Frauenbewegung ________________________________ 194
Das unterschlagene Subjekt der Revolutionäre - Ein letztes Gefecht für die
freie Subjektivität:
196
Marcuses: Die Permanenz der Kunst ____________________________________ 196
Sartre nach ´68: Rückkehr zu Flaubert oder was kann man heute von einem
Mensch wissen?
198
Sartres Flaubert ____________________________________________________ 198
Der letzte Gang
202
Sartre und Marcuse: Alter und Tod _____________________________________ 202
3
6.
Das Ende der bipolaren Welt: Globalisierung und
Neoliberalismus als Totengräber des Subjekts – Subjektivität nach
Marcuse und Sartre ________________________________________ 207
Sartre and Marcuse revisited
212
Die Übermacht der Gesellschaft _______________________________________ 212
Freiheitliches, Gemeinsames __________________________________________ 217
4
Vorbemerkung
Abendvorstellung im Kino. Das Licht geht aus, das Kino ist voll. Der
Filmvorführer spannt den Film in den Projektor ein, wie er es unzählige Abende
vorher auch tat. Eineinhalb Stunden später. Kurz vor dem tragischen Ende der
Geschichte reißt der Film. Die Scheinwerfer werden umgedreht und der Blick aufs
Publikum gerichtet. Betroffene, weinende Gesichter sind zu sehen – alle von der
Handlung des Filmes zu tiefst ergriffen. Ein gros des Publikums ist emotional
aufgewühlt und starrt nun auf die große, weiße, kalte Leinwand. Einige wischen
sich die Tränen von den Augen und registrieren, daß neben ihnen ein Fremder sitzt.
Scham und Unverständnis ist in den Blicken der Menschen zu sehen.
Wie ist es möglich, daß Gefühlregungen, die im Alltagsverständnis höchst privat
sind, auf die Minute genau vorausberechnet werden können? Handelt es sich um
Subjekte mit freiem Willen oder verwaltete Individuen? Entscheiden sich die
Menschen mit dem Kinobesuch bereits für ihre zu zeigenden Gefühle? Welche
Rolle spielt die Dunkelheit des Kinos, für die gezeigten Gefühle? Die Subjektivität,
die im Alltagsbewußtsein als individuell, also unteilbar und persönlich empfunden
wird, scheint im selben Moment ein Massenphänomen zu sein.
Die Aufgabe des Wissenschaftlers an der Subjektivität ist nun die des
Filmvorführers, der beim abendfüllenden Spielfilm den Projektor ausschaltet und
weiß, wann die Zuschauer, Tränen in den Augen, ob der tragischen Handlung, den
Kulminationspunkt ihrer Gefühle vor einer weißen Betonwand, umgeben von
Wildfremden, erreicht haben – vor der Frage stehend, ob all diese Gefühle bereits
von solch normierter und abrufbarer Subjektivität zeugen oder ob nicht vor dem
Eintritt ins Kino eine Entscheidung der Subjekte zur Bereitschaft des Empfindens
solcher Gefühle gefällt wurde. Der philosophierende Filmvorführer sucht nach
einer Erklärung, warum es möglich ist, Gefühle in solch einen Maß zu produzieren
und abzurufen und warum die Einzelnen Gefallen daran finden, sich gar dafür
entscheiden. Herbert Marcuse und Jean-Paul Sartre waren so etwas wie diese
Filmvorführer, die danach suchten Instrumentarien und Bedingungen des
Verstehens von Subjektivität und Objektivität erarbeiten. Mit ihnen traten zwei
Theoretiker auf den Plan, in deren Werk die Subjektivität wieder eine zentrale
Rolle einnahm und die zu den einflußreichsten Denkern der zweiten Hälfte des
20.Jahrhunderts gehörten.
Wer sich mit Sartre und Marcuse auseinandersetzt, läuft Gefahr den Überblick zu
verlieren. Die Fülle der Literatur ist gigantisch. Allein über Herbert Marcuse lassen
sich mehr als 400 deutschsprachige Titel zusammentragen.1 Hinzu kommen
Publikationen aus anderen Ländern. Die Liste der Literatur, die sich mit Sartre
beschäftigt ist nicht geringer. Im Gegenteil: Da Sartre sowohl Philosophie wie auch
Literatur publizierte, finden sich in fast allen geisteswissenschaftlichen Bereichen
Auseinandersetzungen mit ihm. Da Sartre 1964 den ihm zugedachten Nobelpreis
für Literatur ablehnte, gab es wohl kaum ein Land, in dem sein Name nicht bekannt
war. Ebenso gab es kaum ein Land, das eine 68er Bewegung erlebte, ohne daß der
Name Herbert Marcuse gefallen wäre. Um so erstaunlicher ist das völlige Fehlen
eines Bezuges in der Literatur, obwohl sie beide in der bürgerlichen Öffentlichkeit
1
Vgl. Görzen, Réne: Herbert Marcuse, Kommentierte Sekundärliteratur,
www.erz.uni-hannover.de/~horster/lit/marcuse.pdf, Stand: August, 2003
5
als Vordenker und geistige Väter der Bewegung angesehen wurden. Lediglich eine
einzige Publikation widmet sich auf ein paar Seiten dem Versuch Marcuse und
Sartre zu vergleichen. Der Aufsatzsammlung „Die geteilte Utopie. Sozialisten in
Frankreich und Deutschland“2 wird das Verdienst zu teil die beiden als Erste (und
bisher als Letzte) publizistisch nebeneinander gestellt zu haben. Zwar tauchten
beide nur im Kontext eines Sammelbandes mit 30 weiteren Biographien auf, doch
immerhin Seite an Seite auf. Sollte es weitere Literatur geben, die sich explizit mit
den beiden beschäftigt, dann ist sie in den angeschwollenen Bergen von Literatur
verborgen.
Auch gab es wohl keine direkte Kommunikation zwischen Sartre und Marcuse.
Auf meine Anfrage hat der Enkel Herbert Marcuses, Harold Marcuse, mir
geantwortet, daß ihm keine Korrespondenz zwischen Sartre und Marcuse bekannt
sei. „Das Herbert Marcuse-Archiv“ in Frankfurt schrieb mir ähnliches. Die
entsprechenden Stellen in Paris haben leider nicht geantwortet.
Die vorliegende Arbeit betritt also Neuland. Nicht alle Schriften konnten
ausreichend
berücksichtigt
werden.
Sartres
Werk
umfaßt
mit
Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Aufsätze in Zeitungen, Interviews, etc.
schätzungsweise um die 15.000 Seiten. Das Volumen des Werkes von Marcuse ist
etwas geringer, doch schon über Marcuse zu schreiben und der Fülle der
Sekundärliteratur gerecht zu werden, stellt ein Unterfangen dar, daß den Rahmen
einer Diplomarbeit weit überschreiten würde. So konnte in der vorliegenden Arbeit
vieles nicht berücksichtigt werden, was mehr Gehör hätte finden sollen. Die
Theaterstücke, kunsttheoretischen Schriften und Romane konnten, bis auf Sartres
„Der Ekel“, nicht gesondert berücksichtigt werden. Die Arbeit beschränkt sich auf
den Versuch die philosophischen Arbeiten der Beiden gegenüberzustellen und
darin Sartres und Marcuses Begriff des Subjekts und der Subjektivität zu
untersuchen. Dabei habe ich vornehmlich Primärquellen benutzt, da meiste
Sekundärliteratur sich immer mehr auf infenitesimale Fragen konzentriert, anstatt
den Gesamtkontext des Werkes zu erfassen.
Die Beschäftigung mit Marcuse und Sartre brachte ein weiteres Problem auf: Mit
welcher Methode sollte man die Werke der beiden untersuchen, ohne eine
Entscheidung zugunsten des einen oder anderen Theorie zu fällen? In den Fällen,
in denen sich die Literatur mit der kritischen Theorie und dem französischen
Existentialismus auseinandersetzte, gehörten die Verfasser meist der einen oder der
anderen Denktradition an, so daß die Analyse zu meist auf Kosten der anderen
theoretischen Schule ging.
Wenn es stimmt, daß die Wahrheit einen Zeitkern besitzt, – und davon ist der
Autor dieser Arbeit überzeugt – dann muß auch der Subjektbegriff einem solchen
Zeitkern unterliegen. Daher lag es nahe, Sartre und Marcuse durch die
verschiedenen historischen Epochen zu begleiten. Die Einteilung fiel schwer, da
beide mit dem Beginn einer neuen historischen Strömung nicht aufhörten auf ihre
Thereme zu rekurrieren, die sie zu früheren Problemen erarbeiteten hatten.
Beispielsweise arbeitete Sartre immer noch mit Heideggerschen Kategorien, als
Marcuse dies längst aufgegeben hatte.
2
Siehe: Christadler, Marieluise: Die geteilte Utopie. Sozialisten in Deutschland und
Frankreich, Opladen, 1985
6
So widmet sich das zweite Kapitel der Arbeit der Phase zwischen den beiden
Weltkriegen, um die theoretischen Fundamente Marcuses und Sartres zu
beleuchten. Das Kapitel über ihre Schriften während des Zweiten Weltkrieges
analysiert die theoretischen Veränderungen und Neuerungen der Philosophien der
beiden während dieser Zeit. Der vierte Abschnitt betrachtet die Epoche von der
Restauration bis zum Beginn der zweiten Phase des Vietnamkrieges im Jahr 1964,
während das fünfte Kapitel versucht, die Brüche und Kontinuitäten im Begriff der
Subjektivität aufzuzeigen, die während der 68er Bewegung auftraten. Ein
Schlußkapitel widmet sich der Frage der Aktualität Sartres und Marcuses nach
deren Tod.
Vor allem anderen aber sind es immer wiederkehrende Fragen, die die Arbeit
bestimmen: Wie reagierten Sartre und Marcuse auf die historischen
Veränderungen? Welche Auswirkungen hatten sie auf ihren Begriff von
Subjektivität. Wo verorteten sie den Einzelnen? Wie mächtig schätzten sie die
unterschiedlichen Gesellschaften ein? Welche Perspektiven auf Glück hatte das
Subjekt für Marcuse und Sartre in den verschiedenen Gesellschaftstypen?
7
„Subjekt n. ( < 16. Jh.) Entlehnt aus
1. subicere (subiectum) ’unterlegen,
unterstellen, darreichen’, zu 1. iacere
‚werfen’ und 1. sub-. Gemeint ist wie
bei Entwurf u.ä. das Vorgegebene.“
„Objekt n. ( < 14.Jh.) Entlehnt aus
ml. objectum‚ das (dem Verstand)
Vorgesetzte’, dem substantivierten
PPP. Von 1. obicere (obictum)
‚entgegenwerfen, vorsetzen’, zu 1.
iacere ‚werfen’ […]“
Kluge, Etymologisches Wörterbuch,
806 und S. 596
8
S.
1.
Auf den Schultern der Aufklärung
„DASSELBE
SUBJEKT
KANN
MEHRERE
DEFINITIONEN HABEN; UM ABER ZU WISSEN,
WELCHE
EINEM
UND
DEMSELBEN
DINGE
ZUKOMMEN, MUß MAN DARÜBER VON DER
VERNUNFT BELEHRT WERDEN, INDEM MAN EINE
DEFINITION DURCH DIE ANDERE BEWEIST, ODER
DURCH DIE ERFAHRUNG, INDEM MAN ERPROBT,
WELCHE BESTÄNDIG ZUSAMMENGEHEN.“
LEIBNIZ
DER KRITIKER IST EIN ANDRES SUBJEKT ALS DIE
KRITIK, UND DIE KRITIK EIN ANDRES SUBJEKT ALS
DER KRITIKER.
KARL MARX
Der Gedanke
Seit die Menschen sich mit philosophischen Fragen beschäftigen, stand eine
zentrale Frage stets im Vordergrund: „Was ist der Mensch?“ – Das Primat des
nosce te ipse (Erkenne Dich selbst), welches schon die antike Philosophie anleitete,
berührte das Verhältnis von Subjekt und Objekt, die Frage nach dem Verhältnis des
Einzelnen zum gesellschaftlichen Ganzen sowie zu seinen Teilen. Bei Sokrates,
Platon und Aristoteles fand diese Frage ihre Konkretisierung in der Verortung des
Einzelnen gegenüber dem Staat und den Göttern. Während die Antike die Frage
nach dem Subjekt noch als eine ohne das “Ich” behandelte und den Einzelnen als
kosmischen Teil eines Ganzen begriff, so begann mit der Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft auch die Individualisierung des Subjekts in der
modernen Form. Descartes Formel des cogito ergo sum, in der das Denken des
Einzelnen zum Konstituens von Sein gemacht wurde, mündete in Kants
Positionierung des Subjekts als alleinigem Träger von Wahrheit.
Mit dem Übergang von der Sklaverei zur freien Lohnarbeit traten Subjekte im
gesellschaftlichen Kontext als Verkäufer ihrer Arbeitskraft auf. Durch den Vertrag
war die Transformation des Subjekts in der bürgerlichen Gesellschaft eingeleitet.
Es wurden zwischen frei geltenden Subjekten Verträge unterzeichnet und deren
Einhaltung durch die Institutionen bürgerlichen Rechts garantiert – die Wandlung
vom Untertan zum bürgerlichen Individuum war begonnen. Der Vertrag brachte
die doppelte Freiheit mit sich: Freiheit von der Leibeigenschaft und die Freiheit,
seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen. Mit der Durchsetzung dieses neuen Typs
von Herrschaft definierte die Aufklärung und die mit ihr verbundene französische
Revolution die moderne Subjektivität. Die Philosophie folgte ihr: Bei Hegel
erschien das Subjekt in einer Subjekt-Objekt Dialektik, deren Spannungsfeld
zwischen Freiheit und Notwendigkeit angelegt war. Doch Hegels Subjekte waren
9
durchweg philosophierende, also solche, die Kinder und Geister der Aufklärung
waren: reflektierende, bewußte und vor allem bürgerliche Subjekte.
Zu guter letzt löste sich bei Hegel das Spannungsfeld im bürgerlichen Staat auf,
d.h. im absoluten Begriff, auf den der Weltgeist teleologisch die Geschichte
herunterleiten läßt. Dieser idealistischen Variante der Auflösung im Geiste, stellte
Marx die Analyse einer widersprüchlichen Gesellschaft entgegen, die die
Herbeiführung gerechter gesellschaftlicher Zustände und damit die Lösung des
Spannungsfeldes von Subjekt und Objekt verhindere. Der einstigen Erhöhung des
Subjekts als Träger von Wahrheit stand nun eine Objektwelt entgegen, die den
Vorrang gegenüber den Subjekten in Anspruch nahm. Marxens Theorem, daß das
gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimme, also die Objektwelt das
Bewußtsein des Subjekts, fand in der späten Theorie Freuds noch einen anderen
Ausdruck: “Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus” sagte Freud und entwickelte
eine psychoanalytische Theorie des Subjekts, die an der bewußten und
vernünftigen Wahrnehmung des Einzelnen zweifelte. Auch Freud hielt am Subjekt
und an der Vernunft fest: „Wo Es ist, soll Ich werden.”
Die Kategorie des Subjekts war kein starrer ahistorischer Begriff jenseits des
gesellschaftlichen Wandels. Er war stets ein Verhältnisbegriff, der ohne das, sich
im Wandel befindliche, Objekt nicht denkbar gewesen wäre. So wie sich das
Objekt im geschichtlichen Prozeß veränderte, durchlief auch das Subjekt
Transformationen. Für Kant war das Objekt „das Andere“, formuliert als Antipode
zum Eigenen. Bei Hegel dagegen traten die Subjekte von den Objekten getrennt
auf: Das Verhältnis beider, galt ihm als gespaltenes und zukünftig zu
versöhnendes. Damit wurde der hegelsche Begriff des Subjekts ein kritischer, weil
er mit einem Telos ausgestattet war. Er implizierte zumindest die Möglichkeit der
Versöhnung mit dem Objekt im bürgerlichen Staat. Die Aufgabe der Philosophie,
wie auch der Wirklichkeit, die nach der Philosophie zu gestalten sei, sollte eben die
Bedingung der Möglichkeit auf einer solchen ausloten.
Erst Marx gab den Verhältnissen, die Hegel immerhin als gespaltene
diagnostizierte, den Boden unter den Füßen zurück. Die wirkliche Welt mit ihrer
Organisation der politischen Ökonomie war für die Spaltung des Einzelnen von der
ihn umgebenden Welt verantwortlich zu machen. Folgte man Marx, war das
Eigentum Grundlage der freien Personen in der bürgerlichen Gesellschaft. Dieses
implizierte aber auch die Möglichkeit des Besitzes monetärer Äquivalente, also
über von Arbeit und der Zeit anderer. Die Entwicklung des Kapitals basierte auf
dem Kauf von Arbeitszeit, um daraus mehr Kapital zu erwirtschaften. Auf das
Verhältnis von Kapital und Arbeit war die Spaltung des Subjekts zurückzuführen:
Auf der einen Seite das bürgerliche Subjekt des Kapitalismus, während auf der
anderen Seite das davon getrennte Subjekt, der Arbeiter, davon lebte seine
Arbeitskraft zu verkaufen. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts garantierte diese
ökonomische Ordnung, weshalb für die proletarischen und kleinbürgerlichen
Massen galt, daß sie eine andere Form der Subjektivität inne hatten, als das freie,
philosophierende Subjekt. Die Mehrheit der Bevölkerung besaß ein gespaltenes
Verhältnis zur bürgerlichen Ordnung.
Übertragen auf jene Menschen, die nichts anderes als ihre Arbeitszeit zu verkaufen
hatten, konnte der Begriff des Subjektes analog zu dem des Individuums gedacht
werden. Das „Individuum“ bedeutete lateinisch „das Unteilbare“, während das
Subjekt in der Philosophie für „das erkennende, mit Bewußtsein ausgestattete,
10
handelnde Ich“ stand. Dabei war das Subjekt dem Individuum überlegen, da es
über Selbstbewußtsein verfügte. Das Individuum markierte das Unteilbare der
bürgerlichen Freiheiten – ihm kamen die unveräußerlichen Freiheitsrechte, wie die
Veräußerbarkeit seiner Arbeit und Zeit durch den Vertrag zu. Das Subjekt bei
Hegel hingegen war der bewußte Träger der bürgerlichen Philosophie. Mit Hegels
Verlagerung der Dualität von Subjekt und Objekt in den Geist, während auf der
Welt die Teilung weiter existierte, verlor auch die bürgerliche Unterscheidung
zwischen Individuum und Subjekt ihre Grundlage. Den Begriff des Individuums
von dem des Subjekts abzugrenzen, ergab immer weniger Sinn, da in der
verwalteten Welt Subjekt und Individuum eins wurden.
So sah die marxistische Philosophie Marxens das Subjekt wie das Individuum als
real zu befreiendes. Dabei wurde es zunehmend schwieriger von einem bewußten
Subjekt auszugehen. Das Proletariat – das marxsche Subjekt der Befreiung –
wandelte seinen Charakter. Von der ihm einst zugedachten Rolle der Befreiung
transformierte es sich in den industrialisierten Ländern zu einem verbürgerlichten
Subjekt. So konnten Sartre wie Marcuse die Begriffe von Subjekt, Individuum und
dem Einzelnen auch als gleichbedeutende begreifen.
In dem Maße in dem das Proletariat im Faschismus millionenfach seine eigene
Unterdrückung bejahte, verlor der Begriff des Subjekts als dem Individuum
überlegenes, mit Selbstbewußtsein ausgestattetes, seine Bedeutung. Die
Äquivokation verschwand. Die Formel: „Kein Subjekt ohne Bewußtsein, kein
Bewußtsein ohne Subjekt“ war zweifelhaft geworden. Das geistige Subjekt war
nicht mehr identisch mit dem »reinen Ich«. Statt dessen stand die Philosophie vor
dem Problem ein Subjekt befreien zu wollen, daß zwischen „Manipulation und
rückwirkendem Bedürfnis“ (Adorno), zwischen falschem Bewußtsein und
Freiheitsdrang, neu verortet werden mußte.
Die Renaissance des Subjekts
Zu Beginn ihrer philosophischen Karriere waren Sartre und Marcuse von Martin
Heidegger und der deutschen Existentialphilosophie fasziniert, einer Philosophie,
die das Subjekt wieder ins Zentrum von Sein und Wahrheit rückte; einer Theorie
die, stark auf Kant rekurrierend, dem Subjekt einen ontologischen Vorrang
einräumte.
Dieser vermeidliche Rückschritt der Philosophie versuchte eine theoretische
Neubestimmung vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges und der
darauffolgenden Wirtschaftskrise des Kapitalismus. Durch die Rückverlegung des
Subjekts ins Zentrum der Theorie und durch das Postulieren seines ontologischen
Vorrangs stand der Einzelne scheinbar höher als jede Ideologie, die den Tod oder
die Unterdrückung des Einzelnen für “die große Sache” billigend in Kauf nahm. In
einer Zeit, in der die zweite Internationale aufgelöst war und der Stalinismus das
Scheitern der russischen Revolution besiegelt hatte, während in den
kapitalistischen und staatskapitalistischen Nationalstaaten das Vaterland über alles
gesetzt wurde, stand eine Theorie vom Vorrang des Subjekts jenseits der Theorien,
die den Einzelnen für die Sache opferten, auf fruchtbarem Boden. Darin bestand
die große Faszination von Heideggers „Sein und Zeit“.
11
Doch während Heidegger, der nie der Philosoph der Vernunft war3, auf seine
braunen Füße fiel und den Machtantritt der Nazis freudig begrüßte, mußte Marcuse
nach Amerika emigrieren, derweil seine Habilitationsschrift von Heidegger
blockiert wurde. Sein Anschluß an das Frankfurter Institut für Sozialforschung bot
ihm die Möglichkeit, wieder theoretisch zu arbeiten und aus Deutschland zu
flüchten. Seine ehemalige Verbundenheit wandelte sich in dem Maße in
Gegnerschaft zu Heidegger, wie dieser die Nazis hofierte.
Als Sartre in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, schmuggelte ein befreundeter
Pastor eine Ausgabe von „Sein und Zeit“ in das Gefangenenlager, in dem Sartre
Heidegger das erste Mal las. Während Marcuse die Person Heideggers zunehmend
mit dem Nationalsozialismus identifizierte, faßte Sartre seine geheime
Heideggerlektüre als einen Widerstandsakt auf. Dementsprechend anders
interpretierte er dann auch Heidegger. Die Vorüberlegungen zu „Das Sein und das
Nichts“ entstanden während seines Lageraufenthaltes und es war nicht
verwunderlich, daß Sartre, der Heidegger nicht kannte, aus seiner Lektüre andere
Schlüsse zog, als Marcuse. Während die Heideggerlektüre für Sartre also ein
Widerstandsakt war, war sie für Marcuse das exakte Gegenteil. So erklärte sich die
paradoxe Situation, das Sartre 1944 sein erstes Hauptwerk mit dem Titel „Das Sein
und das Nichts“ publizierte und darin eine Freiheitsphilosophie auf der Basis von
Heidegger entwickelte, während Marcuse in den USA an einer philosophischen
Ehrenrettung Hegels arbeitete, vielleicht sogar nur deshalb um das Erbe Hegels
nicht Heidegger zu überlassen.
Doch Marcuses „Reason and Revolution“ war weit mehr als nur ein Hegelbuch,
vielmehr war es eine fundamentale Positivismuskritik, in der das Verhältnis von
Subjekt und Objekt, nicht wie von Hegel postuliert als im Geist verwirklicht,
sondern als real Zerrissenes, als Getrenntes bestimmt wurde. Das abstrakte Subjekt
verlagerte sich bei Marcuse in Anlehnung an Marx in die Klasse. Dieser
Verlagerung sollte sich auch Sartre zwischen 1952-1956 anschließen. Welche
Auswirkungen die Aufgabe des Einzelnen zugunsten der Klasse hatte, sollte sich in
den verschiedenen Fehleinschätzungen Marcuses, vor allem aber Sartres noch
zeigen.
Bei aller späteren Abkehr von Heidegger, sollte der existentialistische Hintergrund
Sartre und Marcuse dennoch an einem ganz bestimmten Punkte einen: In der Sorge
um das Subjekt. Sartres Werk war geprägt von tiefem Mißtrauen gegen die
Inanspruchnahme des Einzelnen durch die Ideologien. Er ging sogar soweit, zu
schreiben, daß der Einzelne zur Freiheit verurteilt sein. Im Kontext von Auschwitz
war damit die Verantwortlichkeit jedes Einzeln verortet. Die Begriffe des
Handelns, der Freiheit und der Entscheidung wurden zu seinen zentralen
philosophischen Kategorien.
Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn der 68er Bewegung
begann für beide Theoretiker die Hochzeit ihres Schaffens: Marcuse wurde nach
einigen Jahren beim OSS (Office of Strategic Services) Professor an der Brandeis
University in den USA. Im Jahr 1948 veröffentlichte er in der Zeitschrift des
Institutes für Sozialforschung – als einzigen Text zwischen 1948 und 1955 – eine
Besprechung von Sartres „Das Sein und das Nichts“, in der er die grundlegenden
Widersprüche zwischen dem französischen Existentialismus und der kritischen
3
vgl. Brunkhorst, Hauke und Koch, Gertrud, Herbert Marcuse, Zur Einführung, Hamburg,
1990, S. 22ff
12
Theorie herausarbeitete. Anfang der fünfziger Jahre begann seine Arbeit an „eros
and zivilasation“, die 1954 publiziert wurde. In seinem großen Freud-Buch
analysierte er die Schnittstellen zwischen der verwalteten Welt, der Herrschaft
durchs Objekt, und dem Kern des Subjekts, seinen gesellschaftlich vermittelten
Trieben, um zu einer Neubestimmung der Kategorien des Lustprinzips und des
Realitätsprinzips zu gelangen.
Sartres Bekanntheit wuchs in der 50er Jahren rasant: Hatte die mehr als tausend
Seiten umfassende philosophische Abhandlung „Das Sein und das Nichts“ seinen
Autor in Frankreich, der nach der Veröffentlichung des Romans „Der Ekel“ schon
einen gewissen Ruf genoß, mittlerweile berühmt gemacht. Mit seinem
Romanzyklus „Wege zur Freiheit I-III“ und „Geschlossene Gesellschaft“ sowie
dem 1946 veröffentlichten Text „Überlegungen zur Judenfrage“ gelang ihm der
endgültige Durchbruch als anerkannter Schriftsteller und Philosoph. Die
„Überlegungen zur Judenfrage“ war seine erste Schrift, die seine im „Das Sein und
das Nichts“ entfalteten Methoden anhand der konkreten Geschichte analysierte.
Durch seine Hinzunahme der marxschen Theorie, schien eine Annäherung der
beiden Theoretiker hinsichtlich ihres Subjektbegriffes wieder leistbar, da Sartre
mittlerweile verstärkt die Kategorie der “Situation” der Freiheit zur Seite stellte. In
seinem kurzen Text „Zum Existentialismus – Eine Klarstellung“ definierte er den
Menschen als “Freiheit in Situation”. Dadurch erhielt das Subjekt den dialektischen
Kontakt zum Objekt, den es bei Marcuse schon längst hatte.
Dennoch blieben Unterschiede zwischen den beiden: Der größte bestand in der
Interpretation und Gewichtung der Freudschen Psychoanalyse. Während Marcuse
seine eigene Interpretation Freuds publizierte, mißtraute Sartre elementaren
freudschen Begriffen. Sowohl mit einer biologisch fundierten Triebstruktur wie mit
der Kategorie des Unbewußten konnte Sartre zu nächst nichts anfangen. Erst als er
den Auftrag des befreundete Regisseurs John Huston annahm, um ein Drehbuch
über Freud zu schreiben, änderte sich eine Haltung. Allerdings teilte er mit
Marcuse die Auffassung über den herausragenden Stellenwert der Psychoanalyse –
jedoch unter anderen Vorzeichen. Marcuse akzeptierte Freuds Begriffe und
Kategorien, während Sartre diesen seine „existentialistische Psychoanalyse“
entgegenstellte.
Sowohl Sartre wie Marcuse konnten dem Fernsehen wie dem Kino wenig
abgewinnen. Marcuse arbeitete nie für das Fernsehen oder das Kino, und Sartre
war nicht gewillt Kompromisse einzugehen. Sein Freud-Drehbuch war
an Umfang so enorm, daß die Realisierung eines Films sieben Stunden Spielzeit
ausgemacht hätte. Sartre bekam die Auflage, es zu kürzen. Seine Reaktion? Die
Anfügung weiterer Seiten.
1960 publizierte Sartre sein zweites großes Hauptwerk: „Zur Kritik der
dialektischen Vernunft“. Dieses Werk war nicht weniger als der Versuch, eine
Theorie der gesellschaftlichen Praxis zu liefern. Einige meinten sogar, es sei die
Fortsetzung Marxens „Pariser Manuskripte“4. Darin versuchte Sartre
nachzuweisen, daß die gesellschaftliche Realität eine dialektische sei. Auch das
Subjekt war nun für ihn ein gesellschaftlich vermitteltes.
4
Siehe: Hillmann, Günther, Zum Verständnis der Texte, in: Marx, Karl, Texte zur Methode
und Praxis II, Leck/Schleswig, 1966, S. 203
13
Anhand eben jenes hegelschen Begriffs der Vermittlung gelangen Sartre und
Marcuse Theorien, die es vermochten, die Schnittstellen des Subjekts mit den sie
umgebenden politischen Systemen offenzulegen. Während beide nach dem
Zweiten Weltkrieg schon einen ähnlichen Typus des Intellektuellen lebten, so
kamen sie sich mit dem Beginn des Vietnamkrieges auch tatsächlich näher:
Marcuse übernahm einige Kategorien Sartres in seinem Werk und auch Sartre
setzte sich mit Beginn der 68er Bewegung, zumindest in Interviews, mit Marcuses
kritischer Theorie auseinander. Die Stimmen der an `68 Beteiligten waren
unterschiedliche: “Man hat uns Marcuse als Lehrmeister »anhängen« wollen [...]
Purer Unsinn Keiner von uns hat Marcuse gelesen [...] Die politischen Militanten
der Bewegung 22. März haben fast alle Sartre gelesen”5, sagte beispielsweise
Daniel Cohn-Bendit, während Sartre bei einem Vortrag in der besetzten Sorbonne
wohlwollend auf die theoretische Präsenz Marcuses als großen theoretischen Vater
der `68er stieß.
Die großen Sartre-Jahre und das Aufkommen des Existentialismus als
Modeerscheinung lagen vor 1968; es waren zu allererst die Theaterstücke und das
Lebensgefühl der französischen Nachkriegsgeneration, die Sartre zu der wichtigen
öffentlichen Persönlichkeit Frankreichs machte, der 1964 sogar den Nobelpreis für
Literatur verliehen werden sollte. Durch Marcuse, der während der ´68er
Bewegung zu außerordentlicher Popularität kam, fand eine Art “Wachablösung”
unter den kritischen Linken statt, und Marcuse wurde als Vordenker der
Studentenbewegung gefeiert.
Marcuse war auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, Sartre hatte ihn schon
überschritten – galt aber dennoch, auch für Marcuse, als eine Art Weltgewissen.
Auch in den letzten Jahren ihres Lebens – der 7 Jahre jüngere Sartre überlebte
Marcuse nur ein Jahr – blieben beide engagierte Philosophen. Auch im Alter
setzten sie sich mit den sozialen Bewegungen auseinander: Beispielweise mit der
Frauenbewegung oder der beginnenden Ökologiebewegung – niemals das Ziel aus
den Augen verlierend, daß die Menschen doch in einer besseren Welt leben
könnten. Marcuse wurde auch in den letzten Jahren seines Lebens nicht müde
immer wieder den Stellenwert des Subjekts zu betonen. Dagegen leistete sich
Sartre eine letzte – für ihn so typische – Eskapade, in der Auseinandersatzung und
mit der partiellen Annahme des Judentums.
Nur ein Jahrzehnt nach ihrem Tod sollte der kalte Krieg zu Ende gehen – beide
erlebten den Untergang der UdSSR nicht mehr. Was hätten sie darüber gedacht und
geschrieben? Das Gefühl der Freiheit währte nicht lang. Mit dem Untergang der
UdSSR verschärfte sich auch die soziale Kälte in den Ländern des Westens. Die
Profiteure des Zusammenbruchs waren meist jene, die auch zu Zeiten der Existenz
der Blöcke nicht zu den Schwachen gehörten und mit dem Paradigmenwechsel
vom Keynesianismus zum Neoliberalismus verschärfte der Kapitalismus seine
Gangart: Im Westen war die Notwendigkeit, der eigenen Bevölkerung ein besseres
Leben als auf der anderen Seite der Eisernen Vorhanges zu bieten, weggefallen.
Der historischen Bezugsrahmen ist aus Marcuses und Sartre Subjektbegriffen nicht
wegzudenken. Während des Zweiten Weltkrieges konzipierte Sartre einen Begriff
vom Subjekt, der untrennbar mit den Begriffen ‚Entscheidung‘ und ‚Handlung‘
verbunden war. Die Freiheit des Subjekts schien grenzenlos, andauernd stand das
Subjekt vor der Wahl: Kollaboration oder Widerstand. Schweigen oder Reden.
5
Sartre, Anne Cohel, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 690
14
Nichts-Tun als Tat oder das Tun ändern. Das Spektrum der Freiheit erschien
gewaltig, und sein Freiheitsbegriff lief Gefahr hohl und leer zu werden, da darunter
alles zu subsumieren war – er erklärte nichts mehr. Mit seiner Wendung zum
Menschen als “Freiheit in Situation” führte er durch die Gegebenheit der äußeren
Situation eine objektive Schranke der Freiheit ein, der einen Maßstab für die
Grenzen des Subjekts setzte.
Bei dem frühen Marcuse, vor „Eros and Zivilisation“, bestimmte vor allem der
kritische Marxismus das Bild vom Subjekt: Das Subjekt als Einzelner, als Opfer
von Entfremdung und Verdinglichung. Tatsächliche Veränderung war erst mit dem
“Kollektivsubjekt”, der Klasse möglich, die Marcuse kurzzeitig als den
“subjektiven Faktor”6 bestimmte. Es schienen sehr unterschiedliche Bestimmungen
von Subjektivität vorzuliegen: Der eine als radikale Verurteilung zur Freiheit, als
kantischer Dreh- und Angelpunkt, der andere als isolierter, von gesellschaftlichem
Überhang reduzierter.
Trotz der späterer Annäherung beider Theoretiker und der Erweiterungen ihrer
Theorien blieb das Grundmuster zwischen Sartre und Marcuse erhalten: Marcuses
bestimmte eine kulturell veränderbare Triebstruktur des Menschen, die die
Wünsche und Ziele des Subjekts definierte. Damit war so gut wie jedem Subjekt
ein „falsches Bewußtsein“ innert. Es bedürfe der “rebellischen Subjektivität”, wie
es Marcuse später nannte, um die gesellschaftlich präformierte Triebstruktur zu
verändern. Ohne emanzipiertes Subjekt war für Marcuse ein Gelingen des
revolutionären Umsturzes der bürgerlichen Gesellschaft nicht möglich. Auch für
Sartre wurde der revolutionäre Umsturz von zentraler Bedeutung für ein freies
Subjekt: Er revidierte seinen Freiheitsbegriff der allein am Subjekt ausgerichtet
war, zugunsten eines erweiterten, der auch in der Lage war, gesellschaftliche
Ungerechtigkeit auszudrücken. In seiner „Kritik der dialektischen Vernunft“ und in
„Der Idiot der Familie - Gustave Flaubert“ war das Wechselspiel der Interiorität
und Exteriorität von Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft neu
ausgelotet, er kam zu einer dialektischen Theorie des Subjekts, in der die
Wechselbestimmung von gesellschaftlicher Prägung und eigener Entscheidung
analysiert wurden.7
Vor allem anderen aber war es Sartres politisches Engagement, das Marcuse mit
großem Respekt von ihm sprechen ließ. Zur Zeit der 68er Bewegung stand
Marcuse Sartre näher als den alten Verbündeten vom Frankfurter Institut für
Sozialforschung. Er argumentierte sogar mit Sartre gegen Adorno und Horkheimer.
Ebenfalls teilte er mit Sartre das Leben als engagierter Intellektueller, der zu den
verschiedensten Fragen der Zeit Stellung bezog und sich auch aktiv mit den
sozialen Bewegungen solidarisierte. Wahrscheinlich hatte hier das
existentialistische Erbe der beiden seine Spuren hinterlassen, da die Begriffe der
„Handlung“ und der „Entscheidung“ im Existentialismus eine exponiertere
Stellung einnahmen, als in anderen Theorien. Bei aller Angst vor dem verwalteten
Subjekt, waren beide kritische Kinder der Aufklärung. Sie schrieben für ein
Publikum, von dem sie hofften, daß es die Fesseln der inneren Verwaltung
durchbrechen konnte. Ohne diese Hoffnung hätten beide keine Rechtfertigung für
die Existenz der eigenen Theorien abgeben können. Was Manfred Schneider über
6
vgl. Marcuse, Herbert, Vernunft und Revolution, Darmstadt, 1954, S.279f
vgl. Sartre, Jean-Paul, Der Idiot der Familie 1, Gustave Flaubert, Reinbek bei Hamburg,
1977, S.7
7
15
Sartre schrieb, galt im gleichen Maße für Marcuse: „Wer aber trifft die
Entscheidung über die Wahrheit des Subjekts? Wer unterscheidet den Weisen vom
Betrüger? Und wer unterscheidet den Verbrecher vom Märtyrer? Alles hängt von
den Richtern ab, und Sartre teilt die Hoffnung der Aufklärung, daß das Publikum
Gericht hält über seine Zeit und daß dieses Gericht die Wahrheit der Geschichte
hervorbringen könne.“8
Trotz aller theoretischer Gemeinsamkeit trafen sich ihre biographischen Spuren nur
an wenigen Kreuzungen: Gemeinsam unterzeichnete Papiere, eine gemeinsame
Teilnahme an der Sommeruniversität in Korcula, ein gemeinsames Treffen in Paris.
Mehr nicht. Dennoch lebten beide den gleichen subjektiven Entwurf des
politischen, sich einmischenden Intellektuellen – stritten unablässig für die
Subjektivität und gegen die Organisationsformen der verschiedenen
Gesellschaften, die das Individuum unter ihre großen Ziele subsumierte. Beide
kämpften als Marxisten gegen einen erstarrten Marxismus und beide suchten nach
eigenen Formen der Revision marxscher Theorie: Marcuse in der Verbindung mit
Freud und Sartre in der Suche nach möglichen Verbindungen Husserls,
Kierkegaards und Heideggers mit Marx. Die Motivation beider zu diesen Projekten
zogen sie direkt aus den sie umgebenden Gesellschaften: Der Marxismus des
Ostblocks war zur Legitimationswissenschaft verkommen. Gerade Marxens
Vorstellung des Umsturzes der gesellschaftlichen Ordnung zum Wohle des
Subjekts, überall dort wo der Mensch ein geknechtetes, erniedrigtes Wesen war,
setzte ja direkt am Subjekt an, in dem Sinne, daß das Glück des Subjekts der
höchste zu verwirklichende Wert sei. Diesem Impetus verpflichteten sich auch
Sartre und Marcus, wohl ein Grund warum sie sich der Probe der Macht nicht
stellen mußten. Es kann also über die beiden nicht gesagt werden – wie Bloch über
Marx schrieb – wo ihre Theorien nicht nur zur Unkenntlichkeit, sondern auch zur
Kenntlichkeit verändert wurden. Andererseits waren in den Theorien beider
Schutzmechanismen eingebaut, die aus der direkten Erfahrung des Umgangs der
KPdSU mit Marx resultierten: Das starke Subjekt fungierte als Schutzschild gegen
den Totalitarismus.
Dies war in gewisser Weise etwas Neues: Während nach Kant die gesamte
Philosophie immer weiter zum Objekt tendierte, insistierten Sartre und Marcuse
wieder auf das Subjekt. Dabei waren beide Theorien von der Grundannahme einer
dialektischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt geprägt. Das Bindeglied
zwischen ihnen bestand in der Vermittlung; auf dieser Ebene plazierten sich ihre
Theorien. Beide setzten an den Schnittstellen zwischen Individuum und
Gesellschaft an, um zu verstehen, wie die Menschen zu dem geworden waren, was
sie sind und was sie hätten seien könnten. Jegliche neue marxsche Theorie wird
nicht umhin können, diese Bestandteile der Marcuseschen und Sartreschen Theorie
zu integrieren, um nicht erneut im Überhang der Gesellschaft durch Bürokratie,
Disziplin und Terror zu enden und um es endlich zu vermögen den alten Traum des
freien Menschen wahr werden zu lassen.
8
Schneider, Manfred: Eine ästhetische Theorie des Trugs: «Saint Genet», in: König,
Traugott (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 171
16
2. Sozialismus oder Barbarei: Der Scheitern
des Liberalismus – Das Ende der bürgerlichen
Subjektivität
„ENORME OPFER AN GUT UND BLUT WÜRDE EIN
KRIEG VON UNS ERFORDERN. DEN GEGNERN ABER
WÜRDEN
WIR
ZEIGEN,
WAS
ES
HEIßT,
DEUTSCHLAND ZU REIZEN“
WILHELM II
„ICH FÜHRE KRIEG BIS ZUR LETZTEN
VIERTELSTUNDE – UND SIE WIRD UNS GEHÖREN.“
CLÉMENCEAU
Der historische Hintergrund
Sartres und Marcuses Studienjahre waren geprägt von einer der größten Krisen des
kapitalistischen Wirtschaftssystems. Deutschland, schwer getroffen von der
Niederlage des ersten Weltkrieges, blickte auf eine Zeit zurück, in der der
ausbrechende Weltkrieg anfänglich auf breiteste Zustimmung stieß und eine wahre
Kriegseuphorie auslöste. Wilhelm II tat den Ausspruch: „Enorme Opfer an Gut und
Blut würde ein Krieg von uns erfordern. Den Gegnern aber würden wir zeigen, was
es heißt, Deutschland zu reizen“9 In Frankreich hatte der erste Weltkrieg die Union
sacrée der „politischen Parteien zur Verteidigung der Nation“ ermöglicht, die
Clémenceau, der "Vater des Sieges", symbolisierte, der bis Januar 1920 an der
Macht blieb und von dem der Ausspruch stammte: „Ich führe Krieg bis zur letzten
Viertelstunde – und sie wird uns gehören.“10 Dies war das politische Klima der
Jugendjahre.
Die II. Internationale und mit ihr der Vorsatz, einen Krieg mit allen Mitteln
verhindern zu wollen, war gescheitert. Das Proletariat, dessen Organisationen Jahre
zuvor die internationale Revolution anstrebten, metzelte sich unter dem Banner des
Vaterlandes auf den Schlachtfeldern und in den Gräben von Verdun und anderswo
nieder.
1916 stellte Lenin fest, „[…], daß es in Deutschland zwei Parteien gibt. Die eine,
die offizielle, führt die Politik der Bourgeoisie durch. Die andere, die Minderheit,
gibt illegale Aufrufe heraus, veranstaltet Demonstrationen usw. In der ganzen Welt
9
Kriegs-Rundschau. Zeitgenössische Zusammenstellung der für den Weltkrieg
wichtigen Ereignisse, Urkunden, Kundgebungen, Schlacht- und Zeitberichte. Hrsg.
v. der Täglichen Rundschau, Bd. 1, a.a.O. , S. 37
10
Ploetz-Auszug; Aus der Geschichte, 26. Aufl., S. 1108
17
sehen wir dasselbe Bild, und ohnmächtige Diplomaten oder der "Sumpf", wie
Kautsky in Deutschland, Longuet in Frankreich, Martow und Trotzki in Rußland,
stiften in der Arbeiterbewegung den größten Schaden, weil sie die Fiktion der
Einheit aufrechterhalten und damit die herangereifte, dringend notwendig
gewordene Vereinigung der Opposition aller Länder, die Schaffung der III.
Internationale, stören. [...] Sogar in den Vereinigten Staaten von Amerika ist die
Spaltung faktisch vollzogen.“11
Durch den Weltkrieg wurde das zaristische Rußland derart geschwächt, daß die
russische Revolution möglich wurde. Sie sollte den Grundstein für den Beginn des
„short century“ (Hobsbawm) legen. Von diesem welthistorischen Ereignis blieb
kein westliches Land unberührt. Die deutsche Sozialdemokratie lehnte eine
Revolution nach russischem Vorbild ab, was zu ihrer Spaltung führte – ein
Schicksal, das in ähnlicher Form auch den französischen Sozialisten 1920 zuteil
wurde. Sie wollte statt dessen den Sozialismus über eine bürgerliche Demokratie
erreichen und über Reformen langsam in den Sozialismus übertreten. Das
Scheitern dieses Konzeptes war gleichbedeutend mit dem Scheitern der „deutschen
Revolution“. Dieses war in vieler Hinsicht verheerend, war doch die russische
Revolution anfänglich als eine internationale angelegt: „Für die marxistischen
Revolutionäre in Rußland war es unumgänglich, ihre Revolution in andere Länder
zu tragen.“12 Auch wenn den Revolutionären in Rußland bald klar wurde, daß die
Sozialdemokratien der westlichen Industrienationen ihrem Beispiel nicht folgen
würden, so hegte man in Moskau immer noch Hoffnung auf weitere revolutionäre
Entwicklungen, insb. in Deutschland. Die offizielle Sprache der III. Internationalen
zwischen den Kriegen war Deutsch – nicht Russisch. Man hoffte sogar noch ihren
Sitz nach Berlin verlegen zu können. Somit war das Scheitern der deutschen
Revolution in vielen Belangen ausschlaggebend für das Schicksal Europas. Durch
ihr Ausbleiben war es unmöglich geworden, die revolutionäre Bewegung in das
Zentrum des Kapitalismus zu tragen. Die bürgerlichen Kräfte und die
Organisationen der Arbeiter standen in einer Patt-Situation und rangen um die
Zukunft des Kontinentes.
Das Moment jener „verpaßten“ Revolution beeinflußte Marcuses Denken
entscheidend: 1977 sagte er gegenüber Habermas: „Entscheidend war das
Scheitern der deutschen Revolution, das meine Freunde und ich eigentlich schon
1921, wenn nicht sogar noch früher, mit der Ermordung von Rosa und Karl erlebt
haben. Es schien nichts da zu sein, womit man sich hätte identifizieren können“13
Tatsächlich sollte sich das Denken Marcuses aus dieser Enttäuschung speisen und
dadurch sein Fundament gelegt bekommen: „Ich war involviert eine kurze Zeit, ich
war Mitglied des Soldatenrates in Berlin-Reinickendorf 1918, ich bin sehr schnell
aus diesem Soldantenrat wieder ausgetreten, als man dazu überging, ehemalige
Offiziere hineinzuwählen, und habe dann eine ganz kurze Zeit der SPD angehört,
bin da aber auch nach dem Januar 1919 wieder ausgetreten. Ich meine, daß meine
politische Haltung in dieser Zeit festgelegt war in dem Sinne, daß sie
11
Lenin, Wladimir Iljitsch: Werke. Herausgegeben vom Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. Band 22, 3. Auflage, unveränderter Nachdruck der
1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 127
12
Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des zwanzigsten
Jahrhunderts, München, 1998 , S. 121
13
Habermas, Jürgen / Bovenschen, Silvia, u.a.: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt
/M, 1978, S. 10
18
kompromißlos gegen die Politik der SPD gerichtet, also in diesem Sinne
revolutionär war.“14
Das Scheitern der deutschen Revolution bedingte die Transformation der
Russischen. Ihr Scheitern, spätestens mit der NEP, wenn nicht schon in Kronstadt,
sowie die weltweite Krise des Kapitalismus waren die Momente, die das Denken
Marcuses und Sartres nie verlassen sollten.
Das Klima in Deutschland und Frankreich wurde zunehmend von den
Rechtsparteien bestimmt. Nach dem Paradoxon, daß in Deutschland die
Arbeiterklasse die bürgerliche Republik durchgesetzt hatte, wurde nun immer
deutlicher, daß die „Demokratie ohne Demokraten“ keine stabile Trägerschicht
hatte. Doch letztendlich war es die Inflation, „die Mitteleuropa für den Faschismus
reif machte.“15 In Deutschland wurde 1923 die Währung auf das Millionste einer
Million ihres Werts von 1913 reduziert. 1926 geriet auch Frankreich in die
Finanzkrise: Der Franc fiel, das Budget war unausgeglichen und die
Auslandsverschuldung zu hoch.
Die große Wirtschaftskrise von 1929 erfaßte alle Industrienationen und eine neue
Form der politischen Herrschaft betrat die Bühne der Weltgeschichte: Der
Faschismus. Letztendlich bedurfte es einer weltweiten Koalition zwischen solch
gegensätzlichen Lagern wie dem Stalinismus und dem amerikanischen
Kapitalismus, um diese neue politische Bewegung zu stoppen. Die daraus
resultierende Zange der Systeme vernichtete oder marginalisierte die verbleibenden
freiheitlichen Traditionen der Arbeiterbewegung. Hier sollten sich Sartre und
Marcuse placieren und später mit ihren Theorien des „dritten Weges“ zu
Gemeinsamkeiten finden.
Mit der großen Wirtschaftskrise und dem vorangegangenen Ersten Weltkrieg, dem
Katastrophenzeitalter (Hobsbawm) ging das Zeitalter des Liberalismus zu Ende.
Rosa Luxemburg formulierte zwischen Hoffnung und böser Vorausahnung: „Die
bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum
Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei. Was bedeutet ein »Rückfall in die
Barbarei« auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die
Worte [von Engels, S.O.C.] bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne
ihren furchtbaren Ernst zu ahnen.“16
Die Heideggerjahre Marcuses
Die Grundlage: Sein und Zeit
Nachdem Marcuse an der Novemberrevolution teilgenommen hatte und diese
scheiterte überwog bei ihm das Gefühl der Identifikationslosigkeit. Der
„individualistische Weltbürger Marcuse“ (Bundschuh) bedurfte eines anderen
Anstoßes für die erneute revolutionäre Tat. Dies war erstaunlicherweise Martin
14
Habermas, Jürgen / Bovenschen, Silvia, u.a.: a.a.O. , 1978, S. 11f
Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des zwanzigsten
Jahrhunderts, München, 1998 , S. 121
16
Luxemburg, Rosa: Die Krise der Sozialdemokratie, in: Gesammelte Werke 4, Berlin/Ost,
1987, S.62. In einem Gespräch sagte Marcuse, daß er bei der „letzten Massenveranstaltung,
auf der Rosa Luxemburg teilgenommen hat“, anwesend war. Die Salecina-Gespräche, in:
Habermas, Jürgen / Bovenschen, Silvia, u.a.: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt
/M, 1978, S.98
15
19
Heidegger, den Sartre erst später lesen sollte. Zwar war seine 1922 verfaßte
Dissertation mit dem Titel „Der deutsche Künstlerroman“ Lukacs’ „Die Seele und
die Formen“ und „Theorie des Romans“ sowie Hegels „Ästhetik“ verpflichtet17,
doch den stärksten Eindruck hinterließ bei ihm, nach einer anfänglichen
Faszination für Husserl, Heidegger. Der Schlüssel zu seiner HeideggerAnhängerschaft war die 1927 erschienene Schrift „Sein und Zeit“.
Der Heidegger jener Jahre, war noch nicht der Naziaffirmateur18 und Antisemit
(den Husserl, sein Vorgänger auf dem Heidelberger Lehrstuhl, allerdings auch
schon vorher beklagte19), als der er sich 1933 beim Fall auf seine braunen Füße
entpuppte. Umstritten ist, wie stark Heideggers Apologie des Nationalsozialismus
bereits in seiner Philosophie angelegt war. Sahmel geht davon aus, daß
„Heideggers kurzfristige Befürwortung des Nationalsozialismus nicht nur eine (im
nachhinein zurückgenommene) persönliche Entscheidungversuchte“, sondern daß
„sie in der Struktur schon angelehnt war. Existentialontologie, auf Konkretion
ausgerichtet“, so Sahmel „geriet in eine Sphäre der Abstraktion, die vom
tatsächlichen natürlichen Leben und Dasein der Menschen weit abgetrennt war.“20
Wenn sie dies war, wie ist es dann möglich, daß Heideggers Apologie dann bereits
in seiner Philosophie angelegt war? Wenn die Sphäre so weit entfernt vom
„natürlichen“ Leben der Menschen abgetrennt war, wie war es dann möglich auf
einmal eine solche Konkretion, wie die Affirmation des Faschismus aus der
Philosophie selbst zu begründen? Breuer21 meint, daß Heideggers Philosophie zur
Affirmation des Nationalsozialismus wurde, „weil nichts mehr war, was in sich
indifferent war und über sich hinauswies“. In dieser „Unterwerfung unter die
Positivität“ lag, so Breuer, die eigentliche Bedeutung. Problematisch an dieser
Interpretation erscheint, daß sich Heideggers Philosophie so allem und nichts
unterwarf. Sie lehnte es konsequent ab, sich mit konkreter Geschichte
auseinanderzusetzen. Daraus resultierte eine Unterwerfung unter die blanke
Positivität, aber genauso ihre völlige Ignoranz.
Die konkretesten Stellen von „Sein und Zeit“ beziehen sich auf die
Geschichtlichkeit: „Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst
zurückkommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen
Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt.“22 Doch diese Stellen
bleiben so allgemein, daß aus ihnen jegliche andere Deutung möglich ist. Auch
Bloch benutzte den Begriff des Erbes („Erbschaft der Zeit“). Für ihn stellte er das
im hegelschen Sinne Aufzuhebende der bürgerlichen Gesellschaft dar, welches
Bewahrendes und Tilgendes im selben Moment in sich trage. Das für Heidegger
17
vgl. Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, München, 1988, S. 114
vgl. Marcuse, Herbert / Heidegger, Martin: Briefwechsel, in: Jansen, Peter Erwin (Hrsg):
Befreiung Denken – Ein politischer Imperativ. Ein Materialienband zu Herbert Marcuse,
Offenbach, 1990, S. 135ff
19
vgl.: Sieg, Ulrich: „Die Verjudung des deutschen Geistes“ – Ein unbekannter Brief
Heideggers, in: Die Zeit, Nr. 52, Dezember 1989. Tatsächlich scheint es noch nicht
entschieden zu sein, wie stark Heideggers Antisemitismus vor 1933 gewesen war. Der Brief
Heideggers an Schwoerer legt zumindest den Verdacht nahe, das Heidegger Antisemit war,
seinen Antisemitismus jedoch versteckte. Hätte Heidegger zu seinem Antisemitismus offen
gestanden, dann hätte er bei Jaspers „nicht einmal eine Tasse Tee bekommen.“
20
Sahmel, Karl-Heinz, Vernunft und Sinnlichkeit. Eine kritische Einführung in das
philosophische und politische Denken Herbert Marcuses, Königstein, 1979, S. 24f
21
vgl. Breuer, Stefan: Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und
Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1977, S. 76
22
Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen, 1993, S. 383
18
20
dieses „Erbe“ seine Verwirklichung im Faschismus erfahren sollte, war zum
damaligen Zeitpunkt nicht abzusehen.
Bis 1932 war Marcuse von Heidegger in hohem Maß fasziniert: „Wir sahen in
Heidegger, was wir zu erst in Husserl gesehen hatten: einen neuen Anfang, der
erste realistische Versuch, Philosophie auf wirklich konkrete Grundlagen zu
stellen. Eine Philosophie, die sich für die menschliche Existenz interessierte, für
menschliche Bedingungen und nicht bloß für abstrakte Ideen und Prinzipien.“23,
sollte Marcuse später über seine Motive sagen, die für seinen Gang nach
Heidelberg zum Studium bei Heidegger ausschlaggebend waren.
Diese „konkrete Grundlage“ gestaltete sich für Heidegger unter Anderem in der
Transformation der traditionellen philosophischen Kategorie des Subjekts.24 Das
Subjekt wurde zum „Dasein“, dessen „Wesen in der Existenz liegt.“25 Heidegger
reduzierte damit das Subjekt auf die Existenz: Sie stelle die Grundlage von allem
dar. Nachdem die Existenz konstituiert und bewußt sei, könne das Subjekt wählen.
Zwar bedinge die äußere Welt den Rahmen der Entscheidungen, doch qua seiner
Selbst könne das Subjekt frei wählen – das Dasein sei selbst seine eigene
Möglichkeit: „Und Dasein ist meines wiederum je in dieser oder jener Weise zu
sein. Es hat sich schon immer irgendwie entschieden, in welcher Weise Dasein je
meines ist. Das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, verhält sich
zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit. Dasein ist [Herv. i. O., S.E] je
seine Möglichkeit und es »hat« sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein
Vorhandenes. Und weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses
Seiende in seinem Sein sich selbst »wählen«, gewinnen, es kann sich verlieren,
bzw. nie und nur »scheinbar« gewinnen.“26 Das Subjekt bestehe zu allererst nur als
Existenz. Sartre sollte zu einem späteren Zeitpunkt schreiben, daß die „Existenz
dem Wesen vorausgehe.“ Streng genommen bedeutete dies, daß das Subjekt nur
sich selbst gegenüber eine Verantwortung trug. Es sei zu allererst existent und
könne, bzw. müsse von hier an wählen.
Was sich ein wenig nach einer Binsenweisheit anhörte - nämlich das alle Menschen
leben und entscheiden - hatte auch eine andere, eine kritische, Note die wohl die
große Faszination an Heidegger ausmachte: Das Subjekt, das Heideggersche
„Dasein“ konnte sich – eine Lektüre aus kritischer Sicht vorrausgesetzt - nicht für
eine große Ideologie vereinnahmen lassen. Wenn es zu allererst darum ging, die
eigene Existenz zu konstatieren, bevor das Dasein „seine Möglichkeit gewinnen
kann“, so waren all diese Möglichkeiten nur veränderbare Aufsätze, die
abgeworfen oder transformiert werden könnten. Durch die Möglichkeit dieses
Abwerfens konnte in letzter Konsequenz herausgelesen werden, daß alle großen
Ziele, die den Tod des Einzelnen in Kauf nahmen, vor einer solchen Philosophie
nicht bestehen konnten. Einer solchen Lesart haftete ein radikaler Humanismus an,
denn Sartre später in ähnlicher Form in seinem Aufsatz „Der Existenzialismus ist
ein Humanismus“ formulierte.
23
Olafson, Frederic / Marcuse, Herbert: Irrtum oder Verrat an der Philosophie. Fragen an
Herbert Marcuse zu Martin Heidegger, in Jansen, Peter-Erwin: Befreiung Denken – Ein
politischer Imperativ. Ein Materialienband zu Herbert Marcuse, Offenbach, 1990 S. 123f
24
vgl. Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit, in: Adorno, Theodor W.:
Gesammelte Schriften, Band 6, Frankfurt /M, 1998, S. 488
25
Heidegger, a. a. O., S. 42
26
Ebd.
21
Es erscheint nicht zufällig, daß solch eine so geartete Philosophie im Wettstreit der
politischen Systeme eine große Faszination ausübte: Fast zehn Millionen Tote und
ungefähr zwanzig Millionen Verwundete hatte der erste Weltkrieg gefordert.
Willhelm II sagte: „Auch Mich hat die eine oder die andere Partei wohl
angegriffen. Das war in Friedenszeiten. Ich verzeihe es heute von ganzem Herzen!
Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle
deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder“27 Die Subsumtion aller unter den
großen Krieg, der Tod fürs Vaterland frei nach dem Hölderlinschen Ausspruch:
„Lebe droben, o Vaterland, Und zähle nicht die Todten!“28 und das Scheitern der
Oktoberrevolution mit der Unterordnung des Subjekts unter die große Sache des
Kommunismus, war einer Art des Denkens geschuldet, in der der Einzelne nichts,
das große Ziel alles zählte. Vor diesem Hintergrund waren Sätze wie: „Das
»Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz“29 von durchschlagener
Anziehungskraft. Nicht die große Sache zählte, sondern das Subjekt selbst. Das
Subjekt das zu wählen hatte. Hier - so schien es - ging es um den Einzelnen.
Heidegger legte großen Wert auf die Zeitlichkeit allen Seins. Was sich wie eine
Plattheit anhört, die sagt daß alles vergänglich ist; so schien es damals etwas zu
sein, an das erinnert werden mußte. Etwas, daß der Erste Weltkrieg in seiner
Rhetorik und Praxis ad absurdum geführt hatte. Durch das Inkaufnehmen der Berge
von Toten war es keinesfalls selbstverständlich, daß dem Sein eine solch
fundamentale Bedeutung zugemessen wurde.
Heidegger suchte, wie Hegel, die Philosophie in ihre ursprünglich Bedeutung
zurückzuführen: „Philosophie“, schrieb er, „ist universale phänomenologische
Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analyse der
Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht
hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“30 Nicht zufällig wählte
Sartre später als Untertitel seines Werkes „Das Sein und das Nichts“ den Beisatz:
„Versuch einer phänomenologischen Ontologie.“ Philosophie als „Mutter der
Wissenschaft“ sollte wieder ihren zentralen Platz einnehmen, doch diesmal als eine
„phänomenologische Ontologie“. Die Erklärung der Arten des Seins sollte sich aus
ihren Phänomenen herleiteten; sie zu abstrahieren und zu konkretisieren sollte die
große Aufgabe sein. Damit schien es eine Philosophie zu sein, die sich für die
menschliche Existenz interessierte, die versuchte einen Ausweg zu finden aus dem
Fehlen eines universalen Sinns. Eine Philosophie in der, wie Camus es später
ausdrückte „Leben an sich schon ein Werturteil ist. Atmen heißt urteilen.“31 Diese
starke Moralität war bei Heidegger jedoch nicht spürbar. Für ihn war der Mensch
„in die Welt geworfen“. Dieses „Geworfensein“ ohne direkt erklärbaren Sinn des
Lebens, galt es zu untersuchen.
27
Kriegs-Rundschau. Zeitgenössische Zusammenstellung der für den Weltkrieg
wichtigen Ereignisse, Urkunden, Kundgebungen, Schlacht- und Zeitberichte. Hrsg.
v. der Täglichen Rundschau. Bd. 1: Von den Ursachen des Krieges bis etwa zum
Schluß des Jahres 1914, Berlin 1915, S. 43
28
Hölderlin, Friedrich: Der Tod fürs Vaterland, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke.
Große Stuttgarter Ausgabe [StA], hrsg. v. F. Beißner (Bd. I-V) u. Adolf Beck (Bd. VI-VII,
Bd. VIII gemeinsam mit U. Oelmann), StA I, Gedichte bis 1800, Stuttgart 1943 – 1985, S.
299
29
Heidegger, a.a.O., S. 42
30
Heidegger, a.a.O., S. 436
31
Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Reinbek bei Hamburg, 1969, S. 11
22
„Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die
Zeit selbst als Horizont des Seins?“32 Mit diesen Fragen beendete Heidegger sein
Buch. Dies waren Fragen, die nicht nach der Subsumtion des Subjekts unter große
politische Ziele klangen. Hier waren scheinbar Momente angesprochen, die sich
direkt um die Subjekte kümmerten, ums Dasein. Doch nicht zufällig annullierte
Heidegger Subjekt und Objekt, zugunsten von Dasein und Sein. Die konkreten
historischen Momente, die mit den Begriffen Subjekt und Objekt hätten erklärt
werden können, wurden so in abstraktere umgewandelt, die nur noch in einem
anthropologischen Kontext Sinn ergaben.
Seine Philosophie vermochte (und wollte) historische Transformationen nicht
erklären, da sie um ein anthropologisches Dasein kreiste. Heidegger versuchte
nicht weniger als nach einem ewigen „Sinn der Lebens“ zu fragen, der außerhalb
der konkreten Geschichte stand. Zwar korrelierte die Kategorie der Zeitlichkeit
unmittelbar mit der Frage nach dem Sinn des Lebens, doch blieb sie in „Sein und
Zeit“ noch vor der politischen Tat stehen. An keiner Stelle von „Sein und Zeit“
brach eine konkrete historische Wirklichkeit in die Philosophie vom Dasein ein.
Die „Zeitlichkeit allen Seins“ war eine, die unabhängig von der konkreten
geschichtlichen Situation zur Debatte stand.
Damit bekam Heideggers Philosophie von 1927 zwei Dimensionen: Eine
Dimension die sich der konkreten Partizipation verweigerte, die nach einem
ewigen Prinzip suchte, also auch in einer befreiten Gesellschaft, in einer abstrakten
Zukunft noch Aktualität hätte. Und eine andere Dimension, die sich vom
Gesellschaftlichen abschottete, die den „Zeitkern von Wahrheit“ (Horkheimer)
ausblendete. Daß die Erscheinungsformen der Zeit33 selbst historischer
Transformation unterworfen waren, blieb in „Sein und Zeit“ außen vor34.
Das Subjekt, bzw. das heideggersche „Dasein“ wurde zum Bollwerk: Das Objekt –
die Gesellschaft war ausgeklammert, die Welt wurde zu einer aus Wille und
Vorstellung reduziert. Das dialektische Begriffspaar von Subjekt und Objekt
verschob sich zugunsten des Daseins. Diese Verschiebung markierte zugleich die
„objektive Schranke“ Heideggers. Seine Philosophie von „Sein und Zeit“ stellte
letztendlich mehr Abkapselung von der sozialen Welt, anstatt eines Eintrittes in sie
dar.
Um dies auszugleichen, starteten Sartre wie Marcuse - unabhängig und ohne
Kenntnis voneinander - ein großes Projekt, von dem sie sich später beide
distanzierten: Den Versuch einer Verbindung von Marx und Heidegger. Fasziniert
von einer Denkart, die in hegelscher Tradition die Geschichte des menschlichen
Seins und ihren Sinn zu fassen versuchte, machten sie sich an philosophische
32
Heidegger, a.a.O., S. 437
Gemeint ist damit die Veränderung der Zeit von einer zyklischen zur modernen. Zeit
wurde zu anderen historischen Epochen als in Einklang mit den Jahreszeiten angesehen.
Mit der Durchsetzung moderner Zeit war ein gewaltiges Disziplinierungsmoment ins Leben
der Menschen getreten: Das Leben nach der Maschinenzeit. Marx sprach hierbei von der
Vernichtung des Raums durch die Zeit. (vgl. Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der
politischen Ökonomie, Berlin /Ost,1974 , S. 423 und Krozova, Alfred: Produktion und
Sozialisation, Frankfurt, 1976, S. 151ff)
34
Heidegger unterscheidet zwar zwischen verschiedene Arten der Zeit (Zeit-in-der-Welt,
Welt-Zeit, Zeit der Verstehens, Zeit des Verfallens, Zeitlichkeit der daseinsmäßigen
Räumlichkeit, usw.), doch in keinem Moment wird auch nur der Versuch einer
materialistischen Herkunftsbestimmung unternommen.
33
23
Unternehmungen, die auf ihre Art eine Rückbesinnung auf den Linkshegelianismus
darstellte. Mit dem Untergang der II. Internationalen, dem Ausbruch des ersten
Weltkriegs und dem Scheitern der russischen Revolution erschien dies als ein
Besinnungspunkt, ein philosophischer Bezugspunkt, der nicht von realer
Geschichte desavouiert erschien - etwas das nicht durch die geschichtliche
Wirklichkeit überholt wurde. Es begann eine Art Überprüfung der Philosophie.
Marcuse und Sartre waren mit dieser Position keinesfalls allein. Auch andere
Denker der Zeit arbeiteten an einer Reinterpretation Marxens via Hegel: Lukacs
„Geschichte und Klassenbewußtsein“ und Blochs „Geist der Utopie“35 waren
ebenfalls als solche Versuche zu betrachten. Auch Adornos Arbeiten über Husserl
(1924) und Kierkegaard (1931) fußten auf Hegel. Doch entgegen Heideggers
Hegelinterpretation versuchten Bloch und Lukacs die Präformationen des Subjekts
neu zu verorten: Warum scheiterte die Revolution? Warum konnten die Menschen
die herrschenden Zustande nicht so umgestallten, daß die Welt eine wurde, in der
der Mensch kein geknechtetes, erniedrigtes Wesen mehr war? Dies waren die
Fragen denen sich Bloch und Lukacs mit dem Hegelschen System näherten.
Heideggers Werk lernte Sartre erst nach dessen Zeit als Apologet des NS kennen.
Daß er seine Philosophie trotzdem schätzte, lag unter anderem an der spezifisch
französischen Situation: “Die Bedingungen der Emigration und der RésistanceSituation sind eben unvergleichbar; so wie Horkheimer und Adorno nie wirklich
und Marcuse überhaupt niemals aus der Emigration heimkehrten, so stellte sich die
Résistance-Situation bei den Marxisten wieder her, die unter der realen Herrschaft
des Stalinismus den Existentialismus als Korrektiv begrüßten und positiv
aufnahmen. Deutlich wird dies an der Stellung zu Heidegger. [...] Für die Tatsache
hingegen, daß genau diese Philosophie den französischen Antifaschisten und den
osteuropäischen Antistalinismus inspirierte, hatte man in Frankfurt nie eine
überzeugende Erklärung”36
Philosophie als Schutz vor der Wirklichkeit
Marcuses: Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen
Materialismus
Der junge Marcuse sah sich mit den Fragen Heideggers konfrontiert. In seiner 1928
erschienen Schrift: „Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen
Materialismus“ schrieb er: „Indem Heidegger […] die geschichtliche Geworfenheit
des Daseins und seine geschichtliche Bestimmtheit und Verwurzelung im
»Geschick« der Gemeinschaft erkennt, hat er sein radikales Forschen zu dem
äußersten Punkt vorgetrieben, zu dem die bürgerliche Philosophie bisher gelangte
und – überhaupt gelangen kann. Er hat die theoretischen Verhaltungsweisen des
Menschen als »abkünftige«, als fundiert im praktischen »Besorgen« aufgedeckt
35
Bloch, Ernst: Geist der Utopie in: Bloch, Ernst, Werke 16, Frankfurt /M, 1985. Bloch
widmet in dem Kapitel: Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit - Hegel und Kant
(Überschrieben mit Innerlichkeit und System) einen zentralen Abschnitt der Frage, ob das
hegelsche System noch Geltung hat.
36
Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule, in: Hrsg. V. Traugott König:
Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 18
24
und damit die Praxis als das Feld der Entscheidungen erwiesen.“37 Es hatte sich um
Praxis zu handeln, wenn Philosophie einen Anspruch auf Wahrheit und Erklärung
erheben wollte. Philosophie sollte konkret werden. „Geschichtlichkeit […] als
Weise des Seins selbst“38, doch weiterhin sollte Philosophie schützen gegen die
geschichtliche Situation, in der sie stand. Sie sollte die Existenz als eigenen Wert,
der ideologisch nicht vereinnahmt werden konnte, behaupten: „Es ist die drängende
Aufgabe, den Selbstwert der Person, ihrer Existenz und ihrer Leistung,
abzugrenzen gegen das geschichtliche Erbe und die geschichtlich-gesellschaftliche
Situation, in der die Person steht. […] Hier wäre die Frage aufzuwerfen, ob und
inwiefern konkrete geschichtliche Daseinsformen (Gesellschaftssysteme) als solche
werthaft sein können, so daß ein »geschichtliches« Existieren und Handeln trotz
seiner »Notwendigkeit« auch Realisierung von Werten darstellen würde.“ 39
Vorsichtig war also zu fragen, ob ein neuer Kampf um eine bessere Welt Elemente
enthielt, in der die Würde der Existenz aufgehoben und verwirklicht werden würde
und ob „neue geschichtliche Daseinsformen“40 die Realisierung existentialistischer
Werte ermöglichen könnten.
Dahinter verbargen sich schlicht die Fragen: Ist es möglich, daß eine kollektiver
Akteur die Bühne der Weltgeschichte betritt, ohne zu scheitern und einen
wirklichen Fortschritt erzielt? Ist es möglich eine Philosophie zu erdenken, in der
das Subjekt nicht unter den Rädern der großen Ziele zermahlen wird?
Konkrete Philosophie abstrakt
Marcuses: Über konkrete Philosophie
Philosophie sollte, so Marcuse, konkret werden und der historische Materialismus
sollte diese notwendige Konkretion sein, „weil er aus der Notwendigkeit einer
unerträglich gewordenen Existenz heraus das Geschehen neu begreifen mußte.“41
Wahrheit und Philosophie sollten mit dem Subjekt einen Bund eingehen: „Jede
Wahrheit hat den existenziellen Sinn, daß der Mensch durch ihre Aneignung wahr
existieren kann.“42 Erst durch die Aneignung von Wahrheit sei der Mensch in der
Lage, mittels Philosophie, seine eigentliche Existenz vernünftig leben zu können.
Zu fragen galt, ob dieses aufklärerische Motiv unbegrenzte Geltung habe: „Haben
[…] auch philosophische Probleme und Wahrheiten ihre Zeit: ihren Ort und ihre
Stunde?“43 Eine Frage, derer sich Horkheimer später annahm, als er der Wahrheit
einen „Zeitkern“ zuschrieb. Philosophie, so der frühe Marcuse, habe sich „wo
wirklich um neue Möglichkeiten des Seins gekämpft wird“, nicht zu verraten durch
die Weiterarbeit an „zeitlosen Diskussionen.“44
Dies war für Marcuse die eigentliche Verbindung Marxens mit dem
Existentialismus und damit ein erster Bruch mit dem Heidegger von „Sein und
Zeit“: Philosophie mußte in der Welt und an der Welt stattfinden, mußte sich ins
37
Marcuse, Herbert: Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus,
Schriften I, Frankfurt /M, 1971, S. 363
38
Ebd.
39
Ebd. S. 371f.
40
Ebd. S. 372
41
Ebd. S. 384
42
Marcuse, Herbert: Über konkrete Philosophie, Schriften I, Frankfurt /M, 1971, S. 363
43
Ebd. S. 388
44
Ebd. S. 406
25
Handgemenge begeben und danach trachten eine Welt möglich zu machen, die
„neue Formen des Sein“ ermöglichte. Philosophie sollte eintreten für eine Welt, in
der die Subjekte durch ihre Existenz den Platz einnehmen könnten, der ihnen
gebühre. Die konkrete Philosophie müßte sich, so Marcuse, „an die mit ihr
gleichzeitige Gesellschaft wenden, sie in ihrer geschichtlichen Situation aufsuchen
[…] und sich auf diesem Wege zu ihrer Wahrheit durcharbeiten.“45 Der Kernpunkt
dieser Philosophie sollte der Einzelne, das Subjekt bleiben: „Niemals darf die
Konkretion der Philosophie in der Existenz jedes einzelnen auf ein abstraktes
ManSubjekt abgeschoben werden, die entscheidende Verantwortung auf irgendeine
Allgemeinheit abgewälzt werden.“46 Doch hier schloß sich ein weiteres Problem
an: Wie sollte die konkrete Philosophie den Einzelnen erreichen? „Es genügt [...]
nicht, Bücher zu schreiben, deren Angesprochener stets nur eine abstrakte
Allgemeinheit ist […]. Die Gesellschaft ist weder ein daseinendes Subjekt neben
dem einzelnen noch die Summe der einzelnen, sondern in ganz konkretem Sinne ist
die Gesellschaft jeder einzelne selbst, ist sie die konkret-geschichtliche Weise des
Daseins des einzelnen.“47 Später revidierte Marcuse seine damalige Position. Sein
Verhältnis zur Gesellschaft erschien hier als eines, in dem das Subjekt die
Konstitutionsgrundlage alle Dinge darstellte. Der Umschlag von Gesellschaft aufs
Subjekt, die Präformation des Bewußtseins, blieb in seiner frühen
existentialistischen Variante des Marxismus eine Leerstelle. Dennoch erschien
auch hier die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung, wo „der Weg zur
Revolutionierung des Einzelnen nur durch die Veränderung der Gesellschaft gehen
[kann].“48 Dahinter verbargt sich ein – auch später umstrittener – Punkt der
Philosophie Marcuses: Die Vorstellung eines „neuen Menschen“. Die Subjekte, so
schwang es in den Zeilen mit, seien im Bestehenden - ohne Kenntnis der
Philosophie, also der Ausbildung eines Selbstbewußtseins im hegelschen Sinne nicht zu großer gesellschaftlicher Transformation fähig. Eine Position, die Marcuse
mit anderen wie Lenin oder Lukacs teilte. Doch entgegen der transformatorischen
Rolle des Proletariats als Subjekt der Befreiung, angeleitet durch die Partei, blieb
die existentialistische Variante bei einer abstrakten Trägerschicht der neuen
Gesellschaft: dem Menschen als Gattungswesen. Es schien, als sei, bei allem
verlangten Einbruch der Geschichtlichkeit in die Philosophie, bei der Frage nach
dem kollektiven Akteur, die Geschichte schon wieder ausgebrochen.
Eine solche Position war allerdings in den Jahren 1928-1932 nicht unverständlich.
Nach dem Mißlingen der russischen Revolution und dem Scheitern des deutschen
Proletariats - vielmehr dessen Führung, wie Marcuse konstatierte - in Form der
Sozialdemokratie, wäre der Versuch der Revitalisierung wohl auch am historischen
Zeitkern vorbeigedacht gewesen. Dies sollte sich in Marcuses späterer Philosophie
ändern. Während andere dann mühsam versuchten, einen weiteren Korken in die
Flaschenpost zu stopfen, war Marcuses derjenige der ein rebellisches Subjekt
konkret ansprach.
Sartre vor den Frühwerken
45
Ebd. S. 403
Ebd.
47
Ebd., S. 403f
48
Ebd., S. 405
46
26
Der Sartre jener Jahre, sieben Jahre jünger als Marcuse, studierte an der ecole
normale, wo er Paul Nizan und Raymont Aaron kennenlernte; danach absolviert er
seinen Militärdienst als Meteorologe in Tours. Seine damaligen Schriften brauchen
hier nicht erörtert zu werden. Sie haben noch nicht die Bedeutung, die seine
späteren Schriften erlangen werden, auch bereiten sie diese erst ab 1936 vor.49 Hier
sei nur erwähnt, daß der junge Sartre Heidegger noch nicht kannte, obwohl eine
seiner ersten Schriften „Legende der Wahrheit“ 1931 in der Zeitschrift „Bifur“
erschien, in der auch die französische Übersetzung von Heideggers „Was ist
Metaphysik?“ veröffentlicht wurde50. Darin versuchte Sartre eine Abrechnung mit
der französischen Universitätsphilosophie. „Die Wahrheit“, so Sartre, „ist ein
grausamer und angebeteter Tyrann: in ihrem Namen kann man den glücklichsten
der Menschen zum Selbstmord überreden.“51 Mehr als der philosophische Gehalt
des Textes – eine Polemik auf die Vorstellung, daß es eine zugängliche und
erkennbare objektive Wahrheiten gebe – bestach die Verbindung eines literarischen
Stils mit Philosophie. Sartre, der sich hier unter dem Einfluß von Bergson stehen
sah52, versuchte die Legende der Wahrheit, die Entstehung ihres Mythos
nachzuzeichnen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, daß schon der junge Sartre mit
großer Wut einen objektiven Wahrheitsbegriff, wie ihn z.B. die Scholastik benutze,
ablehnte.
The proof of the pudding is in the eating
Marcuses: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit
Marcuse arbeitete weiter an der Verbindung von Marx und Heidegger. In der
Einleitung seiner 1932 verfaßten Habilitationsschrift „Hegels Ontologie und die
Theorie der Geschichtlichkeit“ hieß es: „Was diese Arbeit etwa zu einer
Aufrollung und Klärung der Probleme beiträgt, verdankt sie der philosophischen
Arbeit Martin Heideggers.“53 Lind sieht darin ein Werk, „[which] bears all the
marks of Heidegger’s own concerns with the metaphysical dimension of Hegel’s
philosophy, and in addiction to a single overall acknowledgement of Heidegger,
displays all the familar philosophical categories of the latter.“54 Doch das Werk war
noch mehr als die Auseinandersetzung mit Hegel durch die Heideggersche Brille.
Tatsächlich versuchte „Marcuse zu zeigen, wie die Subjektivität in Hegels späterer
Philosophie zunehmend an den Rand gedrängt wurde, zugunsten einer Ausweitung
der objektiven Kräfte des Staates und des absoluten Geistes.“55 Es handelte sich
also um eine Hegelrezeption, die den frühen Hegel gegen den späten stark zu
machen suchte, um ihn als Fundament für einen marxistischen Existentialismus
fruchtbar zu machen. Marcuse setzte an dem Punkte Hegels an, der ihn gegen Kant
49
Zu Sartes Frühstschriften vgl. Spurk, Jan: Bastarde und Verräter. Jean-Paul Sartre und
die französischen Intellektuellen, Bodenheim, 1988. S. 175-186.
50
Vgl. von Wroblewsky, Vincent: Anmerkungen des Herausgebers, in: Sartre, Jean Paul,
Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 31
51
Sartre, Jean-Paul: Die Legende der Wahrheit, in: Sartre, Jean Paul, Gesammelte Werke,
Philosophische Schriften I, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 21
52
Vgl. von Wroblewsky, Vincent, a.a.O., S. 31
53
Marcuse, Herbert: Hegels Ontologie der Geschichtlichkeit, Frankfurt /M, 1968, S. 8
54
Lind, Peter: Marcuse and freedom, Worcester, 1985, S. 18
55
Adromeit, John: Herbert Marcuses Auseinandersetzung mit der Philosophie Martin
Heideggers, in: Jansen, Peter-Erwin und Redaktion »Perspektiven« (Hg.): Zwischen
Hoffnung und Notwendigkeit, Frankfurt /M, 1999, S. 153
27
vorgehen ließ: Kants Subjekt konstituierte sich über die „reine Apperzeption“56, die
Kant von der „ursprünglichen“ und der „empirischen“ abgrenzte. Damit war
gemeint, daß das „ich denke“ alle Vorstellungen begleiten müsse, da sonst gar
nicht gedacht werden könne und eine äußere Projektion im Subjekt die Rolle des
Denkens übernähme.57 Bei Kant war das Subjekt Dreh- und Angelpunkt von
Wahrheit und Erkenntnis, lediglich das Ding an-sich sei ihm nicht zugänglich. Dies
bliebe Gott vorbehalten. Letztlich stand „Gott“ damit jenseits aller Momente des
Handelns in dieser Welt. Heinrich Heine merkte zur Philosophie Kants an: „Hat
Kant die Ressurrektion nicht bloß des alten Lampe wegen, sondern auch der
Polizei wegen unternommen? Oder hat er wirklich aus Überzeugung gehandelt?
Hat er eben dadurch, daß er alle Beweise für das Dasein Gottes zerstörte, uns recht
zeigen wollen, wie mißlich es ist, wenn wir nichts von der Existenz Gottes wissen
können? Er handelte da fast eben so weise, wie mein westfälischer Freund, welcher
alle Laternen auf der Grohnderstraße zu Göttingen zerschlagen hatte, und uns nun
dort, im dunkeln stehend, eine lange Rede hielt über die praktische Notwendigkeit
der Laternen, welche er nur deshalb theoretisch zerschlagen hatte, um uns zu
zeigen, wie wir ohne dieselbe nichts sehen können.“58
Man möchte bei der Lektüre von Marcuses „Hegels Ontologie und die Theorie der
Geschichtlichkeit“ ähnliches fragen: Wozu all die Heideggerschen Kategorien,
wenn am Ende ein Übergang vom „Sinn zum Seinenden“, von
„Fundamentalontologie zur Geschichtsphilosophie; von Geschichtlichkeit zur
Geschichte“59 stand? Marcuse ersetzte später all die heideggerschen Kategorien
durch die des historischen Materialismus und der kritischen Theorie.
Bleibend sollte ein Gedanke des Buches sein, der sich schon damals mit Ein- bzw.
Mehrdimensionalität beschäftigte: Da alles Seiende durch seine Zeitlichkeit
gekennzeichnet sei, habe jedes Seiende nicht nur Geschichte, „sondern ist
Geschichte.“ Jedes Sein habe Vergangenheit, wie Gegenwart und weise damit in
Zukünftiges, also auch in Momente des möglichen Anderseins; in allen Dingen
stecke gleichermaßen neben Vergangenem und Gegenwärtigem ein Telos. Dieses
Zukünftige weise über das Bestehende hinaus. Damit bekomme das Sein eine
„Zweidimensionalität“, die Marcuse später in seinem Buch „Der eindimensionale
Mensch“ in der für ihn – und viele andere - herrschenden Eindimensionalität
aufgreifen wird, da dort mögliches Anderssein verbaut schien.
Ebenfalls wird sich ein Moment durch Marcuses Werk ziehen, daß auf einem
hegelschen Denkmodel gründete: Das Auseinanderfallen von Subjekt und Objekt,
als in der historischen Wirklichkeit gespaltenes, welches in Zukunft versöhnt und
zusammengebracht werden solle. Nicht nur die Wahrheit des Erkennens (Kant),
sondern „die Wahrheit des Gegenstandes selbst“ betonte Marcuse mit Hegel.
56
Kant, Imanuel: Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe, Band III, Frankfurt /M, 1980,
§16, S. 136
57
Tatsächlich wäre zu fragen, ob nicht die Konzeptionen Freuds, besonders in den
Kulturkritischen Schriften genau so etwas suggeriert: Kultur und Gesellschaften verrichten
eine (für Freud) notwendige Zurichtung des Bewußtseins und entwickeln Momente, die der
einzelne in seinem Handeln nicht denkt: Man könnte mit Kant sagen: Etwas wird in ihm
vorgestellt.
58
Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in:
Werke, Vierter Band, Frankfurt /M, 1968, S. 132
59
Adorno, Theodor W. Herbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer
Theorie der Geschichtlichkeit, in: Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, Band 20.1,
Frankfurt /M, 1997, S. 203
28
Damit polarisiert sich das Verhältnispaar Subjekt-Objekt dazu, durch
Geschichtlichkeit selbst aufgelöst werden zu müssen, nicht aber - wie bei Hegel –
im absoluten Geist. Oder wie Lukacs es einmal, Engels zitierend, ausdrückte: „The
proof of the pudding is in the eating“60 Durch die Veränderbarkeit des
Gegenstandes bleibe, folgt man Lukacs, kein metaphysisches Ding an-sich übrig;
nichts daß nur in der Wahrheit des Erkennens liege, sondern im realen Leben, der
realen Geschichte seinen Platz und seine Möglichkeit auf Andersein beinhalte.
Die Entdeckung: Die Veröffentlichung der Pariser
Manuskripte – Marcuses Wandel von Heidegger zu
Marx
Marcuses: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen
Materialismus
Wirkliches Denken, betonte Marcuse nun immer wieder, bedürfe seiner Reflexion
in gesellschaftlichem Sein. Diesen Grundsatz sah er am deutlichsten bei Marx
verwirklicht. Als 1932 die „Ökonomisch Philosophischen Manuskripte“
veröffentlicht wurden, war dies für Marcuse ein „entscheidendes Ereignis in der
Geschichte der Marx-Forschung.“61 Für seine Philosophie markierte die Lektüre
der Frühschriften Marxens, wie er später sagte, einen Wendepunkt: „Hier war in
einem gewissen Sinne ein neuer Marx, der wirklich konkret war und gleichzeitig
über den erstarrten praktischen und theoretischen Marxismus der Parteien
hinausging. Und von da ab war das Problem Heidegger versus Marx für mich
eigentlich kein Problem mehr.“62 Hier fand sich für Marcuse ein Marx, der die
„revolutionäre Kritik der politischen Ökonomie philosophisch […] fundiert“63 - ein
Marx, der sich mit hegelscher Methodik der Nationalökonomie annahm, wodurch
eine Marx-Interpretation gestärkt werden konnte, die einen Kontrast zum starken
Ökonomismus des orthodoxen Marxismus der 30er Jahre bildete.64
60
Lukacs, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin-Halensee, 1923 (Reprint im
Raubdruck), S. 217
61
Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, in:
Marcuse, Herbert: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt /M, 1970,
S. 7
62
Habermas, Jürgen / Bovenschen, Silvia, u.a.: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt
/M, 1978, S. 11
63
Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, in:
Marcuse, Herbert: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt /M, 1970,
S. 9
64
Daß der späte Marx ein solch großes Augenmerk auf die Ökonomie richtete, sieht Engels
in der Auseinadersetzung mit dem politischen Gegner begründet: „Daß von den Jüngeren
zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, haben Marx und ich
teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen
geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die
übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen.
[…] Es ist leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden
zu haben […] sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer
richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchem der neueren „Marxisten“ nicht ersparen,
und es ist da dann auch wundersames Zeug geleistet worden.“, in: Engels Friedrich, Engels
an Joseph Bloch, MEW 37, S.465
29
Die Pariser Manuskripte thematisieren die Schnittstelle des Individuums mit der
Gesellschaft: Des realen, praktischen Subjekts, dessen konkrete Situation in der
Gesellschaft, dessen Unterworfensein unter die „Herrschaft der totgeschlagenen
Materie über die Menschen“ (Marx), im Mittelpunkt der Philosophie stand.
Statt der Verflüchtigung realer Geschichte aus der Philosophie - wie bei Heidegger
- war hier ein System, das sich um die „ganze »Existenz« des Menschen, [um] die
»menschliche Wirklichkeit«“65 kümmerte. Marx analysierte die kapitalistische
Gesellschaft als eine, durch die die Existenz des Menschen in Frage gestellt war
und die nur durch totale und radikale Umwälzung einen Zustand erreichen könne,
in der der Mensch kein geknechtetes und erniedrigtes Wesen mehr sei. Die
gesellschaftliche Zurichtung des Subjekts war der Mittelpunkt seiner Kritik: Der
Arbeiter, so Marx, mußte selbst zur Ware werden, um als physisches Subjekt
existieren zu können, er müsse „seine Menschheit verkaufen“66 Das, was den
Menschen als Gattungswesen ausmachen könnte, werde laut Marx durch den
„nationalökonomischen Zustand“ zur Entwirklichung. Die „Knechtschaft des
Gegenstandes“ und die Entfremdung verschöben das Gegensatzpaar Subjekt und
Objekt zugunsten einer Übermacht des Objekts, die es zu durchbrechen gelte.
Die gesellschaftliche Wirklichkeit, die sich durch Geld vermittele, werde zur
verkehrenden Macht: Das Geld „verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in
Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in
den Herren, den Herren in den Knecht, den Blödsinn in Verstand […] Wer die
Tapferkeit kaufen kann, der ist tapfer, wenn er auch feig ist. Da das Geld nicht
gegen eine bestimmte Qualität, gegen ein bestimmtes Ding, menschliche
Wesenskräfte, sondern gegen die ganze menschliche und natürliche
gegenständliche Welt sich austauscht, so tauscht es also – vom Standpunkt seines
Besitzers angesehen – jede Eigenschaft gegen jede – auch ihr widersprechende
Eigenschaft und Gegenstand – aus; es ist die Verbrüderung der Unmöglichkeiten,
es zwingt das sich Widersprechende zum Kuß.“67 Die große Freiheit und der innere
Reichtum der Subjekte könne nicht ausgebildet werden, da die kapitalistische Welt
durch den Äquivalententausch alle genuinen Eigenschaften ersetzbar mache.
In einer höheren Stufe der Gesellschaft, so Marx, könne „Liebe nur gegen Liebe
ausgetauscht werden und Vertrauen gegen Vertrauen“. Die Verhältnisse der
Menschen wären „dem Willen entsprechende Äußerungen des wirklichen
individuellen Lebens.“68
Entfremdung und Verdinglichung bewirkten, daß die Arbeit dem Menschen als
„feindliche Macht“ gegenüberstehe. Arbeit könne aber, so Marx, auch
„Selbsterzeugungs- oder Selbstvergegenständlichungsakt des Menschen“ und „die
Lebenstätigkeit, das produktive Leben selbst“69 sein. In der durch Arbeit
zugerichteten Wirklichkeit werde der Begriff der Arbeit zur philosophischen
Kategorie, da sie die „eigentliche Äußerung und Verwirklichung des menschlichen
65
Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, a.a.O.
, S. 14
66
Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW Ergänzungsband, Erster
Teil, S. 476
67
Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a.a.O. , S. 566f
68
Ebd., S. 567
69
zit. nach: Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen
Materialismus, a.a.O. , S. 17. In der „MEW Ergänzungsband Erster Teil“ finden sich die
entsprechenden Textstellen mit anderen Formulierungen.
30
Wesens“ fasse. Dem Begriff der Arbeit kommt damit der Stellenwert der großen
gesellschaftlichen Vermittlungsagenturen zwischen Subjekt und Objekt zu.
Zu erstreben sei, so Marcuse und Marx, „die Rückkehr des Menschen in sein
wahres Eigentum […] als Rückkehr in sein gesellschaftliches Wesen, die
Befreiung der Gesellschaft.“70 Grundvoraussetzung für die Befreiung des
Menschen stelle die Revolution dar: Ein Motiv, daß sich von nun – mal offen und
mal verdeckt – auch durch Marcuses Denken zog.
War in den frühen Schriften Marcuses das Subjekte nur als abstraktes Erkennbar,
als Dasein im heideggerschen Sinne, so erfuhr es nun eine Konkretion. Der Begriff
des Subjekts wurde Synonym mit den Einzelnen, den Individuen als Unterdrückte.
Auch wenn diese Behandlung des Subjektbegriffs als Synonym problematisch war
(wenn z.B. die Klasse zum Subjekt wurde, existierte weiterhin ein Gegensatz zum
Einzelnen), so galt es diesen Subjektbegriff als Verhältnisbegriff zu begreifen. Ihm
Gegenüber stand das Objekt, daß nun via Marx zum Synonym für die
kapitalistische Gesellschaft wurde. So gewannen die Begriffe von Subjekt und
Objekt ihre spezifische historische Konkretion und stellen ein kritisches
Begriffsinstrumentarium bereit, das auch in nicht-kapitalistischen Gesellschaften
Anwendung finden konnte, dann jedoch einer anderen historischen Konkretion
bedurfte.71
Doch Gesellschaft und Individuum, Subjekt und Objekt, stellten sich für Marcuse
nicht ausschließlich als Antipoden dar. Sie standen in einem dialektischen Bezug:
„Denn es gibt »Gesellschaft« nicht als ein Subjekt außer den Einzelnen;
ausdrücklich warnt Marx davor, die Gesellschaft als eine selbstständige Größe
gegen die Einzelnen auszuspielen. […] Die Erkenntnis der Vergegenständlichung
bedeutet demnach die Erkenntnis, wie und wodurch der Mensch und seine
gegenständliche Welt als gesellschaftliche Verhältnisse geworden sind, was sie
sind, bedeutet die Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Situation des
Menschen.“72 Wären Subjekt und Objekt auf ewig unversöhnbar gegenübergestellt,
so wäre gesellschaftliche Veränderung unmöglich: Subjekt und Objekt wären starr
und unbeweglich. Vielmehr erschien der Mensch als gesellschaftliches Wesen und
für Marx, wie Marcuse war er grundsätzlich in Lage, sich aus der
selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und in der Revolution jene
gesellschaftliche Transformation zu erreichen, in der Subjekt und Objekt – getreu
dem hegelschen Denkmodel – versöhnbar seien.
Während Hegel den Menschen durch seine Erhebung zu abstraktem
Selbstbewußtsein (Geist, Denken) konkreter Fülle beraubte und sich bei ihm die
70
Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, a.a.O.
, S. 38
71
Durch die in den Begriffen enthaltene Dualität von Subjekt und Objekt als Unversöhnte
kann auch in zukünftigen, freieren Gesellschaften ein mögliches Mißverhältnis zwischen
den Einzelnen und der Gesellschaft ausgedrückt werden. Eine andere Konkretion bekäme
das Begriffspaar, wenn die entfremdete Arbeit und damit der Kapitalismus seine historische
Schranke überschreiten würde und eine neue Organisation der Arbeit an diese Stelle der
von Ausbeutung gekennzeichneten, treten würde. Da eine solche mögliche Gesellschaft
nicht existiert und nur in Ansätzen für kurze Zeit existierte, wie z.B. in Spanien während
des Bürgerkrieges oder während der Pariser Commune, kann nur spekuliert werden, daß
auch mit der Veränderung der Arbeit nicht automatisch alle unterdrückenden Elemente von
Gesellschaft beseitigt wären.
72
Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, a.a.O.
, S. 40
31
Geschichte des Menschen als Geschichte des Selbstbewußtseins las, bekam bei
Marx wie Marcuse die Versöhnung von Subjekt und Objekt eine konkrete
historische Dimension.
Marcuse legte größten Wert auf die Rolle Hegels in Marxens Werk: „Die HegelKritik ist kein Anhängsel der vorgegangenen Kritik und Grundlegung der
Nationalökonomie, sie ist in der ganzen Kritik und Grundlegung wirksam: diese
selbst ist eine Auseinandersetzung mit Hegel.“73 Die Verbundenheit zu Hegel, die
auch schon in Marcuses Habilitationsschrift deutlich wurde, sollte sich später in
einem seiner Hauptwerke noch deutlicher niederschlagen; als er im amerikanischen
Exil seine Ehrenrettung Hegels „Vernunft und Revolution“ schrieb.
Übergänge: Marcuse Emigration aus Deutschland und
Sartres Jahr in Berlin
Während Marcuse Deutschland verlassen mußte, begrüßte sein alter Lehrer
Heidegger in seiner berühmten Rektoratsrede die Nazis mit den Worten: „Nicht
Lehrsätze und >Ideen< seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein
ist die heutige und künftige Wirklichkeit und ihr Gesetz.“74 Zur Zeit da Marcuse
aus Deutschland emigrierte, kam – parodoxerweise - Sartre nach Berlin. Das
französische Akademikerhaus in Berlin organisierte den Austausch von
hochbegabten deutschen und französischen Wissenschaftlern, an dem neben Sartre
auch Raymond Aaron teilnahm75. Für sie „bedeutete ein Kulturaufenthalt jenseits
des Rheins wie für Generationen vor ihnen eine notwendige Pilgerfahrt zum
Fundament des europäischen Denkens und das Aufspüren ihrer Einflüsse und
Neigungen an der Quelle selbst.“76 Sartre war in jener Zeit so stark mit seinem
Privatleben und Husserl-Studium beschäftigt77, daß die Bücherverbrennungen und
von Papens Reden an der Humbold-Universität „wie Wasser von einer geölten
Ente“78 an ihm abglitten.
Auffällig war Sartres starke Faszination von Husserl, der, so Sartre, „der Stärkste
in der deutschen Philosophie nach Kant“79 sei. So sollte die husserlsche
Gedankenwelt sein erstes philosophisches Werk: „Die Transzendenz des Ego“ von
1936 entscheidend beeinflussen.
Die Grundlagen der deutschen Philosophie mit Kant, Hegel und Marx stellten ein
elementares Bindeglied zwischen Sartres und Marcuses Subjektbegriff dar. Über
Sartres Buch „Das Sein und das Nichts“ wurde später gesagt, daß es auf den drei
großen H’s gründet: Hegel, Husserl und Heidegger. Diese philosophische Herkunft
teilte er mit Marcuse. Doch beide entwickelten sich vorerst in gegensätzliche
Richtungen. Sartre entdeckte Heidegger, während Marcuse endgültig mit ihm
brach. In den Jahren 1939-1945 waren beide Theoretiker am weitesten von
73
Ebd., a.a.O. , S. 54
zit. nach: Brunkhorst, Hauke und Koch, Gertrud: Herbert Marcuse zur Einführung,
Hamburg, 1990, S. 30
75
vgl. Cohen-Solal, Annie: Sartre. 1905-1980, Reinbek bei Hamburg, 1991, S. 173ff
76
Ebd.
77
Vgl. Sirinelli, Francois: Deux intellectuels dans la siècle, Sartre et Aron, Paris 1995
78
Cohen-Solal, Annie, a.a.O., S. 173
79
Ebd.
74
32
einander entfernt - bis auch Sartres Philosophie eine Wandlung von der
Geschichtlichkeit hin zur Geschichte nahm.
Die Machtergreifung des Faschismus: Marcuses
kritische Theorie / Sartre und die Phänomenologie
Marcuses Habilitationsschrift über Hegel wurde von Heidegger blockiert, weshalb
sich Husserl bei Reizler und Reizler bei Horkheimer für Marcuse einsetzte80.
Zunächst ohne Erfolg: „Erst 1933 nach einem Gespräch mit Leo Löwenthal, der
sich bei Horkheimer für Marcuse aussprach, stieß Marcuse in Genf zum
emigrierten Institut für Sozialforschung.“81 Eine Zukunft in Deutschland war als
jüdischer Marxist nicht nur vollkommen undenkbar geworden – sie wäre wohl
Marcuses Todesurteil gewesen. Im Kreise Horkheimers bestand seine Aufgabe
zunächst darin, als philosophischer Hauptrezensent für die Zeitschrift für
Sozialforschung zu arbeiten82
Rudimentierte Subjekte
Marcuses: Die philosophischen Grundlagen des Arbeitsbegriffes
1933 verfaßte Marcuse die Schrift: „Über die philosophischen Grundlagen des
wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffes“. Ein Essay, das sich mit dem
Begriff der Arbeit auseinandersetzte, welche von Marcuse in der bestehenden
Gesellschaft als „entfremdete und verdinglichte“ analysiert wurde. Ihr stellte er, auf
Marx basierend, einen Arbeitsbegriff gegenüber, mit dem Arbeit bei anderen
gesellschaftlichen Konstellationen als „volle und freie Verwirklichung des ganzen
Menschen in seiner geschichtlichen Welt“ erscheinen könnte83. Grundsätzlich sei
Arbeit, so Marx, eine menschliche Notwendigkeit, die jedoch durch den
Kapitalismus zu einer von „blinder Macht beherrschten“ Tätigkeit werde. Ein
kritischer Begriff von Arbeit, so Marcuse, gehe über die Begriffsbestimmung des
Menschen als Subjekt der Güterwelt hinaus, da der „wirtschaftende Mensch
gleichsam mit seinem ganzen Sein wirtschaftet.“84 Der Mensch könne weit mehr
als seine durch den Kapitalismus reduzierte Arbeit sein. „Die dauernde und
ständige Bildung des Daseins an die materielle Produktion und Reproduktion
schneidet das Aufkommen der wissenden Umsicht und Voraussicht entsprechend
den eigensten Möglichkeiten schon an der Wurzel ab; der »Stand« und die
Appropriation der Arbeit an ihn wird nicht mehr bestimmt durch die (in seiner
Umsicht und Voraussicht) gründende Mächtigkeit des Daseins, sondern wird zu
80
Zum genaueren Verständnis der Ereignisse um Marcuses Habilitation siehe die
Chronologie in: Jansen, Peter-Erwin: Marcuses Habilitationsverfahren – eine Odyssee, in:
Jansen, Peter-Erwin: Befreiung denken – Ein politischer Imperativ. Ein Materialienband zu
Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1989, S. 145ff
81
Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, München, 1988, S. 122
82
Ebd., S. 155
83
Marcuse,
Herbert:
Über
die
philosophischen
Grundlagen
des
wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffes, in: Marcuse, Herbert: Kultur und
Gesellschaft II, Frankfurt /M, 1965, S. 48
84
Ebd., S. 23
33
einer ökonomisch-gesellschaftlichen Fessel, in der der Einzelne hineingeboren oder
hineingezwungen wird.“85
Deutlich war hier ein Wandel in der Subjektkonzeption gegenüber den früheren
Werken Marcuses zu spüren: War dem Heidegger-Schüler die menschliche
Existenz noch das Subjekt der Befreiung, so kam nun eine Subjektkonzeption zum
Tragen, in der das gesellschaftliche Ganze direkt die Möglichkeiten des Einzelnen
begrenzte. Auch wenn hier noch Heideggersche Begriffe verwandt wurden, wie
z.B. Dasein – das heideggersche Synonym für Subjekt -, so änderte sich Marcuses
Standpunkt an entscheidenden Stellen. Das Subjekt erschien nun als ein
beherrschtes, keineswegs mehr so frei wählendes, wie noch in der Zeit, da er unter
dem Einfluß Heideggers stand.
Dennoch rettete Marcuse einen Kern der existentialistischen Subjektvorstellung in
den Marxismus. Das Subjekt sei prinzipiell durch sein Wesen zur „Umsicht und
Voraussicht“ fähig, was die sie umgebende Gesellschaft unter den herrschenden
Bedingungen nicht sei. Der Mensch sei in seinem Kern voller möglicher
Daseinsfülle, die durch die ökonomische Dimension in eine Reduzierung des
„Daseinsganzen“ mündet.
In der materialistischen Geschichtsschreibung bestimmte das „gesellschaftliche
Sein das Bewußtsein.“ Marx schrieb über die Rolle des Einzelnen im Vorwort zum
„Kapital“: „Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung
der ökonomischen Gesellschaftsformationen als einen naturgeschichtlichen Prozeß
auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er
sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“86 Das bedeutete,
daß die Subjekte zu allererst gesellschaftliche Wesen seien und durch einen
gesellschaftlichen Konstruktionsprozeß zu dem gemacht wurden, was sie waren.
Sowohl der Arbeiter wie auch der Kapitalist seien durch das „Ensemble der
gesellschaftlichen Verhältnisse“ Subjekte ihrer Rollen; gleichermaßen
konstituierten sie dadurch das System. Dies zu durchbrechen sei Aufgabe des
Proletariats. Sein Schicksal war für Marx der Schlüssel für das Schicksal der
Menschheit.
Damit mußte das Proletariat über ein spezielles Bewußtsein seiner und der
gesellschaftlichen Situation verfügen87. Beim frühen Lukács beispielsweise tauchte
- in orthodoxer Lesart - konsequenterweise das Proletariat denn auch als Träger,
bzw. Retter der Philosophie auf. Demgegenüber stellte die existentialistische
Variante des Marxismus – dem Anarchismus nicht ganz fern – ein Menschenbild
auf, in dem jeder Mensch qua seiner Grundlagen als Mensch, also durch die
Möglichkeit der Vernunft, grundsätzlich in die Lage versetzen werden könnte, über
ein reiches Bewußtsein und eine ausgefüllte Existenz zu verfügen. In dieser
Variante des Marxismus war der Mensch qua seines Menschseins das höchste Gut,
daß nicht unter die „große Sache“, bzw. das „Endziel der Geschichte“
untergeordnet werden konnte – er war qua seiner Anlagen als Mensch
grundsätzlich fähig in einer anderen Gesellschaft zu leben und sein Wesen anders
zu entwerfen.
85
Ebd., S. 46
Marx, Karl: Das Kapital, Berlin /Ost, 1962, S. 16
87
Nicht umsonst sah Marx eine der großen Aufgaben der kommunistischen Partei darin,
daß Proletariat zur Klasse zu bilden (vgl., Marx, Karl / Engels, Friedrich, MEW 4, S. 474
86
34
Kontinuitäten im Bruch: Der Faschismus als Erbe und
Kämpfer gegen den Liberalismus
Marcuses: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären
Staatsauffassung
1932 stellte Marcuse den Grundsatz auf, daß Philosophie konkret werden müsse.
Diese Konkretion konnte 1934 für einen marxistischen, deutschen Juden in der
Emigration nichts anderes als die Auseinandersetzung mit dem Sieg des
Nationalsozialismus bedeuten. Neben Fromms „Die sozialpsychologische
Bedeutung der Mutterrechtstheorie“ und Mandelbaums/Meyers „Zur Theorie der
Planwirtschaft“ reagierte Marcuse mit seinem ersten Aufsatz für die „Zeitschrift für
Sozialforschung“ aus dem Jahr 1934 als erster aus dem Frankfurter Kreis auf den
Nationalsozialismus: Unter dem Titel „Der Kampf gegen den Liberalismus in der
totalitären Staatsauffassung“ unternahm er den Versuch einer Aufarbeitung der
Philosophie, die vom Liberalismus zum Totalitarismus führte.
Der Liberalismus, so Marcuse, habe trotz aller Verschiedenheit eine einheitliche
Grundlage, nämlich „die freie Verfügung des individuellen Wirtschaftssubjekts
über das Privateigentum und die staatlich-rechtlich garantierte Sicherheit dieser
Verfügung.“88 Daran ändere, so Marcuse, auch der Faschismus nichts, wodurch
deutlich werde, daß ökonomische Ordnung des liberalen auch für den „totalautoritären Staat“ grundlegend sei. Damit stellte der Faschismus für Marcuse ein
Moment der Transformation des Liberalismus dar, nicht aber die Abkehr seiner
Prinzipien: „Die starken Abwandlungen und Einschränkungen, die überall
vorgenommen werden, entsprechen den monopolkapitalistischen Anforderungen
der wirtschaftlichen Entwicklung selbst; sie lassen das Prinzip der Gestaltung der
Produktionsverhältnisse unangetastet.“89
Der Faschismus war für Marcuse als Kontinuität und Bruch mit dem Liberalismus
zu fassen: Als Kontinuität, wenn es die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen
Produktions- und Eigentumsverhältnisse ging; als Bruch, wenn es sich um die
irrationalistischen Gedankensysteme der totalitären Staatsauffassung im Vergleich
zum Rationalismus des Liberalismus handelte. Marcuse konstatierte, daß „im
liberalen Rationalismus schon jene Tendenzen präformiert sind, die dann später,
mit der Wendung vom industriellen zum monopolistischen Kapitalismus,
irrationalistischen Charakter annehmen.“90
Die geistigen Ausdrücke dieser Irrationalität sah Marcuse in den Strömungen des
Universalismus, des Naturalismus und des Existenzialismus. So griff der ehemalige
Existenzialist Marcuse die Philosophie an, deren Grundlage einst sein eigenes
Denken beeinflußte: Dem Existenzialismus ginge es einst darum, so Marcuse, „die
volle Konkretion des geschichtlichen Subjekts wiederzugewinnen, also die von
Descartes bis Husserl unerschütterliche Herrschaft des »ego cogito« zu beseitigen.
Die Position Heideggers bis »Sein und Zeit« bezeichnet den weitesten Vorstoß der
Philosophie in diese Richtung.“91 Der Existentialismus nach „Sein und Zeit“ kehre
sich um: Wo vormals seine große Stärke lag, nämlich in der Rettung des Subjekts
88
Marcuse, Herbert: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären
Staatsauffassung, in: Marcuse, Herbert: Schriften 3, Frankfurt /M, 1979, S. 12
89
Ebd., S. 14
90
Ebd., S. 17
91
Ebd., S. 34
35
vor seiner Subsumtion unters große Ganze, verkam er nun zu einer blanken
Apologie: „Was ist, ist rechtens, weil es ist.“ lautete vereinfacht das neue Credo.
Der Existenzialismus Heideggers und vielmehr der von Carl Schmitt reduzierten
die existentiellen Beziehungen auf das was war, jenseits moralischer Normen. So
schrieb Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand
entscheidet.“92 Damit verwandelte sich die exponierte Stellung des Individuums in
der Philosophie in die exponierte Stellung des Staates. „Das Individuum“, so
Marcuse, „dem vorher die Lebensphilosophie zu Hilfe geeilt war, hatte sich nun
dem Staat zu unterwerfen ihm zu dienen.“93
Was vorher dem Subjekt an philosophischer Würde zu Teil wurde, nämlich das
oberste Recht seine Existenz selbst zu entwerfen – ohne übergeordnete Institution –
, verlegte sich nun auf den Staat. Damit hatte der Existenzialismus „der sich einst
als Erbe des deutschen Idealismus verstand, die größte Erbschaft der deutschen
Geschichte ausgeschlagen. Nicht mit Hegels Tode, sondern jetzt erst geschieht der
Titanensturz der klassischen deutschen Philosophie.“94
Nicht zu guter letzt sollten Marcuse und der Kreis der Frankfurter Schule – was
damals natürlich nicht abzusehen war – zu den neuen Erben des deutschen
Idealismus und vor allem Hegels werden.
Die neuen Träger der Theorie
Marcuses: Zum Begriff des Wesens
Als erster Mitarbeiter des „Instituts für Sozialforschung“ übersiedelte Marcuse
nach Amerika. Ausgewählt wurde er nicht wegen der Qualität seiner Schriften,
sondern um eine „subalterne Assistenten- und Hilfsarbeiterstelle“ (Pollock) zu
bekleiden95. Die Konkurrenz unter den Mitarbeitern war groß, und Adorno
verlangte, man solle Marcuse hinauswerfen, um ihn einzustellen96. Der Adorno
jener Jahre, der sich selbst einer „bewährten Brutalität“97 rühmte, stand in direkter
Konkurrenz zu Marcuse, der „wegen seiner Heideggerschen Vergangenheit“ als
jemand galt, „der sich noch zu bewähren hatte.“98 Für Marcuse selbst, war die
Zugehörigkeit zum Institut ein unschätzbarer Gewinn. Am 13.12.1935 schrieb er
an Horkheimer, er könne am Ende seines: „[...] ersten vollen amerikanischen
Jahres sagen, wie sehr ich mich hier in einer menschlichen und wissenschaftlichen
Gemeinsamkeit fühle. Ich glaube, einiges gelernt zu haben, und möchte ihnen
hierfür danken.“99 Bei allem Wandel seiner Auffassungen – vom Existentialisten
zum kritischen Theoretiker –, konnte dennoch von Marcuse gesagt werden, daß er
auch in der neuen Zugehörigkeit Eigenständigkeit bewahrt hatte. Die kritische
92
Schmitt, Carl: Politische Theologie, 1922, S.1
Jay, Martin: Dialektische Phantasie, Frankfurt /M, 1981, S. 154
94
Marcuse, Herbert: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären
Staatsauffassung, a.a.O., S. 44
95
siehe: Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, a.a.O. , S. 169
96
Ebd.
97
Adorno an Horkheimer, 30. Oktober 1936, in: Benjamin, Walter:
Geschichtsphilosophische Thesen und Briefe. (edition archiv inmemoriam), Liechtenstein,
1995, S. 57
98
Wiggershaus, Rolf, a.a.O., S. 169
99
Ebd.
93
36
Theorie wurde zu seiner neuen philosophischen Heimat, und die Freundschaft zu
Horkheimer und Adorno sollte – bei allen Diskrepanzen, die sich ergaben – ein
Leben lang Bestand haben.
In dieser Umgebung und im Bewußtsein, Europa für lange Zeit verlassen zu
müssen, entstand sein Text „Zum Begriff des Wesens“ für die „Zeitschrift für
Sozialforschung“. Darin versuchte er am Begriff des Wesens, die historische
Wandlung der Philosophie zu beschreiben.
Am Anfang des bürgerlichen Zeitalters, so Marcuse, sollte „die kritische
Autonomie der vernünftigen Subjektivität jene letzten Wesenswahrheiten stiften
und rechtfertigen, von denen alle theoretische und praktische Wahrheit abhängt.
[...] Am Ende desselben Zeitalters hat die Wesenserkenntnis vor allem die
Funktion, die kritische Freiheit des Individuums an vorgegebene, unbedingt gültige
Notwendigkeit zu binden.“100 Es galt zu erklären, wie dieser Wandel stattfinden
konnte. Es schien, als habe die bürgerliche Philosophie ihren „archimedischen
Punkt“ verloren.
Diesen Verlust spürte Marcuse in den Antagonismen der kapitalistischen
Produktionsweise auf, in der die „Phänomene den Menschen nicht unmittelbar als
das erscheinen, was sie »in Wirklichkeit« sind, daß sie sich vielmehr verdeckt, in
einer »verkehrten« Form darstellen.“101 Das bedeutete, daß sich die
gesellschaftliche Wirklichkeit in solch einem Maße geändert hatte, daß die Dinge
ihre Erscheinungen und ihr Wesen bis zur Unkenntlichkeit verändert hatten. Durch
Verdinglichung und Entfremdung veränderte sich jedoch nicht nur das Wesen der
Dinge, sondern auch die sie konstituierenden und durch sie konstituierten Subjekte.
Das Subjekt, so Marcuse, begreife sich noch nicht in seinen Möglichkeiten.102
Durch die Wirklichkeit des fortgeschrittenen Kapitalismus entstehe eine
„Spannung zwischen dem Seinkönnenden und dem Daseienden, zwischen dem,
was der Mensch und die Dinge sein können, und dem, was sie faktisch sind.“103
Damit verließ Marcuse den Standpunkt seines existentialistischen Subjekts als
Träger der Wahrheit. Die veränderte Objekt-Welt, so Marcuse, bestimme ebenso
die Wahrnehmung des Subjektes, wie sie aus ihr hervorgehe. Es komme zu einem
wechselseitigen Prozeß zwischen Subjekt und Objekt, der sein dialektisches
Moment in der Hinzuziehung des Telos erhalte. Anders ausgedrückt: Das Gros der
Subjekte war im Zeitalter des Faschismus als determiniert zu begreifen.
Zwar blieb Marcuse bei seinem Menschenbild vom möglichen freien Menschen,
doch dieser war für ihn nur dann zu verwirklichen, wenn die objektiven
gesellschaftlichen Zwänge abgeschafft würden. Mit der Erkenntnis von der
Notwendigkeit zur Veränderung der objektiven Welt bedurfte es für Marcuse eines
gesellschaftlichen Trägers, eines kollektiven Akteur, der für die – im hegelschen
Sinne – „Aufhebung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse stehe: „Die Theorie ist
auf ein anderes Subjekt übergegangen: ihre Begrifflichkeit ist getragen von dem
Bewußtsein bestimmter Gruppen und Individuen, die um eine vernünftige
Organisation der Gesellschaft im Kampfe stehen.“104 Erst dann, wenn die
Individuen und Gruppen den Kampf um die vernünftige Gesellschaft gewonnen
100
Marcuse, Herbert: Der Begriff des Wesens, in: Marcuse Herbert, Schriften 3, a.a.O, S.
45
101
Ebd., S. 70
Ebd.
103
Ebd., S. 68
104
Ebd., S. 76
102
37
hätten, sei ein neues Subjekt denkbar: „Wenn die Forderung erfüllt ist, wenn die
verändernde Praxis die neue gesellschaftliche Organisation der Menschen
geschaffen hat, erscheint das neue Wesen des Menschen in der Realität“105
Diese Sichtweise auf die Subjekte stellte eine klare Bruchstelle zu Marcuses
früheren, existentialistischen dar: Der Kampf ums Subjekt war nicht mehr abstrakt,
sondern die gesellschaftlichen Akteure bekamen – ähnlich Lukacs „Geschichte und
Klassenbewußtsein“ – ihre historische Konkretion als Träger der Philosophie. Im
Kampf gegen den Faschismus war das abstrakte Subjekt nicht mehr
aufrechtzuerhalten, sondern jene Gruppen, die ihn bekämpften, „um eine
vernünftige Organisation der Gesellschaft im Kampfe stehen“ wurden zu den
neuen Trägern der Theorie.
Die Welt als Konstruktion
Sartres: Die Transzendenz des Egos
Im Jahr 1936 erschien von Marcuse der ideengeschichtliche Teil für die „Studie
über Autorität und Familie“ des Instituts für Sozialforschung. Im selben Jahr wurde
Sartres „Transzendenz des Ego“ und „Die Imagination“ veröffentlicht. Marcuse
war 38 Jahre und Sartre 31 Jahre alt. Ähnlich wie Marcuse als 31-Jähriger vom
deutschen Existentialismus fasziniert war, war dies nun Sartre.
Bedeutend größer als die 7 Jahre Altersunterschied zwischen Sartre und Marcuse
war der Abstand ihrer theoretischen Positionen zu dieser Zeit. Die beiden Autoren
zu jener Zeit waren kaum vergleichbar: Im Exil Marcuse kam an einem
theoretischen Punkt an, der sich nur noch einmal – nämlich durch die Hinzunahme
der Psychoanalyse – entscheidend erweiterte. Der Sartre jener Zeit stand auf
ähnlichen theoretischen Füßen, wie Marcuse zur Zeit seines Werkes „Hegels
Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“. Worin bestand die große
Anziehungskraft des deutschen Existentialismus für den französischen Sartre?
Wieso nahm Sartre einen theoretischen Standpunkt ein, der in Deutschland in der
Apologie des Faschismus endete?
Zunächst sah man in Frankreich die Machtübernahme Hitlers nicht als große
Gefahr106 und Sartre war zu sehr in sein Husserlstudium vertieft, um an der realen
Geschichte teilzunehmen. Als er 1934 Berlin verließ, beschreibt ihn seine
Biographin Cohen-Solal als „von deutschen gastronomischen Exzessen verfetteten
Mann“, der „von Husserl gesättigt ist“107, aber dennoch seine Wurzeln für seine
spätere Philosophie gefunden hatte. Nicht minder wichtig für Sartres Entwicklung
war seine bereits seit fünf Jahren andauernde Verbindung mit Simone de Beauvoir,
in der er bereits seine eigene Art zu Leben und zu Lieben begann, die den späteren,
politisch aktiven Existentialisten bereits in einem Mikrokosmos konturierte.
Die Töne Sartres in der „Transzendenz des Egos“ ähnelten den früheren von
Marcuse: „Die Phänomenologen haben den Menschen wieder in eine Welt
eingetaucht, sie haben seinen Ängsten und seinen Leiden, auch seinen Revolten ihr
105
Ebd., S. 84
siehe: Cohen-Solal, Annie, a.a.O. , S. 175f
107
Ebd, S. 181
106
38
ganzes Gewicht wiedergegeben.“108 Auch Sartre wähnte eine neue Konkretion in
der Philosophie, die sich um den Einzelnen, den Menschen kümmere. Eine
Konkretion, die für ihn nicht abstrakt über dem Leid der Einzelnen schwebte,
darum behauptete er, daß „das Objekt dem Subjekt“ nicht notwenig vorausgehe.
Die Welt habe, so Sartre, habe das „ICH“109 nicht geschaffen und das „ICH“ habe
die Welt nicht geschaffen.
Das Sartresche „ICH“ war eher als existentieller Zustand zu fassen, das ein vom
Bewußtsein getrenntes Dasein hatte. Die Welt existierte für Sartre im Dasein selbst
und sei durch ihre Phänomene grundsätzlich erklärbar. Es bräuchte dann, so Sartre,
keine „rein logische Subjekt-Objekt Dualität“ mehr. Statt dessen sei eine
Interdependenz zwischen dem „ICH“ und „der Welt“ zu konstatieren. Das „ICH“
habe dieselben Wesensmerkmale wie die Welt und kritisch fügte er hinzu, daß das
„ICH“ „angesichts der Welt in Gefahr erscheint“110 Doch worin diese Gefahr
bestand, darüber schwieg sich der junge Sartre aus.
Die „Transzendenz des Ego“ war eine Schrift, die sich konkreter Geschichte
entzog. Sie versuchte zwar, wie viele Existenzialisten vorher, gegen das abstrakte
Decartesche »cogito ergo sum« eine konkrete Beziehung des »Ergo« zur realen
Welt herzustellen, doch sie bleibt beim Lippenbekenntnis stehen. Zu mehr als zur
bloßen Feststellung, daß beide durch Interdependenz verbunden seien, reichte es
nicht.
Für den Franzosen Sartre war die Beschäftigung mit dem deutschen
Existentialismus ein Hebel zur Auseinandersetzung mit der französischen
Philosophie, durch die das schwebende Ich Decartes in die wirkliche Welt –
zumindest so die philosophischen Vorgabe – hinuntersteigen lassen wollte. Doch
wie weit dieses „ICH“ noch von der realen Welt entfernt war, verdeutlichten
folgende Zeilen: „Und schließlich bin ICH es doch, der die Welt hervorbringt. Es
kommt nicht so sehr darauf an, ob bestimmte Schichten dieser Welt gerade ihrer
Natur nach eine Beziehung zur anderen benötigen. Diese Beziehung kann eine
einfache Qualität der Welt sein, die ich schaffe, und zwingt mich keinesfalls dazu,
die reale Existenz anderer Ichs zu akzeptieren.“111 Sätze, die durch die reale
Geschichte ad absurdum geführt wurden. Dem Juden in Auschwitz konnte nicht
gesagt werden, daß keiner ihn zwinge die „reale Existenz anderer Ichs
anzuerkennen“.
Dennoch bestand ein wahres Moment in diesen Sätzen, nämlich daß alle noch so
mächtigen Konstruktionen der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht die
Existenz des Menschen selbst, sondern „lediglich“ Wesenserscheinungen waren: In
diesem Rahmen nämlich war “Die Transzendenz des Ego“ angelegt – als
anthropologische. Es war die Suche nach den Gemeinsamkeiten menschlicher
Existenz, die für alle Zeiten Gültigkeit haben sollte. Nur so konnte Sartre
schreiben, daß es nicht darauf ankomme „welche Schichten dieser Welt gerade [...]
eine Beziehung zu einer anderen benötigt.“ Dieser Seitenhieb auf den Marxismus
mochte verständlich sein, wenn die Gegenwart – gerade die französische
108
Sartre, Jean-Paul: Die Transzendenz des Ego, in Sartre, Jean-Paul: Gesammelte Werke,
Philosophische Schriften I, Reinbeck bei Hamburg, 1994, S. 91
109
Sartre unterscheidet in diesem Text zwischen Ich [je] und ICH [moi]. Auf diese
Unterscheidung – Sartre gibt sie in „Die Imagination“ wieder auf – braucht hier nicht
eingegangen werden.
110
Ebd., S. 92
111
Ebd., S. 90
39
Geschichte war voller Revolutionen und Restaurationen – als leicht vergängliche
erfahren wurde und konkrete Philosophie beim Gattungswesen Mensch
stehenblieb.
Am Vorabend des Holocaustes mußte jede Philosophie, die sich dem Einbruch der
realen Geschichte verweigerte, zwangsläufig an den Geschehnissen der Welt
scheitern. Als Anthropologie gelesen, hatte sie trotz alledem wahre und wichtige
Momente. Wie sonst, wenn nicht durch die Aufhebung der Konstruktionen Nation,
Rasse, Religion und Geschlecht wäre eine neue Qualität menschlichen Lebens
denkbar? Und wer anderes als der Mensch sollte dies vermögen? In anderen
Zeiten, in denen der Mensch kein „geknechtetes und erniedrigtes Wesen“ mehr ist,
kann vielleicht überprüft werden, wie es um das ICH tatsächlich bestellt ist.
Das Imaginäre als Frage des Bewußtseins
Sartres: Die Imagination / Das Imaginäre
Doch bevor auch Sartre seine Philosophie zu einer dialektischen führte, waren
andere Probleme für ihn dringlicher: Wenn das Ich in Interdependenz mit der Welt
stand und dennoch das Subjekt einen epistemologischen Vorrang inne hatte, wie
verhielt es sich mit Erscheinungsformen des Subjekts, die Jenseits des Ichs und des
Bewußten lagen? Wie verhielt es sich mit Träumen und Vorstellungen? Für seinen
Text „Die Imagination“ entwickelte er eine Besessenheit, die – wie beim späteren
Sartre – auch vor der eigenen Gesundheit nicht halt machte. „Im Januar 1935 ließ
sich Sartre [...] unter ärztlicher Aufsicht und zu wissenschaftlichen Zwecken [...]
mit Merk-Meskalin spritzen.“112 Mit diesen Erfahrungen ausgestattet113, machte er
sich daran ein dickes Buch, daß den Titel „La Psyché“ tragen sollte, zu beginnen,
wovon am Ende nur der Text „Skizze einer Theorie der Emotionen“ übrig bleiben
sollte. Die Vorarbeiten hierfür gründeten auf Sartres Aufsatz „Die Imagination“.
Hier sollte geklärt werden, welchen Stellenwert die Vorstellung und das SichVorstellen, kurz: der Imagination, im Menschen zukommt. Sartres damaligen
Versuchen einer psychologischen Konzeption merke man die husserlsche Prägung
an. Die Freudsche Psychoanalyse hatte er zur damaligen Zeit noch nicht zur
Kenntnis genommen.
Für seine späteren arbeiten war von Interesse, daß es für Sartre nichts Unbewußtes,
oder Unterbewußtes gab. Imaginationen waren für ihn Reflexe einer realen Welt.
Lediglich die Art des Denkens sei präformiert und damit nicht in der Lage, die
Tatsächlichkeit aus der Imagination herauszulesen. Das bedeutete, daß für Sartre
jede Vorstellung und jeder Traum nur durch seine Definition als von der wirklichen
Welt getrennt begriffen wurden. Streng genommen, konnte man sagen, daß für
Sartre die Definitionshoheit über Traum und Wirklichkeit entschied: „Und wenn
diese zwei Welten erst einmal konstruiert sind; ist es abermals das
Urteilsvermögen, das entscheiden wird, ob irgendein psychischer Inhalt zur einen
oder zur anderen gerechnet werden muß.“114
112
Cohen-Solal, Annie, a.a.O. ,S. 184
Diese Erfahrungen waren keinesfalls angenehme. Noch lange später fühlte sich Sartre
von Langusten verfolgt. (siehe Cohen-Solal, a.a.O., S. 184ff)
114
Sartre, Jean-Paul: Die Imagination, in: Sartre, Jean-Paul: Philosophische Schriften I,
a.a.O., S. 187
113
40
Die Schuld für die Aufrechterhaltung von Traum und Wirklichkeit gab Sartre der
„durch die Commune aufgeschreckten Bourgeoisie“, die danach suchte „die
analytischen Tendenzen des 18. Jahrhunderts in allen Bereichen zu bekämpfen“
und der es galt „Familie, Nation und Gesellschaft über das Individuum zu
stellen.“115 An dieser Passage wurde deutlich, was Sartre am deutschen
Existenzialismus schätzte: Die französische Philososphie von Brunschvig, Lalande
oder
Meyerson
war
für
Sartre
„Ernährungs-“
oder
auch
„Verdauungsphilosophie“116, der gegenüber dem Individuum zu Hilfe geeilt
werden müsse. Nicht Gesellschaft, Rasse oder Nation standen in seiner Philosophie
über dem Individuum, sondern das Subjekt selbst habe einen Vorrang vor der Welt.
Für Sartre lag der Unterschied darin begründet, daß z.B. einen Baum an Stelle
eines Menschen wahrzunehmen, nicht heiße einen Baum hervorzubringen, sondern
den Baum schlecht wahrzunehmen. Das Bild, das dabei entstand, sei, so Sartre, ein
bestimmter Bewußtseinstyp. Es sei „kein Akt und kein Ding. Das Bild ist
Bewußtsein von etwas.“ Es existierte für Sartre kein eigener psychischer Raum,
keine Existentialie im Menschen, aus der die Imaginationen hervorgebracht
werden, sondern sie war Teil des Bewußtseins selbst. Wie sonst hätte Sartre ein
solches Primat des Subjekts aufrechterhalten können, wenn er Mechanismen im
Menschen gesehen hätte, die dem Bewußtsein grundsätzlich nicht zugänglich
wären und die die Handlungen des Menschen bestimmten? Damit war Sartre
bürgerlicher als der „Bürgerketzer“ Freud, der dem Individuum die Illusion seiner
Autonomie geraubt hatte.
Philosophie als Gesellschaftskritik
Marcuses: Autorität und Familie
Während Sartre seinen Existentialismus entwickelte und in Frankreich bald zu
einem jungen, aufstrebenden Romanschriftsteller wurde, beschäftigte sich Marcuse
mit konkreteren Fragen: Wo lagen die Schnittstellen zwischen Gesellschaft und
Individuum? Wie war es möglich, daß die Vernunft, unter deren Zeichen das
Bürgertum seine größten Kämpfe ausgefochten hatte, in den bürgerlichen
Gesellschaften „von Grund auf um ihre Verwirklichung gebracht“ wurde? Welche
Rolle spielen Autorität und Familie bei der Transformation des Liberalismus zum
Faschismus?
Bei diesen Fragestellungen wurde sichtbar, daß die abstrakten philosophischen
Gedankenwelten der Frühwerke konkreter Philosophie Platz machten. Philosophie
wurde zur Gesellschaftskritik. Sein Betrag zu den „Studien über Autorität und
Familie“ war eine Art Bestandsaufnahme bisheriger Philosophie. Über Luther,
Kant und Hegel zu Marx gehend, betrachtete Marcuse das Verhältnis des Einzelnen
zur Autorität und den Wandel der Familien. Hinter der ganzen Arbeit – auch wenn
nicht explizit geschrieben – verbarg sich die Frage, was der Nährboden des
Faschismus ausmachte.
Über die untersuchten Philosophen sollte deutlich gemacht werden, daß der
Faschismus keinesfalls den Werken der bürgerlichen Philosophen Luther, Kant und
Hegel entsprang, wohl aber als kontinuierliche Entwicklung aus der bürgerlichen
115
116
Ebd., S. 122
Cohen-Solal, Annie: Sartre. 1905-1980, a.a.O., 1991,S. 304
41
Geschichte begriffen werden konnte. Die Machtübernahme Hitlers und die
Bereitwilligkeit der deutschen Bevölkerung, den Nazis zu folgen, waren somit als
keine völlig überraschenden Phänomene zu fassen, sondern es war vielmehr in der
Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft nach den Konstitutionsbedingungen des
Faschismus zu suchen.
Grundlegend für den Prozeß der gesellschaftlichen Totalisierung war, so Marcuse,
die philosophische Aufspaltung des Freiheitsbegriffes in „äußere“ und „innere“
Freiheit. Das „Reich der Freiheit“ wurde ans Subjekt gebunden, als „Christ“, als
„Ding-an sich“ oder als „intelligibles Wesen“, während das „Reich der Unfreiheit“
an die Objektwelt in Form des Naturrechts oder als Welt, die von Gott aufgrund
von Lust und Begierde abgefallen sei, gebunden wurde.
Während die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Entstehung freiheitliche Züge gehabt
habe, die in eine irdische Befreiung des Individuums münden sollten, endeten diese
anti-autoritären und befreienden Momente in der Verwirklichung des Subjekts als
freies Wirtschaftssubjekt. Die Teilung des Freiheitsbegriffes in „innere“ und
„äußere“ Freiheit hatte sich durchgesetzt. „Bei solcher Werteverteilung konnte es
leicht in Kauf genommen werden, daß die äußere Ordnung primär ein Reich der
Knechtschaft und Unfreiheit war, wurde doch die »eigentliche« Freiheit dadurch
gar nicht berührt.“117 Hierin sah Marcuse weniger die Brüche als viel mehr die
Kontinuitäten zum Christentum. Der christliche Freiheitsbegriff war das
Unterfutter des bürgerlichen: „Freiheit von allen irdischen Gütern heißt hier, daß
der Arbeiter von allen zur Erhaltung seines Lebens nötigen Dingen »los und
lebendig« geworden ist; Freiheit des Menschen zu sich selbst meint hier, daß er
über das einzige, was er noch hat: seine Arbeitskraft frei verfügen kann: er muß sie
verkaufen, um leben zu können. […] Die bürgerliche Philosophie hatte gelehrt, daß
die Freiheit der Person sich erst im freien Eigentum realisiert. In der Wirklichkeit
der bürgerlichen Gesellschaft ist die eigene Person selbst zum Eigentum geworden,
das als Ware auf dem Markt feilgeboten wird“118 Das Verhältnis des Einzelnen zur
Autorität war also keines, das auf Natur oder einer Gottheit, sondern das auf der
Produktionsweise des Kapitalismus fußte. Die aus der ökonomischen Macht
entsprungene Autorität erschien lediglich als persönliche Autorität: „Während, auf
Basis der kapitalistischen Produktion, der Masse der unmittelbaren Produzenten
der gesellschaftliche Charakter ihrer Produktion in der Form streng regelnder
Autorität und eines als vollständige Hierarchie gegliederten, gesellschaftlichen
Mechanismus des Arbeitsprozesses gegenübertritt - welche Autorität ihren Trägern
aber nur als Personifizierung der Arbeitsbedingungen gegenüber der Arbeit, nicht
wie in früheren Produktionsformen als politischen oder theokratischen Herrschern
zukommt -, herrscht unter den Trägern dieser Autorität, den Kapitalisten selbst, die
sich nur als Warenbesitzer gegenübertreten, die vollständigste Anarchie, innerhalb
deren der gesellschaftliche Zusammenhang der Produktion sich nur als
übermächtiges Naturgesetz der individuellen Willkür gegenüber geltend macht.“119
Für Marcuse lag im bürgerlichen Freiheitsbegriff auf der einen Seite ein
historischer Fortschritt, der in der Abkehr von der persönlichen Gebundenheit des
Einzelnen an den Feudalherren begründet war. Auf der anderen Seite kamen in den
117
Marcuse, Herbert: Autorität und Familie, in Marcuse, Herbert: Schriften 3, Frankfurt
/M, 1979, S. 158
118
Ebd., S. 159
119
Marx, Karl: Das Kapital III, MEW 25, Berlin/Ost, S. 888
42
bürgerlichen Freiheitsbestimmungen lediglich Freiheit der Arbeit, Freizügigkeit,
Freiheit des Berufes, Freiheit des Profites sowie die „Zufälligkeit der
Lebensbedingungen“ zum Ausdruck, die die kapitalistische Konkurrenz im
allgemeinen Kampf der Individuen untereinander erzeugt hatte. Mit Durchsetzung
der bürgerlichen Herrschaft ging für Marcuse ein gewaltiges historisches
Transformationsmoment durch die Gesellschaften, das letztendlich in einer
klassenspezifischen Transformation der Subjekte mündete.
Welche Rolle kam dabei der Familie zu? In der Zeit der Durchsetzung des
Kapitalismus sei der Familie , so Marx, „der rührend-sentimentale Schleier“
abgerissen worden und sie sei „auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.“120
Demgegenüber erfülle sie weiterhin ideologische Funktionen, sie sei der „heilige
Begriff in offiziellen Redensarten und in der allgemeinen Heuchelei.“ 121
Tatsächlich, so Marx, seien die Familien der Proletarier im Begriff ihrer
Auflösung. Durch die Notwendigkeit für Arbeiterfrauen und Kinder ihre Haut zu
Markte zu tragen, um leben zu können und den „Heißhunger des Kapitals nach
Mehrwert“ zu stillen, verändere sich die Familienstruktur in der Arbeiterklasse.
Engels ging soweit zu sagen, daß „die Abhängigkeit des Weibes vom Mann und
der Kinder von den Eltern vermittels des Privateigentums“ 122 vernichtet sei.
Doch die marxsche Prognose sollte sich nur in einer bestimmten historischen
Epoche der industrialisierten Länder erfüllen. Emil Zolas „Germinale“
beispielsweise beschrieb diese Situation. Wie irreal beispielsweise die Abschaffung
der Kinderarbeit zu Marxens Zeiten erschien, mag folgendes Zitat aus der Kritik
des Gothaer Programms verdeutlichen: „Allgemeines Verbot der Kinderarbeit ist
unumgänglich mit der Existenz der großen Industrie und daher ein frommer
Wunsch. Durchführung desselben – wenn möglich – wäre reaktionär, da, bei
strenger Regelung der Arbeitszeit nach den verschiedenen Alterstufen und
sonstigen Vorsichtsmaßregeln zum Schutze der Kinder, frühzeitige Verbindung
produktiver Arbeit mit Unterricht eines der mächtigsten Umwandlungsmittel der
heutigen Gesellschaft ist.“123 Doch genau dies trat, zumindest in den westlichen
Industrienationen, ein.124 Die Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht sollte
tatsächlich zu dem mächtigsten Umwandlungsmittel der Gesellschaft werden. Oder
anders ausgedrückt: Neben der Vermittlungsagentur Familie übernahmen die
Institutionen ihren Teil der Konditionierung des Subjekts.
Für Erich Fromm, der den sozialpsychologischen Teil der Studie schrieb, stand
fest: „Indem das Über-Ich schon in den früheren Lebensjahren des Kindes als eine
durch die Angst vor dem Vater und dem gleichzeitigen Wunsch von ihm geliebt zu
werden, bedingte Instanz entsteht, erweist sich die Familie als eine wichtige Hilfe
für die Herstellung der späteren Fähigkeit des Erwachsenen, an Autorität zu
glauben und sich ihnen unterzuordnen.“125 Aus diesem Grund war es für Marcuse
120
Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, Berlin/Ost, 1959, S. 465
Marx, Karl: Deutsche Ideologie, in: MEW 3, Berlin/Ost, 1969, S. 164
122
Engels, Friedrich: Grundsätze des Kommunismus, in: MEW 4, Berlin /Ost, 1977, S. 377
123
Marx, Karl: Kritik der Gothaer Programms, in: MEW 19, Berlin / Ost, 1978, S. 32
124
Zu fragen wäre, in wie weit Kindergärten und Schulen nicht auch eine Art von
Kinderarbeit darstellen, die auf die Konditionierung der Kinder zum Zwecke ihrer späteren
Verwertbarkeit hinarbeiten.
125
Fromm, Erich: Studien über Autorität und Familie. Autorität und Über-Ich: in Fromm,
Erich, Gesamtausgabe, Band I, München, 1989, S. 148f
121
43
wichtig zu betrachten, wie sich die Familie veränderte und welche Rolle sie in der
bürgerlichen Philosophie spielte. Fromm konstatierte: „Das Verhältnis von ÜberIch und Autorität ist dialektisch. Das Über-Ich ist eine Verinnerlichung der
Autorität, die Autorität wird durch Projizierung der Über-Ich-Eigenschaften auf sie
verklärt und in dieser verklärten Gestalt wiederum verinnerlicht. Autorität und
Über-Ich sind voneinander überhaupt nicht zu trennen.“126. Später warf Marcuse in
„Triebstruktur und Gesellschaft“ die Frage auf, ob nicht Gesellschaft selbst die
Rolle des Vaters zur Ausprägung des Über-Ichs übernahm.
Die Bejahung von Millionen von Menschen zu ihrer eigenen Unterdrückung lag
also – so die Studien über Autorität und Familie - in ihren Wurzeln im Verhältnis
der Einzelnen zu Autorität und Herrschaft; jedoch zu einer Herrschaft, die in der
bürgerlichen Gesellschaft einen rationellen Kern besaß. Dies kehre sich im
Faschismus, dahingehend um, so Marcuse, daß „Autorität nicht als Funktion der
Herrschaft, ein Mittel der Beherrschung u. dgl. gilt, sondern als Grund der
Herrschaft. […] Das absolute Handeln, die absolute Entscheidung der Führenden
wird zum Eigenwert vor dem gesellschaftlichen Inhalt des Handelns und der
Entscheidung – die absolute Anerkennung ihrer Entscheidung, das »heroische«
Opfer der Geführten wird zum Eigenwert vor der Einsicht in seinen
gesellschaftlichen Sinn.“127 Gesellschaft zerfalle, so Marcuse, in Geführte und
Führende, die jeweils führenden Eliten werden austauschbar durch die hinter ihnen
stehenden Machtgruppen. Damit werde auch der bürgerliche Subjektbegriff
obsolet, der an die Freiheit des Wirtschaftssubjektes gebunden war. Zwar hätten
sich die Wirtschaftssubjekte nicht grundlegend geändert, doch durch den Einbruch
der ökonomischen Krise wandele sich die bürgerliche Gesellschaft und mit ihr die
Theorie (Marcuse nannte hier Sorel und Pareto) aus Angst vor einer sozialistischen
Revolution zu einer, die um ihre emanzipativen Inhalte beraubt, ins Totalitäre
umschlage. Mit ihren Elite-Theorien waren Sorel und Pareto für Marcuse
Wegbereiter des Führerprinzips: „Das innere Reservat bürgerlicher Freiheit sei
abgeschafft, zurück bleibe Gehorsam einer heteronomen Autorität gegenüber.“128
Kultur als Beschneidung
Marcuses: Über den affirmativen Charakter der Kultur
„Kurzum, der Faschismus war engstens mit dem Kapitalismus verwoben.“129 Oder
wie Horkheimer es ausdrückte: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will,
sollte auch vom Faschismus schweigen.“130 Doch neben der Familie als
Vermittlungsinstanz zwischen materieller Basis und ideologischem Überbau traten
noch andere Momente hinzu, die die Transformation der Subjekte möglich
machten. In seinen 1937 publizierten Aufsatz: „Über den Affirmativen Charakter
der Kultur“ untersuchte Marcuse, welchen Beitrag die Kultur an der Schaffung
jener „innerlichen“ bürgerlichen Freiheit hatte. Der Aufsatz hatte den Anspruch
herauszuarbeiten, welchen Nährboden die bürgerliche Kultur dem Faschismus
geliefert hatte.
126
Ebd., S. 147
Marcuse, Herbert: Autorität und Familie, in Marcuse, a.a.O. , S. 175f
128
Jay, Martin: Dialektische Phantasie, a.a.O., S. 162
129
Ebd.., S. 152
130
Horkheimer, Max: Autoritärer Staat, Amsterdam, 1968, S.8
127
44
Unter „Affirmativer Kultur“ sei, so Marcuse, „jene der bürgerlichen Epoche
verstanden, welche im Laufe ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat, die
geistig-seelische Welt als ein selbstständiges Wertreich abzulösen und über sie zu
erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Bejahung einer allgemeinen
verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt,
welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich
verschieden ist. Die aber jedes Individuum »von innen her« ohne jede
Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann.“131
Kultur war für Marcuse mit ähnlichen Funktionen ausgestattet wie Religion.132 Im
Kern übernahm er die Argumentation Marxens zur Religionskritik. Kultur
beinhalte kritische Momente, werde jedoch affirmativ, wenn sie diese in die
Innerlichkeit des Subjekts verlagerte, anstelle Gesellschaft zum Ort der Kritik zu
machen.
Marcuse attestierte der bürgerlichen Kultur, daß in ihr das abstrakte Individuum
zum Träger einer neuen Glücksforderung wurde. Dies nicht mehr „als Vertreter
oder Delegat höherer Allgemeinheit, sondern als einzelnes Individuum“, daß „die
Besorgung seines Daseins, die Erfüllung seiner Bedürfnisse selbst in die Hand
nehmen soll.“133 Dies war ein historisches Novum, da die Vermittlungen zwischen
den Einzelnen und der Gesellschaft im Feudalismus anders funktionierten: Dort
avancierte die Seele zum zentralen Begriff. Die Existenz des Weltlichen trat zurück
gegenüber den Heilsversprechen des Himmelreichs. Daß das Bürgertum Pate stand
für die Ermöglichung eines neuen Glücks war für Marcuse als historischer
Fortschritt zu werten. Doch eben jenes Glücksverbrechen werde „im hier und jetzt“
sofort zurückgenommen, „da die abstrakte Gleichheit der Individuen in der
kapitalistischen Produktion sich als konkrete Ungleichheit realisiert, […] ja das
Stehenbleiben bei der abstrakten Gleichheit gehörte selbst zu den Bedingungen der
Herrschaft des Bürgertums“.134
Für den Glücksanspruch der Individuen sollte die Kultur die Sorge übernehmen,
doch anstatt die reale Ungleichheit in der Welt zu dechiffrieren, überließ der
Idealismus „die Erde der bürgerlichen Gesellschaft, indem er sich mit dem Himmel
und der Seele begnügte.“135 Die Kultur sollte „das Gegebene veredelnd
durchdringen, nicht ein Neues an seine Seite setzen.“136 Das Verhältnis der Kultur
zu ihrem Subjekt war also keinesfalls ein rein Emanzipatorisches, vielmehr tat sich
ein Spannungsfeld zwischen der Kultur als Disziplinierungsmechanismus und
Kultur als Glücksversprechen auf. Disziplinierungssystem in dem Maße, da Kultur
die Subjekte aufs Bestehende einschwöre – darin bestehe ihr affirmativer Charakter
– und Glücksversprechen, da sie eine Wirklichkeit abbildet, die utopische und
freiheitliche Momente in sich trage. Marcuse konstatierte: „Nur in der Kunst hat
die bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale geduldet und
sie als allgemeine Forderung ernst genommen.“137 Doch durch das Fehlen der
Umsetzung der bürgerlichen Ideale – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – in
131
Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Marcuse, Herbert:
Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt /M, 1965, S. 63
132
vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, Berlin /Ost,
1976, S. 233
133
Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, a.a.O., S. 65
134
Ebd.
135
Ebd., S. 68
136
Ebd., S. 71
137
Ebd., S. 82
45
der ökonomischen Wirklichkeit schlage Kultur um in Scheinbefriedigung: „In der
affirmativen Kultur wird sogar das Glück zu einem Mittel der Einordnung und
Beschneidung. Wie die Kunst das Schöne als gegenwärtig zeigt, bringt sie die
revoltierende Sehnsucht zur Ruhe. Zusammen mit anderen Kulturgebieten hat sie
zu der großen erzieherischen Leistung dieser Kultur beigetragen: das befreite
Individuum, für das die neue Freiheit eine neue Form der Knechtschaft gebracht
hatte, so zu disziplinieren, daß es die Unfreiheit des gesellschaftlichen Daseins
ertrage.“138 Durch das Fehlen realer Gesellschaftskritik sei die Kultur, so Marcuse,
dahin gekommen, daß das Individuum gelernt habe, alle Forderungen zunächst an
sich selbst zu stellen. Damit kam der Kultur in Marcuses Theorie eine
Schlüsselrolle zur Vermittlung notwendig falschen Bewußtseins, aber auch zur
Möglichkeit auf Befreiung zu.
Im Gegensatz zur bürgerlichen Kultur, die noch immer das Glücksversprechen in
sich aufrecht erhielte, tat dies die Kultur im autoritären Staat nicht mehr. Doch
freizusprechen war die bürgerliche Kultur deshalb trotzdem nicht. Der Realisierung
des autoritären Staates habe sie den Weg bereitet: „Hatte die Kultur früher den
Glücksanspruch im realen Schein zur Ruhe gebracht, soll sie jetzt das Individuum
lehren, daß es eine Glücksanforderung für sich überhaupt nicht stellen darf.“139 Der
Einzelne, das Subjekt werde komplett unter die „große Sache“, unter das
Führerprinzip und unter die „Volksgemeinschaft“ gestellt; die erlaubte Freude
organisiert. „Die idyllische Landschaft, der Ort des Sonntagsglücks, verwandelt
sich in ein Übungsgelände, die kleinbürgerliche Landpartie in Geländesport.“140
Der Glücksanspruch, den bürgerliche Kultur einmal in sich trug, werde begraben.
Zurück blieb ein Subjekt, das, wie schon zur Zeit des ersten Weltkrieges,
gegenüber dem „hehren Ziel“ zur Nichtigkeit verkam.
Doch wie konnte eine nicht-affirmative Kultur aussehen? Marcuse gab nur vage
Antworten. Ähnlich wie Trotzki, der sagte, daß die Tragödie unmittelbar zum
menschlichen Leben gehöre, rechnete auch Marcuse mit einer Kultur, die mit
„Vergänglichkeit“ und mit „Notwendigkeit“ belastet sein würde: „ein Tanz auf
dem Vulkan, ein Lachen unter Trauer, ein Spiel mit dem Tod.“141
Problematisch erschien Marcuses reduktiver Kulturbegriff: Kultur umfaßte in
seiner Schrift eigentlich nur den Weimarer Klassizismus. Adorno warf ihm in
einem Brief an Horkheimer nicht zu Unrecht vor, daß Baudelaire, Kafka oder
Schönberg völlig fehlen würden,142 später jedoch hielt er Marcuses Aufsatz für
„eine der besten Früchte unserer Frankfurter Schule.“143
138
Ebd., S. 89
Ebd., S. 97
140
Ebd., S. 98
141
Ebd., S. 100
142
Adorno-Horkheimer, 12.5. 37, in: Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, a.a.O., S.
249f
143
Adorno, Theodor W.: Über Herbert Marcuse, in: Gesammelte Schriften 20.2, Frankfurt
/M, 1997, S. 768
139
46
Der Mensch als absurde Situation
Sartres: Der Ekel (La nausee)
Im gleichen Jahr wie Marcuses Aufsatz über den affirmativen Charakter der
Kultur erschien von Sartre „Der Ekel“, der ihn zu einem beachteten Autor in
Frankreich machen sollte. Wie früher Marcuse den Existentialismus für eine
probate Philosophie hielt, um dem Subjekt zu Hilfe zu eilen, so war es kein Zufall,
daß auch Sartre in einer Zeit, in der der Einzelne drohte wieder unter die „große
Sache“ subsumiert zu werden, in der Existenzphilosophie ein wichtige Neuerung
und eine Waffe gegen die in Frankreich etablierte Schulphilosophie sah. „Der
Ekel“ war ein philosophischer Roman, der wie alle seine Theaterstücke und
Romane die ihm eigene Philosophie in den literarischen Werken veranschaulichen
sollte. Es war also eine Art romaneske Vorarbeit zu „Das Sein und das Nichts“.
Im Mittelpunkt des Romans stand der Historiker Roquetin, der in einen
zunehmenden Konflikt mit der Welt und der Art und Weise ihrer Darstellung
geriet. Die einfache Frage „Wer sind wir?“ ließ Roquetin immer stärker an seiner
bürgerlichen Existenz zweifeln und in Unzufriedenheit geraten. Das Leben schien
ihm keinen Sinn mehr zu geben, da es für ihn grundsätzlich nicht erklärbar war: Er
sah sich seiner nackten Existenz gegenüberstehen und alles um ihn herum wurde
ihm zu einem Schein, demgegenüber er nur zur Empfindung des Ekels fähig war.
Dieser Ekel erschien als Synonym der „Externalität von Wörtern und Dingen“. Die
Sprache und die Ordnung der Dinge fielen in Sartres Roman wie in seiner
Philosophie auseinander. Anders als in der Scholastik, da dem Objekt etwas
Wesenhaftes inne war, das in der Sprache seine Entsprechung fand, war in Sartres
frühem Existentialismus die einzige ihm konstatierbare Substanz die Existenz
selbst.
Roquetin ließ er dieses Initialerlebnis in der Betrachtung eines Baumes144 erfahren:
„Die Existenz überall, bis ins Unendliche, zuviel, immer und überall; die Existenz,
144
Sartre liebte das Beispiel des Baumes. Auch in späteren Werken wird er immer wieder
auf den Baum zurückkommen. Es handelte sich hierbei um einen Kastanienbaum der in
LeHavre stand. Sartre schrieb 1931 an Simone de Beauvoir: „Danach habe ich mir leichten
Herzens einen Baum angeschaut. Dazu muß man nur das Türchen einer schönen Anlage an
der Avenue Foch aufstoßen und sich ein Opfer und einen Stuhl aussuchen. Dann schauen.
[...] Es war sehr schön und ich scheue mich nicht, hier diese beiden wertvollen Angaben zu
meiner Biographie zu machen: in Burgos habe ich verstanden, was eine Kathedrale ist, und
in Le Havre, was ein Baum ist. Leider weiß ich nicht so recht, was für ein Baum es war. Sie
werden es mir sagen: Sie kennen diese Spielzeuge, die sich im Wind oder wenn man sie
ganz schnell bewegt, drehen; er hatte überall kleine grüne Stengel, die mit sechs oder
sieben ungefähr genauso angeordneten Blättern ihren Spaß trieben. Ich warte auf ihre
Antwort. Anbei eine kleine Skizze.“ (aus: Sartre, Jean-Paul: Gesammelte Werke,
Autobiographische Schriften 3. Briefe, Tagebücher. Briefe an Simone de Beauvoir 19261939, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 48). Hier folgt die Skizze eines Kastanienblattes.
Auch wenn diese Zeilen banal erscheinen – in ihnen spiegelt sich ein Aspekt von Sartres
Denken wieder: Es ist Sartre für den der Baum Bedeutung und der durch ihn Erkenntnis
erlangt, völlig unabhängig davon, welch biologische Klassifikation der Baum hat. Nur
Kraft der eigenen Subjektivität, des eigenen Denkens werden für ihn
Bedeutungszusammenhänge konstruiert. Daß Sartre nicht einmal eine Kastanie von anderen
Bäumen unterscheiden konnte, liegt letztendlich daran, daß er diesem Wissen keine
sonderlich große Bedeutung beimaß. Erst nachdem er ein Verhältnis zu diesem Baum
aufgebaut hatte, interessierte er sich für dessen Namen.
47
die immer nur durch die Existenz begrenzt ist. […] Das Lächeln der Bäume, der
Lorbeerbaumgruppe, das wollte etwas sagen; das war das wirkliche Geheimnis der
Existenz. […] Ich konnte ihn [den Kastanienbaum, S.O.C.] nicht verstehen, selbst
wenn ich siebenhundert Jahre an diesem Tor stehenbleiben würde; ich hatte über
die Existenz alles erfahren, was man wissen konnte.“145
An diesem Punkt der Philosophie – der Frage nach der Wahrheit – blieb Sartre
Kantianer. Das Ding-an-sich sei dem Menschen nicht zugänglich, lediglich für-sich
hätten die Objekte ein Wesen. Doch gegen Kant, der Gott die Würde des
Erkennens des Dings-an-sich zugestand, war Sartres Konzeption der Welt gottlos.
Es gäbe keinen erklärbaren Sinn der Existenz – sie sei „einfach da“. Das Denken
des Subjekts bestimmte - ob das Subjekt dies wolle oder nicht – die Welt der
Objekte-an-sich. Die Existenz des Baumes sei bedeutungslos, wenn das Subjekt –
der Mensch – den Baum nicht wahrnehme; ihn nicht zum Baum mache.
Anders ausgedrückt: Für Sartre bedeutete die Objektwelt – ganz im Sinne des
Sensualisten Berkley – Sein ist Wahrgenommenwerden.
Hier sei an die Stelle aus Sartres „Die Imagination“ erinnert, an der es hieß, daß
einen Baum für einen Menschen zu halten, nicht heiße einen Baum
hervorzubringen, sondern lediglich den Baum schlecht wahrzunehmen. Das Bild,
das dabei entstehe, sei ein bestimmter Bewußtseinstyp. In letzter Konsequenz sei es
der Mensch, der qua seines Denkens den Dingen ihre Bedeutungen verleihe. Dem
voraus gehe die eigene Existenz. In einem späteren Vortrag sagte er dann auch
konsequenterweise, daß „die Existenz dem Wesen vorausgehe“. Das in Sartres
Philosophie keinen übergeordneten Sinn des Lebens gab, folge daraus, daß die
eigene Existenz etwas „Überflüssiges“ hatte. Ohne Sinn zu existieren, werfe den
Menschen in eine „absurde“ Situation.
Doch nicht nur der Mensch, auch seine Umwelt unterlag Sartre zufolge dem
gleichen Schicksal. Er ging sogar soweit gegenüber Simone de Beauvoir
provokativ zu behaupten: „Auch ein Kreis existiert nicht.“ Damit meinte er, daß ein
Kreis keine Eigenschaften besitze, außer denen durch die er definiert werde. Der
Kreis existiere als Kreis durch seine Zuschreibungen. Ebenso wie der Mensch sein
Wesen durch die Existenz der „Anderen“ erst tatsächlich erhalte. So werde das
„Andere“ zum Konstituens des Eigenen. Dadurch, daß ein jedes Ding für Sartre
nichts anderes als eine Konstruktion war, ja die Substanz des Dinges die der
Zuschreibung sei, werde die Welt beschreibbar und erklärbar: Sie konnte nicht das
Produkt eines höheren Wesens oder einer Verselbstständigung sein – sie sei dem
Menschen selbst entsprungen und durch ihn zu erklären und zu verändern. So wie
Roquetin sein Leben veränderte, der am Ende des Buches seinen Entwurf des
Lebens umwarf und seiner Existenz einen Sinn geben wollte: „Ein Buch. Natürlich
wäre das zunächst nur eine langweilige und anstrengende Arbeit, es würde nicht
verhindern, daß ich existiere, daß ich mich existieren fühle. […] Und es gelänge
mir – in der Vergangenheit, nur in der Vergangenheit -, mich zu akzeptieren.“146
Mit Roquetins Entscheidung ein Buch, einen Roman schreiben zu wollen, wollte er
seiner Existenz einen Entwurf geben, der dann, wenn er gelebt war – also in der
Vergangenheit –, zu einer Art Zufriedenheit führen konnte und in seinem eigenen
Entwurf Sinn fand.
145
146
Sartre, Jean Paul: Der Ekel, Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 151ff
Ebd., S. 199
48
Roquetin symbolisierte niemand anderen als Sartre selbst. Wie produktiv diese Art
des Denkens sein konnte, zeigte sich in dem Moment, da die konkrete Geschichte
in Sartres Philosophie eintrat. Mit Schriften wie den „Überlegungen zur
Judenfrage“ und „Marxismus und Existentialismus“ wurden Momente des
französischen Existentialismus sichtbar, die zu ihrer Zeit ihresgleichen suchen
sollten. Durch die Bestimmung der Welt als konstruierter wurden gesellschaftliche
Dechiffrierungen möglich, die andere Theorien, die auf einer ersten Natur
beharrten, nicht leisten konnten.
Das „Grundsatzprogramm“
Marcuses und Horkheimers: Philosophie und kritische Theorie
Marcuse arbeitete zur gleichen Zeit zusammen mit Max Horkheimer an einem
Essay, das die Grundzüge kritischer Theorie formulieren sollte. Im Jahre 1937
erschien: „Philosophie und kritische Theorie“. Während Sartre sich mit der Frage
beschäftigte, was Erscheinung und was Existenz sei, und sich an deren
auseinanderfallen stieß, versuchte Marcuse, dieses auseinanderfallen auf
materialistische Füße zu stellen.
Auch in seinem Text erschien die Wirklichkeit als eine falsche. Nur war dies nicht
– wie bei Sartre – eine Frage der Wahrnehmung, sondern die Objektwelt brach sich
real im Subjekt: Die Wahrheit konnte, so Marcuse, nur gegen die gesellschaftlichen
Verhältnisse gewonnen werden. Diese „verdecken den Sinn der Wahrheit: sie
bilden gleichsam den Horizont von Unwahrheit, der die Wahrheit um ihre Wirkung
brachte.“147 Während Sartres Subjekte in „Der Ekel“ an der Welt verzweifeln und
ihnen nur die Veränderung des individuellen Entwurfes blieb, so war bei Marcuse
die Veränderung der Gesellschaft die Grundlage für einen vernünftigen Entwurf
des Individuums.
Anders als Sartre, bei dem die Freiheit kantisch am Subjekt hing, war für Marcuse
die Verwirklichung der Freiheit nur durch die Veränderung der gesellschaftlichen
Verhältnisse zu erreichen – gemäß einem Ausspruch des jungen Hegels nachdem
die Vernunft die Freiheit erfordere. Tatsächliche Freiheit und wirkliche Vernunft,
so Marcuse, hätten ihre begriffliche Entstehung in der bürgerlich-idealistischen
Philosophie, doch würden beide um ihre Verwirklichung durch die real
existierenden Gesellschaften betrogen: „Die Vernunft ist nur der Schein der
Vernünftigkeit in einer vernunftlosen Welt, und die Freiheit nur der Schein des
Freiseins in der allgemeinen Unfreiheit. Der Schein kommt zustande, indem der
Idealismus verinnerlicht wird: Vernunft und Freiheit werden zu Aufgaben, die das
Individuum in sich selbst zu erfüllen hat und erfüllen kann, in welchen äußeren
Verhältnissen auch immer es sich befinden mag.“148
Das Problem von „innerer und äußerer Freiheit“ in „Philosophie und kritische
Theorie“ war nicht neu. In dem Aufsatz über „affirmative Kultur“ arbeitete
Marcuse bereits heraus, welchen Beitrag Kultur an der Interiorisierung von
Herrschaft durch die Verlagerung von Freiheit auf die „Innerlichkeit“ hatte.
147
Marcuse, Herbert: Philosophie und kritische Theorie, in: Marcuse, Herbert: Schriften,
Bd. 3, a.a.O, S, 241
148
Ebd., S.229
49
Folgte man dieser Definition, so gehörte Sartres „Der Ekel“ in vielen Momenten
dieser affirmativen Kultur an, da der Protagonist Roquetin nur einen Ausweg in der
Veränderung seines eigenen Entwurfes sah und damit bei der „Innerlichkeit“
stehenblieb. Die Perspektive der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse
fehlte. Doch die Heftigkeit mit der Roquetin auf die Welt reagierte, das Ausmaß
seines Ekels gegenüber der Welt deutete schon an, daß auch für Sartre die
Organisation der Welt keine annehmbare war. In der Eindringlichkeit der
Beschreibungen der Welt als Falsche und Auslöser des Ekels war zumindest
deutlich geworden, daß auch für Sartre die Welt das Subjekt krank machen konnte.
Doch was bei Sartre noch idealistisch in der Veränderung des subjektiven
Entwurfes stehenblieb, bekam in der kritischen Theorie eine materialistische
Substanz. Marcuse schrieb: „Die ökonomischen Verhältnisse bestimmen das
philosophische Denken in der bürgerlichen Periode zunächst einmal so, daß das
emanzipierte, auf sich selbst verwiesene Individuum denkt. Wie es aber in der
Wirklichkeit nicht in der Konkretion seiner Möglichkeiten und seiner Bedürfnisse
zählt, sondern – unter Abstraktion von seiner Individualität – nur als Träger von
Arbeitskraft, von nützlichen Funktionen im Verwertungsprozeß des Kapitals, so
erscheint es in der Philosophie nur als abstraktes Subjekt: unter Abstraktion von
seiner vollen Menschlichkeit.“149 Mit anderen Worten: Der Mensch war noch nicht
verwirklicht - all das, was die Menschheit hätte ausmachen können, welche
Fähigkeiten und Künste der Einzelne - das Subjekt – hätte ausbilden können, werde
beschnitten durch die kapitalistische Wirklichkeit. Die Reduktion des Individuums
auf den „Träger von Arbeitskraft“ verhindere die Ausbildung einer Menschlichkeit,
die jenseits der blanken Verwertbarkeit für den Markt stehe. Der bürgerlichen
Philosophie sei jedoch anzurechnen, so Marcuse und Horkheimer, daß „die Sorge
um das Individuum den Idealismus lange davor bewahrte, der Aufopferung des
Individuums im Dienste falscher Kollektivitäten seinen Segen zu geben.“150
Tatsächlich war der Aufsatz „Philosophie und kritische Theorie“ eine Art
Positionsbestimmung. Schon im Einleitungsabsatz wurde deutlich, daß kritische
Theorie marxistische Theorie sein sollte: „Nachdem die kritische Theorie die
ökonomischen Verhältnisse als für das Ganze der bestehenden Welt verantwortlich
erkannt und den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit erfaßt
hatte, wurde nicht nur die Philosophie als eigenständige Wissenschaft dieses
Gesamtzusammenhangs überflüssig, sondern es konnten nun auch diejenigen
Probleme, welche die Möglichkeiten des Menschen und der Vernunft betrafen, von
der Ökonomie aus in Angriff genommen werden. So erscheint Philosophie in den
ökonomischen Begriffen der materialistischen Theorie.“151 Die bisherige
idealistische Philosophie habe nach der Erkenntnis, daß die Welt über entfremdete
Arbeit organisiert werde, eine historische Schranke gefunden. Ökonomie war
politische Ökonomie geworden. Demzufolge positionierte sich kritische Theorie in
der Tradition des Marxismus – eine Positionierung, die bei Sartre erst später
stattfinden sollte.
Innerhalb des Marxismus wollte sich die kritische Theorie gegenüber orthodoxen
Strömungen abgrenzen. Der Vereinnahmung des Einzelnen für die „große Sache“
des Stalinismus oder des offiziellen Marxismus-Leninismus sollte widerstanden
werden: „Der Weg der Veränderung und die grundlegenden Maßnahmen für die
vernünftige Organisation der Gesellschaft sind durch die jeweilige Analyse der
149
Ebd., S. 242
Ebd., S. 233
151
Ebd., S, 227
150
50
ökonomischen und politischen Verhältnisse vorgezeichnet. Die weitere
Ausgestaltung der neuen Gesellschaft könne nicht mehr Gegenstand irgendeiner
Theorie sein: sie soll als das freie Werk der befreiten Individuen geschehen.“152 Mit
der Aussage, daß „die weitere Ausgestaltung der neuen Gesellschaft nicht mehr
Gegenstand irgendeiner Theorie sein kann“ war zweierlei gesagt: Erstens wurde
der russischen Revolution ihr Scheitern bescheinigt, da sie mit dem
„avantgardistischen“ Parteimodell weit davon entfernt war, eine Gemeinschaft
freier Menschen zu fördern und noch weiter davon entfernt war das „Werk freier
Individuen“ zu sein. Zweitens wurden die historische Schranke und der
Geltungsbereich kritischer Theorie verortet: In einer besseren Welt werde die
kritische Theorie überflüssig, die Defizite der alten Gesellschaften, die die kritische
Theorie zum Gegenstand hatte, würden bedeutungslos.
Im Kern der kritischen Theorie sollte „die Sorge um das Glück der Menschen und
die Überzeugung, daß dieses Glück nur durch die Veränderung der materiellen
Daseinsverhältnisse zu erreichen ist“153, stehen. Mit anderen Worten: Revolution
als Motor der Veränderung war das anzustrebende Ziel. Doch dieses in solcher
Deutlichkeit zu sagen hätte dem emigrierten Institut mit großer Sicherheit auch in
Amerika gewaltige Probleme eingebracht. Man wählte deshalb eine Art
Sklavensprache: Sklavensprache deshalb, weil die Sprache „sklavisch“ sich duckt,
um den Zensoren der herrschenden Öffentlichkeit zu entgehen, die bei bestimmtem
marxistischen Vokabular wie Pavlowsche Hunde Alarm schlagen würden. Der
Gedanke war, daß die Herrschenden nicht unbedingt die Texte lesen würden, aber
signalforsches Vokabular würde sie aufmerksam machen. So wurde aus dem
„Kapitalismus“ das „Bestehende“ und aus der „Revolution“ die „Veränderung der
materiellen Daseinsverhältnisse“ oder die „radikale Umwälzung des Bestehenden“.
Das Festhalten an den Grundmomenten marxscher Theorie sollten das Institut für
Sozialforschung zum Vorreiter eines undogmatischen und kritischen Marxismus
werden lassen, der 30 Jahre später für einen Teil einer neuen Generation zum
Schlüsselverständnis der gesellschaftlichen Situation beitragen sollte. Im Jahre
1937, als in Deutschland weit und breit kein politisches Subjekt in Sicht war, das
zur gesellschaftlichen Veränderung im Sinne einer freieren Gesellschaft fähig war,
bei marxistischen Positionen zu bleiben und die Hoffnung auf eine bessere Welt
nicht aufzugeben, war eine Position, die nicht viele wagten: „Daß der Mensch mehr
sein kann als ein verwertbares Subjekt im Produktionsprozeß der
Klassengesellschaft, durch diese Überzeugung ist die kritische Theorie am tiefsten
der Philosophie verbunden.“154 Genau diese Grundhaltung sollte sie mit Sartre und
dem Kreis der französischen Existenzialisten - zumindest in der Theorie verbinden.
Wider unkritische Glücksvorstellungen
Marcuses: Zur Kritik des Hedonismus
Kritische Theorie, so Marcuse und Horkheimer ging es „um die Freiheit und das
Glück des Individuums.“155 Um diesen Glücksanspruch näher zu definieren und
abzugrenzen, schrieb Marcuse den Aufsatz „Zur Kritik des Hedonismus“. Ihn ihm
152
Ebd., S. 228
Ebd.
154
Ebd., S. 244
155
Ebd., S. 237
153
51
sollte einer Kritik an der kritischen Theorie vorgebeugt werden, die ihr hätte
vorwerfen können, daß mit dem Postulat des Glücksanspruches einem Hedonismus
das Wort geredet werden würde.
Zu diesem Zweck unternahm Marcuse eine Kritik der Spielarten des Hedonismus,
insbesondere des kyrenaischen und des epikureischen. Die Kyrenaiker wurden von
Marcuse dahingehend kritisiert, daß durch ihre Philosophie der grundsätzlich zu
ermöglichenden Erfüllung der Lust eine unterschiedslose Denkart postuliert werde,
in der sämtliche Individuen nur unter dem Ziel der Lusterfüllung subsumiert
würden. Die Welt erscheine den Kyrenaikern, so Marcuse, als eine die „so
hingenommen wird, wie sie erscheint“ und in der sich die menschlichen
Möglichkeiten allein an der Befriedigung von Lust messen lassen, was den Blick
auf die Wirklichkeit verstelle.
Einen solchen Hedonismus in die Gegenwart zu übertragen, hieße zu verkennen,
daß die reale ökonomische Ungleichheit und Ungerechtigkeit in dem persönlichen
Streben nach Lust verschleiert werde, während die Subjekte durch die Realität des
Marktes und die Prinzipien der Wirtschaftlichkeit bestimmt seien: „Die
Zufälligkeit in den Beziehungen zu Menschen und Dingen und die mit ihr
gegebenen Hindernisse, Verluste werden zum Ausdruck der Anarchie und
Ungerechtigkeit des Ganzen: einer Gesellschaft, in der auch noch die
persönlichsten Verhältnisse durch das ökonomische Wertgesetz bestimmt
werden.“156 Die Subjekte im Kapitalismus waren für Marcuse strukturell durch den
Arbeitsvertrag miteinander verbunden. Der Markt erobere immer mehr Bereiche,
die vormals nicht durch ihn vermittelt waren. Das Streben nach reiner Lust werde
zum unreflektierten, erkenntnisleeren Raum, der sich als Aporie des Bestehenden
geriere: In den „Bedürfnissen und Interessen selbst (und nicht erst in ihrer
Befriedigung) steckt schon die Verkrümmung, Verdrängung und Unwahrheit mit
der die Menschen in der Klassengesellschaft aufwachsen. Die Bejahung des einen
enthält schon die Bejahung des anderen.“157
Die epikureische Variante des Hedonismus sei dagegen differenzierter: Die
Erfüllung bestimmter Lüste hätte - folgte man den Epikurianern - spätere Unlust
zur Folge. Qua Vernunft solle der Mensch in der Lage sein, maßvollen Genuß
auszuüben, der durch seine Steuerung auf die größtmögliche Dauerhaftigkeit und
Sicherheit der Lust hinarbeite. Dieser Hedonismus sei, so Marcuse, ein negativer
Hedonismus: „Schon in der Methode kommt die Angst vor der Unsicherheit und
Schlechtigkeit der Lebensverhältnisse, die unüberwindliche Beschränktheit des
Genusses zum Ausdruck. [...] Sein Prinzip ist eher die zu vermeidende Unlust als
die zu erstrebende Lust.“158
In der bürgerlichen Gesellschaft habe auch der epikureische Hedonismus etwas
Ideologisches: Solange die Erfüllung der Lust nicht über das Bestehende
hinausweise, werde sie zur Zementierung der Gegenwart. „Die Wahrheit des
Hedonismus wäre seine Aufhebung in einem neuen Prinzip der gesellschaftlichen
Organisation, nicht in einem anderen philosophischen Prinzip.“159
Solange die Gesellschaft in Klassen organisiert und damit der größte Teil der
Menschen von den Produktionsmitteln getrennt sei, bliebe zur Erfüllung des
Glücks nur die Konsumtion. Den meisten Menschen stehe jedoch nur „der
allerbilligste Teil“ der Waren zu. Auch in der Konsumtion halte sich der
156
Marcuse, Herbert: Zur Kritik des Hedonismus, in: Schriften 3, a.a.O., S. 254
Ebd., S. 258
158
Ebd., S. 259
159
End., S. 262
157
52
Klassencharakter aufrecht. Glück, das noch nicht vollends beschädigt sei, fände
sich nach Marcuse in Sinnlichkeit und Sexualität.
Bundschuh weist zu Recht darauf hin, daß Marcuse diese Sichtweise in seinen
späteren Werken revidierte, da er feststellen mußte, daß „die Lockerung der
Sexualmoral durchaus zum Bestandteil einer repressiven Vergesellschaftung
werden kann.“160 Zur Zeit der Entstehung von „Zur Kritik des Hedonismus“
erschien Marcuse die restriktive Sexualmoral als unabdingbarer Träger der
gesellschaftlichen Autorität. Sinnlichkeit und Leidenschaft könnte, so sein
Wunsch, die herrschende Ordnung in Gefahr bringen, wenn sie nicht auf die
allgemein erwünschten Ziele abgelenkt werde.
Während die Industriegesellschaft auf der einen Seite moderne Techniken
bereitstelle, um „die Beweglichkeit, Schönheit, Geschmeidigkeit der Dinge und
Körper herauszuholen, näher zu bringen und verwendbar zu machen“161, biete sie
„den Kleinen“ nur Ersatzbefriedigung. Alltäglich könnten sie „den Glanz der
großen Welt im Kino miterleben; mit dem Bewußtsein, daß dies alles doch nur im
Film geschieht und daß es auch hier Glanz, Bitterkeit und Sorgen, Schuld und
Sühne und den Triumph des Guten gibt.“162 Aus Sicht der Herrschenden solle die
Ausbildung der Sinnlichkeit der Arbeiter nicht, so Marcuse, über das zur
Reproduktion der Klasse notwendige Maß hinausgehen. Sexualität solle für sie nur
„zur körperlichen und seelischen Gesundheit beitragen“.
Die Beziehungen der Menschen waren für Marcuse im wesentlichen
Klassenbeziehungen: „Für die meisten Menschen wird der Partner im Genuß auch
der Partner im Elend derselben Klasse sein. Ihre Lebensumstände ein armseliger
Schauplatz für das Glück. [...] Jedes Überhandnehmen des Genusses würde die
notwendige Disziplinierung gefährden und die pünktliche und zuverlässige
Einordnung in die Masse erschweren, die die Maschine des Ganzen in Gang
hält.“163
Das bedeutete, daß den Subjekten ein „notwendig falsches Bewußtsein“ innert sein
mußte, eine innere Schranke, die die Forderung auf das freie Ausleben der Lust
unterband sowie die freie und ungebundene Wahl ihrer eigenen Interessen
verhinderte. Es galt zu erklären, warum die Subjekte gegen ihre eigenen Interessen
handelten: „Die Ergebnisse moderner Volksabstimmungen beweisen, daß die von
der möglichen Wahrheit getrennten Menschen dazu gebracht werden können,
gegen sich selbst zu stimmen.“164 Oder, um es mit Wilhelm Reich zu sagen: „[…]
nicht, daß der Hungernde stiehlt oder das der Ausgebeutete streikt, ist zu erklären,
sondern weshalb die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die Mehrheit der
Ausgebeuteten nicht streikt.“165
Dennoch diagnostizierte Marcuse im Hedonismus Befreiendes, insofern er sich des
Glücks des Menschen annahm. Im „Schreckensbild des entfesselten
Genußmenschen“ wirke noch die Trennung von geistiger Produktivkraft und
160
Bundschuh, Stephan: »Und weil der Mensch ein Mensch ist...«. Anthropologische
Aspekte der Sozialphilosophie Herbert Marcuses, Lüneburg, 1998, S. 69.
161
Ebd., S. 271
162
Ebd., S. 272
163
Marcuse, Herbert: Zur Kritik des Hedonismus, a.a.O., S. 271
164
Ebd., S. 278
165
Reich, Wilhelm: Massenpsychologie im Faschismus, Köln, 1971, 1986, S. 40
53
materieller Reproduktion. In der realen Unfreiheit scheitere die Verwirklichung der
Lust daran, daß die Arbeit zum Markte getragen werde und den Subjekten eine Art
des Denkens und Lebens zu eigen gemacht werde, welches sie von sich selbst
entfremde und verdingliche. Der antike Dualismus von Arbeit und Muße spiegele
sich in den Individuen der bürgerlichen Gesellschaft wieder, mit dem Ziel, diesen
im Kapitalismus als Einheit im Seelenleben der Subjekte zu zementieren. Dies
nicht nur im Bewußtsein, sondern in Realitas aufzuheben, so Marcuse, sei die
Selbstbestimmung der befreiten Menschheit - das Zusammenfallen von Glück und
Freiheit. Zu erklären sei, warum es überhaupt möglich war, den Einzelnen
vorzumachen, daß Arbeit und Muße eines sei.
Jede marxistische Theorie dieser Zeit mußte – um ihren Geltungsanspruch
aufrechtzuerhalten – versuchen zu erklären, wie es um den gesellschaftlichen Kitt
bestellt war, der die Klassenantagonismen verschleierte und wie es möglich war,
daß die unterdrückten Subjekte immer größeren Anteil am Fortbestand des
Kapitalismus hatten. Theorien, die dies nicht versuchten, mußten notwendig an der
wirklichen Geschichte scheitern.
Mit Beginn des zweiten Weltkrieges und der zunehmend schlechter werdenden
finanziellen Situation des „Institutes für Sozialforschung“ sollte sich für Marcuse
ein neues Kapitel aufschlagen: Der praktische Kampf gegen den Faschismus bei
der OSS und die persönliche Verortung in den USA bestimmen sein Leben in den
folgenden Jahren.
Und auch bei Sartre sollten neue Momente sein Leben prägen: Mit der deutschen
Kriegsgefangenenschaft und der dortigen Lektüre von Heidegger wurde ein Projekt
realisiert, das Sartre lange in sich trug: „Das Sein und das Nichts“ sollte
geschrieben werden. Darüber hinaus gründete Sartre eine Widerstandsgruppe,
deren Scheitern für sein weiteres politisches Denken maßgeblich sein sollte.
Das Ende des liberalistischen Subjekts
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland setzte sich ein
neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte endgültig durch, das in Italien seinen
Anfang nahm: das Zeitalter des Faschismus. Das bürgerliche Subjekt des
Liberalismus gehörte der Vergangenheit an. Auch wenn die Parole der
Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ im Liberalismus
nie verwirklicht wurde, so blieben diese Begriffe dennoch Ideale in der
bürgerlichen Gesellschaft. Der ökonomische Liberalismus formte ein Subjekt, das
nie mehr blieb als ein reines Wirtschaftssubjekt, das die Freiheit des Vertrages
anstelle der Sklaverei zugedacht bekam, die Gleichheit nur in der
Klassenzugehörigkeit als Unterdrückte verwirklicht sehen konnte und
Brüderlichkeit nur in Form von Solidarität gegen das Bürgertum erleben konnte.
Dennoch war dem politischen Liberalismus ein Subjekt von Wichtigkeit, das den
hohen Idealen der Freiheit und der Vernunft verpflichtet war. Der Faschismus war
– neben vielem anderen – auch der Kampf gegen die Revolution von 1789.
Praktisch beließ er das Wirtschaftssubjekt des Liberalismus, wie es war, während
er das Subjekt der Freiheit und der Vernunft aufs heftigste bekämpfte.
Der spanische Bürgerkrieg, indem vierzigtausend Internationalisten aus fünfzig
Ländern an der Seite der spanischen Anarchisten, Trotzkisten, Kommunisten und
Republikaner kämpften, nahm im kleinen Maßstab bereits vorweg, was sich später
54
international abspielen sollte. Mit dem Sieg Francos wurde schlagartig deutlich,
daß sich der Vormarsch des Faschismus nicht mehr aufhalten ließ. Mit seinem
weltweiten Siegeszug spaltete sich die Welt in zwei Lager: In die Faschisten und
diejenigen, die sie bekämpften. Hobsbawm begriff diese Zeit als „internationalen
ideologischen Bürgerkrieg“: „Wie sich herausstellen sollte, verliefen die
entscheidenden Grenzen in diesem Bürgerkrieg nämlich nicht zwischen dem
Kapitalismus und der sozialen Revolution des Kommunismus als solchen, sondern
zwischen zwei ideologischen Familien: auf der einen Seite die Nachkommen der
Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der großen Revolutionen, wozu natürlich
auch die Russische Revolution gehörte; auf der anderen Seite alle ihre Gegner.“166
Das führte zu der paradoxen Situation, daß sich Kommunisten, Sozialisten der
verschiedensten Couleur mit Sozialdemokraten und bürgerlichen Liberalen auf
einer Seite wiederfanden und für eine Gesellschaft jenseits des Faschismus
zusammen kämpften, von der zum damaligen Zeitpunkt niemand wußte, wie diese
aussehen würde und wofür er oder sie womöglich das Leben lassen würde. Rund
sechzig Millionen Menschen, davon 20-30 Millionen Zivilisten sollten während
dieser Zeit der ungeheuren Verdunklung ihr Leben verlieren, Millionen
Verwundete, Vertrieben und weitere mehrere Millionen psychisch Verwundete
sollten aus dem größten Massaker der Menschheitsgeschichte hervorgehen. An der
Spitze das faschistische Deutschland, das mit Auschwitz eine in der Geschichte der
Menschheit bisher einmalige Verknüpfung von Mord im industriellen Maßstab und
der Degradierung des Subjekts in lebende Skelette formte, so daß Paul Celan davon
sprechen konnte, daß der Tod ein Meister aus Deutschland sei.
Der Faschismus sollte von solcher Popularität sein, daß eine Koalition zwischen
der stalinistischen Sowjetunion und dem kapitalistischen Amerika notwendig war,
um ihn aufzuhalten. Meist um den Preis der Totalisierung der real existierenden
Demokratien und den Untergang libertärer Tendenzen der Arbeiterbewegung. In
diese libertären Denktraditionen sollten sich Marcuse und Sartre in den folgenden
Jahrzehnten stellen und zu ihrer Erneuerung beitragen. An keinem von beiden
gingen die folgenden Jahre so spurlos vorbei, wie noch das Jahr 1933 in Berlin an
Sartre vorbeiging. Beide nahmen Teil am Kampf gegen den gemeinsamen Feind –
am Kampf gegen die ungeheure Verdunkelung.
166
Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme., München, 1999, S. 186
55
3. Die ungeheure Verdunklung: Der Kampf
gegen den gemeinsamen Feind - Subjektivität
im Zeichen der Vernichtung
„WAS DAS SUBJEKT IST, DAS LIEGT NUR IM
PRÄDIKAT; DAS PRÄDIKAT IST DIE WAHRHEIT DES
SUBJEKTS;
DAS
SUBJEKT
NUR
DAS
PERSONIFIZIERTE, DAS EXISTIERENDE PRÄDIKAT.
SUBJEKT UND PRÄDIKAT UNTERSCHEIDEN SICH
NUR WIE EXISTENZ UND WESEN. DIE VERNEINUNG
DER PRÄDIKATE IST DAHER DIE VERNEINUNG DES
SUBJEKTS. WAS BLEIBT DIR VOM MENSCHLICHEN
WESEN ÜBRIG, WENN DU IHM DIE MENSCHLICHEN
EIGENSCHAFTEN NIMMST?“
LUDWIG FEUERBACH
„DIE VERNICHTUNG DES NAZISMUS MIT SEINEN
WURZELN IST UNSERE LOSUNG, DER AUFBAU
EINER NEUEN WELT DES FRIEDENS UND DER
FREIHEIT IST UNSER ZIEL. DAS SIND WIR UNSEREN
GEMORDETEN KAMERADEN, IHREN ANGEHÖRIGEN
SCHULDIG.“
DER SCHWUR VON BUCHENWALD
Die Ausgangssituation
Zwei Intellektuelle, die nicht ihren Kampf gegen den Faschismus
kämpfen können
Mit dem Beginn des zweiten Weltkrieges suchten sowohl Sartre wie Marcuse,
ausgestattet mit unterschiedlichen, dennoch auf einer existentialistischen
Vergangenheit fußenden Theoriegebäuden, nach Wegen um den Faschismus zu
bekämpfen. Bei Sartre bahnte sich in diesen Jahren ein Wechsel an: Zwar waren
seine Schriften immer noch dem deutschen Existentialismus verpflichtet – einer
Denkrichtung, die sich durch die Lektüre Heideggers noch verstärken sollte -, doch
für Sartre begann ein praktischer Kampf gegen das Vichy-Regime und die deutsche
Besatzung. Der praktische Ausdruck seines Kampfes war die Gründung und das
Scheitern einer eigenen Widerstandsgruppe.
Cohen-Solal schreibt über den Sartre jener Jahre: „Der Sartre von 1945 ist nicht
mehr der Sartre von 1939. Es ist die große Mutation, die große Verwandlung seines
Lebens. Bei dem Eintritt in den Tunnel ein Philosophielehrer am Gymnasium, der
zwei Werke vorzuweisen hat, ein isolierter, individualistischer Mensch, der sich
kaum oder gar nicht von den Angelegenheiten dieser betroffen fühlt, völlig
apolitisch ist. Beim Verlassen des Tunnels ein Schriftsteller, der seine vielfältigen
Talente in unterschiedlichen Gattungen entfaltet, der politisch aktiv ist und es auch
56
sein will: ein anerkannter Schriftsteller, der einige Monate später international
berühmt sein wird.“167
Zu dieser Veränderung gehörte – unter anderem – auch die Lektüre von Marx, den
Sartre um 1940 zum ersten Mal las168. Ob sie eine ähnliche Wirkung auf ihn hatte,
wie die Lektüre der Pariser Manuskripte auf Marcuse kann schwer beurteilt
werden. Mitte des Jahres 1941 hatte Sartre ein großes Manifest verfaßt, in dem er
seine Vorstellungen über ein zukünftiges Nachkriegsfrankreich niederschrieb.
Leider ging dieses Manuskript während des Krieges verloren und nur noch
Berichte über seinen Inhalt konnten übermittelt werden: „Als Ergebnis seiner
ersten Marx-Lektüre schlug er die Schaffung einer auf Arbeit fußenden Währung
vor. Der Wert eines Gegenstandes müsse der zu seiner Herstellung notwendigen
Arbeitszeit entsprechen. Notwendig sei ein anderes Parlament, in dem
Berufskammern und andere Korporationen demokratisch vertreten werden. Dem
schlossen sich eine minuziöse Beschreibung der von der Exekutive völlig zu
trennenden Legislative an sowie Vorschläge für einen anderen Wehrdienst und
ausgearbeitete Prinzipien für eine Außenpolitik…“169
Bei Sartre deutete sich also eine Veränderung an, die erst mit Kriegsende voll zur
Geltung kam – dann war seine Spielart des Existentialismus fertig: Ein politischer
Existentialismus, der eine starke Moralität vertrat und mit dem es unmöglich
geworden war, eine Herrschaft über das Subjekt zu apologisieren. Man könnte
sagen, daß sein Existentialismus den radikalen Gegenpol zum deutschen
Existentialismus von Carl Schmitt bildete.
Marcuse kämpfte nach seinem Ausstieg aus dem „Institut für
Sozialwissenschaften“ während der Kriegsjahre auf Seiten des OSS (Office of
Strategie Services) - nicht ganz freiwillig, wie Wiggershaus berichtete: „Im Herbst
1942 war die finanzielle Aushungerungsstrategie der Institutsleiter soweit
gediehen, daß Marcuse sich veranlaßt sah, auf irgendeine Weise an zusätzliches
Geld zu kommen.“ Das Angebot des FBI170 und wenig später des OSS schien
Marcuse ein sicheres Einkommen zu garantieren und weiterhin seine theoretische
Arbeit zu gewährleisten. Sein ehemaliger Chef beim OSS schilderte später, daß
Marcuses Arbeiten dort kaum oder wenig Beachtung fanden: „Oft ist überhaupt
nicht klar geworden, was von uns erwartet wurde; klar war höchstens das eine, daß
167
Cohen-Solal, a.a.O. , S. 225
Cohen-Solal, a.a.O., S. 279: Cohen-Solal schreibt, daß im Juni 1941 Sartres erste
Marxlektüre stattgefunden habe. Bei Hayman findet sich ein kleiner Absatz, in dem
behauptet wird, Sartre habe sich „von November 1924 bis März 1925 mit […] Platon, Kant
und Schopenhauer […], Shakespeare, Keats, Cervantes, Goethe, Pascal, Villiers de I’Isle
Adam, Mallarmé, Nerval, Chrétien de Troyes, Spinoza, Descartes, Freud, Janet und
Hesnard beschäftigt. […] Im April las er Bergson, Erasmus, Giraudoux, Lukrez und die
Confessiones des heiligen Augustinus. Daneben las er noch Marx, ohne viel zu verstehen,
und Freud, über den er sich wegen dessen Annahme, das Bewußtsein sei nicht autonom,
ärgerte.“ (aus: Hayman, Ronald: Jean-Paul Sartre, Leben und Werk, München, 1988). Als
Quelle zitiert Hayman das Verzeichnis der im ersten Schuljahr ausgeliehenen Bücher der
Schulbibliothek. Die Aufzählung der im zweiten Jahr entliehener Bücher soll an dieser
Stelle ausgespart werden. Diese Auflistung scheint eher der Konstruktion des Mythos
Sartre zu dienen, als wirklichen Aufschluß über sein Verständnis all dieser Lektüre geben.
Davon auszugehen, daß sich Sartre, wie Cohen-Solal schreibt, erst Anfang der 40er Jahre
mit Marx auseinandergesetzt hat, erscheint am plausibelsten.
169
Cohen-Solal, a.a.O., S. 279f
170
siehe Wiggershaus, a.a.O., S. 336
168
57
nämlichen die Hervorbringungen unserer gemeinsamen geistigen Tätigkeit von den
Großkopferten im State Department höchst selten gelesen wurden und daß es nie
vorkam, daß daraufhin praktisch gehandelt wurden.“171
Marcuses Eintritt in den amerikanischen Geheimdienst im November 1942 konnte
als aktive Tat gegen den Nazifaschismus gedeutet werden. Durch seinen
existentialistischen Hintergrund war für ihn die Bedeutung der praktischpolitischen Handlung anders konnotiert als für die meisten anderen
Institutsmitglieder. Auch in den späteren Jahren blieben „Marcuses Neigungen fest
auf der Linken“, während ein „ständig breiter werdender Graben begann,
Horkheimer und Adorno von Marcuse zu trennen.“172 Die Bereitschaft zum aktiven
politischen Engagement unterschied Marcuse vom gros seiner damaligen
Institutskollegen auch noch später. In gewisser Weise stand er Sartre darin näher
als vielen anderen. Vielleicht blieb immer ein Moment seiner existentialistischen
Vergangenheit - die starke Betonung des handelnden Subjekts – in der Konzeption
seines Denkens und Lebens.
Während der Jahre des Krieges arbeiteten beide im Kampf gegen den Faschismus
unter dem Banner einer freiheitlich-sozialistischen Perspektive, doch mit
unterschiedlichen theoretischen Instrumenten. Eines von Marcuses Hauptwerken,
„Vernunft und Revolution“, erschien nach der Trennung des Institutes, war aber
dennoch als der Höhepunkt der gemeinsamen Arbeit mit dem Horkheimer-Kreis zu
begreifen.
Die Veröffentlichung von Sartres „Das Sein und das Nichts“ wurde zum
Meilenstein der französischen Philosophie, an dem sich noch Generationen von
Wissenschaftlern und Intellektuellen abarbeiteten. Beiden ist – trotz
unterschiedlicher theoretischer Zugänge – gemein, daß die Freiheit Kernpunkt
einer Gesellschaft nach dem Faschismus sein sollte. Während für Sartre das
Subjekt zu Freiheit verurteilt war – also grundsätzlich frei war, hatte es bei
Marcuse einen zur Freiheit befähigenden Kern, der durch die gesellschaftliche
Entwicklung verstümmelt und verkrümmt wurde, den aber zu befreien es galt. Dem
Kampf gegen den Faschismus gewannen beide in ihren unterschiedlichen
Ausprägungen die Sehnsucht nach politischer wie persönlicher Freiheit ab. Dies
sollte auch die Grundlage für ihre spätere Annäherung sein.
Kriegsausbruch in Frankreich / Sartre als Soldat
Mit Ausbruch des Krieges kam für Frankreich der 2. September 1939, der Tag der
großen Mobilmachung. Auch Sartre wurde eingezogen und „verkleidete sich als
Soldat“173. Sein Dienst beim Militär verrichtete er in der meteorologischen Sektion,
wo er Wetterballons aufsteigen ließ. Aus dieser Zeit resultieren ungefähr
zweitausend Tagebuchseiten, Notizen und Briefe. Später sollte aus einem Teil
dieser riesigen Gedankensammlung Sartres erstes Hauptwerk „Das Sein und das
Nichts“ entspringen, sowie den Grundstein seines Romanzyklus „Wege zur
Freiheit“ enthalten.
Erstaunlich waren Sartres politische Fehleinschätzungen dieser Zeit: Kurz vor
Kriegsbeginn glaubte er, so berichtete Simone de Beauvoir, daß „es nicht zum
171
Clausen, Detlev (Hg.): Spuren der Befreiung, Darmstadt, 1981, S. 34
Jay, Martin, a.a.O., S. 335
173
Cohen-Solal, a.a.O., S. 227
172
58
Kampf kommen wird, daß es ein moderner Krieg wird, ohne Gemetzel“174 und als
er 1940 in deutscher Kriegsgefangenschaft war, dachte er, daß ein schnelles
Kriegsende bevorstand175. Anfangs ging der Krieg an Sartre vorbei. Über seine
eigene Tätigkeit, Ballons aufsteigen zu lassen und sie mit dem Fernglas zu
beobachten, schrieb er: „Das nennt man eine >meterologische Sondierung< . [...]
Danach gebe ich den Artillerieoffizieren die Windrichtung durch, die damit
anfangen was sie wollen. Die Jungen benutzen die Information, die Alten
schmeißen sie in den Papierkorb. Beide Methoden kommen sich gleich, denn
geschossen wird ja nicht. Diese extrem pazifistische Arbeit (nur die Taubenzüchter,
wenn es bei der Armee noch welche gibt, könnten eine sanftere und poetischere
Funktion haben) läßt mir sehr viel Freizeit.“176 Doch sogar für diese Tätigkeit,
schien Sartre - glaubt man der Schilderung eines Kameraden177 - völlig ungeeignet
zu sein: „Von Anfang an hatten wir den Eindruck, daß er [Sartre, S.E.] uns nicht
vom kleinsten militärischen Nutzen sein würde.“178
Festzuhalten bleibt, daß Sartre wie Marcuse – beide auf ihre Weise – gegen den
Faschismus kämpften, doch daß die Form dieses Kampfes, nicht ihre Form war.
Sartre kämpfte als Soldat, Marcuse als Geheimdienstler – beides keine Tätigkeiten,
die sich mit dem starken Freiheitsideal beider verbinden ließen. Mit Sicherheit lag
hier eine Wurzel für ihr späteres Engagement gegen die Restauration des
Kapitalismus in den verschiedenen Nachkriegsordnungen oder wie Marcuse es
ausdrückte: gegen die „totalitären Demokratien“. Beide erwarteten vom Kampf
gegen den Faschismus eine Zukunft, die viel deutlichere Brüche zum Faschismus
sichtbar machen sollte, als die darauffolgenden real existierenden Demokratien es
taten.
Essenz des Abschieds vom Institut mit Hegels
Ehrenrettung
Marcuses: Vernunft und Revolution
Während Sartre sich als Soldat verkleidete und in eine neue, produktive
biographische Epoche eintrat, markierte für Marcuse der Abschied vom Institut
ebenfalls einen neuen Lebensabschnitt. Mit „Vernunft und Revolution“ legte er in
seinem ersten Hauptwerk, daß gleichzeitig auf Jahre das letzte große theoretische
Werk Marcuses sein sollte, eine Art Essenz seines Denkens mit der Frankfurter
Schule und deren Grundlagen über Hegel und Marx vor. Wo in früheren Jahren
noch der Dank an Heidegger dem Buch vorweg stand, war nun zu lesen: „Max
Horkheimer und dem Institut für Sozialforschung gewidmet.“
174
De Beauvoir, Simone: In den besten Jahren, Reinbek bei Hamburg, 1969, S. 358
Cohen-Solal, a.a.O., S. 274
176
siehe: Cohen-Solal, a.a.O., S. 230, Brief an Ardenne Monnier, 23. Februar 1940
177
Es handelt sich hier um Pierre, einen Kameraden Sartres, der mit ihm zusammen den
Militärdienst in derselben Einheit absolvierte. Pierre stand scheinbar zu Sartre in
Konkurrenz und die beiden Männer rieben sich aneinander. Die Figur Pierres ist deshalb
von Interesse, weil sie – noch Jahre später – immer wieder als Beispielfigur in Sartres
Werken auftauchte.
178
Bericht aus dem französischen Staatsarchiv zu den Gefangenenlagern, zit. n.: CohenSolal, a.a.O., S. 234
175
59
„Vernunft und Revolution“ war in erster Linie ein Werk, daß es sich zur Aufgabe
machte, in der Zeit des Faschismus eine neue Interpretation der hegelschen
Philosophie zu liefern. Damit wurde es die „Ehrenrettung“ Hegels, dem in Amerika
drohte, als Vorläufer des Faschismus angesehen zu werden. In zweiter Linie war
das Werk als Geschichte der Philosophie des Subjekts zu lesen. Es griff Hegels
Auseinandersetzungen mit Kants Vormachtstellung des Subjekts auf und mit
interpretierte sie mit Marx weiter.
Das Verhältnis von Subjekt und Objekt gehörte zu den zentralen Momenten
hegelscher Philosophie. Mit hegelscher Dialektik brach die Geschichte durch Marx
in die deutsche Philosophie und markierte einen Wendepunkt vom deutschen
Idealismus zum Materialismus. Sowohl in der Auseinandersetzung mit Hegel, wie
auch in der Interpretation Marxens nahm das Subjekt auch für Marcuse einen
zentralen Stellenwert ein. Dies brachte ihm später die Kritik ein, er mache eher
“»den Menschen« als »die Menschen« zum Subjekt der Geschichte”179, weshalb
seine theoretische Konzeption auch auf das Glück als das Hauptziel menschlichen
Strebens abziele.
Der deutsche Idealismus bedeutete für Marcuse eine neue Qualität in der
Philosophie: „Die Stellung des Menschen in der Welt, die der Art seiner Arbeit und
seiner Freude, sollten nicht länger von irgendeiner äußerlichen Autorität abhängen,
sondern von seiner eigenen freien und vernünftigen Tätigkeit. Der Mensch war
über die lange Periode der Unreife hinausgelangt, während der er überwältigenden
natürlichen und gesellschaftlichen Kräfte zum Opfer gefallen war; er war das
autonome Subjekt [Herv. v. m., S.E.] seiner eigenen Entwicklung geworden. Von
nun an sollte der Kampf mit der Natur und mit der gesellschaftlichen Organisation
von seinem eigenen Fortschritt im Wissen geleitet werden. Die Welt sollte zu einer
Ordnung der Vernunft werden.”180
Grundlage dieses „autonomen Subjekts“ stellte für Hegel die Vernunft als das
höchste zu verwirklichende Ziel dar. Vernunft bedürfte, so Hegel, der Freiheit. Mit
Freiheit begriff Hegel die Kraft, in Übereinstimmung der Kenntnis der Wahrheit zu
handeln – die Kraft die Wirklichkeit nach Maßgabe ihrer Möglichkeit zu gestalten.
Damit war Wahrheit, entgegen der kantischen Konzepion in der ein Rest der
Erkenntnis – das Ding an-sich – nur Gott zugänglich war, vollends dem Menschen
zugänglich gemacht worden. Doch auch Hegel behielt einen idealistischen
Überhang: Die Momente jenseits des Menschen schrieb er dem Weltgeist zu.
Entgegen Kant war für Hegel die Verwirklichung des Subjekts durch den Wandel
der Objektwelt möglich: „[...] für Hegel kann die Vernunft die Wirklichkeit nicht
regieren, solange nicht die Wirklichkeit in sich vernünftig geworden ist. Diese
Vernünftigkeit wird dadurch möglich, daß das Subjekt sich tief in den Inhalt von
Natur und Geschichte versenkt. Die objektive Wirklichkeit wird zugleich zur
Verwirklichung des Subjekts.”181 Oder, um mit Hegel gegen Kant zu sprechen:
“Jene Kritik hat also die Formen des objektiven Denkens nur vom Ding entfernt,
179
MacIntyre, Alisdair, Herbert Marcuse , München, 1971, S. 52
Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der
Gesellschaftstheorie, Darmstadt, Neuwied, 1982, S. 15
181
Ebd., S. 19
180
60
aber sie im Subjekt gelassen, wie sie sie vorgefunden.”182 Die kantische
Philosophie erklärte letztendlich alles zum Subjekt und stand damit im Dilemma,
ihren kritischen Stachel zu verlieren. In einer Welt, in der alle Wahrheit und
Bedeutung in letzter Konsequenz am Subjekt blieb, war es möglich alles zu
kritisieren aber auch alles so zu lassen wie es war. Die Philosophie lief Gefahr sich
in Beliebigkeit zu verlaufen. Der kritische Stachel Kants stach vor allem gegen die
Objekt-Autorität Gott, weshalb er alle Erkenntnis von Gott zum Menschen
verlagerte.
Subjekt und Objekt markieren bei Hegel ein Gegensatzpaar, um dessen
Versöhnung es ging. Für ihn war diese Versöhnung möglich, da sich Momente des
Subjekts im Objekt und umgekehrt wiederfanden – sie seien dialektisch vermittelt:
“Subjekt und Objekt sind nicht durch einen unüberschreitbaren Abgrund getrennt,
weil das Objekt in sich eine Art Subjekt darstellt und weil alle Typen des Seins im
freien »begreifenden« Subjekt kulminieren, das imstande ist, die Vernunft zu
verwirklichen.”183 Die Objektwelt finde also ein Abbild im Subjekt, das sich
Umgekehrt in der Objektwelt wieder reproduziert. Damit war der kantischen
Betrachtungsweise, in der fast alles Subjekt war, ein starker Objektbegriff
entgegengesetzt. „Vernünftig ist das was wirklich ist“ war einer der großen
Lehrsätze Hegels. Während Teile des deutschen Existentialismus daraus eine
Theorie der Apologie machten, legte Marcuse besonderen Wert darauf, daß die
Wirklichkeit vor allem durch ihre Möglichkeit bestimmt sei. Wirklichkeit wurde
somit zu keiner andauernden Gegenwart, sondern besaß ein Telos, ein in die
Zukunft weisendes Moment, das unmittelbar zum Begriff der Wahrheit
dazugehörte. Daraus folgte, daß die Theorie – nicht wie im Positivismus – allein
zur Wirklichkeit komme, sondern daß auch die Wirklichkeit zur Theorie als
Moment von Wirklichkeit kam. Mit anderen Worten: Die reine Beschreibung der
Wirklichkeit macht sie nicht wahr, da sie die Möglichkeiten der Verwirklichung
des Subjekts und damit die Möglichkeit auf Glück unterschlug. “Solange es eine
Kluft zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen gibt, muß jenes bearbeitet und
verändert werden, bis es in Übereinstimmung mit der Vernunft gebracht ist.”184 Für
die die linkshegelianische Schule war klar, daß die Versöhnung von Subjekt und
Objekt kein Verhältnis darstelle, daß sich rein theoretisch lösen ließe. Vielmehr die
reale gesellschaftliche Veränderung sei, so Marcuse, das Credo hegelscher Theorie.
Marcuse betonte: “Diese Trennung [die von Subjektivität und Objektivität,
Verstand und Sinnlichkeit, Denken und Sein, S.E.] war für Hegel nicht in erster
Linie ein erkenntnistheoretisches Problem. Immer wieder hob er hervor, daß die
Beziehung von Subjekt und Objekt, ihr Gegensatz, einen konkreten Konflikt im
Dasein bezeichnete und daß dessen Lösung, die Vereinigung der Gegensätze,
ebensosehr eine Angelegenheit der Praxis wie der Theorie wäre. Später beschrieb
er die historische Form des Konflikts als die Entfremdung des Geistes, was
bedeutete, daß die Welt der Objekte, ursprünglich das Produkt der Arbeit und
Erkenntnis des Menschen, sich gegenüber dem Menschen verselbstständigt und
von unkontrollierbaren Kräften und Gesetzen beherrscht wird, in denen der
Mensch nicht länger sein eigenes Selbst wiederentdeckt.”185 Mit dieser Aussage
182
Hegel, G.W.F.: Die Wissenschaft der Logik, Erster Teil, Hrsg.: Lasson, Hamburg, 1975,
S. 28
183
Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution, a.a.O. , S. 20
184
Ebd., S. 21
185
Ebd., S. 32
61
war deutlich gemacht, daß sich die Anstrengungen der Vernunft von der
gesellschaftlichen Theorie auf die gesellschaftliche Praxis zu übertragen hatten.
Die Begriffe Entfremdung und Verselbstständingung bekamen ein stärkeres
Gewicht als sie dies in einer Theorie der freien Subjektivität gehabt hätten. Auf
dieser theoretischen Grundlage war es geradezu zwingend notwendig geworden,
daß eine Revolution die objektiven Momente der Unterdrückung über das Subjekt
aufhob - um der Freiheit willen. So erklärte sich damit auch der Buchtitel:
„Vernunft und Revolution“. Vernunft sollte auf Revolution und Revolution sollte
auf Vernunft angewiesen sein, um die entfremdende Vormachtstellung des Objekts
gegenüber dem Subjekt aufzuheben.
Der späte Hegel stellte dem negativen Freiheitsdrang der Revolution die positive,
von Napoleon ausgehende Ordnung gegenüber. „Der Weltgeist zu Pferde“ – so
nannte Hegel Napoleon. Gemeint war damit vor allem die Abschaffung von
tausend kleinen Hoheitsgewalten und fürstlichen Despotien, die Einsetzung des
Code Napoleon, die Schaffung bürgerlicher Gleichheit sowie der Widerruf
kirchlicher Privilegien. Dies waren die Maßnahmen in denen Hegel Rationalität in
gesellschaftlichen Einrichtungen einziehen sah, anstelle von Irrationalität.
Hegels persönliche Haltung dem preußischen Staat gegenüber, für die es, so
Marcuse, “zu dieser Zeit keine Rechtfertigung gibt”186, ging noch weit über die
Bejahung der fortschrittlichen Momente des starken Staates hinaus. „Der
Weltgeist“, so Hegel, „hat einen Trieb in sich, die Freiheit zu verwirklichen und
kann sich nur im realen Reich der Freiheit, das heißt im Staat, verkörpern.“187
Damit tauchte ein Bruch im hegelschen Werk auf, daß ihn vom Philosophen der
Freiheit zum Philosophen von Staat und Autorität machte. Das Subjekt wurde zum
untergeordneten Moment: „Das entscheidende Subjekt der Geschichte nennt Hegel
den Weltgeist. [...] Die Souveränität des Weltgeistes, wie sie von Hegel geschildert
wird, legt die Schattenseiten einer Welt an den Tag, die von Kräften der Geschichte
kontrolliert wird, anstatt sie zu kontrollieren.“188 Wo der junge Hegel der
„Phänomenologie des Geistes“ die Befreiung des Subjekts durch die Aufhebung
der objektiven Zustände sah, war für den Hegel im Range eines Staatsphilosophen
Preußens die Verwirklichung der Subjektivität nur noch durch den Staate
gewährleistet.
“Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie kreisen, war das
noch nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den
Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. [...], nun aber erst ist der
Mensch dazu gekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit
regieren soll. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden
Wesen haben diese Epoche mitgefeiert.”189 So urteilte Hegel über die französische
Revolution. Hegels späte Werke brachen jedoch stark mit der Affirmation
revolutionärer Verhältnisse. “Wir können vermuten, daß die Erfahrung des
Niedergangs freiheitlicher Ideen in der Geschichte seiner eigenen Zeit Hegel dazu
trieb, zum reinen Geist Zuflucht zu nehmen und daß er um der Philosophie willen
eine Versöhnung mit dem herrschenden System den schrecklichen Wechselfällen
186
Ebd., S. 162
Ebd., S. 209
188
Ebd., S.207
189
Hegel, G.W.F.: Philosophie der Geschichte, Werke, hrsg. Glockner, Bd. 11 S.557f, zit.
n.: Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution, a.a.O. , S. 17
187
62
einer neuen Umwälzung vorzog.”190 – so Marcuse. Und weiter: “Die Kluft
zwischen Idee und Wirklichkeit schließt sich jedoch langsam. Je realistischer
Hegels Haltung gegenüber der Geschichte wird, desto mehr stattet er die
Gegenwart mit der Größe des künftigen Idealzustandes aus.”191
Doch auch der späte Hegel behielt fortschrittliche und freiheitliche Momente in
seiner Philosophie. So war es mit Hegel unmöglich einen Maßnahmenstaat im
Sinne des Nationalsozialismus zu rechtfertigen, da der starke Staat Hegels immer
auf einen Rechtsstaat abzielte. Auch war für Hegel die Kunst ein Moment der
Freiheit, die mit Autonomie ausgestattet war und die auch der späte Hegel nicht
opferte.
Hegel sei, so Marcuse, zu allererst Philosoph seiner Klasse gewesen: Das
bedeutete, daß Hegel vor allem anderen ein bürgerlicher Philosoph war, der die
Befreiung des Bürgertums als die Befreiung der gesamten Menschheit ansah. So
sei das hegelsche Subjekt zu allererst das philosophierende, bürgerliche Subjekt
gewesen: “Das »Wir«, das so oft erscheint, meint nicht den Alltagsmenschen,
sondern Philosophen.”192 Hegels Philosophie richtete sich in erster Linie gegen die
Despotie des Feudalismus und setzte eine freie Bürgergesellschaft an deren Stelle,
die sich den Idealen der französischen Revolution verpflichtet sah: „liberté, egalité
et fraternité“ war die Parole des „herrlichen Sonnenaufgangs“. Nicht umsonst
wurden Kant und Hegel als die eigentlichen Philosophen der französischen
Revolution bezeichnet. Dies war möglich, da in ihren Philosophien das bürgerliche
Subjekt als das der gesamten Menschheitsgeschichte erschien. Die Regeln, die die
Philosophie aufstellte, sollten die Freiheit und die Vernunft für alle Menschen
verwirklichen. Doch so wie die Ideale der französischen Revolution bis heute
uneingelöst geblieben sind, so waren sie es auch in Hegels Philosophie. Die
gesellschaftliche Prägung des Subjekts, der Überhang des Objekts kehrte sich bei
Hegel in sein idealistisches Gegenteil: “Eigentum“, so Marcuse über Hegel
„existiert einzig aufgrund der Macht des freien Subjekts. Er wird aus dem Wesen
der freien Person abgeleitet.”193
Tatsächlich, folgte man Marx, sei das Eigentum Grundlage der freien Personen in
der bürgerlichen Gesellschaft. Das Eigentum und damit die Verfügungsgewalt über
monetäre Äquivalente, also über die Arbeit und die Zeit anderer, markierte die
Grundlage des freien Subjekts im Kapitalismus. “Das Individuum, das ein wahres
Interesse im allgemeinen Interesse weiß und erstrebt, dieses Individuum existiert
einfach nicht. Die Individuen existieren nur als Privateigentümer, als Subjekte der
unbeherrschten Prozesse der bürgerlichen Gesellschaft, abgeschnitten von
allgemeinem Interesse durch Selbstsucht und alles, was diese im Gefolge hat.
Soweit die bürgerliche Gesellschaft reicht, ist niemand von ihren Schlingen frei.”194
So verwunderte Hegels Annahme vom Ende der Geschichte195 Marcuse denn auch
nicht sonderlich. Nicht das Ende der Geschichte sei erreicht, sondern nur das Ende
190
Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution. a.a.O. , S. 89
Ebd., S. 82
192
Ebd., S. 91
191
193
Ebd., S. 174
194
Ebd., S. 193
Diese seltsame Auffassung vom Ende der Geschichte erfuhr noch prominente
Imitatoren. So äußerte Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der biploaren
Weltordnung ähnliches. Und auch hier zeigte sich, das lediglich das Model des
Staatskapitalismus mit parteidiktatorischer Führung von der Weltbühne verschwand. Die
Euphorie über den Sieg des Kapitalismus westlichen Models verwechselte Fukuyama mit
der Durchsetzung eines Gesellschaftsmodelles für alle Zeiten.
195
63
einer Klasse: „Hegels merkwürdig überzeugte Verkündigung, daß die Geschichte
ihr Ende erreicht hat, enthält durchaus etwas Wahres. Verkündigt wird jedoch das
Ende einer Klasse, nicht das Ende der Geschichte.“196
Letztendlich enthielt Hegels Vorstellung vom Weltgeist auch ein wahres und
kritisches Moment: In seiner Konzeption vom Weltgeist war angelegt, daß ein
historisch-praktisches Moment über das Subjekt herrschte, daß von Kräften der
Geschichte kontrolliert wurde, anstatt sie zu kontrollieren. Das Motiv von Adornos
und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, daß Aufklärung selbst neue Barbarei
schaffe und Systeme errichte, die sie selbst nicht mehr kontrollieren könnte,
erinnert mancherorts an das, was Hegel Weltgeist nannte. So wie der Weltgeist die
Inkarnation menschlicher Vernunft war und dennoch über sie hinausging und ein
Moment des „Nichtfaßbaren“ inne hatte - wenn er z.B. auf dem Pferde
dahergeritten kam -, also sich in merkwürdigen Erscheinungen äußerte, so war
auch das Modell der kritischen Theorie eines, daß einem ähnlichen Motiv folgte.
Der Weltgeist heute wäre die Macht des entfremdeten Systems über den Einzelnen.
Insofern kann man sagen, daß auch in der kritischen Theorie zutiefst hegelsche
Denkmodelle verwurzelt waren. Auch Marcuse wurde im Zuge der 68er-Bewegung
vorgeworfen – meist von Seiten des orthodoxen Marxismus – er wäre mehr
Linkshegelianer, denn Marxist.
In jedem Falle, so Marcuse, sei Hegel nicht für den Faschismus verwendbar, denn
sein Begriff vom starken Staat beziehe sich immer auf den Rechtsstaat. Marcuse
kam zu dem Schluß: „Der deutsche Idealismus wandte sich immer gegen die
umstandslose Auslieferung des Individuums an die herrschenden gesellschaftlichen
und politischen Mächte. Seine Erhöhung des Geistes und seine Insistenz auf der
Bedeutung des Denkens schloß, wie der Nationalsozialismus richtig sah, eine
wesentliche Opposition gegenüber jeglicher Aufopferung des Individuums ein.“197
Doch neben der Ehrenrettung Hegels behandelte „Vernunft und Revolution“ noch
andere Momente: Hegels Weiterführung durch Marx war Marcuse ein zentrales
Anliegen, um damit die linkshegelianische Tradition zu stärken und ihn gegen
positivistische und rechte Bemühungen abzugrenzen. So enthielt „Vernunft und
Revolution“ einen breiten Abschnitt, in dem sich Marcuse einer Kritik des
Positivismus widmete – ein Unternehmen, das später auch Sartre betrieb.
Bemerkenswert an „Vernunft und Revolution“ war die Auswahl der Philosophen,
denen Marcuse die Entwicklung der dialektischen Theorie der Gesellschaft
zuordnete: Feuerbach, Marx und Sören Kierkegaard.
Zumindest mit letzterem fand sich ein Urheber existentialistischer Theorie in
„Vernunft und Revolution“ wieder. Seine Philosophie berge, so Marcuse,
„durchaus eine heftige Kritik seiner Gesellschaft in sich“198. Kierkegaard kehre zur
ursprünglichen Aufgabe der Religion zurück, nämlich zu ihrer kämpferischen und
revolutionären Kraft. Seine Philosophie widme sich in ihren Grundzügen, dem
hilflosen und gequälten Individuum. Das Seelenheil stelle für ihn des Individuums
höchstes Heil und das höchste Interesse der Philosophie dar. Besonders seine
Momente der Negativität seien hervorzuheben. Die Menschheit bezeichnete er als
„Negativität“, als bloße Abstraktion vom Besonderen und als Nivellierung aller
196
Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution, a.a.O., S. 202
Ebd., S. 366
198
Ebd., S. 234
197
64
existentiellen Werte199. Dagegen setzte er die Besonderheit und Einzigartigkeit des
Individuums.
Doch gegen diese kritischen Momente standen bei Kierkegaard die Erhebung von
Volk und Rasse als höchste Werte: „Später wurde behauptet, daß kein Band
Individuen, Staaten und Nationen zu einem ganzen der Menschheit verknüpft, daß
die besonderen existentiellen Bedingungen eines jeden einzelnen, einem
allgemeinen Urteil der Vernunft nicht unterworfen werden können. Die Gesetzte,
so wurde gesagt, beruhen nicht auf irgendwelchen allgemeinen Qualitäten des
Menschen, denen eine Vernunft innewohnt, sie drücken vielmehr die Bedürfnisse
individueller Menschen aus, deren Leben sie in Übereinstimmung mit ihren
existentiellen Erfordernissen regulieren. Dieser Abbau der Vernunft macht es
möglich, bestimmte Partikularitäten (wie Rasse oder Volk) in den Rang höchster
Werte zu erheben.“200 Damit besaß der kierkegaardsche Existentialismus etwas
bewahrenswertes, nämlich die Unantastbare Würde des Individuums und etwas
höchst kritikabeles, nämlich seine Anbindung an Rasse und Volk.
Feuerbach, so Marcuse, setzte an dem Punkte an, da Kierkegaard versäumt hatte
anzuerkennen, „daß nämlich in der gegenwärtigen Zeit der humane Inhalt der
Religion nur bewahrt werden kann, indem seine religiöse, jenseitige Form
aufgegeben wird. Die Lehre von Gott (Theologie) muß in eine Lehre vom
Menschen (Anthropologie) umgewandelt werden.“201 Mit der Forderung nach einer
Philosophie im hier und jetzt, in der menschlichen Praxis griff Marcuse Momente
seines eigene Wandels von Existentialisten zum kritischen Theoretiker auf:
„Hegels großer Irrtum bestand darin, daß er am Idealismus festhielt zu einer Zeit,
da eine materialistische Lösung des Problems auf der Hand lag.“202 Die
Verwirklichung dieser Philosophie und das Erbe Hegels sah Marcuse in der
marxschen Philosophie verwirklicht.
Erst Marxens Kritik der Gegenwart mache es möglich die Versöhnung von Subjekt
und Objekt als den Gegensatz von Klassen, von Individuum und Gesellschaft zu
betrachten und damit der Revolution einen spezifischen historischen Charakter
zuzuschreiben. Damit verlagerte sich die Befreiung des einzelnen Subjekts in die
Befreiung des Subjekts der Geschichte - nach Marx war dies das Proletariat.
Dessen Befreiung sollte die Versöhnung von Subjekt und Objekt ermöglichen. In
diesem Sinne war „Vernunft und Revolution“ ein durch und durch marxistisches
Werk. Dennoch unterschied sich Marcuses Marxinterpretation in gravierenden
Punkten von der orthodoxen.
Marcuse insistierte darauf, daß - man könnte sagen im hegelschen Sinne – die
existierende
Gesellschaft
aufgehoben
werden
müsse.
Marcuses
Revolutionsverständnis war keines der Unterordnung des Subjekts unter die Partei.
Vielmehr machte er deutlich, daß Momente einer zukünftigen, befreiten
Gesellschaft bereits in der Gegenwart angelegt sein müßten. Revolutionen könnten
nicht von oben beschlossen werden, sie seien Elemente des Reifegrades der
revolutionären Klasse selbst: „Die Revolution erfordert die Reife vieler Kräfte,
aber die größte unter ihnen ist der subjektive Faktor, nämlich die revolutionäre
Klasse selbst.“203 Marcuse ging sogar soweit, die Klasse als „subjektiven Faktor“
zu bestimmen. Hier tauchte das Subjekt als reiner Verhältnisbestimmung auf:
199
Kierkegaard, Sören: Zur Kritik der Gegenwart, Innsbruck, 1922, S.34
Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution, a.a.O., S. 236f
201
Ebd., S. 237
202
Ebd., S. 237
203
Ebd., S. 279f
200
65
Klasse als Subjekt der Geschichte. In gewisser Weise verließ Marcuse hier selbst
den existentialistischen Pfad, den er nicht aufhörte zu schätzen und den auch
kritische Theorie in sich barg, nämlich das Glück des Subjekts als höchsten Faktor
der Philosophie und damit einer zu erkämpfenden Gesellschaft zu bestimmen. Die
Bezeichnung der Klasse als Subjekt wurde dort problematisch, wo in ihr die
Unterordnung des Individuums im Kampf gegen das gesellschaftliche Ganze zu
stark betont wurde und das Aufgehen des Subjekts in der Partei oder Gruppe die
subjektiven Eigenschaften verkümmern ließ.
Andererseits war es verständlich die Klasse als Subjekt zu fassen, da die
ökonomische Wirklichkeit ein Maß an kollektiver Unterdrückung mit sich brachte,
daß ein vereinzelter Kampf um Befreiung aussichtslos war. Marcuse war weit
entfernt im orthodoxen Marxismus oder gar im Stalinismus eine Alternative zu
sehen. Sein Urteil über die UdSSR war verheerend: „Die Präformierung der
Individuen, ihre Entwicklung zu Verwaltungsobjekten scheinen allgemeine
Phänomene zu sein.“204 schrieb er über die UdSSR. Revolution war für ihn zwar
das Mittel, um das Glück des Individuums zu verwirklichen, aber keinesfalls in
dem Sinne, daß mit dem Stattfinden der Revolution der Eintritt in eine bessere
Welt automatisch vonstatten ginge. Ein mechanisches Revolutionsverständnis war
für
Marcuse
unannehmbar.
Wahrscheinlich
läßt
sich
Marcuses
Revolutionsverständnis am ehesten mit dem von Rosa Luxemburg vergleichen,
obwohl Marcuse und Luxemburg in der Frage über die Rolle der Partei meilenweit
voneinander entfernt waren. Aber die Dialektik von Spontaneität und Organisation
war auch bei Marcuse spürbar: „Die Negation des Kapitalismus beginnt innerhalb
des Kapitalismus selbst, aber selbst in den Phasen, die der Revolution vorausgehen,
ist jene rationale Spontaneität am Werke, die die nachrevolutionären Phasen
beseelen wird.“205 Mit anderen Worten: Bereits im Bestehenden müßten Freiräume,
Alternativen und Lebenssituationen geschaffen werden, die als Erbschaft für eine
befreite Gesellschaft taugen könnten. An diese Sichtweise muß erinnert werden,
wenn die Sprache auf die angebliche Perspektivlosigkeit Marcuses im
„eindimensionalen Menschen“ kommt und der Wandel im Subjektbild gegenüber
der „rebellischen Subjektivität“ im „Versuch über die Befreiung“ erklärt werden
soll. Tatsächlich behielt Marcuse diese Marxinterpretation bei: Vor der
Bürgerrechtsbewegung in den USA und der 68er Bewegung sah er einfach nichts –
oder wenig –, was für eine befreite Gesellschaft hätte taugen können.
Marcuses Subjektbegriff aus „Vernunft und Revolution“ setzte – wie auch schon
vorherige Arbeiten – dem verwalteten, präformierten Subjekt ein Subjekt der
Möglichkeit entgegen: Das was der Mensch hätte sein können, diente ihm zu seiner
Wesensbestimmung. Um dieses Subjekt der Vernunft zu realisieren, war es
unumgänglich auf einem Revolutionsbegriff zu beharren, der die Potentiale des
Menschen freisetzen könnte. Die großen kantischen Fragen des Subjekts: „Was
kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ beließ Marcuse
nicht im Subjekt sondern machte sie – mit Hegel und Marx - zum Moment der
Veränderung der Objektwelt: „Die Erkenntnis des Menschen, sein Tun und Hoffen
wurden auf die Aufgabe verwiesen, eine vernünftige Gesellschaft herzustellen.“206
204
Ebd., S. 374
Ebd., S. 279
206
Ebd., S. 281
205
66
Neben den Begriffen von Subjekt und Objekt wurde dementsprechend ein weiterer
zentral: Der Begriff der Vermittlung. Subjekt und Objekt waren, so Marcuse,
miteinander vermittelt. Durch die Übernahme dieser hegelschen Konzeption war es
möglich Subjekt und Objekt als Antipoden zu belassen und trotzdem ihre
Durchlässigkeit und Untrennbarkeit auszudrücken. Wenn das Subjekt in so vielen
Momenten durch die Objektwelt präformiert war und die Objektwelt letztendlich
die – freiwillige oder erzwungene - Zustimmung des Subjekts benötigte, so lag es
nah die Kategorien Subjekt und Objekt aufzuweichen. Mit dem
Vermittlungsbegriff war es möglich ein dialektisches Instrument anzusetzen, das
als Bindeglied zwischen den beiden Antipoden griff. Damit konnte ein Subjekt
gesetzt werden, zu dessen Befreiung die Philosophie beitragen konnte und
zusätzlich war es möglich auszudrücken, in welchem Maße der gesellschaftliche
Überhang das Subjekt präformierte.
Marcuses spätere Werke beschäftigten sich alle in der ein oder anderen Weise mit
dem Vermittlungsbegriff und warfen die Fragen auf: Wie schaffen es die
verschiedenen Gesellschaftsformationen die Herrschaft übers Subjekt in den
Beherrschten zu implantieren? Wie ist es möglich, daß in einer Welt, deren
technische Entwicklung einem jeden ein materielles Leben ohne Not möglich
machen könnte, die Verwirklichung der Vernunft so weit entfernt erscheint? Wie
sollte eine gelungene Revolution möglich sein, wenn die Subjekte entfremdet
waren und ein Moment der objektiven, der gesellschaftlichen Verselbstständigung
zu konstatieren war?
Auf dem Weg zu einer Philosophie
Nachkriegsfrankreichs
Sartres Kriegsgefangenschaft und Widerstandsbewegung
Während Marcuse nach seiner Zugehörigkeit zum Institut für Sozialforschung
bereits über eine ausgereifte Theorie verfügte und nun – in der konkreten Form
beim OSS nicht ganz freiwillig – dazu überging, praktisch gegen den deutschen
Faschismus zu kämpfen, entwickelte sich die sartresche Theorie: Der
antibourgeoise und individualistische Schriftsteller Sartre merke schnell, daß er in
der Armee und im deutschen Kriegsgefangenenlager sein Konzept der
Individualität nicht länger aufrechterhalten konnte. Mochte die Welt in seiner
Philosophie auch noch so sehr konstruiert sein; hier trat er in Situationen, die nicht
mehr von seiner Akzeptanz oder seinen Willen abhingen. Man konnte nicht einfach
aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager herausspazieren und sich zum freien
Schriftsteller erklären. An Jean Paulhan schreibt er: „Ich erlebe einen kafkaesken
Krieg, bis zum 15. Mai war es amüsant; jetzt wird es etwas unangenehm; da andere
einen echten Krieg führen.“207 Und in den Gesprächen mit Simone de Beauvoir
sagte er: “Wir sind in eine Polizeikaserne gebracht worden, und auch da erfuhr ich
wieder, was das war, die historische Wahrheit. Ich habe erfahren, daß ich jemand
war, der in einer verschiedenen Gefahren ausgesetzten Nation lebte, und daß dieser
Jemand diesen Gefahren ausgesetzt war. [...] alles was ich in den Jahren zuvor
207
Sartre an Jean Paulhan, 9.Juni 1940
67
gelernt, geschrieben hatte, erschien mir nicht mehr gut, nicht einmal so, als hätte es
einen Inhalt.“208
Im deutschen Kriegsgefangenenlager fand Sartres intensive Heideggerlektüre statt.
Durch die Freundschaft mit einem Priester war es möglich ein Exemplar von „Sein
und Zeit“ zu besorgen: „Ein Exemplar von Sein und Zeit wird heimlich vom
Priester Etchegoyen beschafft, der außerhalb des Lagers in einem Kloster arbeitet
und dort mit einem deutschen Priester, einem Nazigegner, Freundschaft
geschlossen hat. Allmorgendlich zwei Stunden deutsche Phänomenologie
zusammen mit Perrin in der Barracke 42.“209 Der Umstand, daß Sartre Heidegger
im Kriegsgefangenenlager laß, darf nicht unterschätzt werden. Während Marcuse
als Kenner und Schüler Heideggers sämtliche Facetten seines Werkes einschätzen
und beurteilen konnte, war die illegale Lektüre Heideggers für Sartre ein Akt des
Widerstandes im Lageralltag. Dementsprechend war sie eine ganz andere Quelle
der Inspiration, da die Situation in der sie gelesen wurde darin bestand, daß täglich
entschieden werden mußte, in welchem Grad Widerstand, Kollaboration oder
Kompromiß gegenüber den Deutschen sinnvoll oder notwendig waren.
Das Lager bedeutete für Sartre eine Art Mikrokosmos der Gesellschaft: „Im Stalag
[...] hat er wie ein Ethnologe die Bantuvölker die anderen entdeckt. Er hat sie
analysiert, angeblickt, interpretiert. Er hat mit ihnen Schläge, Entbehrungen,
Schikanen geteilt. Er hat sich ihnen zugewandt, mit ihnen auf vielfältige Weise
kommuniziert. Er hat dieselbe unvergleichliche, glanzvolle Prüfung der
Nivellierung und der Überlebensstrategien erlebt. Er hat sich wie kein anderer die
Institutionen des Stalags zunutze gemacht, sie erlitten, die abgelehnt überrumpelt.
Er hat die Gesellschaft von beiden Seiten kennengelernt, bestimmte Realitäten wie
die der Autorität, der Unterwerfung oder auch der Solidarität erfahren. Er ist hinter
dem Stacheldraht eines schäbigen deutschen Gefangenenlagers marginalisiert,
verlorenen Menschen begegnet, die eigentlich ungleich sympathischer sind als
seine drei Zwangskameraden aus der drôle de guerre. Anders als die anderen erlebt
er hier eine wirkliche Befreiung.“210 Diese Erfahrungen boten das Rückrad von
„Das Sein und das Nichts“. Wenn Sartre die Freiheit – ähnlich wie der junge Hegel
- über alle anderen Werte setzte, so darf die Erfahrung der Gefangenschaft dabei
nicht außer acht gelassen werden. Auch wenn Sartres „Das Sein und das Nichts“
letztendlich idealistisch blieb und das Werk die Heideggersche Geschichtslosigkeit
übernahm - der französische Existentialismus Sartres, wie auch der Camus, war
von der Widerstandserfahrung geprägt und entwickelte über das „in-die-WeltGeworfen-Sein“ Heideggers eine starke, praktische Moralität entwickelt, die dem
deutschen Vorläufer fehlte.
Ausgestattet mit seinen Manuskripten, die ein deutscher Offizier zuvor konfisziert
hatte und einem gefälschten Attest, verließ Sartre 1941 das Kriegsgefangenenlager
und begann aus den zahllosen Seiten ein zusammenhängendes philosophisches
Werk zu schreiben. Wieder in Paris zurück, baute er eine Widerstandsgruppe auf,
die den Namen „Sozialismus und Freiheit“ trug: „Im Juni 1941 sind es bereits
etwas fünfzig Professoren, Literatur-, Medizin-, Naturwissenschaftsstudenten und
Ingenieure für »Socialime et Liberté« tätig sind.“211 Doch Streitigkeiten waren
208
de Beauvoir, Simone: Die Zeremonie des Abschieds, Reinbek bei Hamburg, 1986, S.
498f
209
Cohen-Solal, a.a.O., S. 257
210
Ebd.., S. 263
211
Ebd., S. 275
68
vorprogrammiert: „Marrot ist Anarchist, Merleau-Ponty bereits Marxist, Sartre
Proudhonist212 und entschiedener Antikommunist, Rigal Trotzkist.“213 Trotz Sartres
geistigem Antikommunismus lehnte er die Bekämpfung der Kommunisten
entschieden ab. Man einigte sich darauf, daß jeweils ein Marxist und ein NichtMarxist für den Leitartikel verantwortlich seien. Er hatte bereits Vorstellungen
über eine vereinigte Resistence: „eine neue, originelle linke Partei, die die Freiheit
des Individuums achten würde.“214 Sartre machte sich auf den Weg, um neue
Mitstreiter zu finden. Auf seinem langen Marsch versuchte er André Gide zur
Mitarbeit zu bewegen, doch der Achtzigjährige zog die Kollaboration mit den
Nazis der Arbeit im Widerstand vor215.
Mit der Auflösung des Hitler-Stalin-Paktes beendete die KPF ihre sektiererische
Politik und öffnete sich für andere Strömungen, was zur Folge hatte, daß ein
Großteil von »Socialime et Liberté« zur KPF überging. Dennoch machte sich hier
bereits eine Haltung Sartres bemerkbar, die auch seinen weiteren Werdegang
bestimmte: Die Ablehnung der Gaulistischen sowie der kommunistischen Position,
bereiteten seine Politik des dritten Weges vor.
Die einsame Freiheit
Sartres: Das Sein und das Nichts
Der Legende zufolge wog es genau ein Kilo und man konnte damit hervorragend
Obst und Gemüse abwiegen, so Cohen-Solal über Satres „Das Sein und das
Nichts“, indem es, Sartre zufolge, „stinklangweilige Abschnitte geben wird“.
„Das Sein und das Nichts“, so Cohen-Solal weiter, fuße auf der „Idee der
permaneten Spannung zwischen Für-sich und An-sich, anders ausgedrückt
zwischen Subjektivität und Welt. Als Verkündigung des absoluten Primats der
Subjektivität gegenüber der Welt ist L’etre et le néant ein zutiefst kartesianisches
Werk“216
Um zu verstehen, warum es dieses absolute Primat gab, ist es hilfreich sich Sartres
persönliche Situation vor Augen führen. In seinen Tagebüchern schrieb er: „Ich bin
mit nichts solidarisch, nicht einmal mit mir selbst; ich brauche niemanden und
nichts. So sieht die Persönlichkeit aus, die ich mir in vierunddreißig Lebensjahren
gemacht habe. Wirklich das, was die Nazis den »abstrakten Menschen der
Plutodemokratien« nennen. Ich habe keinerlei Sympathie für diese Persönlichkeit
und will mich ändern. Verstanden habe ich, daß die Freiheit nichts mit dem
stoischen Verzicht auf Liebe und Güter zu tun hat. Im Gegenteil, sie setzt eine
tiefe Verwurzelung in der Welt voraus, und jenseits dieser Verwurzelung ist man
frei, jenseits der Menge, der Nation, der Klasse und Freunde ist man allein. Statt
dessen behaupte ich meine Einsamkeit und meine Freiheit gegen die Menge, die
Nation. Castor schreibt mir gerade, daß die wirkliche Authentizität nicht darin
212
Cohen-Solal beschreibt Sartres Haltung als ein Konglomerat verschiedener Einflüsse:
„Unübersehbar ist der Proudhonist, der Saint-Simonist oder auch Fourierist [...]. Das
gleiche gilt für bestimmte Leitlinien, die später wieder auftauchen werden und in der
Tradition einer bestimmten französischen Linken stehen, die man dem
Anarchosyndikalismus zuordnen kann.“ (Cohen-Solal, a.a.O., S. 280)
213
Ebd., S. 276
214
Ebd., S. 282
215
vgl. Ebd., S. 283
216
Ebd., S. 303
69
besteht, sein Leben nach allen Seiten überquellen zu lassen oder zurückzutreten,
um über es zu urteilen, oder sich jeden Augenblick von ihm zu befreien, sondern
im Gegenteil in es hineinzutauchen und mit ihm eins zu sein. Aber das ist leichter
gesagt als getan, wenn man vierunddreißig Jahre alt ist, wenn man von allem
abgeschnitten, ein Luftgewächs ist. Alles was ich im Augenblick tun kann, ist,
diese Freiheit in der Luft zu kritisieren, die ich mir beharrlich verschafft habe, und
an dem Grundsatz festzuhalten, daß man sich verwurzeln muß. Damit will ich nicht
sagen, man müsse an bestimmten Dingen hängen, denn ich hänge mit aller Kraft an
einem Haufen Dinge. Ich meine aber, daß die Persönlichkeit einen Inhalt haben
muß. Man muß aus Lehm sein, und ich bin aus Wind.“217
Der windige Sartre suchte also nach seinem Lehm: Nach einer formbaren,
handfesten, geschmeidigen und baubaren Substanz. „Das Sein und das Nichts“
sollte genau dies werden – es sollte die „Suche nach dem Sein“ werden und sich
fragen: Was ist allen Menschen innert? Was kann über die menschliche Existenz,
die menschlichen Möglichkeiten herausgefunden werden?
„»Das Sein und das Nichts« ist selbst“, sei, so van Rossun, „unbegründeter
Entwurf der Beschreibung des sich selbst unbegründet entwerfenden Daseins. Von
Anfang an ist es von einer Geltungskrise durchzogen, die es in der Beschreibung
des unbegründeten Entwurfs mitbeschreibt.“218 Und Regenboden merkt an: „Sartre
versucht in »Das Sein und das Nichts« eine phänomenologische Auslegung des
Bewußtseins mit einer realistischen Auffassung des Seins zu verbinden.“219 LöwBeer schreibt über den Anspruch Sartres in „Das Sein und das Nichts“: „Er möchte
erschöpfend darstellen, was für Probleme Menschen mit sich und miteinander
haben können, und er möchte erklären, warum es notwendig ist, daß sie diese und
nur diese Probleme haben.“220 Honneth meint, Sartre habe den Versuch
unternommen „eine Onthologie der sozialen Welt aus der Innenperspektive des
Bewußtseins eines intendierenden Subjekts heraus zu gewinnen.“221 Die Liste der
Definitionen darüber, was „Das Sein und das Nichts“ denn tatsächlich wolle, ließe
sich lang fortsetzen. Ebenso gegensätzlich lesen sich die Auffassungen über die
Denktraditionen Sartres. Dornberg sieht das Fundament der Sartreschen Analysen
der „neuzeitlichen und insbesondere der französischen Philosophietradition
verpflichtet“222, während Gadamer davon ausgeht, daß Sartre die drei großen H
(Hegel, Husserl, Heidegger) „und eigene Zeitgenossen“ in sich aufgenommen
habe223. Was die meisten Rezipienten eint, war die Außerachtlassung des
historischen Entstehungspunktes.
217
Sartre, Jean Paul: Gesammelte Werke 5, Autobiographische Schriften. Briefe,
Tagebücher. Tagebücher November 1939-März 1940., Reinbek bei Hamburg, 1988,
Eintrag vom 6. März 1940, S. 425
218
Van Rossum, Walter: Sich verschreiben: Jean-Paul Sartre, 1939-1953, Dezember, 1990,
S. 130
219
Dornberg, Martin: Gewalt und Subjekt. Eine kritische Untersuchung zum Subjektbegriff
in der Philosophie Jean-Paul Sartres, Würzburg, 1989, S. 57
220
Löw-Beer, Martin: Ist die Leugnung von Willensfreiheit ein Selbsttäuschung?, in:
König, Traugott: Sartre. Ein Kongreß. Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 55
221
Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung, in: König, Traugott: Sartre. Ein Kongreß.
Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 74
222
Dornberg, Martin: Gewalt und Subjekt, Würzburg, 1989, S. 55
223
Gadamer, Hans-Georg: Das Sein und das Nichts, in: König, Traugott: Sartre. Ein
Kongreß. Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 74
70
„Das Sein und das Nichts“ entstand in einer Situation tiefer Selbstzweifel. Sartre
rang mit sich selbst um einen neuen Entwurf des eigenen Lebens und um ihn
herum ein ganzes Land: Die Situation Frankreichs während des Krieges ließ keine
sichere Prognose über ein zukünftiges Leben zu. Wie lange sollte sich das VichyRegime halten? Würde Frankreich „von außen“ befreit werden? Schafften es die
Franzosen sich selbst zu befreien oder blieb Frankreich auf längere Zeit besetzt?
Wer würde danach triumphieren? Die Kommunisten der Resistance oder der
gaullistische Flügel? Wie würde eine nächste Republik Frankreichs aussehen? Wie
würde man in Frankreich leben?
Von all diesen Fragen, tauchte keine einzige in „Das Sein und das Nichts“ auf,
nicht einmal der heideggersche Begriff der Geschichtlichkeit fand wirklichen
Einzug in das Werk. Doch dieses Kilo, das aus Luft geschrieben war, setzte
dennoch genau auf diese historische Situation auf: In all der Unsicherheit des
Krieges und der politischen Zukunft der Welt rang Sartre nach Klarheit – nach
Lehm. Wie sollte es verwundern, daß er die schnell vorbeiziehenden politischen
Systeme nicht mit der Substanzialität austattete, wie er es in späteren Schriften tat?
Sartre, für den die Heideggerlektüre im Kriegsgefangenenlager ein Akt des
Widerstandes war, bemühte sich zwar praktisch mit „socialisme et liberte“ um ein
konkretes Gesicht Nachkriegsfrankreichs, doch seine Philosophie rang damit,
herauszufinden, was es eigentlich mit dem Menschen auf sich hatte. Dahinter
vergarg sich die Frage, wozu der Mensch eigentlich fähig sei. Das große Thema
des Buches hielt sich immer im selben Spannungsfeld auf: Subjekt-Objekt. All
diese über mehr als 1000 Seiten führenden Gedanken stellten dieselbe Frage,
nämlich die nach dem Zusammenspiel zwischen dem Subjekt und der Welt; von
dem eigenen Bewußtsein und dem der Anderen.
„Die grundlegende Struktur des Bewußtseins, der absolute Ausgangspunkt, für
Sartre wie für die ganze phänomenologische Schule, besteht darin, daß Bewußtsein
immer Bewußtsein von etwas ist. Bewußtsein ist sozusagen kein reiner Zustand,
und niemand ist nur bewußt, ohne daß etwas da etwas wäre, dessen er bewußt
ist.“224 So stellte sich für Sartre das kantische Problem des Dings-an-sich nicht: In
seiner Philosophie - hier blieb er Hegelianier – war die Existenz des Dinges an-sich
gesetzt. Doch – und hier sprach der Kantianer Sartre – nahm er an, daß die Dinge
ihre Bedeutungen durch die Wahrnehmung erhielten. Sogar im Falle der
Einbildung würden, laut Sartre, reale Dinge wahrgenommen. Mit dem berühmt
gewordenen Satz eines späteren Vortrages, der an „Das Sein und das Nichts“
angelehnt war - „Die Existenz geht dem Wesen voraus“225 - wurde klar, daß in der
Sartreschen Philosophie allen Dingen eine Existenz innewohnt. Doch das Wesen
der Dinge zu erkennen, sei das Privileg des Menschen. Bezogen auf die eigene
Existenz meinte dies, daß der Mensch erst sich selbst als Existent konstatieren
müsse, um sein Wesen zu entwickeln.
An dem berühmten Beispiel eines geplanten Treffens mit Pierre soll der Kern der
Sarteschen Philosophie von „Das Sein und das Nichts“ verdeutlicht werden:
„Ich bin um vier Uhr mit Pierre verabredet. Ich komme eine viertel
Stunde zu spät: Pierre ist immer pünktlich; hat er auf mich gewartet?
224
Danto, Arthur C.: Jean-Paul Sartre, München, 1977, S. 46
Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, in: Gesammelte Werke,
Philosophische Schriften I, S. 120f
225
71
Ich sehe mich im Lokal um, sehe mir die Gäste an und sage: »Er ist
nicht da.«. [...]
Sicher ist das Café, durch sich selbst, mit seinen Gästen, seinen
Tischen und Stühlen, seinen Spiegeln, seinem Licht, seiner
verrauchten Atmosphäre, den Geräuschen von Stimmen, von
klappernden Untertassen, von Schritten, die es erfüllen, eine
Seinsfülle. Und alle Einzelintuitionen, die ich haben kann, sind erfüllt
von diesen Gerüchen, Klängen, Farben, lauter Phänomenen, die ein
transphänomenales Sein haben. Ebenso ist die gegenwärtige
Anwesenheit Pierres an einem Ort, den ich nicht kenne, auch
Seinsfülle. Es scheint so als fänden wir diese Fülle überall. Aber man
muß beachten, daß es in der Wahrnehmung immer Konstituierung
einer Form auf einem Hintergrund gibt. Kein Objekt, keine Gruppe
von Objekten ist speziell bestimmt, sich als Hintergrund oder als Form
zu organisieren: alles hängt von der Richtung meiner Aufmerksamkeit
ab. Wenn ich in dieses Café eintrete, um dort Pierre zu suchen, bildet
sich eine synthetische Organisation aller Gegenstände des Cafés als
Hintergrund, auf dem Pierre gegeben ist als der, der erscheinen soll.
Und diese Organisation des Cafés als Hintergrund ist eine erste
Nichtung. Jedes Element des Raums, Person, Tisch, Stuhl, sucht sich
zu isolieren, sich von dem durch die Totalität der anderen
Gegenstände konstituierten Hintergrund abzuheben und fällt in die
Undifferenziertheit dieses Hintergrundes zurück, löst sich in diesem
Hintergrund auf. Denn der Hintergrund ist das, was nur mitgesehen
wird, das Objekt einer bloß marginalen Aufmerksamkeit. So ist diese
erste Nichtung aller Formen, die erscheinen und versinken in der
totalen Äquivalenz eines Hintergrundes, die die notwendige
Bedingung für das Erscheinen der Hauptform, die hier die Person
Pierres ist. [...] So ist das der Intuition dargebotene ein Flimmern von
Nichts, das Nichts des Hintergrundes, dessen Nichtung der
Erscheinung der Form herbeiruft und verlangt, und die Form Nichts
[néants], das wie ein nichts [rien] auf der Oberfläche des Hintergrunds
dahingleitet.“226
Oder mit den Worten Blochs formuliert: „Nichts wirkt als Antwort, was nicht
vorher gefragt worden ist.“227 Für Sartre stand die Wahrnehmung in direktem
Bezug zur objektiven Welt: Das Café, die Musik, die Menschen, der Rauch – all
das war für ihn real und wirklich, doch es werde bedeutungslos, wenn es nicht
gesehen wurde.
In diesem Beispiel dominierte das Treffen mit Pierre das Bewußtsein so sehr, daß
das Café zur Kulisse wurde. Dennoch blieb es die Struktur des Treffens: Stünde
anstelle des Cafés an der erwarteten Stelle eine Waschanlage, so wäre dies eine
Verwirrung, die die ursprüngliche Intentionalität kurzfristig verändern würde.
Doch Café oder Waschanlage träten vor der Negation zurück, da Pierre an beiden
Orten nicht sei.
Für Sartre stellte die Negation eine tatsächliche, aus der Welt stammende Kategorie
dar. Bei diesem Beispiel wäre die Erkenntnis: „Pierre ist nicht da.“ Das Bewußtsein
der Dinge und ihre Negation seien durch die Existenz einer realen Welt gesetzt:
„Die notwendige Bedingung dafür, daß es möglich ist, nein zu sagen, ist, daß das
Nicht-sein eine ständige Anwesenheit ist, in uns und außer uns, daß das Nichts das
Sein heimsucht.“228 Erst müsse etwas Reales, Vorhandenes da sein, um es zu
negieren: „Das Nichts kann sich nur auf einen Grund von Sein nichten; wenn
Nichts gegeben sein kann, so weder vor noch nach dem Sein, noch in allgemeiner
226
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 59ff
Bloch, Ernst: Subjekt-Objekt, Frankfurt /M, 1962, S.
228
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O. , S. 62
227
72
Weise außerhalb des Seins selbst, in seinem Kern, wie ein Wurm.“229 Und ähnlich
wie für Hegel, lag für Sartre noch eine Negation hinter der „einfachen“ Negation.
„Pierre ist nicht da.“ stellte die einfache Negation dar - darüber nachzudenken, daß
der Mensch in der Lage sei zu negieren, stellte eine zweite auf höherer Ebene
stattfindende Negation dar. So konnte Sartre, und dies war mit der französischen
Sprache einfacher, da sie mit néants und rien zwei Begriffe für „Nichts“ kannte, zu
einer doppelten Negation gelangen, ohne dabei affirmativ zu werden230.
Subjekt und Objekt standen in „Das Sein und das nichts“ in permanenter
Interaktion: Die reale Objektwelt sei Bedingung für die Bedeutungszuschreibungen
des Subjekts, umgekehrt bekomme die Objektwelt erst durch das Denkende
Subjekt seinen Sinnzusammenhang, wobei das denkende, negierende Subjekt
letztendlich einen Vorrang, eine exponierte Stellung inne habe.
Sartre begriff die soziale Realität als eine konstruierte; in ihr war nichts
Natürliches, wenn es nicht als solches seine Zuschreibung erhielt. Nichts sei
selbstverständlich oder von vornherein – außer der Existenz – gesetzt. Die
Fähigkeit der Negation von Existierendem, interpretierte Sartre als die Freiheit. In
ihr liege es begründet sich mit Pierre zu treffen, nach ihm zu suchen und damit das
Café in den Hintergrund treten zu lassen und darüber zu reflektieren. „Die
Negation betrifft direkt nur die Freiheit.“231 schrieb Sartre, womit er meinte, daß
der Mensch in der Lage sei, sich durch Bewußtwerdung in eigenen Entscheidungen
einen eigenen Entwurf zu ermöglichen.
„Die Freiheit kann durch den Zweck, den sie setzt, nicht über ihre Existenz
entscheiden. Zwar existiere sie nur durch ihre Wahl eines Zwecks, aber sie ist nicht
Herrin über die Tatsache, daß es eine Freiheit gibt, die sich das, was sie ist, durch
ihren Zweck anzeigen läßt. Eine Freiheit, die sich selbst zur Existenz brächte,
verlöre ihren Sinn von Freiheit.“232 In dieser Interpretation der Freiheit wurde
verständlicher, warum Sartre die Franzosen für „nie so frei wie unter deutscher
Besatzung“233 hielt. Das Spektrum der Wahlmöglichkeiten war immens: Von der
Möglichkeit zum Mörder durch Kollaboration zu werden bis zum Widerstand, der
das eigene Leben aufs Spiel setzte, war alles möglich. Mit dieser Philosophie, bei
der Freiheit immer am Subjekt hing, war es möglich den Menschen in die zentrale
Rolle der Philosophie zu setzen. Der Mensch selbst sollte Dreh- und Angelpunkt
des Weltgeschehens sein. Nichts konnte die Taten eines Menschen entschuldigen,
da sie alle in den Rahmen seiner Freiheit fielen. Er mußte selbst entscheiden.
In gewisser Weise stand diese Philosophie Sartres in direktem Gegensatz zu den
Erfahrungen seiner Tagebucheintragungen. Sie sollte auch der letzte Ausläufer
eines in letzter Konsequenz idealistischen Existentialismus werden. Denn es
handelte sich um eine brutale Freiheit: Der Mensch lebte für Sartre ohne
erklärbaren Sinn, ohne metaphysischen Überhang – selbst verantwortlich für seine
Handlungen und Taten, er war, wie Sartre sagte, „zur Freiheit verurteilt.“234 Doch
229
Ebd., S. 79
Zu den Begriffen rien und néant vgl.: Gadamer, Hans Georg: Das Sein und das Nichts,
in: König, Traugott (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 47
231
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 117
232
Ebd., S. 840
233
Ebd., S. 838
234
Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, a.a.O., S.125
230
73
bei diesem Rekurs aufs Heideggersche Denken im Sinne von „in-die-Weltgeworfen-Sein“, wollte Sartre nicht stehenbleiben.
Mit der Kategorie des Anderen sollte ein Element in seiner Philosophie enthalten
sein, daß über das isolierte Subjekt hinausweist: Wenn Pierre nicht in dem Café sei,
so wüßte ich dennoch um meine eigene Existenz. Dadurch, daß ich von Pierre und
Anderen wahrgenommen werde, entstehe eine Interaktion. Es bedürfe des Anderen
um ein Eigenes zu konstruieren. „So ist jedes Objekt keineswegs, wie für Kant,
durch eine bloße Beziehung zum Subjekt konstituiert, sondern erscheint in meiner
konkreten Erfahrung als polyvalent, es bietet sich von Anfang an als mit
Bezugssystemen zu einer unbegrenzten Pluralität von Bewußtsein ausgestattete
dar; am Tisch, an der Wand entdeckt der Andere sich mir als das, worauf sich das
betrachtete Objekt fortwährend bezieht, genau wie beim konkreten Erscheinen von
Pierre oder Paul.“235 Streng genommen übernahm Sartre hier nur Hegels
Argumentation gegen Kant: Für Hegel hing das Subjekt in seinem Sein von
anderen ab, es war also ein „für-sich-Sein“, das nur für den Anderen „für-sich“
war, was bedeutet, so Sartre, „daß der Andere in mein Inneres eindringt“236
Doch auch hier beharrte Sartre auf dem epistemologischen Vorrang des Subjekts:
„In der Erfahrung des Blicks, in dem ich mich als nicht-enthüllte Objektivität
erfahre, erfahre ich direkt und mit meinem Sein die unerfaßbare Subjektivität des
Anderen. Gleichzeitig erfahre ich seine unendliche Freiheit. Denn für und durch
eine Freiheit und nur für und durch sie können meine Möglichkeiten begrenzt und
zum Erstarren gebracht werden.“237 Der Andere stand gewissermaßen als Maßstab
eigener Freiheit und eigener Grenzen. In letzter Konsequenz war auch Sartre klar,
daß der Mensch auf Grenzen stoße, die er nicht überwinden konnte, aber - so sein
origineller Gedanke – seien diese Grenzen letztendlich Produkt der eigenen
Freiheit: „Die menschliche Realität begegnet überall Widerständen und
Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse
haben nur Sinn in der freien Wahl und durch freie Wahl, die menschliche Realität
ist.“238 Damit war gemeint, daß erst ein Bedürfnis, ein Blick auf das Hindernis
gerichtet werden müßte, um es als solches zu erkennen. Zuerst mußte es als solches
bemerkt werden und dies sei, so Sartre, Resultat der Freiheit selbst. Wenn z.B. ein
Berg bestiegen werden solle, so sein Beispiel, müsse erst in subjektiver Wahl der
Wille zur Besteigung stattgefunden haben, um den Berg als Hindernis zu begreifen.
Dies bedeute nach Sartre aber nicht automatisch ihn besteigen zu können. Man
dürfe die Freiheit „zu wählen, nicht mit [der] Freiheit, etwas zu erreichen,
verwechseln.“239 Vielmehr sei es jedem Entwurf innert, daß in ihm Möglichkeiten
des Scheiterns inne wohnte. Doch über die Möglichkeit des Scheitern, werde
vorher Ungesehenes sichtbar, da über das Aufstellen eines Entwurfes erst das
Unerwartete in den Blickpunkt gerückt werde: „Jeder freie Entwurf sieht, indem er
sich entwirft, die Unvorhersehbarkeitsmarge voraus, die von der Unabhängigkeit
der Dinge herrührt, gerade weil diese Unabhängigkeit das ist, von dem aus sich
Freiheit konstituiert. Sobald ich plane, in das Nachbardorf zu fahren, um Pierre zu
besuchen, sind die Reifenpanne, der Gegenwind, tausend vorhersehbare und
unvorhersehbare Vorfälle in meinem Entwurf selbst gegeben und konstituieren
einen Sinn. Auch die unerwartete Panne, die meine Entwürfe stört, nimmt ihren
235
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 425f
Ebd., S. 432
237
Ebd., S. 487
238
Ebd., S. 845f
239
Ebd., S. 872
236
74
Platz ein in einer durch meine Wahl vorgezeichnete Welt, denn ich habe nie
aufgehört, wenn ich so sagen darf, sie als unerwartete zu erwarten.“240
Damit kam ein Moment der Objektwelt in den Entwurf des Subjekts, der eine
objektive Schranke auf die freie Wahl legte. Sartre nannte dieses Moment „die
Situation“: „So bin ich absolut frei und für meine Situation verantwortlich. Deshalb
bin ich frei nur in Situation.“241 Mit der Situation wurde eine Kategorie eingeführt,
die es ermöglichen sollte, die objektiven Grenzen der Freiheit zu verorten.
Gleichzeitig bestand Sartre jedoch darauf, daß die Situation erst durch den Entwurf
sichtbar gemacht werde. Immerhin gestand er der Objektwelt ein Moment jenseits
des Subjektes zu: „[...] Es existiert nämlich in meiner Welt noch etwas anderes als
eine Vielheit möglicher Bedeutungen, die sich mir als nicht von mir ans Licht
gebracht darbieten. Ich, durch den die Bedeutungen den Dingen zukommen, finde
mich in eine schon bedeutende Welt engagiert vor, die mir Bedeutungen reflektiert,
die ich nicht hineingelegt habe.“242 Doch trotz aller vorgefundener Bedeutungen
hinge es wieder am Subjekt, diese Bedeutungen anzunehmen oder abzulehnen.
„Außerdem muß man gegen den gesunden Menschenverstand präzisieren, daß die
Formel »frei sein« nicht bedeutet, »erreichen, was man gewollt hat«, sondern »sich
dazu bestimmen, durch sich selbst zu wollen« (im umfassenden Sinn von wählen).
Anders gesagt, der Erfolg ist für die Freiheit in keiner Weise wichtig.“243 Ziel
dieses Denkens, war das aufgeklärte Subjekt, daß bei allen Handlungen ein
Bewußtsein von sich selbst und der Welt haben sollte, um sich durch Taten zu
transzendieren. Die Grenze der eigenen Freiheit, sei nur durch die Freiheit des
Anderen definiert.
Durch Sartres starke Betonung auf den Blick des Anderen, der das Subjekt
hervorbringe – es gleichzeitig aber auch zum Objekt des Anderen macht – wurde
eine starke Durchlässigkeit von Subjekt und Objekt angelegt. „Zunächst einmal ist
der Blick des Anderen als notwendige Bedingung meiner Objektivität Zerstörung
jeder Objektivität für mich. Der Blick des Anderen trifft mich über die Welt und ist
nicht nur Transformation meiner selbst, sondern totale Metamorphose der Welt. Ich
werde in einer erblickten Welt erblickt.“244 Die Objekte waren in Sartres
phänomenologischer Philosophie viel näher am Subjekt, als in der kritischen
Theorie. Das Subjekt war für Sartre direkt über den Blick des Anderen konstituiert
und konstituierte den Anderen.
Letztendlich überschritt seine Philosophie zu dieser Zeit noch nicht diese
intersubjektive Ebene. Intersubjektiv, da das Objekt in Form des Anderen streng
genommen auf derselben Ebene wie das zu erblickende Subjekt funktionierte. Das
große Problem, aber auch die Originalität dieser Philosophie war, daß es für Sartre
keinen Unterschied zwischen „Schauen und Geschautem“ (de Beauvoir) gab.
Die politische Organisation der Welt war für Sartre nur insofern von Bedeutung, da
sie als Grenze der Freiheit, im Sinne „von Anderen aufgestellt“ - Sartre nannte
dies Entfremdung -, erschienen: „»Eintritt für Juden verboten«, »Jüdisches
Restaurant, Zugang für Arier verboten« usw. [...] dieses Verbot kann nur Sinn
haben auf der Grundlage meiner freien Wahl. Denn indem ich den gewählten,
240
Ebd., S. 875
Ebd., S. 879
242
Ebd., S. 880
243
Ebd., S. 836
244
Ebd., S. 485
241
75
freien Möglichkeiten folge, kann ich das Verbot übertreten, es für nichtig halten
oder in ihm im Gegenteil eine zwingende Geltung verleihen, die es nur von dem
Gewicht haben kann, das ich ihm beimesse.“245
Jude, Arier, schön, häßlich oder einarmig zu sein, so schrieb er, sei man immer für
den Anderen. Alles was man für den Anderen war, so Sartre, sei man ohne
Hoffnung, ohne selbst gewählten Sinn. So sei das Schild „Eintritt für Juden
verboten“ nur sinnvoll auf Grundlage der freien Wahl. Es liege am Subjekt dem
Gebot zu folgen oder es zu verwerfen. Ohne die Freiheit des Einzelnen zu
entscheiden, sich zu entwerfen, ohne diese grundlegende Freiheit, sei ein solches
Verbot nicht als Restriktion zu begreifen. Anders ausgedrückt: Erst müsse der
Mensch frei sein, um ihn versklaven zu können.
Aber mit keinem Satz stellte sich Sartre in „Das Sein und das Nichts“ die Frage,
warum der Faschismus zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt so erfolgreich
war. Eine ganze Reihen von elementaren Fragen, blieb aus der Philosophie Sartres
völlig außen vor: Wie kam es dazu, daß die Menschen in großem Ausmaß den
Doktrien von „Blut und Boden“ folgten? Warum taten sie dies in diesem Ausmaß
nicht früher? Kurz: Wie kam es zum Faschismus und zum Weltkrieg? Oder mit in
Sartreschen Begriffen formuliert: Warum wählten so viele den Weg von Krieg und
Rassenhaß?
Ein Objekt, daß der Gesellschaft entsprach, kannte seine damalige Philosophie
nicht - die große Stärke von „Das Sein und das Nichts“, nämlich die
bedingungslose Verteidigung der Freiheit und der Würde des Subjekts, dem ein
einzigartiger Vorrang eingeräumt wurde, legte gleichzeitig die größte Schwäche
des Buches offen: Das Fehlen einer Objekt-Theorie, wie sie Marx mit seiner Kritik
der politischen Ökonomie vorgelegt hatte. Mit einem Halbsatz fand sich beiläufig
erwähnt, daß Sartre den revolutionären Impetus der Sozialisten in der
Eigentumsfrage grundsätzlich teilte: „[...] wir für die Zukunft eine gerechtere
kollektive Organisation anstreben können, in der individuelles Eigentum –
wenigstens in gewissen Grenzen – nicht mehr geschützt und geheiligt wird, [...]“246
Wegen des Fehlens einer historischen Theorie urteilte Herbert Marcuse später über
„Das Sein und das Nichts“: „In meinem ersten Artikel („Beiträge zu einer
Phänomenologie des historischen Materialismus“, 1928) versuche ich selbst,
Existentialismus und Marxismus zu kombinieren. Sartres „Das Sein und das
Nichts“ ist auf einer viel höheren Ebene ebenso ein Versuch. Aber in dem Maß,
wie sich Sartre dem Marxismus zuwandte, überwand er seine existentialistischen
Schriften und letztlich trennte er sich von diesen. Eben weil es ihm nicht gelang,
Marx und Heidegger zu versöhnen. Wie Heidegger selbst, schien er seine
Existenzialanalysen dazu zu verwenden, sich von der sozialen Welt abzukapseln,
anstatt in sie einzutreten.“247
Auf der anderen Seite bot Sartres Art des Denkens auch neue, sehr konstruktive
Momente - man könnte sagen, daß Sartres Philosophie als Vorläufer des
Konstruktivismus gelten kann. Am Beispiel eines Kellner aus „Das Sein und das
Nichts“ soll dies aufgezeigt werden:
245
Ebd., S. 903
Ebd., S, 1004
247
Jansen, Peter-Erwin: Befreiung Denken – Ein politischer
Materialienband zu Herbert Marcuse, Offenbach, 1990 S. 125.
246
76
Imperativ.
Ein
„Beobachten wir einen Kellner im Café. Er hat lebhafte und eifrige
Bewegungen, etwas allzu präzise, etwas allzu schnelle, er kommt mit
einem etwas zu lebhaften Schritt auf die Gäste zu, er verbeugt sich mit
etwas zu viel Beflissenheit, seine Stimme, seine Blicke drücken ein
Interesse aus, das etwas zuviel Aufmerksamkeit für die Bestellung des
Gastes enthält, nun kommt er endlich zurück und versucht, mit seinem
Gang die unbeugsame Strenge irgendeines Automaten zu imitieren,
während er gleichzeitig sein Tablett mit einer Art Seiltänzerkühnheit
trägt, indem er es in einem ständig labilen und ständig gestörten
Gleichgewicht hält, das er mit einer leichten Bewegung des Arms und
der Hand ständig wiederherstellt. Sein ganzes Verhalten wirkt auf uns
wie ein Spiel. Er bemüht sich, seine Bewegungen ineinander
übergehen zu lassen, als wären sie Mechanismen, die einander
steuern, seine Mimik und sogar seine Stimme wirken wie
Mechanismen; er legt sich die Geschmeidigkeit und die
erbarmungslose Schnelligkeit der Dinge bei. Er spielt, es macht ihm
Spaß. Aber was spielt er? Man braucht ihn nicht lange zu beobachten,
um sich darüber klarzuwerden: er spielt sein. Darin liegt nichts
Überraschendes: das Spiel ist eine Art Sichzurechtfinden und
Erkunden. Das Kind spielt mit seinem Körper, um ihn zu erforschen,
um eine Bestandsaufnahme davon zu machen; der Kellner spielt mit
seiner Stellung, um sie zu realisieren. Das ist für ihn notwendig wie
für jeden Kaufmann: ihre Stellung ist ganz Zeremonie, die Kundschaft
verlangt von ihnen, das sie sie wie eine Zeremonie realisieren, es gibt
den Tanz des Lebensmittelhändlers, des Schneiders, des Auktionators,
durch den sie sich bemühen, ihre Kundschaft davon zu überzeugen,
daß sie weiter nichts sind las ein Lebensmittelhändler, ein
Auktionator, ein Schneider. Ein Lebensmittelhändler, der träumt, ist
für den Kunden beleidigend, weil er nicht mehr ganz ein
Lebensmittelhändler ist. Die Höflichkeit verlangt, daß er sich in den
Grenzen seiner Lebensmittelhändlerfunktion hält, wie der Soldat beim
Strammstehen sich zum Soldat-Ding macht mit geradeaus gerichtetem
Blick, der aber nicht sieht, der nicht mehr dazu da ist, zu sehen, denn
die Vorschrift und nicht sein augenblickliches Interesse bestimmt den
Punkt, den er fixiert hat (den »auf zehn Schritt fixierten« Blick). Das
sind Vorkehrungen, die den Menschen in dem einsperren sollen, was
er ist. Als ob wir in der ständigen Furcht leben, daß er daraus
entweicht, daß er plötzlich aus seiner Stellung herausspringt und sie
umgeht.“248
An diesem Beispiel wurde die Sartresche Subjektkonzeption deutlich: Der
spielende Kellner konnte für Sartre aus weit mehr bestehen als nur aus seiner Rolle
als Kellner. Seine, nach Sartre freie, Entscheidung mache es für ihn aber
notwendig, auf die verschiedenen Rituale einzugehen, die sein Kellner-Sein
ausmachten. Wenn Sartre sagte, er spiele Sein, dann bedeutete dies, daß sein
eigentliches Sein etwas anderes darstellte. Dieses andere Sein bestand für Sartre im
Entwurf des Menschen. Erst wenn der Kellner immer Kellner sein wollte und
nichts anderes, dann wäre er tatsächlich Kellner, doch nicht so unumstößlich, als
das er seine Entscheidung nicht noch verändern könnte. Der Welt, wie Sartre sie
beschrieb, haftete die Entfremdung an. Die Menschen in der bürgerlichen
Gesellschaft spielten Rollen. Ihr eigentliches Sein, so Sartre – und darin war er
Marcuse sehr ähnlich –, definiere sich durch die Möglichkeiten. Doch im
Gegensatz zu Marcuse, bei dem der Mensch durch die Gesellschaft präformiert und
verwaltet wurde, bestand für Sartre auch in der Unaufrichtigkeit die freie Wahl
fort. Der Mensch wählte bei ihm lediglich die Unaufrichtigkeit, anstelle der
Wahrheit.
248
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 140
77
Sartre behauptete, daß nur die Handlungen eines Menschen Wirklichkeit hätten.
Damit meinte er damit, daß der Kellner sich zwar hätte vornehmen können, immer
Kellner zu sein, sich aber doch entscheiden könnte, nicht mehr Kellner sein zu
wollen. Erst im Moment der Handlung realisiere sich der Kellner wirklich als das
was er sei. So wie Roquetin sich in „Der Ekel“ erst durch das Schreiben eines
wichtigen Buches in der Welt realisieren wollte, realisiere sich der Mensch durch
seine Handlungen – und diese waren für Sartre Resultate freier Entscheidungen.
So verwunderte seine Attacke gegen die freudsche Psychoanalyse, die mit den
Kategorien des Unterbewußten und Verdrängten arbeitete, nicht sonderlich. Sartre
argumentierte: „Es muß Bewußtsein (davon) sein, Bewußtsein des verdrängten
Triebs zu sein, aber gerade, um nicht von ihm Bewußtsein zu sein. [...] Die
Psychoanalyse hat uns dabei nichts gewinnen lassen, weil sie ja, um die
Unaufrichtigkeit zu beseitigen, zwischen das Unbewußte und das Bewußtsein ein
autonomes unaufrichtiges Bewußtsein gesetzt hat. Deshalb haben ihre
Bemühungen, eine wirkliche Dualität auszumachen – ja sogar ein Trinität (Es, Ich,
Über-Ich) –, die sich durch die Zensur ausdrückt, zu nichts weiter geführt als zu
einer verbalen Terminologie.“249 Sartres Argument schien einfach: In dem Moment
da über den Trieb gesprochen wurde, war er bewußt – wie sollte er da verdrängt
sein? Um eine Triebtheorie aufstellen zu können und sie anzuwenden, müßten
„zudem noch verstehbare Verbindungen“ ausgemacht werden.
Sartres Theorie lehnte die Psychoanalyse keineswegs völlig ab, am Ende von „Das
Sein und das Nichts“ unternahm er selbst einen Entwurf einer existentialistischen
Psychoanalyse, doch reduzierte er alles auf das Faktotum der freien Entscheidung.
Einleuchtend schien in seiner Argumentation dennoch, daß die Phänomene der
Psyche grundsätzlich faßbar, dem Bewußtsein zugänglich seien. Wären sie dies
nicht, so wäre das Subjekt an Natur ausgeliefert und Schönheit und Häßlichkeit
wären nicht mehr als Phänomene der Kultur zu begreifen. Damit entrückte Sartre
das Subjekt gleichermaßen einer die Taten des Einzelnen entschuldigenden Welt.
Die Fähigkeit des Menschen zum Denken war für Sartre der zentrale Hebel seiner
Philosophie. Dementsprechend gab es nichts, was er für unerklärbar hielt: „Wir
fassen ja jede Handlung als verstehbares Phänomen auf und lassen ebensowenig
wie Freud den deterministischen »Zufall« gelten. Aber statt das betreffende
Phänomen von der Vergangenheit her zu begreifen, denken wir uns den
Verständnisakt als eine Rückwendung der Zukunft zur Gegenwart.“250 Damit war
gemeint, daß die traditionelle freudsche Psychoanalyse grundsätzlich von einer in
der Vergangenheit stattfindenden Handlung ausgehe, so z.B. Spannungen im
Eltern-Kind Verhältnis. Aus diesen werde die Erklärung für die gegenwärtige
Störung, Neurose, Psychose usw. gegeben. Dies reichte Sartre allerdings nicht aus,
da der Entwurf des Menschen dabei nicht berücksichtigt bliebe. Ihm ging es darum,
zu fragen: Wie entwirft sich der Mensch? Wie könnte er sich entwerfen? Aus
diesen Dissverhältnis wären dann Rekurse auf die Situation des Patienten zu
machen, die „Rückwendung der Zukunft zur Gegenwart“. Sartre konzipierte den
Begriff der ursprünglichen Wahl: „Die existentialistische Psychoanalyse sucht die
ursprüngliche Wahl zu bestimmen. Diese ursprüngliche Wahl, die der Welt
gegenüber vollzogen wird und Wahl der Position in der Welt ist, ist totalitär wie
249
250
Ebd., S. 129
Ebd., S. 796
78
der Komplex; sie geht wie der Komplex der Logik voraus; sie wählt die Haltung
der Person gegenüber der Logik und den Prinzipien; es geht nicht darum, sie nach
der Logik zu befragen.“251 Sartre zufolge ginge es darum, in den
psychoanalytischen Untersuchungen den Subjekten
dadurch ihre Stärke
wiederzugeben, daß die ursprüngliche subjektive Wahl und nicht ihr bloßer
Zustand aufgedeckt werden müsse - nur dann könne das Subjekt über Bewußtsein
verfügen und die Wahl wieder lebendig machen, da es sie widerrufen könne. Wenn
sich die Untersuchung „der grundlegenden Wahl nähert, brechen die Widerstände
des Subjekts schlagartig zusammen, und es erkennt plötzlich sein Bild, das man
ihm zeigt, als ob es sich in einem Spiegel sähe. Dieses unwillentliche Zeugnis ist
für den Psychoanalytiker wertvoll: er sieht darin das Zeichen dafür, daß er das Ziel
erreicht hat; er kann von der eigentlichen Untersuchung zur Behandlung
übergehen.“252
Ziel der Untersuchung war das Erreichen des aufgeklärten Subjekts. An diesem
Punkt ähnelte Sartres Intention der Psychoanalyse Freuds, denn auch für Freud
sollte aus ES, ICH werden. Doch im Gegensatz zu Freud, dessen Rezeption bei
Sartre recht dürftig war, - nahm Sartre doch weder auf seine kulturkritischen
Schriften Bezug253, noch die Brüche im freudschen Werk wahr - , insistierte Sartre
auf den Bedeutungszusammenhang der Sexualität für Andere. Während in „Das
Sein und das Nichts“ die Kindheit praktisch nicht existierte und man den Eindruck
hatte, daß alle Menschen als vernunftbegabte Erwachsene auf die Welt kämen,
folgte am Ende doch noch ein kleiner Rekurs darauf, mittels der Kritik der „analen
Phase“, der diese Bedenken dennoch nicht zerstreuen konnte254: „Was die »anale«
Phase des Kindes betrifft, so denken wir gar nicht daran, sie zu leugnen, damit sie
aber die im Wahrnehmungsfeld angetroffenen Löcher erklären und mit Symbolen
beladen kann, müßte das Kind seinen Anus als ein Loch erfassen; mehr noch, das
Erfassen des Wesens des Lochs, der Öffnung, müßte der Empfindung entsprechen,
die es von Anus hat. [...] Nur durch Andere – durch die Wörter, mit denen die
Mutter des Körper des Kindes bezeichnet – lernt es, daß sein Anus ein Loch ist.“255
Sartre zufolge, seien also – entgegen der klassischen Psychoanalyse, die auf einem
Triebmodel aufbaute – die Phänomene der sozialen Welt entsprungen. Doch anstatt
diese Theorie weiter zu verfolgen und zu Gerinnungen des Bewußtseins, zu sozial
geprägten Triebstrukturen zu gelangen, endete das Buch dort, wo es hätte zum
objektiven Zwang durch Gesellschaft hätte führen müssen.
„Es gibt kein unschuldiges Kind.“ schrieb Sartre und meinte damit, daß auch für
das Kind die Anderen die Konstituierung des Eigenen seien. Das Kind lerne, so
Sartre, erst durch Andere, das – so sein Beispiel - der Anus von Bedeutung oder
von Wichtigkeit sei. Weiterhin werde die Scham, das darüber Schweigen durch
andere festgelegt. Das Kind sei nicht unschuldig, da es die Werte und Bedeutungen
von Anderen übertragen bekäme. Doch war es möglich von einem Kind zu sagen,
daß es frei wähle? Wählt ein Kind seine Liebe zu Mutter und Vater? Wählt ein
251
Ebd., S. 978
Ebd., S. 983
253
Cohen-Solal zufolge, sollte sich Sartres Freudverständnis erst beim Schreiben eines
Drehbuches über Freud wirklich entwickeln.
254
Später befaßte sich Sartre in seinen praktischen psychoanalytischen Werken (Die
Wörter, Flaubert, etc.) intensiv mit Kindheit. Auch in den Gesprächen mit Simone de
Beauvoir kam er ständig darauf zurück.
255
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 1049
252
79
Kind eine emotionale Bindung zur monogamen Kleinfamilie? Welche Alternativen
hat es? Auch hier schwieg Sartre.
Und dieses Schweigen war außerordentlich problematisch, denn seine Attacke
gegen das Unterbewußte, das sich in der Psychoanalyse Freuds vornehmlich durch
den Zusammenhang von Störungen des Erwachsenen mit seiner Kindheit, bzw.
seiner Biographie definierte, blieb als Leerstelle zurück. Das große Kernstück der
freudschen Psychoanalyse, die Kindheit, tauchte in „Das Sein und das Nichts“
nicht auf.
Sartres Philosophie blieb bei der gnadenlosen Freiheit des Einzelnen stehen,
hineingeworfen in eine absurde Welt. Der Mensch hatte keinen Gott mehr und kein
höheres Ziel unter das er zu subsumieren gewesen wäre – er war, so Sartre, „eine
nutzlose Passion.“256 Dennoch hatte die Philosophie Sartres einen Gebrauchswert
für seine Zeit und mit späteren Werken, wie „Die Wörter“, seine Studie über
Baudelaire und dem großen Alterswerk über Flaubert, das sich in „Das Sein und
das Nichts“ bereits ankündigte, zeigte er die praktische Anwendung seiner Form
der „existentialistischen Psychoanalyse“ - hier spielte die Kindheit dann auch eine
andere Rolle.
Dabei lehnte Sartre die Psychoanalyse keineswegs völlig ab, im Gegenteil: am
Ende von „Das Sein und das Nichts“ unternahm er selbst einen Entwurf einer
existentialistischen Psychoanalyse, doch reduzierte er dabei erneut alles auf das
Faktotum der freien Entscheidung. Einleuchtend schien an seiner Argumentation
dennoch, daß die Phänomene der Psyche grundsätzlich faßbar, dem Bewußtsein
zugänglich sein müßten, wenn Sie therapierbar sein sollten.
Die Fähigkeit des Menschen zum Denken war für Sartre der zentrale Hebel seiner
Philosophie. Dementsprechend gab es nichts, was er für unerklärbar hielt: „Wir
fassen ja jede Handlung als verstehbares Phänomen auf und lassen ebensowenig
wie Freud den deterministischen »Zufall« gelten. Aber statt das betreffende
Phänomen von der Vergangenheit her zu begreifen, denken wir uns den
Verständnisakt als eine Rückwendung der Zukunft zur Gegenwart.“257 Damit war
gemeint, daß die traditionelle freudsche Psychoanalyse grundsätzlich von einer in
der Vergangenheit stattfindenden Handlung ausgehe, so z.B. Spannungen im
Eltern-Kind Verhältnis. Aus diesen werde die Erklärung für die gegenwärtige
Störung, Neurose, Psychose usw. gegeben. Dies reichte Sartre allerdings nicht aus,
da der Entwurf , den der Menschen von sich mache, dabei nicht berücksichtigt
bliebe. Ihm ging es darum, zu fragen: Wie entwarft sich der Mensch so wie er es
tat? Wie könnte er sich entwerfen?
Aus dem Dissverhältnis zwischen dem falschen gelebten und möglichen neuen
Entwurf wären dann Rekurse auf die Situation des Patienten zu machen, die
„Rückwendung der Zukunft zur Gegenwart“. Dafür konzipierte Sartre den Begriff
der „ursprünglichen Wahl“: „Die existentialistische Psychoanalyse sucht die
ursprüngliche Wahl zu bestimmen. Diese ursprüngliche Wahl, die der Welt
gegenüber vollzogen wird und Wahl der Position in der Welt ist, ist totalitär wie
der Komplex; sie geht wie der Komplex der Logik voraus; sie wählt die Haltung
der Person gegenüber der Logik und den Prinzipien; es geht nicht darum, sie nach
256
257
Ebd., S. 1052
Ebd., S. 796
80
der Logik zu befragen.“258 Sartre zufolge ginge es darum, den Untersuchungen der
Psychoanalyse die Stärke des Subjekts wiederzugeben. Seine Variante des
Psychoanalyse zielte darauf ab, die subjektive Urwahl und nicht bloß das
gegenwärtige Krankheitsbild aufzudecken - nur dann könne das Subjekt über ein
Bewußtsein seiner Situation verfügen und die Wahl wieder lebendig machen und
sie gegebenenfalls widerrufen. Wenn sich die Untersuchung, so Sartre, „der
grundlegenden Wahl nähert, brechen die Widerstände des Subjekts schlagartig
zusammen, und es erkennt plötzlich sein Bild, das man ihm zeigt, als ob es sich in
einem Spiegel sähe. Dieses unwillentliche Zeugnis ist für den Psychoanalytiker
wertvoll: er sieht darin das Zeichen dafür, daß er das Ziel erreicht hat; er kann von
der eigentlichen Untersuchung zur Behandlung übergehen.“259 Ziel der
psychoanalytischen Untersuchung und Behandlung wäre das aufgeklärte Subjekt.
Sartre zufolge, seien also – entgegen der klassischen Psychoanalyse, die auf einem
Triebmodel aufbaute – die Phänomene der sozialen Welt entsprungen. Doch anstatt
diese Theorie weiter zu verfolgen und zu Gerinnungen des Bewußtseins, zu sozial
geprägten Triebstrukturen zu gelangen, endete das „Das Sein und das Nichts“.
Sartre blieb bei der gnadenlosen Freiheit des Einzelnen stehen, hineingeworfen in
eine absurde Welt. Der Mensch hatte keinen Gott und kein höheres Ziel unter das
er zu subsumieren gewesen wäre – er war, so Sartre. „eine nutzlose Passion.“260
Argumente, die nach dem 2. Weltkrieg auf der Tagesordnung standen, in denen
gesagt wurde, daß man „bloß mitgemacht“ habe oder alles sei „von oben befohlen
worden“, waren mit Sartre nicht möglich. Das Subjekt entschied sich, folgte man
der Sartreschen Denkart, für seine Taten. Demnach habe es auch dafür die
Verantwortung zu tragen.“[...] In diesem Krieg, den ich gewählt habe, wähle ich
mich Tag für Tag, und ich mache ihn zu meinem, indem ich ihn mache. Wenn er
vier leere Jahre sein soll, trage ich die Verantwortung.“261
Problematisch sollte diese Philosophie dort werden, wo eine tatsächliche
gesellschaftliche Übermacht auf das Subjekt hereinbrach. Ob man sich als Jude
wählte oder nicht, machte 1942 für die Nationalsozialisten keinen Unterschied. Die
„freie“ Wahl bestand darin zu flüchten oder umzukommen. Es mutete grotesk an,
einer Philosophie zu folgen, mit der man hätte sagen könnte, daß die freie Wahl,
Hab und Gut aufzugeben oder im KZ zu sterben, den Blick „auf Hindernisse und
Beschränkungen freigab“. Doch auch hier beharrte Sartre auf dem Vorrang
menschlicher Freiheit: „Wenn wir erklären, daß der Sklave in Ketten ebenso frei ist
wie sein Herr, wollen wir nicht von einer Freiheit sprechen, die unbestimmt bliebe.
Der Sklave in Ketten ist frei, sie zu zerbrechen; das bedeutet, daß eben der Sinn
seiner Ketten ihm im Licht des Zwecks erscheint, den er gewählt hat: Sklave
bleiben oder das Schlimmste wagen, um sich von der Knechtschaft zu befreien.“262
Marcuse merke dazu an: „Das Traktat über menschliche Freiheit hat hier den Punkt
der Selbstabdankung erreicht. Die Verfolgung der Juden und »die Zangen des
258
Ebd., S. 978
Ebd., S. 983
260
Ebd., S. 1052
261
Ebd., S. 953
262
Ebd., S. 944
259
81
Henkers« sind der Terror, der die Welt heute ist, sind die brutale Wirklichkeit der
Unfreiheit.“263
Das zentrale Problem der Philosophie von „Das Sein und das Nichts“ bestand
darin, daß Sartre das Objekt ausschließlich auf einer intersubjektiven Ebene
verhandelt hatte. Nach Sartre war das „Ich“ für den Anderen Objekt der
Selbstkonstitution und umgekehrt. Das Zurückgewinnen der Transzendenz in
dieser Interaktion werde, so Sartre, durch die Bewußtwerdung dieses Prozesses
möglich. Dann sei das Subjekt in der Lage Verantwortung für das Sein der
Anderen zu tragen. Damit spielte sich letztendlich die Objektwelt, nur in
Interaktion mit dem Subjekt selbst eine Rolle. Was als Objektwelt mit An-sichSein (En-soi) ausgedrückt wurde, reichte nicht aus, um die gleichzeitigen,
historischen Konstituierungsprozesse des Subjekts nachzuzeichnen. Das Subjekt,
bei Sartre auf der Ebene von Für-sich-Sein (Pour-soi, sowie Bewußtsein oder
cogito) verhandelt, hatte zu wenig Bezug oder kaum Bezug zu einer Objektwelt im
Sinne von Gesellschaft.
Später revidierte Sartre diese Philosophie der Freiheit, die nur am Subjekt hing.
Schon ein Jahr später, in dem Artikel „Paris unter der Besatzung“ sprach er dann
von einer Freiheit auf der Ebene politischer Systeme, dennoch blieb er vorerst beim
Vorrang
des
Subjekts
und
an
dem
Moment
gesellschaftlicher
Konstruktionsprozesse, in dem sich die Menschen entwarfen. Auch seine späteren
Analysen zur Klassengesellschaft sollten einen anderen Charakter annehmen, als
noch in „Das Sein und das Nichts“, wo er diese vornehmlich auf den Ebenen von
Objekt-Wir und Subjekt-Wir264 verhandelte. Simone de Beauvoir fragte ihn später:
„Sie sagten, man könne in jeder Situation frei sein. Wann haben Sie aufgehört, es
zu glauben?“ Sartre antwortete: „Ziemlich früh. Es gibt eine etwas einfältige
Theorie der Freiheit: man ist frei, man wählt immer, was man tut, man ist frei
gegenüber dem anderen, der andere ist frei einem selbst gegenüber. Man findet
diese Theorie in sehr simplen Philosophiebüchern, und ich hatte sie als eine
bequeme Weise behalten, meine Freiheit zu definieren, aber sie entsprach nicht
dem, was ich wirklich sagen wollte. Was ich sagen wollte, war, daß man für sich
verantwortlich ist, selbst wenn die Handlungen durch etwas einem Äußerlichen
hervorgerufen werden... Jedes Handeln enthält einen Teil Gewohnheiten,
Vorurteile, Symbole, und andererseits ist da etwas, was aus unserem Innersten
kommt und ein Bezug zu unserer ursprünglichen Freiheit ist.“265
Unter anderem war aber genau diese Freiheitsphilosophie ein Grund für die
spätere, große Popularität von „Das Sein und das Nichts“, denn hier bot sich eine
Philosophie an, die für all jene interessant war, die gegen den Faschismus
kämpften, für jene die nicht mitgemacht hatten und sich darin von den Anderen
unterschieden. Mit Hilfe dieser Philosophie war es möglich den Wert der eigenen
Handlungen und den der Anderen mit Verantwortung zu beseelen - gegenüber
Theorien, in denen die gesellschaftliche Übermacht als so groß beschrieben wurde,
daß sie zu dem Problem führen konnten, daß alle subjektive Handlungen unter das
Marcuse, Herbert: Existenzialismus, Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le
Néant, in: Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt /M, 1970, S. 65
264
vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 745ff
265
Beauvoir, Simone de: Die Zeremonie des Abschieds, Reinbek bei Hamburg, a.a.O. , S.
451f
263
82
große Objekt subsumiert wurden und damit aus dem Weiß des Widerstandes und
dem Schwarz des Faschismus nur noch Grau übrig ließen266.
Mit „Das Sein und das Nichts“ legte Sartre den Grundstein für seine späteren
Kritiken am Marxismus: Das Bewußtsein und die Konstruktionsprozesse eines
Menschen im Café war den orthodoxen Marxisten völlig egal. Hier insistierte
Sartre in späteren Auseinandersetzungen mit den Marxisten auf dem Wert des
Individuums und kritisierte sie wegen des Fehlens einer Theorie des Subjekts. Wie
auch Marcuse, der, wie die anderen Exil-Frankfurter, versuchte mit Freud eine
Subjekttheorie in den Marxismus zu bringen, begann auch Sartre nach einer
Verbindung zu suchen zwischen einer Theorie des Individuums und einer Theorie
der politischen Ökonomie.
Dennoch blieben große Unterschiede zwischen Sartre und Marcuse: Sartre hatte
kein Triebmodell, sondern alles entwickelte sich letztendlich aus dem Subjekt
heraus. Bei Marcuse schwang immer ein zu befreiender Kern im Menschen mit,
der Triebanlagen (gesellschaftlich vermittelte) hatte. So hatte der Begriff der Angst
in der kritischen Theorie einen zentralen Stellenwert. Bei Sartre war es fast
bedeutungslos. Bei aller späteren Gemeinsamkeit, sollte die Rolle der
Psychoanalyse – und damit der eigentlichen Subjekttheorie – Sartre und Marcuse
noch auf Jahre voneinander trennen.
Trotzdem bleibt festzuhalten, daß Sartre in „Das Sein und das Nichts“ von einer
bemerkenswerten und einzigartigen Egalität aller Menschen ausging; es war ein
Manifest der philosophischen Gleichheit aller Menschen und damit ein zutiefst
humanistisches Werk, das gleichzeitig mit dem kleinbürgerlichen Humanismus
brach. „In der Sackgasse der subversiven Aktion, im Würgegriff einer
unerträglichen, täglichen Repression, erkennt Sartre plötzlich das Unannehmbare.
Natürlich bewegt er sich in der philosophischen Abstraktion, als er seine Theorie
der Freiheit erarbeitet. Aber er beschreibt diese Reflexion in und unter jenen
spezifischen geschichtlichen Bedingungen. Sein Ruf nach Authentizität und
Verantwortung, seine Verurteilung unauthentischen Verhaltens überhaupt, beides
geschieht in einem Nazi-Frankreich. Auch seine Moral des Schriftstellers wird
unter dem wahnsinnigen, unmittelbaren Druck der täglichen Knebelung entworfen.
Der finsteren Unterdrückungsperiopde entreißt er den Ruf nach Freiheit und
individuellem Anarchismus.“267
Die Freiheit wird gesellschaftlich
Sartres: Paris unter der Besatzung (1944)
Nach dem Scheitern von „Sozialismus und Freiheit“ schloß sich Sartre dem
„Comité National des Écrivains“ sowie dem „Comité National du Théâtre“ an –
beides der Resistance nahestehende Gruppierungen. Er schrieb für die illegal
erscheinenden „lettre francais“ und war Mitarbeiter der von Albert Camus
gegründeten Zeitschrift „Combat“, mit dem ihn seitdem eine Freundschaft verband.
Zwischen 1944 und 1945 verfaßte er mehrere Artikel, in denen er sich zu
266
Was mancherorts wieder Bedeutung erlangt: Die Platitüde die besagt, daß man nicht
alles schwarz oder weiß sehen solle, diente meist dem Revisionismus, der danach suchte
Momente des Faschismus positiv zu besetzen.
267
Cohen-Solal, a.a.O., S. 304
83
gesellschaftlichen Problemstellungen äußerte und dabei erste Modifizierungen
seines Freiheitsbegriffes spürbar waren.
Grundsätzlich war festzustellen, daß Sartre dabei zwei Freiheitsbegriffe benutzte:
Einen auf der Ebene gesellschaftlicher Systeme und einen onthologischen, der in
„Das Sein und das Nichts“ entwickelt wurde. In der Artikelserie „Ein
Spaziergänger im aufständischen Paris“ sprach Sartre im Moment der Befreiung
von Paris davon, daß in dieser konkreten historischen Situation „Zivilisten und
Soldaten einer einzigen Rasse angehören: es sind freie Franzosen.“268 Die jetzt
„freien Franzosen“ mußten, damit sie jetzt frei waren, zumindest vorher unfrei
gewesen sein. Doch an diesem Punkt schwankte Sartre. In dem Artikel: „Die
Republik des Schweigens“ schrieb er: „Niemals waren wir freier als unter
deutscher Besatzung.“ Damit meinte er, daß das Spektrum der Freiheit, die
persönlichen Wahlmöglichkeiten zwischen Tod oder Kollaboration, zwischen
Ertragen, Demütigung oder Widerstand so groß wie selten zuvor in der
französischen Geschichte gewesen war – er verglich die Befreiung von Paris mit
1789 und 1848.
Auch wenn sich Sartre mit dem Aufstellen zweier Freiheitsbegriffe selbst
widersprach, so stecke dennoch in ihnen die Anerkennung der gesellschaftlichen
Zwänge aufs Subjekt. Die Besetzung Frankreichs war, so Sartre „ein riesiges
gesellschaftliches Phänomen.“269 Das Dilemma, in der Sartres Freiheitsphilosophie
stand, entging ihm nicht: „Jede unserer Handlungen war doppeldeutig; wir wußten
nie, ob wir uns tadeln oder uns völlig beipflichten sollten; ein verstecktes Gift
vergiftete unsere besten Unternehmungen. Ich will nur ein Beispiel geben: die
Eisenbahner, Heizer wie Zugführer, waren bewundernswert. Ihre Kaltblütigkeit, ihr
Mut und oft ihre Selbstverleugnung haben Hunderte von Leben gerettet, haben
Lebensmitteltransporte ermöglicht, Paris zu erreichen. Größtenteils waren sie
Widerstandskämpfer und haben es bewiesen. Doch der Eifer, mit dem sie unser
Material verteidigten, diente der deutschen Sache: diese auf wunderbare Weise
erhaltenen Lokomotioven konnten von einem Tag auf den anderen beschlagnahmt
werden; zu den Menschenleben, die sie erhalten hatten, mußten diejenigen der
Militärs gerechnet werden, die nach Le Havre oder Cherbourg fuhren; die
Lebensmittelzüge führten auch Kriegsmaterial mit. So standen diese Männer,
einzig darum bemüht, ihren Landsleuten zu dienen, durch die Macht der Umstände
auf der Seite unserer Feinde gegen unsere Freunde; und wenn Pétain ihnen eine
Medaille an die Brust heftete, dann war es Deutschland, das sie ehrte. Von Anfang
bis Ende des Krieges haben wir unsere Handlungen nicht wiedererkannt, haben wir
ihre Folgen nicht für gewollt erklären können. Das Falsche war überall, jede Wahl
war falsch, und dennoch mußte man wählen, und wir waren verantwortlich; jeder
unserer Herzschläge trieb uns in eine Schuld, vor der uns graute.“270
Es traten nun auch für Sartre objektive Grenzen auf. Der Mensch war zwar
weiterhin zur Freiheit verurteilt, doch - so sehr er sich dieser auch bewußt gewesen
wäre - der gesellschaftliche Rahmen der diese Freiheit umschloß, bekam nun weit
mehr Gewicht. Zwar blieb Sartre bei der Freiheit des Einzelnen, doch der Begriff
der Situation wurde stärker und wichtiger.
268
Sartre, Jean-Paul: Ein Spaziergänger im aufständischen, in: Sartre, Jean-Paul: Paris
unter der Besatzung, Reinbeck bei Hamburg, 1985, S.30
269
Sartre, Jean-Paul: Paris unter der Besatzung, in: Sartre, Jean-Paul: Paris unter der
Besatzung, Reinbek bei Hamburg, 1985, S.40
270
Ebd., S. 52
84
Der Mensch sei frei in Situation, schrieb Sartre in „Das Sein und das Nichts“.
Diese „Situation“ sollte in seinen folgenden Schriften ein stärkeres und
deutlicheres Gewicht bekommen271. Am deutlichsten dokumentierte diesen Wandel
seine Schrift: „Was ist ein Kollaborateur?“ Sartre befaßt sich darin mit der
Fragestellung, was denn einen Kollaborateur bedinge: „Wenn es also stimmt, daß
man nicht aus Zufall kollaboriert, sondern unter der Einwirkung bestimmter
gesellschaftlicher und psychologischer Gesetze, dann muß definiert werden, was
man einen Kollaborateur nennt.“ Dies war insofern ein neues Unterfangen, da das
erste Mal in Sartres Schriften ein konkreter gesellschaftlicher Rahmen auf den Plan
trat; er eigentlich das erste Mal so etwas wie „gesellschaftliche Gesetze“ in seinen
Publikationen akzeptierte.
In seiner Untersuchung begann er mit marxscher Methode nach den
Klassenzugehörigkeiten zu fragen, um festzustellen: „Die meisten Kollaborateure,
das ist eine Tatsache, sind aus dem Bürgertum hervorgegangen. Doch darf man
daraus nicht folgern, daß das Bürgertum als Klasse zur Kollaboration neigte.“272
Doch wo vulgärmarxistische Untersuchungen meist stehenblieben, begann Sartres
außerordentliche Originalität. Anstatt die gesellschaftliche Übermacht zu
konstatieren und ein weißes Proletariat zu zeichnen, wie dies andere taten (um den
politischen Impetus des Trägers der Revolution nicht zu diskreditieren), hielt Sartre
an Individuum, am Subjekt fest: Kollaboration sei eine individuelle Entscheidung,
keine Klassenposition gewesen. Sartre suchte danach gesellschaftliche
Bedingungen und gleichzeitig die Psychologie der Wahl zu untersuchen. Dabei
entwarf er das folgende Psychogramm des Kollaborateurs: „Da er nicht in die
französische Gesellschaft integriert und den allgemeinen Gesetzen einer
Gemeinschaft unterworfen ist, sucht der Kollaborateur, sich in ein neues System zu
integrieren, wo die Beziehungen in die Einzelheit fallen und von Person zu Person
verlaufen. Sein Realismus hilft ihm dabei: der Kult der Einzeltatsache und die
Verachtung des Rechts, das Allgemeinheit ist, bringen ihn dazu, sich streng
individuellen Realitäten zu unterwerfen: einem Menschen, einer Partei, einer
fremden Nation.“273 Und weiter: „Doch die vielleicht beste psychologische
Erklärung der Kollaboration stellt der Haß dar. Der Kollaborateur scheint von einer
strengen Lebensordnung zu träumen: wie schon gesagt, ist es der große
Assimilationstraum eines Nichtintegrierten.“274
Die Merkmale der Kollaborateure in Sartres Beschreibung könnte man auch mit
einem anderen Begriff bezeichnen: Es handelte sich um autoritäre Charaktere.
Autoritäre Charaktere, die aus den bisherigen gesellschaftlichen Hierarchien
herausgefallen waren. Dafür gab Sartre genügend Beispiele275. Sartres Analyse
schien auch für die deutsche Situation zuzutreffen: Die Trägerschicht des
deutschen Faschismus bestand hauptsächlich aus dem sog. „Bildungsbürgertum“,
jener Schicht, die mit der deutschen Revolution von 1918 einen großen Teil ihrer
bisherigen Privilegien verlor.
Die Entscheidung Kollaborateur zu werden, bestand für Sartre in einem tief
verwurzelten Positivismus: „Wenn die deutschen Kollaborateure aus dem
271
Seine politischen Schriften in der französischen Ausgabe trugen dann auch
konsequenterweise den Titel „Situationes“, gefolgt von der jeweiligen Nummer.
272
Sartre, Jean-Paul: Paris unter der Besatzung, a.a.O., S. 61
273
Ebd., S. 68
274
Ebd., S. 69
275
vgl. Ebd., S. 62
85
deutschen Sieg auf die Notwendigkeit geschlossen haben, sich der Autorität des
Reiches zu unterwerfen, dann deshalb, weil bei ihnen eine tiefe Entscheidung
vorlag, die den Grund ihrer Persönlichkeit ausmachte: die Entscheidung, sich der
vollendeten Tatsache zu fügen, ganz gleich welcher.“276 Dabei entwerfe sich der
Kollaborateur in ferner Zukunft. Er beurteile, so Sartre, sein Handeln aus der
Perspektive künftiger Jahrhunderte, die ihm Recht zu den heutigen Taten gäben,
nur so sei der Kollaborateur in der Lage alles Handeln unter die gegenwärtigen
Zwecke zu stellen.
In Sartres Analyse traten gleich mehrere Parallelen zu den Positionen des
Frankfurter Instituts für Sozialforschung auf: Die Analyse der autoritären
Charaktere und die Kritik am Positivismus waren ihnen gemeinsam. Ebenso wie
die Frankfurter schätzte Sartre die französische Revolution als nicht vollends
verwirklichte ein. In einem bewegenden Schluß des Artikels schrieb er:
„Realismus, Ablehnung des Allgemeinen und des Gesetzes, Anarchie und Traum
von einem eisernen Zwang, Apologie von Gewalt und List, Feminität277.
Menschenhaß: alles Merkmale, die sich durch die Desintegration erklären. Der
Kollaborateur ist, ob er nun Gelegenheit hat, als solcher aufzutreten oder nicht, ein
Feind, den die demokratischen Gesellschaften ständig in ihrem Schoße tragen.
Wenn wir vermeiden wollen, daß er den Krieg in anderen Gestalten überlebt, dann
genügt es nicht, ein paar Verräter hinzurichten. Es gilt, soweit wie möglich die
Einigung der französischen Gesellschaft zu vollenden, das heißt die Arbeit, welche
die Revolution von 1789 begonnen hat; und das läßt sich nur durch eine neue
Revolution verwirklichen, jene Revolution, die 1830, 1848 und 1871 versucht
worden ist und auf die stets die Gegenrevolution folgte. Die Demokratie ist immer
Pflanzstätte für Faschisten gewesen, weil sie ihrem Wesen nach alle Meinungen
duldet; es ist nötig, daß endlich restriktive Gesetze gemacht werden: es darf keine
Freiheit gegen die Freiheit geben.“278
„Keine Freiheit gegen die Freiheit“ schrieb Sartre: Spätestens hier tauchte ein
Freiheitsbegriff auf, der endgültig eine Form gesellschaftlicher Unfreiheit
anerkannte und sie als solche beschrieb. Ferner analysierte Sartre die bisherigen
Demokratien als Wegbereiter des Faschismus. Eine Analyse, die sicherlich auch
Marcuse teilte, weniger aus ihrer formalen Struktur - wie bei Sartre -, denn aus der
Analyse politischen Ökonomie.
Doch die größte Gemeinsamkeit zu Marcuse bestand sicherlich im Stellenwert der
Theorie zur Praxis. Sartre schrieb: „Zwar ist es nötig, sich den Tatsachen zu
unterwerfen, Lehren aus der Erfahrung zu ziehen: aber diese Geschmeidigkeit,
dieser politische Positivismus dürfen nur Mittel dazu sein, ein Ziel zu
verwirklichen, das nicht den Tatsachen unterworfen ist und nicht aus ihnen sein
276
Ebd., S. 65
Sartre begriff die Methode des Kollaborateurs als feminin. Damit meinte er, daß sich der
Kollaborateur der List bediente: „Da er die Kraft als Quelle des Rechts und als Erbteil des
Herrn gesetzt hat, hat sich der Kollaborateur die List vorbehalten. Er erkennt also seine
Schwäche, und der Priester der Manneskraft und der männlichen Tugenden gibt sich mit
den Waffen des Schwachen, der Frau zufrieden.“ (Ebd., S. 69) Diese merkwürdige
Geschlechterstigmatisierung ist m. E. für Sartre an dieser Stelle einzigartig. Später gab
Sartre ausführlich Auskunft über sein Denken und Verhalten gegenüber Frauen (vgl.
Beauvoir, Simone: Die lange Zeremonie des Abschieds, a.a.O., S. 383ff). An dieser Stelle
ist die Bezeichnung „feminin“ eher als Demütigung der Kollaborateure, denen ihre
Männlichkeit abgesprochen wird zu verstehen – eine Art Rache durch posthume Kastration.
278
Sartre, Jean-Paul: Paris unter der Besatzung, a.a.O. , S. 70f
277
86
Dasein zieht.“279 Oder mit den Worten Marcuses ausgedrückt: „Die Vernunft hat
sich mit der Wirklichkeit identifiziert: was wirklich ist, ist vernünftig, obgleich das,
was vernünftig ist, noch nicht zur Wirklichkeit geworden ist.“280
Das Ende der deutschen Besatzung bedeutete für Sartre keinesfalls den
automatischen Aufbruch in eine bessere Zukunft. Durch den Abwurf der
Atombombe stellten sich neue Probleme für die Menschheit: „Die kleine Bombe,
die auf einen Schlag hunderttausend Menschen töten kann und morgen zwei
Millionen töten wird, stellt uns plötzlich vor unsere Verantwortung. Beim nächsten
Mal kann die Erde hochgehen: dieses absurde Ende würde für immer die Frage in
der Schwebe lassen, die seit zehntausend Jahren unsere Sorgen ausmachen.
Niemand erführe je, ob der Mensch den Rassenhaß hätte überwinden können, ob er
eine Lösung für den Klassenkampf gefunden hätte.“281 Nun stellte sich Sartre den
Fragen, die in „Das Sein und das Nichts“ schmerzlichst vermißt wurden. Die
„Suche nach dem Sein“ wurde konkret – die reale Geschichte brach in das Denken
Sartres ein.
Im Kampf gegen den Nationalsozialismus
Marcuses: Feindanalysen. Über die Deutschen
Aus Marcuses Zeit beim OSS entstanden verschiedene Aufsätze, die posthum
veröffentlicht wurden. Sie erscheinen von Wichtigkeit, da in ihnen praktische
Schritte und Strategien gegen Nazideutschland erörtert wurden sowie eine Analyse
des NS stattfand. Besonders interessant erscheint an ihnen die Auslotung der
praktischen Möglichkeiten des Kampfes gegen den Faschismus.
Die Individuen erschienen in Marcuses vorherigen Texten als Präformierte, ihr
Bewußtsein unter der Perspektive einer freien Gesellschaft verkümmert. Die
Grundlage ihrer Identifizierung mit dem Nationalsozialismus sah Marcuse vor
allem in den materiellen Errungenschaften des NS: in Vollbeschäftigung und
materieller Sicherheit282. Doch trotz aller Präformation beobachtete Marcuse
gleichermaßen Momente eines Konflikts zwischen Gleichschaltung und realer
Herrschaft. “Die Angst der Massen und die Angst voreinander ist ein
entscheidendes Element dieser Harmonie”283 schrieb er über das zentrale
Bindeglied zwischen den Eliten des NS und den Massen. Mit dem Begriff der
Angst war ein realer und konkreter Moment beschrieben worden, der die
Herrschaft sichtbar machte und über das Maß der Zustimmung der Deutschen zum
NS hinausging.
Bestimmte Gesellschaftsschichten seien von vornherein von einer möglichen
Gegenpropaganda auszuschließen: „Zum einen die Stützen, die das Regime in der
Großindustrie besaß, sowie die Regierungsbürokratie. Sie werden mit dem
Zusammenfall des Regimes alles verlieren und haben von keinem anderen Regime
279
Ebd., S. 71
Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution. a.a.O., S. 370
281
Sartre, Jean-Paul: Das Ende des Krieges, in: Sartre, Jean-Paul: Paris unter der
Besatzung, Reinbek bei Hamburg, 1985, S. 75
282
Marcuse, Herbert: Die beiden Schichten der neuen deutschen Mentalität, in:
Feindanalysen. Über die Deutschen, Lüneburg, 1998, S. 29
283
Marcuse, Herbert: Feindanalysen. Über die Deutschen, Lüneburg, 1998, S. 101
280
87
irgend etwas zu erwarten.”284 Hier stand der Nationalsozialismus für Marcuse in
der Tradition der deutschen Gesellschaften vor dem 1. Weltkrieg, da die gleichen
Kräfte und Interessen wie damals auch den Nationalsozialistischen Staat
beherrschten. Neben der realen Angst sei auch ein großes Maß an Zustimmung
zum NS zu registrieren, es „[...] ließe sich sogar behaupten, daß der
Nationalsozialismus die erste und einzige »Revolution« der Mittelschichten in
Deutschland gewesen ist.”285
Damit wurde dem Nationalsozialismus ein Doppelcharakter attestiert: Herrschaft
durch Angst und Zustimmung. “Zwar funktioniert das Regime nur durch
institutionalisierten Terror, aber die Mehrheit der Bevölkerung hat die Sprache der
Tatsachen akzeptiert und sich mit dem Regime identifiziert.”286 Diese sich
scheinbar widersprechenden Attribute des Terrors und des Zuspruchs konnten nur
mit einem radikalen Kulturbruch einhergehen: “Die Deutschen orientieren sich
gegenwärtig an gänzlich anderen Werten und Maßstäben, und sie sprechen eine
Sprache, die sich von den Ausdrucksformen der westlichen Zivilisation wie auch
von denen der einstigen deutschen Kultur grundlegend unterscheidet.”287 Mit
diesem Zivilisationsbruch gelang es die „Individuen dazu [zu bringen], eine Welt
zu lieben und aufrechtzuerhalten, die sie nur als Mittel der Unterdrückung
braucht.”288 Seine private Befriedigung begreife das Individuum als Pflicht: “Das
Individuum begreift seine private Befriedigung als patriotische Pflicht gegenüber
dem Regime und erhält seinen Preis für deren Ausübung.”289
Der Doppelcharakter von Angst und Zuspruch war mit dem klassischen „laissezfaire- Prinzip“ des Liberalismus nicht zu erreichen gewesen. Tatsächlich war ein
kompletter Umbruch des kulturellen Wertesystems nötig gewesen, um die neue
Form der faschistischen Herrschaft zu ermöglichen. Doch der Umbruch des
Wertesystems basierte auf einer langen Vorbereitung: Die Krisengeschichte des
Kapitalismus mit ihrem immanenten Konkurrenzkampf bereitete dem
Nationalsozialismus den Boden: “Der Nationalsozialismus hat seinen Anhängern
eingehämmert, daß die Welt eine Kampfbahn ist, in der der mächtigste und
effizienteste Konkurrent das Rennen gewinnt. [...] Dem Nationalsozialismus
zufolge besteht das angemessenste Prinzip des individuellen wie auch des sozialen
und politischen Handelns darin, alle zur Verfügung stehenden Mittel so
rücksichtslos wie möglich einzusetzen, um in den Verteilungskämpfen die Nase
vor zu haben”290 Damit stellte der Nationalsozialismus ein Regime dar, dessen
Bedingung zur Möglichkeit die Implementierung kapitalistischer Konkurrenzethik
im Bewußtsein der Subjekte darstellte. Doch anstatt die Individuen sich selbst zu
überlassen, wie dies der Liberalismus tat291, begegnete der Nationalsozialismus den
Einzelnen mit einer riesigen Maschinerie an Kultur und Freizeitindustrie: „Die
284
Ebd., S. 62
Ebd., S. 27
286
Ebd., S. 46
287
Ebd., S. 23
288
Ebd., S. 111
289
Ebd., S. 109
290
Ebd., S. 44
291
Zumindest in der Theorie sollte das private und ökomonische Leben Sache des
Einzelnen sein. Die Freiheit des Vertrags sollte einhergehen mit der Freiheit sein Leben
selbst zu gestalten. Meist sah die Wirklichkeit anders aus und die Institutionen schossen
wie Pilze aus dem Boden. (vgl. Foucault, Michele: Überwachen und Strafen. Die Geburt
des Gefängnisses, Frankfurt /M, 1994)
285
88
Fabriken, Schulen, Ausbildungslager, Sportstätten, die kulturellen Institutionen und
die Freizeitorganisationen sind wahre Laboratorien des Individualismus. Jedem
Mitglied der deutschen Rasse wird unabhängig von seiner sozialen Stellung
beigebracht, sich wie ein einzigartiges und selbstsicheres Wesen zu fühlen und zu
verhalten, als der autonome Herr seines Lebens. Es wird dazu angehalten, selbst
das mechanischste Produkt zu seiner eigenen persönlichen Arbeit zu machen, und
seine Wohnstätte soll sich durch die Merkmale seines eigenen persönlichen
Geschmacks auszeichnen. Die Partei regt den Bau von Siedlungen an, in denen der
Arbeiter sein Haus, Garten und ein eigenes Haustier hat. Der nationalsozialistische
Staat ist ein »Staat der Massen«, aber die Massen sind nur in so weit Massen, wie
sie sich aus automatisierten Individuen [Herv. v. m., S.E.] zusammensetzen. Weil
diese allem beraubt worden sind, was ihr Individualität in eine wahre
Interessensgemeinschaft transzendiert, und nichts von ihnen übrig geblieben ist als
ihr bestialisches und abstraktes Eigeninteresse, das in allen Menschen gleich ist,
sind sie für die Vereinheitlichung von oben und für Manipulation so anfällig.”292
Das „automatisierte Individuum“ war also, so Marcuse, das Ziel des
Nationalsozialismus. “So seltsam es auch klingen mag, das Individuum ist ein
Lieblingskind des nationalsozialistischen Regimes. Es bemüht sich ständig, seine
Fähigkeiten zu steigern, seine Leistungsfähigkeit zu verbessern und es mit Energie
und Initiative zu füttern”293 Diese Kontinuität der Disziplinierung des Individuums
sollte Michele Foucault später in „Überwachen und Strafen“ aufgreifen, als er
schrieb: „Die schöne Totalität des Individuums wird von unserer
Gesellschaftsordnung nicht verstümmelt, unterdrückt, entstellt; vielmehr wird das
Individuum darin dank eine Taktik der Kräfte und der Körper sorgfältig fabriziert .
Wir sind weit weniger Griechen als wir glauben. Wir sind nicht auf der Bühne und
nicht auf den Rängen. Sondern eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen
Maschine, das wir selber in Gang halten.”294 Tatsächlich war es die Mischung aus
produziertem Individuum und dem Terror der Konkurrenz, der den Weg für den
Nationalsozialismus bereitete. Der Nationalsozialismus war lediglich eine
Totalisierung dieser Prinzipien: “Die Vereinheitlichung der menschlichen
Individuen ist somit das Resultat der Mechanismen der individualisierten
Gesellschaft. Die Individuen sind zu einer Menschenmenge geworden, zu den
Mitgliedern der Masse, lange bevor der Nationalsozialismus sie als Masse
behandelte.”295
Doch wie war dagegen vorzugehen? Wer konnte noch als Verbündeter betrachtet
werden? Gab es noch kritische Kräfte auf die man bauen konnte? Wer sollte in
Deutschland nach einem Sieg der Alliierten das Sagen haben? Wie sollte eine
Nachkriegsordnung in Deutschland aussehen? Dies waren Fragen, die im OSS von
Interesse waren und auf die ein Mitarbeiter für strategische Fragen im Gegensatz
zu einem Hochschulprofessor zu antworten hatte.
Das Problem war offensichtlich: “Die Deutschen scheinen die Vernichtung des
Hitlerreiches mit der Vernichtung an sich, das heißt, mit der endgültigen
Zerstörung Deutschlands als Nation und Staat, mit dem endgültigen Verlust
jeglicher Sicherheit, mit dem Absinken des Lebensstandards unter die
292
Marcuse, Herbert: Feindanalysen. Über die Deutschen, a.a.O. , S. 103
Ebd., 1998, S. 102
294
Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt /M,
1994, S. 279
295
Marcuse, Herbert: Feindanalysen. Über die Deutschen, a.a.O. , S. 107
293
89
Inflationsrate zu identifizieren. Die Angst vor der Katastrophe ist eine der stärksten
Bindungen zwischen den Massen und dem Regime.”296 Wie war diese Liaison zu
brechen? Die Balance der gesellschaftlichen Gruppen im NS erschien verheerend:
“Es gibt nämlich kaum eine gesellschaftliche Gruppe, die nicht über ihr materielles
Interesse auf die eine oder andere Weise mit dem Funktionieren des Systems
verbunden wäre, und wo diese Beziehungen sich lockern, werden sie durch nackte
Gewalt ersetzt.”297
Wo sollte also angesetzt werden? Sicher war nur eins: „Folglich muß man, um
diese Macht zu brechen, die Nazis militärisch besiegen. Aber es gibt nicht die
geringste Garantie dafür, daß der Sturz des Regimes die Wurzeln jener
nationalistischen Mentalität beseitigt, aus denen das Regime seine Lebensfähigkeit
bezieht. Diese Mentalität wird erst dann verschwinden, wenn die Vorherrschaft
der mit dem Regime und, mehr noch, mit dessen Motiven und Zielen auf Gedeih
und Verderb verbundenen Gruppen beseitigt wird. Sie wird, anders gesagt, erst
verschwinden, wenn die Errungenschaften des Naziregimes (Vollbeschäftigung
und materielle Sicherheit) in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaftsordnung
aufgehoben sind.”298
Es schien schwierig für den Sozialisten Marcuse dem OSS realisierbare Vorschläge
zu machen. Dies lag vor allem darin begründet, daß Marcuse in der kapitalistischen
Produktion selbst den Grundstein für die in der Krise erwachsenen
Herrschaftsformen sah. Marcuse schwebte vielmehr eine Gesellschaftsordnung vor,
die frei von kapitalistischer Herrschaft war – eine solche deckte sich aber nicht mit
den Interessen der amerikanischen Regierung.
Zu einer Revolution erschien der Weg noch weiter, die Individuen durch den
Nationalsozialismus zu stark automatisiert. Der Nationalsozialismus habe sogar die
„stillen Vergnügungen“ in die große Maschinerie eingebunden: “Durch die
Mobilisierung der Freizeit hat der Nationalsozialismus eines der letzten Bollwerke
zerschlagen, hinter dem die fortschrittlichen Elemente des Individualismus immer
noch fortbestanden. [...] Die bloße Tatsache, daß das Individuum in der
präfaschistischen Ära in seiner Freizeit »mit sich selbst« sein und alle
Wettbewerbshandlungen unterlassen konnte, beließ ihm die Möglichkeit, hinter
den repressiven Rahmen des Berufslebens zurückzutreten. [...] In der Ruhe der
stillen Vergnügungen mag das Individuum zum Denken kommen, seine Impulse,
Gefühle und Gedanken könnten in Regionen gleiten, die der vorherrschenden
Ordnung fremd und feindselig sind.”299
Das bedeutete, daß Marcuse davon ausging, daß nichts mehr an kritischen
Potentialen oder rebellischer Subjektivität übrig geblieben war, auf das zu bauen
wäre. Auch die deutsche Arbeiterbewegung sei momentan nicht geeignet für eine
Wiederbelebung des sozialistischen Ideals: „Je mehr sich die deutsche
Arbeiterbewegung in die Arbeiteraristokratie und -bürokratie einerseits und die
Masse der Arbeitslosen oder nur befristet Beschäftigten andererseits aufspaltete,
desto mehr schwand der Glaube an die Verwirklichung des höchsten Ziels und
wich dem Geist desillusionierter Sachlichkeit. In einer Volkswirtschaft mit zehn
Millionen Arbeitslosen wurde Arbeit von einem Recht zur Vergünstigung, die
effizientes und willfähriges Verhalten erforderte. Zudem hatten die Führer der
296
Ebd., S. 27
Ebd., S. 31
298
Ebd., S. 29f
299
Ebd., S. 108
297
90
Arbeiterbürokratie durch ihr Handeln den Desillusionierungsprozeß schon lange
vor der Machtübernahme durch die Nazis eingeleitet. So war der Grund und Boden
für die Eroberung durch den Nationalsozialismus bereitet: Die Aussicht auf
Vollbeschäftigung und wirksame Kontrolle der Wirtschaftsprozesse wog schwerer
als die Überreste sozialistischen Glaubens”300
Damit erschien eine freiheitliche Perspektive auf unabsehbare Zeit verbaut.
Dennoch war die bürgerliche Gesellschaft dem Faschismus in jedem Falle
vorzuziehen. Und so war der Sieg der Alliierten 1945 auch für Marcuse eine
Sternstunde, ähnlich wie für Sartre die Befreiung von Paris. „Was Marcuse 1945
empfunden haben muß, als die Miltärregierung die NSDAP auflöste, kann man
ahnen: Er selbst hatte das Dekret formuliert.“301
Schluß
Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges endete auch der Kampf gegen den
Nationalsozialismus für Sartre und Marcuse – zumindest in der bisherigen Form.
Sartres „Socialsme et Liberté“ scheiterte und Marcuses Tätigkeit beim OSS schien
ebenfalls nicht das richtige Betätigungsfeld für einen Sozialisten zu sein. Bei aller
Freude über das Ende des Krieges verkannte keiner von beiden die große
Bedrohung, die sich erneut abzeichnete: Die Aufteilung der Welt in die bipolare
Weltordnung und das Übergleiten des heißen Krieges in einen neuen Kalten. Mit
dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki kündigte sich die Neue
Weltordnung an und in ihr schienen Schrecken möglich, die nach der Erfahrung,
daß Auschwitz möglich gewesen war, nichts Gutes erahnen ließen.
Auffällig an den Werken beider aus jener Zeit ist das Fehlen einer Theorie des
Holocaustes. Sechs Millionen Juden verloren ihr Leben in den
Konzentrationslagern, auf Todesmärschen oder durch Arbeit. Die Zeit des Krieges
war gleichermaßen der Höhepunkt des Unterganges des liberalistischen Subjekts.
Und auch die Nachkriegsepoche sollte sich mit neuen Formen der Subjektivität
schwertun.
Mit der sich anbahnenden Neuaufteilung der Welt sollte die Stunde des Menschen
abermals vertagt werden. Vielmehr schlug ein weiteres Mal die Stunde der
Nationen. Doch vor allem war das einst im Weltgeschehen so überragend mächtige
Europa in seinem Einfluß zurückgetrieben worden und die USA und die UdSSR
übernahmen das Zepter der Weltmächte. Deren Konfrontation zog sich wie ein
Keil durch die Welt und teilte somit auch den alten Kontinent in Ost und West.
Mit großen Hoffnungen auf eine bessere Nachkriegswelt ausgestattet, begannen
Marcuse wie Sartre den Kampf gegen den Faschismus. Es stellte sich sehr bald
heraus, daß auch die neuen Republiken und real existierenden Demokratien nicht
die Verwirklichung ihrer Ziele darstellten. Doch beide nahmen auch diesen Kampf
auf und kämpften nun gegen den „Krieg im Frieden“ (Sartre) - dieses Mal unter
anderen Vorzeichen. Aus dem Abwehrkampf gegen den Faschismus, entstand ein
Kampf gegen die beiden großen Blöcke und deren Logik von Gut und Böse. Die
neuen Subjektvorstellungen, die doch so viel von den alten beibehielten, wurden
dominiert von den Gesellschaftsidealen der stalinistischen UdSSR im Osten und
300
Ebd., S. 45
Jäger, Lorenz: Feindanalysen: Der amerikanische Feind, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 18.07.1998, Nr. 164, S. 38
301
91
des Amerikas im Klima von McCarthy. Mit dem Ideal des freien Menschen
nahmen beide, der eine in Frankreich und der andere in den USA, ihren Kampf auf,
der sie bald über die Grenzen ihre Heimatländer bekannt, berühmt – und auch
verhaßt machen sollte. Doch eines sollte ihre Schriften, Reden, öffentlichen
Auftritte und Interventionen trotz aller Differenzen immer kennzeichnen: Die
Freiheit wurde zum überragenden Prinzip beider, mit dem sie sich gegen die USA
und die UdSSR stellen. So wurde der Kampf um eine bessere Welt zum Kampf
unter dem Banner der Freiheit.
92
4. Die bipolare Welt: Der “dritte Weg” wider
den Krieg im Frieden – Subjektivität im Kampf
unter dem Banner der Freiheit
„ […] ALL DESSEN , WAS AUS DER
BERÜHMTEN ARBEIT RESULTIERT, HEUTE
DIE GLEICHE WIE DAMALS, ALS SIE AUF DEN
SPRUCHTAFELN
IN
HITLERS
KONZENTRATIONSLAGERN VERHERRLICHT
WURDE.“
PIER PAOLO PASOLINI
Die historische Situation – Die zwei Blöcke
Mit der Beendigung des zweiten Weltkrieges waren die Imperien des alten
Kontinentes ihrer Macht beraubt und es begann die Neuaufteilung der Welt in
Einflußgebiete der USA und der UdSSR. Dabei unterschied sich das System des
real existierende Sozialismus, von dem der sog. „freien Welt“, den real
existierenden Demokratien, vor allem darin, „daß es auf Privatunternehmertum und
liberale Institutionen verzichtete.“302
Die Jahrzehnte nach dem Krieg bis zum Fall der Berliner Mauer waren von der
großen Konfrontation gekennzeichnet. Auch wenn diese keinesfalls mit immer
gleicher Intensität verlief, so teilte sie doch die Welt in dieser Zeit neu auf: „Die
Sowjetunion kontrollierte einen Teil der Welt, beziehungsweise übte ständigen
Einfluß auf ihn aus – die von der Roten Armee und/oder anderen kommunistischen
Truppen am Ende des Krieges besetzten Gebiete – und versuchte nicht, diesen
Einflußbereich durch den Einsatz von militärischen Mitteln auszuweiten. Die USA
kontrollierten oder dominierten den übrigen Rest der kapitalistischen Welt, die
westliche Hemisphäre und die Ozeane und übernahmen, was von der alten
imperialen Hegemonie der ehemaligen Kolonialmächte übriggeblieben war. Im
Gegenzug dafür intervenierten sie nicht in der Zone der anerkannten sowjetischen
Hegemonie.“303 Erst durch die im internationalen Maßstab stattfindende 68er
Bewegung kam es zu einer weltweiten Opposition gegen die bipolare
Weltordnung.
Trotz des Ausbleibens einer direkten militärischen Konfrontation der beiden
Großmächte gerieten die ehemaligen Kolonien zu „Nebenkriegsschauplätzen“.
Besonders diejenigen, in denen verschiedene Gruppierungen um die nationale
Macht kämpften, waren Schauplatz der Auseinandersetzungen der beiden
Weltmächte. Insbesondere die Region um Vietnam, Kambodscha und Korea war
Austragungsort des Kampfes um Dominanz und Einflußsphären.
Die Dekolonialisierung Asiens war bis 1950 abgeschlossen, die Regionen des
westlichen Islams, von Persien (Iran) bis Marokko erlebten eine Zeit der
Volksaufstände, revolutionären Putsche und Massenbewegungen. Besonders
302
303
Hobsbawm, a.a.O., S. 254
Ebd., S. 286
93
Algerien als französische Kolonie erlebte einen Befreiungskrieg, der mit
besonderer Brutalität geführt wurde, da in diesem Land die Verwebungen zwischen
einheimischer Bevölkerung und großen Gruppen von Siedlern aus dem
europäischen Kontinent besonders groß waren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten sich fast alle europäischen Regierungen
auf
Widerstandsmythen.
„Die
Geschichte
der
europäischen
Widerstandsbewegungen ist zu großem Teil Mythologie. Außer in gewissem Maße
in Deutschland haben sich alle Nachkriegsregime und -regierungen im
wesentlichen durch ihre jeweilige Widerstandsgeschichte legitimiert. [...] Über die
europäischen Widerstandsbewegungen müssen zwei Dinge gesagt werden: Erstens
waren sie militärisch völlig unbedeutend (mit Ausnahme vielleicht von Rußland),
bevor sich Italien 1943 aus dem Krieg zurückzog, und ihr Einfluß war nirgendwo
(abgesehen vielleicht von einigen Gebieten auf dem Balkan) entscheidend. Ihre
eigentliche Bedeutung war politischer und moralischer Art. [...] Die zweite
Beobachtung: Der Widerstand, mit deutlicher Ausnahme Polen, neigte sich aus
offensichtlichen Gründen einer linken Politik zu.“304 Kaum ein Regime (die großen
Ausnahmen waren Spanien und Portugal, wo der Faschismus noch Jahrzehnte
überleben sollte) überlebte das Ende des Zweiten Weltkrieges. Am drastischen traf
es Churchill, gegen den die Labour-Party einen Stimmenzuwachs von 50%
verzeichnen konnte.
In Frankreich war das Vichy-Regime gestürzt und de Gaulle kam an die Macht.
Die tatsächliche Bedeutung des Widerstandes um de Gaulle konnte am besten mit
seinen eigenen Worten charakterisiert werden: „Widerstand war ein Bluff, der
gelang.“305 Auch Sartre schätzte die Leistung des Widerstandes ähnlich ein306. Für
ihn war der französische Widerstand lediglich mit der Landung der Alliierten und
den Erfolgen der Roten Armee möglich geworden. Dementsprechend schätzte er de
Gaulle denn auch nicht als den Helden des Widerstandes ein, um den sich später
ein Mythos ranken sollte.307
Für Sartre sollten die folgenden Jahre den Höhepunkt seines Weltruhmes, gekrönt
mit der Ablehnung des Nobelpreises für Literatur, darstellen. Sein Engagement
gegen den Algerienkrieg und gegen die Welt der Blöcke, sollte für eine ganze
Generation prägend sein: Der Existentialismus kam in Mode und Sartre wurde sein
exponiertester Vertreter.
Die deutsche Politik war geprägt vom Wiederaufbau; - eine ernsthafte
Entnazifizierung fand nicht statt. Vielmehr nahm die Adenauer-Regierung die
mythische Homogenität des „völkischen Wir“ in die neue Republik mit hinüber.
In den USA begann die große Welle des Antikommunismus: „Ausschließlich in
den USA, und in keinem anderen demokratischen Staat, war es möglich, daß ein
Präsident aufgrund der Tatsache gewählt werden konnte, daß er ein
304
Ebd., S. 211ff
Gillois, André: Histoire Secréte des Française à Londres de 1940 à 1944, Paris, 1973, S.
164
306
vgl.: Sartre, Jean-Paul: Die Frösche, die einen König haben wollen, in : Sartre, JeanPaul : Wir sind alle Mörder, Reinbeck bei Hamburg, 1988, S. 85
305
307
Ein Mythos, dem die FAZ bis heute anhängt. In der Rezension zum Erscheinen
des Sammelbandes „Plädoyer für die Intellektuellen“ findet sich folgender Beisatz:
„de Gaulle, der im [Sartre] Gegensatz zu ihm ein antifaschistischer Held gewesen
war.“ (siehe: FAZ vom 25.01.1996, Nr. 21 / Seite 31)
94
ausgesprochener Gegner des Kommunismus war (wie John F. Kennedy 1960) –
wobei der Kommunismus in der Innenpolitik dieses Landes etwa ebenso
bedeutungslos war wie der Buddhismus für Irland.“308
Die ersten Schriften Sartres nach dem Krieg kümmerten sich vornehmlich mit der
Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Essays „Überlegungen zur Judenfragen“ und
„Materialismus und Revolution“ beschäftigten sich mit zwei unterschiedlichen
Polen: Mit dem ersten unternahm Sartre den Versuch der Aufarbeitung des
Antisemitismus, während er sich im zweiten kritisch mit dem orthodoxen
Marxismus auseinandersetzte. Aus jener Zeit datierte auch der Text: „Der
Existentialismus ist ein Humanismus“ in dem Sartre eine Wende einschlug und
seinen antihumanistischen Weg aufgab.
In diesen Jahren nahm auch das „Institut für Sozialforschung“ das erste Mal
Kenntnis von Sartre. Mit der Veröffentlichung von „Das Sein und das Nichts“
bekam Sartre, nachdem das Werk schleppend rezensiert wurde, nach 1945 den
Status eines Philosophen von internationalem Rang. Doch als existentialistisches
Werk erregte es das Mißfallen des Instituts: „Obwohl es mir innerlich widerstrebte,
habe ich einen großen Teil der Sartreschen Schrift gelesen … Es handelt sich um
eine neue Art von philosophischer Massenliteratur… […] Alle Begriffe sind
termini technici im buchstäblichen Sinn des Wortes.“309 So urteilte Horkheimer,
der Sartre „für einen Gauner und Taschenspieler“310 hielt. Auch das Urteil
Marcuses, der „Das Sein und das Nichts“ für die Zeitung des Institutes besprach,
fiel nicht viel freundlicher aus.
Während Sartre von den Institutsmitarbeitern abgelehnt wurde, nahm er die
Exilfrankfurter umgekehrt gar nicht zur Kenntnis. Erst im Zuge der 68er Bewegung
hörte er von Herbert Marcuse und äußerte sich wohlwollend. Nach diesen Jahren
trafen sich beide zum ersten Mal und im kleinen Kreis äußerte Marcuse seine
Bewunderung für Sartre311. Und auch von Sartre ist berichtet, daß er den Gedanken
Marcuses durchaus etwas abgewinnen konnte. In einer Rede an der besetzten
Sorbonne am 20. Mai 1968 äußerte er seine leidenschaftliche Zustimmung für
Marcuses Analysen.
Während Sartre Weltruhm erlangte, verebbte Marcuses publizistische Tätigkeit
während seiner Zeit beim Office of Strategic Services (OSS). Lediglich seine
Rezension zu Sartres „Das Sein und das Nichts“ erschien zwischen 1948 und 1955.
Dann erst meldete er sich mit seinem großen Freud-Buch „Eros and Civilasation“
auf der publizistischen Bühne zurück.
Anders Sartre. „Nach dem Scheitern von Socialsme et Liberté hatte er sich doppelt
angestrengt. Seine Bilanz? Zwei Romane, ein Philosophiewerk, zwei
Theaterstücke, elf literarische Artikel, acht Reportagen, drei politische Reportagen
und einen Artikel zum Film, die Briefwechsel, die Notizen, die Tagebucher nicht
mitgezählt… Welches Gebiet konnte sich ihm noch entziehen? Sein Größenwahn,
der die politische Prüfung nicht bestand, hat sich in einem beispiellosen
Schreibhunger niedergeschlagen. Wie bei den Pflanzen, die ungestüm wachsen und
308
Hobsbawm, a.a.O, S. 299
Jay, Martin, a.a.O., S. 320
310
Cohen-Solal, a.a.O., S. 432
311
vgl. Hayman, Ronald: Jean-Paul Sartre, München, 1988, S. 655
309
95
wuchern, sobald man sie stutzt.“312 Neben den diversen schriftstellerischen
Aktivitäten gründete Sartre die Zeitung „Les Temps moderne“. Die Liste der
Mitarbeiter: Aron, Paulhan, Olivier, Merleau-Ponty und natürlich Sartre und de
Beauvoir - des weiteren eine enge Zusammenarbeit mit Camus. Die
Mitarbeiterliste der „Les Temps Modernes“ las sich nicht weniger eindrucksvoll als
die Liste der Autoren der Zeitschrift für Sozialforschung.
Es folgte eine Amerikareise Sartres, die ihm über Camus Zeitung „Combat“
zusammen mit acht weiteren französischen Intellektuellen vermittelt wurde. Die
Namen, die Sartre hier kennenlernte, lesen sich wie das who is who der exilierten
europäischen Intellegenzia.
Zwischen einsamem Subjekt und Engagement: Der
Existentialismus wandelt sich.
Sartres: Der Existentialismus ist ein Humanismus
Am 29. Oktober 1945 hielt Sartre seinen legendären Vortrag „Der Existentialismus
ist ein Humanismus“. Die Ankündigungen und die Werbung für die Veranstaltung
waren spärlich. Man rechnete nicht einmal damit, die Saalmiete wieder
hereinzubekommen313. Doch es kam anders: „Ein beispielloser kultureller Erfolg.
Gedränge, Handgemenge, kaputte Stühle, ohnmächtige Frauen. Die Kasse wurde
gestürmt, zerstört, auseinandergenommen: Ein Verkauf von Eintrittskarten fand
nicht statt. […] Von diesem Tag an und ohne daß irgend jemand damals das
Geheimnis dieses Ansturms zu erklären versuchte, wurde Sartre endgültig eine
öffentliche Person“314
Doch was machte den Erfolg Sartres aus? Was machte ihn zu einem Vorläufer
eines Pop-Star? Zunächst einmal war das Sartresche Werk vielseitig. Wer die
streng philosophische Diskussion von „Das Sein und das Nichts“ nicht verstand,
der konnte die Theaterstücke sehen oder die Romane lesen. Sein Werk bestand aus
verschiedenen Stilmitteln, die für fast jeden Bildungsstand etwas boten. Des
weiteren war Paris nach der Zensur intellektuell ausgehungert, und Sartre bediente
diesen Hunger nach einem neuen Denken. Er prägte das Konzept der literature
engagée, in der bereits vor ihm große französische Autoren standen, wie z.B. Emile
Zola.
Sein Vortrag indes enthielt wenig Neues für all jene, die „Das Sein und das Nichts“
gelesen hatten: Im gros war es der Versuch einer Kurzzusammenfassung von „Das
Sein und das Nichts“. Doch dort wendete Sartre die Begriffe und ein ständiges
Abwägen, Widerlegen und Aufheben der Argumente war das philosophische
Fundament. „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ kam daher wie eine
Lehrsatzsammlung: „Die Existenz geht dem Wesen voraus“, „Der Mensch ist zur
Freiheit verurteilt“ oder „Es gibt keine menschliche Natur“ waren die Sätze, die
sich in die Köpfe der Zuschauer einhämmerten.
Doch jedem wurde klar, daß Sartre es mit seiner Philosophie ernst meinte. Die
„Das Sein und das Nichts“ angekündigte Moral, sollte praktisch gelebt werden. Zu
diesem Zwecke nahm Sartre Vereinfachungen seiner Philosophie in Kauf: „Ist die
312
Cohen-Solal, a.a.O., S. 348
Ebd., S. 391ff
314
Ebd.
313
96
existentialistische tatsächlich vor allem eine Philosophie, die betont: die Existenz
geht dem Wesen voraus, dann muß sie gelebt werden, um wirklich aufrichtig zu
sein. Als Existentialist leben heißt bereit sein, für diese Lehre zu zahlen, und nicht
sie in Büchern durchzusetzen. Wenn Sie wollen, daß diese Philosophie wirklich ein
Engagement ist, müssen Sie den Leuten Rechenschaft davon ablegen, die sie auf
politischer und moralischer Ebene diskutieren. […] Entweder beläßt man die Lehre
auf rein philosophischer Ebene und überläßt es dem Zufall, daß sie etwas bewirkt,
oder man akzeptiert – da die Leute etwas anderes von ihr erwarten und da sie ein
Engagement sein will -, sie zu popularisieren, unter der Bedingung, daß sie nicht
entstellt wird.“315 An dieser Popularisierung sollte Sartre selbst stark mitwirken.
Sie ging sogar soweit, daß er – in einem späteren Text den Existentialismus als
Ideologie bezeichnete.
In weiten Zügen entsprach der Vortrag dem, was Sartre in „Das Sein und das
Nichts“ geschrieben hatte. In zwei Punkten jedoch tauchten feine Unterschiede auf:
Zum einen in der Beurteilung der Geschichte und zum anderen in der Bezeichnung
des Existentialismus als Humanismus. Das Subjekt blieb als freies immer noch
Ein- und Ausgangspunkt der Philosophie, doch das, was Sartre „Situation“ nannte,
wurde nun härter, mächtiger: „Dieses Absolute der Wahl beseitigt nicht die
Relativität einer jeden Epoche. Dem Existentialismus liegt besonders daran, die
Verbindung zu zeigen zwischen dem absoluten Charakter des freien Engagements,
durch das jeder Mensch sich und damit einen bestimmten Typ von Humanität
verwirklicht – eines Engagements, das in jeder Epoche und für jeden verstehbar ist
-, und der Relativität des kulturellen Ganzen, das sich aus solcher Wahl ergeben
kann; man muß zugleich die Relativität des Cartesianismus und den absoluten
Charakter des cartesianischen Engagements festhalten.“316 Anders ausgedrückt:
Sartre wollte auf die uneingeschränkte Freiheit des Subjekts nicht verzichten und
gleichzeitig die gesellschaftlichen Einschränkungen, von denen der Einzelne
betroffen war, aufzeigen.
Sein Humanismus hingegen blieb in seinen intersubjektiven Dimensionen317. Der
Andere als Spiegel des Eigenen blieb die Grundlage allen Handelns – dies mache,
so Sartre, das humanistische Moment aus. Lediglich im Handeln sei der Mensch
wirklich. „Ein Mensch engagiert sich in seinem Leben, zeichnet sein Antlitz, und
außerhalb dieses Antlitz gibt es nichts. Natürlich kann dieser Gedanke jemandem,
dem sein Leben nicht geglückt ist, hart erscheinen. Doch andererseits macht er den
Menschen bereit dafür zu verstehen, daß allein die Wirklichkeit zählt, daß die
Träume, Erwartungen, Hoffnungen einen Menschen nur als enttäuschten Traum,
als fehlgeschlagene Hoffnungen einen Menschen nur als enttäuschten Traum, als
fehlgeschlagene Hoffnungen, als unerfüllte Erwartungen zu definieren erlauben;
das heißt, er definiert sie negativ und nicht positiv.“318
Die starke Moralität, die Sartre geltend machte und an der er auch theoretisch
arbeitete319, war ein zweischneidiges Schwert. Die Philosophie, in deren Mitte sie
sich befand, sollte anthropologisch ausgerichtet sein: „Der Mensch ist zur Freiheit
verurteilt“ meinte, daß die Menschen Ihre Geschichte selber und aus freien Stücken
machen. Doch damit konnten zwei Weltkriege nicht erklärt werden. Die List der
315
Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, a.a.O. S. 143
Ebd., S. 134f
317
vgl. Ebd., S. 133
318
Ebd., S. 131
319
Sein unvollendetes Werk „Cahier pour une moral“ (dtsch. Überlegungen zu einer Moral
[Veröffentlichung in Vorbereitung]) wurde erst posthum veröffentlich.
316
97
Vernunft bestand wenigstens in der Existenz unvernünftiger Kriege. Die
„Relativität des kulturellen Ganzen“ stand in direktem Gegensatz zur Freiheit.
Vor allem anderen war der starke Appell der Verantwortung gegenüber dem
eigenen Handeln, des ständig neuen Erfinden des Einzelnen, der seinen Entwurf
damit auf die gesamte Menschheit transzendierte, ein Ruf nach einer anderen,
besseren gesellschaftlichen Ordnung. Sie nicht zu verwirklichen, fiel in den
Verantwortungsbereich des Menschen, da kein Gott und keine Natur die
Handlungen der Menschen entschuldigten.
Die Problematik des abstrakten, anthropologischen Menschen ging in vielen
Momenten an der historischen Wirklichkeit vorbei. Sicherlich war der Mensch ein
Mensch, doch die Diskriminierungen des kulturellen Ganzen trennten die
Menschen mindestens genauso, wie es die Möglichkeit auf Verbindung gab. Die
Menschen als Jude, als Arbeiter, als Mann und Frau, als Schwarzer, usw. waren –
und sind es noch – durch ihre definitorischen Konzepte darauf festgelegt, in
kulturellen Rollen und Zwängen zu agieren. Der Ausruf, daß der Mensch frei sei,
war also weniger an der tatsächlichen, denn an der möglichen Freiheit des
Menschen ausgerichtet. In späteren Werken sollte Sartre schreiben: „Der Mensch
ist noch nicht.“ Mit dieser Definition wurde dann deutlicher, was Sartres Intention
war: Sein Handeln so einzurichten, daß die Freiheit des Einzelnen die Freiheit
Aller zum Maßstab habe: „Gewiß hängt die Freiheit als Definition des Menschen
nicht von wem anders ab, aber sobald ein Engagement vorliegt, bin ich gezwungen,
gleichzeitig mit meiner Freiheit die der anderen zu wollen, ich kann meine Freiheit
nur zum Ziel machen, indem ich die der anderen zum Ziel mache.“320
Den Argumenten, seiner Gegner, daß der Existentialismus im Verzicht auf Gott
und Natur zu einer Theorie der Angst und der Einsamkeit werde, hielt Sartre
entgegen: „In Wirklichkeit gibt es für den Existentialisten keine andere Liebe als
jene, die gelebt wird, es existiert keine andere Möglichkeit der Liebe als die, die
sich in einer Liebe ausdrückt.“321 Handeln und Denken habe sich an dieser Welt
auszurichten und in ihr Glück zu finden: „der Mensch muß sich selbst wiederfinden
und sich davon überzeugen, daß nichts ihn vor sich selbst retten kann.“322
Vorbereitung des 3. Weges
Sartres: Materialismus und Revolution
Ein Fußnote wurde 1949 dem Aufsatz „Materialismus und Revolution“
hinzugefügt, in der stand: „Da man mir böswilligerweise vorgeworfen hat, Marx in
diesem Aufsatz nicht zu zitieren, betone ich, daß sich meine Kritik nicht gegen ihn,
sondern gegen die marxsche Scholastik von 1949 richtet. Oder anders gesagt,
gegen Marx, wie er vom stalinistischen Neomarxismus dargestellt wird.“323
Das von Sartre diskutierte Problem war das Spannungsfeld zwischen
Materialismus und Idealismus. Dem orthodoxen Marxismus zufolge, so Sartre, sei
die Welt des Denkens und des Bewußtseins durch die materiellen Umstände so
stark geprägt, daß vom tätigen, denkenden Subjekt nichts mehr übrig bleibe.
Dieser, zur Legitimationswissenschaft verkommene Marxismus, sei ein
320
Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, a.a.O., S. 138
Ebd., S. 130
322
Ebd., S. 142
323
Sartre, Jean-Paul: Materialismus und Revolution, in: Gesammelte Werke I,
Philosophische Schriften, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 156
321
98
Materialismus, der in Wahrheit eine „hinter einem Positivismus versteckte
Metaphysik“324 sei. Dem offiziellen Materialismus ginge es darum das Subjekt und
die Subjektivität auszulöschen: „Indem der Materialist seine Subjektivität verneint,
denkt er, sie zum verschwinden gebracht zu haben. Aber die List ist leicht zu
durchschauen: um die Subjektivität zu beseitigen, erklärt sich der Materialist zum
Objekt, das heißt zum Gegenstand der Wissenschaft. Nachdem er aber die
Subjektivität zugunsten des Objekts beseitigt hat, macht er sich – statt sich als Ding
unter Dingen zu sehen, hin- und hergeworfen von der Brandung des physischen
Alls – zum objektiven Blick und behauptet die Natur so zu betrachten, wie sie
absolut ist.“325
Es verwundert nicht, daß der Existentialist Sartre mit dem offiziellen
Materialismus der verschiedenen KPs wenig anfangen konnte, hatte doch das
Subjekt in seiner Philosophie eine so herausragende Stellung inne, daß bei aller
Radikalität – die er mit den französischen Kommunisten teilte – die Verkündung
der Herrschaft des Objekts von ihm nicht so einfach hingenommen werden konnte.
Für Sartre, den Philosophen des Subjekts, den Kantianer war die Behauptung, daß
das Subjekt kaum von Bedeutung sei und die Materie Herr über den Geist sein
solle, unannehmbar. So war es auch nicht verwunderlich, daß Sartre mit dem
Proletariat als Träger der Wahrheit wenig anzufangen wußte: Der Mensch als
abstraktes Wesen war der Akteur der Befreiung, welcher auf den Plan treten sollte.
Der revolutionäre Humanismus, so Sartre, sei nicht die Philosophie einer
unterdrückten Klasse, sondern sei allen, die ein Interesse daran hätten zugänglich.
Am Moment des Hegelschen Vernunftbegriffes begann er seine Kritik. Hegel
erklärte, daß alles was wirklich sei, vernünftig sei und alles was vernünftig sei, sei
wirklich. Dieses Hegelsche Wort, das auch gegen das göttliche Prinzip gerichtet
war, benutze der offizielle Parteimarxismus um damit die sowjetische Praxis zu
legitimieren. Damit war der Vernunft das Eigene, das Subjektive genommen:
„Woher wissen wir also, daß das Wirkliche vernünftig ist, da wir es nicht
geschaffen haben und nur von Stunde zu Stunde einen unendlich kleinen Teil
davon widerspiegeln? […] Wie kann eine gefangene, von außen regierte, von
Ketten blinder Ursachen gesteuerte Vernunft noch einen Vernunft sein?“326 Kurz:
Wer sollte bewerten, was vernünftig sei oder nicht, wenn es kein Subjekt dazu gab?
Vor allem warf Sartre dem Materialismus vor, explikative Metaphysik zu sein.
Darunter verstand er eine besondere Art des Positivismus, der darin bestehe, die
Momente des Subjekts über Naturalisierungen zu erklären: das Psychische erkläre
er durch das Biologische, das Biologische durch das Physikalisch-Chemische,
wodurch er nur noch das Bestehende selbst zu erklären suche
Der Materialismus, so Sartre, habe religiöse Formen angenommen: „Ich habe
Bekehrungen zum Materialismus erlebt: man tritt zu ihm wie zu einer Religion; ich
würde ihn als die Subjektivität jener definieren, die sich ihrer Subjektivität
schämen.“327 Die Geschichte als Endziel trete an die Stelle Gottes und mit dem
großen Kampf um ihr Endziel, werde das Subjektive getilgt.
Doch neben dieser Kritik am religiösen Element des Materialismus, lieferte er auch
eine Kritik – der Frankfurter Schule nicht ganz unähnlich – an der Entfremdung.
Der Materialismus, so Sartre, übernehme die Momente der entfremdeten Arbeit
324
Ebd., S. 159
Ebd., S. 160
326
Ebd. S. 160f
327
Ebd., S. 174
325
99
zum Zwecke deren Verewigung. Er biete dem Arbeiter an, dieselbe Arbeit, nur
ohne materielle Unterdrückung, in gleichem Maße weiterzuführen. Der
Materialismus biete dem Arbeiter also lediglich eine weiter „entfremdete Freiheit“
an – also keine wirkliche Alternative.
Spurk merkte dazu an: „In der Arbeit gewinnt der Unterdrückte eine richtige
Vorstellung seiner Freiheit, die sich in seiner Situation manifestiert. Er gewinnt in
der ‘Tiefe seiner Sklaverei‘ (Sartre) und in der Aktion das Bewußtsein seiner
Freiheit, daß er diesen Zustand durch ein Projekt überwinden kann. Der
Materialismus ist hierfür eine untaugliche Theorie. Der Sozialismus ist die
Herrschaft der Freiheit, die der Materialismus nie erreichen kann. Sartre kommt
immer wieder auf die Unfähigkeit des Materialismus zurück, eine revolutionäre
Theorie zu sein. Seine Forderung die neue revolutionäre Theorie zu sein, ist
explizit. Der Sozialismus ist die Affirmation der Freiheit, das Projekt der
Menschheit, und deshalb wird er nur das sein, was die Menschen daraus
machen.“328 Kurz: Sartre wandte sich gegen die Verherrlichung der Arbeit. Worin
unterschied sich der real existierende Sozialismus von seinem Gegner im Westen,
wenn der reale Alltag eines Arbeiters keinen Unterschied machte - es faktisch egal
war für welches Regime er arbeitete? Das Revolutionäre am Materialismus fehle,
nämlich als tätige, denkende Überschreitung der gegenwärtigen Verhältnisse aktiv
zu werden. Dieses idealistische Moment der Utopie mache die Theorie zur
revolutionären. Dagegen predige der Materialismus die Kritiklosigkeit: „Doch es
geht darum für alle auf das Recht der freien Kritik, auf die Evidenz, schließlich auf
die Wahrheit zu verzichten. Man sagt mir: all das wird uns später zurückgegeben;
dafür fehlt jedoch der Beweis. Wie könnte ich einem Versprechen glauben, das mir
im Namen von Prinzipien gegeben wird, die sich selbst zerstören? Ich weiß also
nur eins: heute noch soll mein Denken abdanken.“329
Der tatsächliche Revolutionär zeichne sich durch anderes aus, nämlich durch die
Überschreitung seiner Situation. Er überschreite sich, so Sartre, auf eine „radikal
neue Situation hin“330, die er als „Totalität zur Existenz“ bringe. Anders
ausgedrückt: Der echte Revolutionär sei in der Lage über die gegenwärtige
Entfremdung hinauszugehen und in seinen Taten dieses Bewußtsein umzusetzen.
Nicht die Verherrlichung und Verewigung der Arbeit sei sein Ziel, sondern
vielmehr die Überschreitung des historischen Zustandes hin zu einer
lebenswerteren Gesellschaft.: „So entzieht er sich von Anfang an – durch diesen
Entwurf seiner selbst auf die Zukunft hin – der Gesellschaft, die ihn erdrückt, und
wendet sich ihr zugleich zu, um sie zu verstehen: er sieht eine menschliche
Geschichte, die eins ist mit dem Schicksal des Menschen, und deren von ihm
angestrebte Veränderung wenn nicht das Ziel, so doch eine wesentliche Etappe
dahin ist.“331
Unerträglich sei, so Sartre, die Reduktion des Arbeiters auf eine Sache: „Strenger
als der Herr im Altertum geht der Unternehmer soweit, die Handgriffe und das
Verhalten des Arbeiters im voraus festzulegen. Er zerlegt die Handlung des
Arbeiters in Elemente, nimmt ihm bestimmte weg, um sie von anderen Arbeitern
ausführen zu lassen, reduziert die bewußte und synthetische Aktivität des Arbeiters
darauf, nur noch die Summe unendlich wiederholter Handgriffe zu sein. Auf diese
328
Spurk, Jan: Bastarde und Verräter, Jean-Paul Sartre und die französischen
Intellektuellen, Bodenheim, 1998, S. 399
329
Sartre, Jean-Paul: Materialismus und Revolution, a.a.O., S. 181
330
Ebd., 185
331
Ebd., S. 185
100
Weise setzt er den Arbeiter auf den Zustand einer bloßen Sache herab, indem er
seine Verhaltensweisen und Eigenschaften gleichsetzt.“332
Doch sogar in der Entfremdung steckten für Sartre konkret befreiende Momente,
„weil sie zuerst Negation der kontingenten und launenhaften Ordnung ist, die die
Ordnung des Herren ist. Bei der Arbeit muß sich der Unterdrückte nicht mehr
bemühen, dem Herren zu gefallen, er entzieht sich der Welt der Tänzchen, der
Höflichkeit, der Zeremonie, der Psychologie; er braucht nicht mehr zu erraten, was
hinter den Augen des Chefs vorgeht, er ist nicht mehr seinen Launen ausgeliefert
[...] Anders gesagt: der Determinismus der Materie ist es, der ihm das erste Bild
seiner Freiheit bietet.“333
Die Wandlung im Sartreschen Werk nahm ihren Lauf: Zwar blieb der Einzelne zur
Freiheit verurteilt, doch neben dem Freiheitsbegriff auf der Ebene des Subjekts
kam ein, wenn auch nicht ausformulierter Begriff der politischen Unfreiheit hinzu.
In Sartres Worten ausgedrückt: Die Freiheiten selbst sei entfremdet334. Und auch
seine stete Forderung nach dem geschichtlichen Moment bekam konkrete Züge.
Über den ersten Weltkrieg schrieb er: „Der Erste Weltkrieg ist nicht, wie Chevalier
sagte, »Descartes gegen Kant«, es ist der unsühnbare Tod von zwölf Millionen
junger Männer.“335 Sartre begann sich mit der wirklich konkreten Geschichte
auseinanderzusetzen. Seine Philosophie und seine politischen Texte wiesen
allerdings noch ein Mißverhältnis auf. Während der Sartre der politischen Texte
immer mehr auf den Marxismus zusteuerte, blieb der philosophische Sartre dem
starken Subjekt treu. Besonders in der Zeit, da „Der Existentialismus ist ein
Humanismus“ und „Materialismus und Revolution“ geschrieben wurden, hinkte
der philosophische dem politischen Text hinterher. Deutlich war in jedem Falle:
Sartre befand sich im Übergang. Mit seinem „Ja“ zur Philosophie von Marx und
seinem „Nein“ zum Materialismus der Stalinisten betrat er den 3. Weg zwischen
autoritärem Staatssozialismus und real existierender bürgerlicher Demokratie.
Entgegen und gemäß Marx 11. Feuerbachthese, die besagte, daß die Philosophen
die Welt nur interpretiert haben, es aber darauf ankomme sie zu verändern, schrieb
Sartre: „Indem man die Welt verändert, kann man sie erkennen. [...] Es kann
jedoch mancherlei Barbarei und mancherlei Sozialismus geben, vielleicht sogar
einen barbarischen Sozialismus.“336 Veränderung und Erkenntnis stellten sich
demnach in einem, sich gegenseitig bedingenden Prozeß dar. Sein Credo, daß nur
die Tat zu beurteilen sei, wandte er auf die kommunistische Partei Frankreichs an.
Ihr bescheinigte er zwar das richtige zu tun, doch mit einer falschen Theorie. Die
Gefahr, daß „der Materialismus den revolutionären Entwurf erstickt“337 sei groß,
wenn die Kommunisten nicht umdenken würden. Mit dieser Einschätzung sollte er
recht behalten.
332
Ebd., S. 197
Ebd., S. 198
334
Ebd., S. 200
335
Ebd., S. 205
336
Ebd., S. 212
337
Ebd., S. 215
333
101
Gesellschaftlicher Zwang und freie Wahl: Portrait des
Antisemitismus
Sartres: Überlegungen zur Judenfrage
„Kein Franzose wird frei sein, solange die Juden nicht im Besitz ihrer vollen
Rechte sind. Kein Franzose wird in Sicherheit sein, solange noch ein Jude in
Frankreich und in der ganzen Welt um sein Leben fürchten muß.“338 Mit diesen
eindringlichen Worten ließ Sartre seinen Essay „Überlegungen zur Judenfrage“
enden. In ihm analysierte Sartre das erste Mal ein tatsächliches, historisches
Phänomen. Die Wende im sartreschen Denken setzte sich fort: Das Engagement
und die Analyse wurden konkret. Ähnlich wie Marcuse, trat nun auch Sartre in den
Kampf gegen die wirkliche Unterdrückung mit den Waffen des Intellektuellen ein.
Mit den „Überlegungen zur Judenfrage“ gelang Sartre einer seiner stärksten Texte.
Vincent von Wroblewsky wies darauf hin, daß Sartres Text eine Verwandtschaft „–
bis in Wort und Bild –“ mit Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ erkennen ließ339.
Kein Subjekt war frei, solange ein Jude um sein Leben fürchten müsse. Wie war
ein solcher Freiheitsbegriff mit dem individualistischen aus „Das Sein und das
Nichts“ vereinbar? Es waren andere Töne zu hören als: Jeder Mensch hat frei zu
wählen.
Um einen Begriff von politischer Freiheit benutzen und trotzdem an der freien
Wahl des einzelnen festhalten zu können, stärkte Sartre den Begriff der Situation
erneut: „Da er [der Jude, S.O.C.] wie jeder Mensch, eine Freiheit in Situation ist,
muß man seine Situation von Grund auf verändern: es genügt in der Tat, die
Perspektiven der Wahl zu ändern, damit die Wahl sich verändert; nicht, daß man
dann Zugang zur Freiheit fände; aber die Freiheit entscheidet dann auf anderer
Grundlage, hinsichtlich anderer Strukturen.“340 Sartres Konzeption vom freien,
ungebundenen, die Welt hervorbringenden Subjekt wandelte sich nun dahingehend,
daß er den „stummen Zwang der Verhältnisse“ (Marx) anerkannte und ihn als für
die Wahl des Subjekts verantwortlich zeichnete.
Besonders in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sah er – ähnlich wie die
Frankfurter Schule – die Wurzeln des Antisemitismus: „Deshalb wird in einer
klassenlosen auf das kollektive Eigentum an den Arbeitswerkzeugen begründeten
Gesellschaft, in der der Mensch, befreit von den Wahnvorstellungen der Vorzeit,
sich endlich in seine Unternehmen stürzen wird, die darin besteht, das Reich des
Menschen anbrechen zu lassen, der Antisemitismus keinerlei Daseinsgrund mehr
besitzen: man wird seine Wurzeln gekappt haben.“341
Doch Sartres Position konnte keinesfalls als eine verstanden werden, die den
Antisemitismus zum blanken Nebenwiderspruch der Produktionsordnung
degradierte. Es sei, so Sartre, „eine faule Lösung der künftigen Revolution die
Klärung der Judenfrage zu überlassen.“342 Statt dessen nahm Sartre die Position
Richard Wrights ein, der über die USA sagte: „Es gibt kein schwarzes Problem in
den Vereinigten Staaten, es gibt nur ein weißes Problem.“ Folgerichtig begrüßte
338
Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 91
Von Wroblewsky, Vincent: Sartres jüdisches Engagement – die Vorgeschichte, in:
Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 267
340
Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 89
341
Ebd., S. 89
342
Ebd.
339
102
Sartre auch die Gründung des Staates Israel mit folgenden Worten: „Für die Juden
ist es die Krönung ihrer Leiden und ihres heroischen Kampfes; für uns bezeichnet
es einen konkreten Fortschritt hin zu einer Menschheit, in der der Mensch die
Zukunft des Menschen sein wird.“343
Doch wie verband Sartre das selbständig entscheidende Subjekt mit den objektiven
Zwängen, die die Juden durch den Antisemitismus erleiden mußten? Keinesfalls
war Sartre völlig umgeschwenkt. Den objektiven Verhältnisse einen Stellenwert
einzuräumen, die das Subjekt präformierten - wie bei Marcuse -, davon war Sartre
weit entfernt. Trotzdem bekamen sie einen deutlich schwerwiegenderen Teil
zugesprochen als in all seinen vorherigen Werken.
So lag es nah die Subjekte zu beleuchten, die als Protagonisten auf den Plan traten:
Den Antisemiten und den Juden. Er begann mit einem Phantombild des
Antisemiten. Dieser war für Sartre ein Mensch der Leidenschaft, der einem
Manichäismus folgte. Mit der Entscheidung für den Manichäismus sei für den
Antisemiten kein Ausgleich denkbar. Das Böse müsse um den Preis des Guten
vernichtet werden. Die Aufgabe des sich durch den Manichäismus zum
Antisemitismus Entscheidenden bestehe darin, daß es nicht darum gehe „eine
Gesellschaft aufzubauen, sondern nur darum die bestehende zu reinigen. [...] So
wird der Kampf auf religiöser Ebene geführt, und sein Ende kann nur die heilige
Vernichtung sein.“344 Der Antisemit sei ein Positivist in dem Sinne, daß er das
Böse entfernen wolle, weil es das Gute für schon gegeben hielte. Dies mache ihn
zum „Sicherheitsventil für die herrschende Klasse [...], die ihn fördern und somit
den ihr Regime gefährdenden Haß durch einen für sie harmlosen Haß gegen den
einzelnen ersetzen.“345
Die tiefen Beweggründe des Einzelnen für den Antisemitismus erklärte Sartre
psychologisch: „Eine Komponente des Hasses ist ein tiefer und sexueller Hang zu
den Juden.“346 Dies war insofern erstaunlich, da Sartre sich hier auf Freudsches
Terrain wagte347. Für Sartre bestand diese sado-masochistische Komponente des
Antisemitismus als bewußte – im Gegensatz zur Freudschen Psychoanalyse. Doch
fällt es schwer dies als allseits bewußte Momente zu deuten, besonders wenn Sartre
darauf insistierte, das auch in der Literatur, das von ihm beobachtete Phänomen
sein Pendant fände: „Von Rebekka aus Ivenhoe bis zur Jüdin von Giles über die
Jüdinnen von Ponson du Terrail haben die Jüdinnen in den seriösesten Romanen
eine wohl definierte Funktion: häufig vergewaltigt und geschlagen, gelingt es ihnen
mitunter, durch den Tod der Schande zu entgehen, aber nur mit knapper Not; und
die ihre Tugend bewahren, dienen untertänig oder lieben gedemütigt gleichgültige
Christen, die sich mit Arierinnen vermählen. Mehr braucht es nicht, meine ich, um
den sexuellen Symbolwert der Jüdin in der Folklore zu charakterisieren.“348
343
Sartre, Jean-Paul: Geburt Israels, in: Sartre, Jean-Paul: Krieg im Frieden I, Reinbek bei
Hamburg, 1982, S. 19
344
Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 29
345
Ebd., S. 30
346
Ebd., S. 31
347
Im selben Jahr der Veröffentlichung der „Überlegungen zur Judenfrage hielt Sartre vor
der Sociéte Française de Philosophie einen Vortrag (Selbstbewußtsein und
Selbsterkenntnis, in: Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I) in dem er nochmals
seine Position vom fehlenden Unterbewußten gegen Freud bekräftigte.
348
Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 33
103
Erstaunlich war die methodische Ähnlichkeit zwischen Sartre und Marcuse – bei
Beiden spielte die Analyse der Literatur bzw. der Kunst eine herausragende Rolle.
Doch scheinbar spürte auch Sartre, daß seine Psychologie nicht ohne das Moment
der Verdrängung auskam. Über den Antisemiten schrieb er abschließend: „Er ist
ein Mensch der Angst hat. Nicht vor den Juden, gewiß: vor sich selbst, vor seinem
Bewußtsein, vor seiner Freiheit, vor seinen Trieben, vor seiner Verantwortung, vor
der Einsamkeit, vor der Veränderung, vor der Gesellschaft und der Welt; vor allem
außer den Juden. Er ist ein Feigling, der sich seine Feigheit nicht eingestehen will;
ein Mörder, der seine Mordlust verdrängt und zensiert, ohne sie zügeln zu können,
und der trotzdem nur in effigie oder in der Anonymität einer Menge zu töten wagt;
ein Unzufriedener, der sich nicht aufzulehnen wagt aus Angst vor den Folgen
seiner Auflehnung. Indem er sich zum Antisemitismus bekennt, übernimmt er nicht
einfach eine Meinung, sondern wählt sich als Person.“349
Verdrängung, Angst und freie Wahl vermischten sich bei Sartre immer mehr, doch
erst in seinen explizit psychologischen Studien über Baudelaire und Jean Genet
sollte er seine psychologische Technik verfeinern. Vorerst wählte er eine Methode
mit der er das gesellschaftliche Ganze aufzeigte, um danach auf die Wahl des
Subjekts in der historischen Situation einzugehen.
Nachdem Sartre die Situation des Antisemiten analysiert hatte, betrachtete er nun
die des Juden. Da im Sartreschen Werk die Natur zwar existierte, aber keine Rolle
spielte, mußte er das Phänomen erklären, daß es einen Antisemitismus gab, aber
eben keinen Juden an-sich. Sartre schrieb: „Wenn ich wissen will, wer der Jude ist,
muß ich, da er ein Wesen in Situation ist, zunächst seine Situation über ihn
befragen. [...] Ich leugne nicht, daß es eine jüdische Rasse gibt. Doch wenn wir
unter Rasse diesen undefinierbaren Komplex verstehen, in den man kunterbunt
somatische Merkmale und intellektuelle Merkmale hineinpackt, glaube ich daran
nicht mehr als an das Tischrücken.“350 Ein Jude konnte also in der Sartreschen
Konzeption gar nichts anderes darstellen als eine soziale Konstruktion: „In
Wahrheit hat jedes Land seine Juden, und unsere Vorstellung von Juden entspricht
nicht der unserer Nachbarn.“351 Wenn also so etwas wie eine jüdische Substanz
bestehe, dann in der Ablehnung des Juden. Sartre konstatierte: „Weder ihre
Vergangenheit noch ihre Religion, noch ihr Boden vereinen die Söhne Israels.
Wenn sie ein gemeinsames Band haben, wenn sie alle den Namen verdienen, so
weil sie eine gemeinsame Situation als Juden haben, das heißt in einer Gesellschaft
leben, die sie für Juden hält.“352
Sartre bot als Beleg dieser These die Schaffung des Juden durch die mittelalterliche
Kirche, wo Juden eine ökonomische Funktion ersten Ranges belegten: „Verflucht,
übten sie einen verfluchten, aber unentbehrlichen Beruf aus; da sie weder Boden
besitzen noch in der Armee dienen durften, erledigten sie die Geldgeschäfte, mit
denen Christen sich nicht beschmutzen durften. Auf diese Weise kam zum
ursprünglichen Fluch bald ein ökonomischer Fluch hinzu, und dieser wirkte fort.
[...] So ist es auch nicht übertrieben zu sagen, daß die Christen den Juden
erschaffen haben, indem sie seine Assimilation jäh unterbrachen und ihm eine
349
Ebd., S. 35
Ebd., S. 39
351
Ebd.
352
Ebd., S. 43
350
104
Funktion aufzwangen, in der er sich seitdem hervorgetan hat.“353 Der Jude als
soziale Konstruktion wurde durch den Anderen erschaffen. Hier zeigte sich die
Kontinuität zu Sartres Begriff des Anderen aus „Das Sein und das Nichts“, mit der
Veränderung, daß der Andere nun nicht mehr ein Subjekt darstellte, sondern auf
der Objekt-Ebene von Gesellschaft funktionierte.
Nachdem Sartre festgestellt hatte, daß der Antisemit den Juden machte, verwies er
auf den „lausigen Umgang“ der Franzosen mit dem Antisemitismus nach der
Befreiung vom Nazi-Regime: „Ganz Frankreich jubelt, auf den Straßen verbrüdert
man sich, die sozialen Kämpfe scheinen vorläufig vergessen; die Zeitungen
widmen ganze Spalten den Kriegsgefangenen, den Deportierten. Erwähnt man die
Juden? Feiert man die Rückkehr der Überlebenden, gedenkt man einen Augenblick
derer, die in den Gaskammern von Lublin starben? Kein Wort. Keine Zeile in den
Tageszeitungen. Denn man darf die Antisemiten nicht reizen. Mehr denn je braucht
man in Frankreich die Einheit.“354 Diese „mythische Homogenität“ (Claussen)
sollte auch zum Gründungskonsenz des neuen Deutschlands werden und die
„Adenauerzeit“ prägen.
Sartre rechnete mit dem „demokratischen Frankreich“ ab. „Ein lethargisch
gewordenes Frankreich bekam eine innere, lang gereifte Wahrheit, eine Sartresche
Evidenz ins Gesicht geschleudert“355, so Cohen-Solal. Der Demokrat, der den
Juden verteidige, so Sartre, befürchte „es könne beim Juden ein «jüdisches
Bewußtsein» erwachen, das heißt ein Bewußtsein jüdischer Kollektivität, wie er
beim Arbeiter das Erwachen des «Klassenbewußtseins» fürchtet. Seine
Verteidigung besteht darin, die Individuen davon zu überzeugen, daß sie in
isoliertem Zustand existieren. «Es gibt keine Juden», sagt er, «es gibt keine
Judenfrage»“356 Sartre konstatierte auch dem liberalsten Demokraten einen
Antisemitismus, sobald es dem Juden einfalle sich als Juden zu denken. Der Jude
stehe in der Situation, so Sartre, daß er „leidenschaftliche Feinde und
leidenschaftslose Verteidiger“ habe.
So stellte die Naziverordnung, mit der Juden gezwungen wurden, einen gelben
Stern zu tragen, für Sartre auch nichts anderes als eine bereits gegebene Situation
dar – nur auf die Spitze getrieben. Sartre verglich die Situation der Juden mit der
des Helden in Kafkas Prozeß. „[...] wie der Held des Romans ist der Jude in einen
langen Prozeß verwickelt, er kennt seine Richter nicht, seine Anwälte kaum besser,
er weiß nicht, was man ihm vorwirft, und dennoch weiß er, daß man ihn für
schuldig hält; das Urteil wird ständig um acht Tage, um vierzehn Tage verschoben,
er nutzt das, um sich auf tausenderlei Weise zu schützen; doch jede seiner blind
getroffenen Vorsichtsmaßnahmen zieht ihn ein wenig tiefer in die Schuld hinein;
seine äußere Situation mag glänzend scheinen, doch dieser endlose Prozeß höhlt
ihn unsichtbar aus, und es geschieht manchmal wie im Roman, daß ihn Männer
unter dem Vorwand, er hätte seinen Prozeß verloren, packen, mitschleppen und ihn
auf freiem Feld außerhalb der Stadt umbringen.“357
Dies war also die Situation des Juden. Wo blieb da noch das Moment des
Subjektiven, der „freien“ Wahl? Doch Sartre wäre nicht Sartre, wenn er nicht auch
darauf hätte antworten können. Die Wahl des Juden, so Sartre, bestehe darin zu
wählen, ob er ein „authentischer Jude“ oder ein „unauthentischer Jude“ sei. Doch
353
Ebd., S. 43f
Ebd., S. 45
355
Cohen-Solal, Annie: Sartre, a.a.O., S. 448
356
Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 37
357
Ebd., S. 55
354
105
sehr groß war das Spektrum der Wahl nicht. Ein unauthentischer Jude sei, so
Sartre, jemand der „von anderen Menschen für einen Juden gehalten wird, und der
gewählt hat, vor dieser unerträglichen Situation zu fliehen.“358
Wie Sartre selbst schrieb: Die Situation war unerträglich. Die gesellschaftlichen
Zwänge aufs Subjekt hatten in dieser Konstellation einen Grad erreicht, der auch
für den Philosophen der Freiheit des Subjekts nicht mehr auszuhalten war. Dieser
gesellschaftliche Zwang, sei dafür verantwortlich, daß „viele unauthentische Juden
spielten, sie seien gar keine Juden.“359 Doch auch diese Wahl sei durch die sie
umgebende Gesellschaft zum Leid verurteilt. Mehr noch: Durch die Wahl NichtJude zu sein, existiere sogar ein Antisemitismus des unauthentischen Juden, der
darin bestehe, alles, was andere als jüdisch ansehen könnten, abzulegen. „Der
Antisemitismus des unauthentischen Juden und sein Masochismus stellen
gewissermaßen die beiden Extreme seiner Bemühungen dar: in der ersten Haltung
geht er soweit, seine Rasse zu verleugnen, um rein individuell, nur noch ein
Mensch ohne Makel inmitten von anderen Menschen zu sein; in der zweiten
verleugnet er seine Freiheit als Mensch, um der Sünde zu entkommen, Jude zu
sein, und um die Ruhe und Passivität des Dinges zu erlangen.“360 Durch den
Aufbau eines unmenschlichen Antisemitismus, der den Anderen zum Juden mache,
sei der Nationalsozialismus nicht nur ein deutsches Phänomen: „[...] das von den
Nazis vergossene Blut fällt zurück auf das Haupt eines jeden von uns.“361
Was der authentische Jude sei, so Sartre, sei nicht zu sagen: „er ist, wozu er sich
macht, mehr ist nicht zu sagen.“362 Doch sei auch die Wahl zum authentischen
Juden, so Sartre, keine Lösung – weder individuell noch gesellschaftlich. Die
einzige Lösung bestehe darin, den Antisemitismus abzuschaffen.
Als praktische, reale Politik sprach Sartre sich für einen konkreten Liberalismus
aus, der zuallererst von einer Rechtsgleichheit ausgehe. „Was wir hier vorschlagen,
ist konkreter Liberalismus. Darunter verstehen wir, daß alle, die durch ihre Arbeit
zur Größe eines Landes beitragen, volle Bürgerrechte in diesem Land genießen.“
Doch dieses Mittel sei, so Sartre, begrenzt: „Machen wir uns jedoch keine
Illusionen über die Wirksamkeit dieser Maßnahmen: Gesetze haben den
Antisemiten nie gestört und werden ihn nie stören, weil er das Bewußtsein hat,
einer mythischen Gesellschaft außerhalb der Legalität anzugehören.“363 Die
gesellschaftlichen Bedingungen selbst, aus denen der Antisemitismus entstehe,
müßten beseitigt werden. Dabei betonte Sartre, daß der Antisemitismus ein
Element des Klassenkampfes sei: „Wir stellen fest, der Antisemitismus ist eine
leidenschaftliche Anstrengung, die nationale Einheit gegen die Spaltung der
Gesellschaft in Klassen zu verwirklichen. Man versucht die Fragmentierung der
Gemeinschaft in feindliche Gruppen zu beseitigen, indem man die gemeinsamen
Leidenschaften derart erhitzt, daß sie die Schranken zum Schmelzen bringen. Und
da die Spaltungen fortbestehen, weil ihr ökonomischen und sozialen Ursachen
nicht angetastet wurden, versucht man sie alle in eine einzige zu bündeln: die
Unterscheidungen zwischen Reichen und Armen, zwischen arbeitenden und
besitzenden Klassen, zwischen legalen und okkulten Mächten, zwischen Stadt und
358
Ebd., S. 57
Ebd., S. 59
360
Ebd., S. 67
361
Ebd., S. 82
362
Ebd., S. 83
363
Ebd., S. 88
359
106
Land usw. faßt man alle zusammen als Juden und Nichtjuden.“364 Kurz: Sartre sah
im Antisemitismus ein Ventil des Klassenkampfes von oben. Durch die
Beseitigung der gesellschaftlichen Grundlagen des Antisemitismus, der
Gesellschaft der Klassen, gebe es kein Fundament mehr, auf dem der
Antisemitismus bauen könnte. Mit dieser Erkenntnis verknüpfte Sartre den Kampf
gegen den Antisemitismus als Kampf für das Subjekt selbst, daß „wir für den Juden
kämpfen müssen, nicht mehr und nicht weniger als für uns selbst.“365
Nicht zuletzt zeigte die historische Erfahrung, daß die Nationalsozialisten neben
dem Holocausts auch eine Millionen Kommunisten, Sozialdemokraten,
Anarchisten und Psychoanalytiker ermordeten. Deshalb konnte Sartre zu Recht
schreiben, keiner sei frei, solange noch ein Jude in der ganzen Welt um sein Leben
fürchten müsse.
Die „Überlegungen zur Judenfrage“ entstanden in einem langen Prozeß. Acht Jahre
brauchte er, bis die ersten Entwürfe in den endgültigen Text mündeten. Mit diesem
verließ Sartre das Terrain des Philosophen der reinen, ungebundenen, freien Wahl.
Die Originalität der Sartreschen Texte sollte von nun an darin bestehen, daß er
sorgfältige gesellschaftliche Analysen mit der Analyse der Subjektivität verband.
Wie entschieden sich Subjekte unter den gegebenen gesellschaftlichen
Verhältnissen? Die Frage, ob sie in anderen Gesellschaften anders entschieden, war
mit Ja beantwortet. Darauf schloß sich eine neue Frage an: Wie seien
Gesellschaften einzurichten, um die Subjekte zu anderen Entscheidungen zu
bringen? Sartres Philosophie sollte von nun an eine Dialektik von Subjekt und
Objekt in konkretem Sinne von Individuum und Gesellschaft in sich aufnahmen.
Die Unterscheide zwischen Sartre und Marcuse sollten dadurch geringer werden,
doch in einem Punkt blieben sie immer von einander entfernt: hinsichtlich der
Psychoanalyse.
Exemplierte existentialistische Psychoanalyse
Sartres: Baudelaire
Bereits in „Das Sein und das Nichts“ entwickelte Sartre die Grundzüge seiner
eigene Variante der Psychoanalyse. Angelegt an Husserl nannte Sartre seine
Spielart „existentialistische Psychoanalyse“. Mit der an Sartre gerichteten Bitte ein
Vorwort zu den „ecrits intimes“ von Baudelaire zu schreiben, war es 1947 für ihn
möglich seine existentialistische Psychoanalyse anhand einer Biographie
anzuwenden. Zwar hatte er in „Das Sein und das Nichts“ angekündigt über
Flaubert und Dostojewski schreiben zu wollen, doch Baudelaire schien dafür
ebenso geeignet. Es sollte die erste von vielen Biographien werden.
„Aber die Konkretion verlangt, in verschiedener Hinsicht über ‚Das Sein und das
Nichts‘ hinauszugehen. Etwa wenn es darum geht, das Ich, die Person, das
Individuum, das Subjekt – Begriffe, die bei Sartre zum Teil durcheinanderlaufen –
näher zu bestimmen.“366 So urteilte Van Rossum über Sartres Baudelaire.
Angemerkt sei, daß all diese Begriffe auch bei Sartre immer Verhältnisbegriffe
364
Ebd., S. 88f
Ebd., S. 90
366
Van Rossum: Sich verschreiben. Jean-Paul Sartre 1939-1953, a.a.O., S. 151
365
107
darstellten, die in einem immanenten Bezug zu einander standen. So war das
„durcheinandergeraten“ meist beabsichtigter als eine klare Trennlinie zwischen
ihnen zu ziehen.
Am Anfang des Buches stand die Analyse der Kindheit Baudelaires und seine
daraus resultierende „Urwahl“. Kindheit spielte bei dieser Untersuchung eine
wichtige Rolle: Im Gegensatz zu „Das Sein und das Nichts“, bei dem man das
Gefühl bekommen konnte, daß die Menschen als kleine Erwachsene auf die Welt
kamen, stand beim „Baudelaire“ das Suchen und Forschen nach den
Beweggründen, warum sich Baudelaire zu dem gemacht hatte, der er gewesen war,
im Vordergrund. Sartre suchte nach Urerlebnissen, Urbrüchen. Und er wurde
fündig. In der zweiten Ehe von Baudelaires Mutter sah er den Riß („fêlure“) in
Baudelaires Leben. Dieser wurde als Kind kurzerhand in ein Heim abgeschoben
und hier kam es zum Initalerlebnis: „Er hat die Einsamkeit für sich gefordert, damit
sie wenigstens von ihm selber komme und ihm nicht auferlegt werde. Infolge der
jähen Enthüllung seiner individuellen Existenz hat er empfunden, daß er ein
anderer war, aber zur gleichen Zeit hat er in Demütigung, Groll und Stolz diese
Alterität auf sich genommen und bejaht. Von nun an hat er sich mit trotziger
Aufwallung zu einem Anderen gemacht: anders als seine Mutter, mit der er eins
war und die ihn zurückgestoßen hat, anders als seine sorglosen, rohen Kameraden.
Er fühlt sich, er will sich einzigartig fühlen, einzigartig bis zum äußersten Genuß
des Alleinseins, bis zum Entsetzen.“367 Sartre analysierte also die äußeren
Umstände, um davon die Situation, in der Baudelaire entschied, zu rekonstruieren:
Freiheit in Situation, wie Sartre es nannte.
Überhaupt hatte Sartre Vorgehensweise mehr mit Freund gemeinsam, als er
wähnte. Die Bedeutung der Kindheit als Basis für die Ausprägung des späteren
Charakters verband beide mehr, als das es sie trennte. Doch Sartre insistierte
weiterhin darauf, daß es kein Unbewußtes gäbe - nichts desto trotz analysierte er
Baudelaire als jemanden, dem seine eigene Wahl nicht bewußt war: „Die Wahl
seiner selbst, die er getroffen hat, ist viel tiefer in ihm verwurzelt. Er selbst kann sie
nicht erkennen, weil er ja eins mit ihm ist.“368 Als bekäme Sartre Angst vor seiner
eigenen Analyse, fügte er schnell hinzu: „Deshalb darf man aber eine freie Wahl
dieser Art noch lange nicht jenen dunklen chemischen Vorgängen gleichsetzen,
welche die Psychoanalyse in den Bereich des Unbewußten verweisen. Baudelaires
Wahl: das ist sein Bewußtsein, das ist sein wesentlicher Entwurf. In gewissem
Sinne ist er also von ihr so durchdrungen, daß sie gleichsam seine eigene
Transparenz ist.“369 Sartre wandte sich also nicht mehr wie in „Das Sein und das
Nichts“ gegen unbewußte Vorgänge überhaupt, sondern gegen biologische
Zuschreibungen im Bereich des Psychischen. Zwar insistierte er auch schon in
„Das Sein und das Nichts“ darauf, daß die Menschen sich ihrer Freiheit in Situation
nicht immer bewußt seien, doch in den Baudelaireanalysen bekam die Kindheit
einen wichtigeren Stellenwert. Auch der Ödipuskomplex fand Eingang in Sartres
Vokabular. Baudelaire sei ein solcher „nicht schwer nachzuweisen“370.
Mit der Urwahl führte Sartre einen neuen Begriff in seine existentialistische
Psychoanalyse ein, der dem Unbewußten noch am nächsten kam. Doch im
367
Sartre, Jean-Paul: Baudelair, Reinbek bei Hamburg, 1997, S. 16f
Ebd., S. 53f
369
Ebd., S. 54
370
Ebd., S. 38
368
108
Gegensatz zum Unbewußten, das Sartre zu nah an der Biologie stand, war sein
Begriff von einer immanenten Erkennbar- und Veränderbarkeit durchzogen.
Konkret auf Baudelaire angewandt, resümierte Sartre: „Das Thema kennen wir.
Wir haben es keinen Moment aus den Augen verloren: es ist die Urwahl seiner
selbst, die Baudelaire getroffen hat. Er hat gewählt, für sich selbst so zu existieren,
wie er für die anderen war; er wollte, daß seine Freiheit ihm wie eine »Natur«
erscheine und daß die »Natur«, welche die anderen in ihm entdeckten, ihnen wie
eine Emanation seiner Freiheit vorkäme. Von da aus klärt sich alles auf: jenes
elende Leben, daß uns als ein einziges Scheitern erschien, hat er – wir verstehen
das nun – sich selbst mit Bedacht gewirkt. Er hat es so angelegt, daß es nur ein
Überlebender war, er hat es von Beginn an mit diesem schweren Ballast bepackt:
Negerin, Schulden, Syphilis und Familienrat, der ihn bis zum Ende seines Lebens
behindert und bis zum Ende dazu zwingt, im Krebsgang die Zukunft
anzugehen.“371
In der Frage nach dem Einfluß einer „ersten“ Natur blieb Sartre sich treu: Für ihn
wählten die Subjekte den Anschein von Natur. Der Mensch war bei ihm ein tief
verwurzeltes kulturelles Wesen und damit seien all seine Handlungen und Taten
grundsätzlich auch verstehbar. Die Konstruktion eines Unbewußten, das dem
Menschen nicht zugänglich und dem Reich der Natur zugeschrieben sei, war für
Sartre unannehmbar.
Was Sartres Baudelaire viel eher problematisch erscheinen ließ, war die
Bruchlosigkeit mit der er Baudelaires Wahl verband. „Denn Sartre sieht in
Baudelaire nur den Gegner, den er zu treffen gilt, statt, wie einige Jahre vor ihm
Walter Benjamin, den zu rehabilitierenden potentiellen Bundesgenossen, den
«Agenten der geheimen Unzufriedenheit seiner eigenen Klasse mit ihrer eigenen
Herrschaft» (Benjamin)“372 Der Baudelaire, der an drei Revolutionen, bzw.
Revolutionsversuchen teilnahm, entglitt Sartre. Später sollte Sartre seine Studie als
„eine sehr mangelhafte, eine außerordentlich schlechte“373 beschreiben.
Festzuhalten bleibt, daß in Sartres Philosophie – bildlich gesprochen – nicht nur ein
Pfeil vom Subjekt aufs Objekt zeigte, sondern es begann sich auch ein stärker
werdender Pfeil vom Objekt aufs Subjekt abzuzeichnen.
Der dritte Weg: Sartres politisches Engagement bis 1952
Was sich in Sartres Texten von 1945 und 1946 an politischem Engagement bereits
ankündigte, begann im Jahr 1947 konkrete Formen anzunehmen. In jenem Jahr
gründete Sartre die Zeitschrift „Les Temps Moderne“, was ihm dazu verhalf über
ein eigenes Publikationsorgan zu verfügen. Die Liste der Autoren, die für die
Zeitschrift schrieben, laß sich nicht weniger eindrucksvoll als die der „Zeitung für
Sozialforschung“ – fast alle wichtigen Namen der europäischen und
amerikanischen Linken waren vertreten: „Texte von Francis Ponge, Samuel
Beckett, Philippe Soupault, Maurice Blanchot neben Texten von Alberto Moravia,
Elio Vittorini, Ignazio Silone oder Carlo Levi für Italien, während Richard Wright
oder James Agee Amerika vertraten. Man fand auch Beiträge des Komponisten
René Leibowitz oder des Ökonomen Pierre Uri; Artikel von Boris Vian - «La
371
Ebd., S. 118f
Oehler, Dolf: Nachwort, in: Sartre, Jean-Paul: Baudelaire, a.a.O. , S. 119
373
Sartre, Jean-Paul: Sartre über Sartre, in: Sartre, Jean-Paul: Autobiographische Schriften
II, 1988, S. 172
372
109
Chronique du menteur» - Raymond Queneau, Michel Leiris, Jean Genet, Violette
Leduc und Nathalie Saurraut.“374 Man könnte fast sagen, daß die „Les Temps
Moderne“ das französische Gegenstück zur „Zeitschrift für Sozialforschung war“,
zwar nicht mit dem gleichen wissenschaftlichen Anspruch Horkheimers, dafür aber
mit einem politischeren.
Neben der Zeitung beteiligte sich Sartre an der Gründung des RDR
„Rassemblement Démocratique Révolutionaire“, ein Komitee, daß bald vom
Volksmund als „Sartre-Partei“ bezeichnet wurde. Doch wie kam Sartre dazu sich
an diesen Unternehmungen zu beteiligen?
Die Redaktion der „Temps Moderne“ wurde eingeladen, Radiosendungen zu
produzieren. Bei einer solchen Diskussionsveranstaltung verglich Sartre die
Plakate de Gaulles mit denen der Nazis, was zu einem Eklat in Frankreich führte.
Nach dem Zusammenbruch der Dreiparteienregierung machte de Gaulle seine
politischen Ambitionen unmißverständlich deutlich. Mit der Gründung des
„Rassemblement du peuple Français“ (RPF) hatte sich de Gaulles politisch
festgelegt. Der Kreis um Sartre gehörte zu seinen entschiedenen Gegnern und
verurteilte de Gaulles Antikommunismus. Doch so sehr Sartre und seine Anhänger
den Antikommunismus verabscheuten, so wenig konnten sie auch mit der
kommunistischen Partei anfangen. Die Konsequenz bestand in der Gründung des
RDR, in denen alle Facetten der Linken Platz finden sollten: „Trotzkisten,
Linkskatholiken, junge Sozialisten, oppositionelle Sozialisten, Kommunisten und
ehemalige Kommunisten, Marxisten und Nicht-Marxisten, Arbeitergenossen und
ehemalige Gewerkschaftsfunktionäre.“375 Doch in dieser pluralistischen Mischung
lag neben der großen Chance auf eine neue sozialistische Kraft auch das große
Risiko des Zerwürfnisses, zu dem es nach anfänglichen Erfolgen dann auch kam.
Cohen-Solal nannte dies, nach dem Scheitern von „Socialisme et Liberté“, den
„zweiten Schock des Konkreten“.
Gemeinsam war dem RDR der Anti-Gaullismus und die Verhinderung eines neuen
Krieges zwischen den USA und der UdSSR. Camus stellte das berühmte Diktum
auf: „Es ist besser sich zu irren und niemanden umzubringen, als vor
Leichenfeldern recht zu behalten.“ Doch wie einen neuen Krieg verhindern?
Sartres Vision war die eines vereinigten Europas, „ein Bündnis, das sich sowohl
ideologisch wie geographisch von den USA wie von der UdSSR unterscheiden
müßte.“376 Grundlage dieses Europas war für Sartre - als Philosoph, mit starkem
Subjektbegriff - der Gedanke von Basisdemokratien. „Die Basiskomitees sollten
nach dem Vorbild der Revolutionäre von 1789 Forderungskataloge aufstellen; das
leitende Komitee würde im permanenten Kontakt und offenen Dialog mit der Basis
stehen. An der Basis selbst würde ebenfalls ein permanenter Prozeß des Austauschs
stattfinden.“377 Sartre wollte die „Integrierung des freien Individuums in eine
Gesellschaft, die als Einheit freier Individuen konzipiert“ wäre. Damit war er ein
Befürworter von basisdemokratischen Strukturen, die 20 Jahre später im Zuge der
68er-Bewegung wieder praktische Bedeutung erlangten.
Im Aufruf des Komitees für das RDM hieß es: „Wir glauben, daß zwischen dem
Vorkommen der kapitalistischen Demokratie, den Schwächen und Mängeln einer
gewissen Sozialdemokratie und der Beschränkung des Kommunismus auf seine
stalinistische Form eine Vereinigung freier Menschen für die revolutionäre
374
Cohen-Solal, a.a.O., S. 456
Ebd., S. 465
376
New York Herald Tribune, 16. März 1948, zit. nach: Cohen-Solal, a.a.O., S. 472
377
Cohen-Solal, a.a.O., S. 472
375
110
Demokratie in der Lage ist, den Prinzipien der Freiheit und der Menschenwürde
ein neues Leben zu verleihen, wenn sie sie mit dem Kampf um die soziale
Revolution verbindet.“378 Kennzeichnend an allen Aufrufen oder Programmen war
die starke Betonung der Freiheit. Zur Umsetzung dieser Programmatik einigte man
sich auf eine Art Komitee. Der RDM sollte überall vertreten sein und seinen
Einfluß geltend machen: „[…] ist das erste Ziel des Rassemblement, tatsächlich ein
Zusammenschluß von Menschen dieses Landes zu sein, als Konsumenten und
Produzenten, innerhalb von Stadtteilkomitees, Dorfkomitees, Fabrikkomitees, in
denen sie aus ihren konkreten Forderungen und dem Sinn, den sie haben, konkrete
Mittel entwickeln werden, sie durchzusetzen, und denen sie sich gemeinsam ihres
demokratischen und revolutionären Humanismus bewußt werden könne.“379 Mit
anderen Worten: Der RDR versuchte eine Art Bürgekomites einzusetzen, wie sie in
den 80er Jahren in der Ökologiebewegung populär werden sollten. Als
außerparlamentarische Opposition sollte sie sich in die Dinge des täglichen Lebens
wie in die große Politik einmischen und ihren Einfluß geltend machen.
Mit seinem politischen Engagement gab Sartre seiner Philosophie, in der ja noch
seine angekündigte „Moral“ fehlte, die Konturen einer solchen. Ein Grund,
weshalb die „Cahiers pour une morale“, an denen er arbeitete, von ihm nie zur
Veröffentlichung freigegeben wurden, bestand ganz einfach darin, daß sein
praktisches Handeln und Tun einer solchen Moral gleichkam. Des weiteren war
sich Sartre der Stellung des Subjekts lange nicht mehr so sicher, wie zu Zeiten als
er „Das Sein und das Nichts“ schrieb. Die Stärke und das Erdrückende am Objekt
Gesellschaft konnte ihm bei seiner politischen Arbeit nicht entgehen.
Sartre schrieb: „Der Hunger ist bereits die Forderung nach Freiheit.“380 Er benutzte
mittlerweile ständig neben dem philosophisch-anthropologischen Freiheitsbegriff
einen politischen, der in höchstem Maße von zwei Momenten bestimmt war:
Demokratie und Sozialismus. Sozialismus in dem Sinne, daß er darunter die
Veränderung der ökonomischen Ordnung verstand, doch anders als die
französischen Kommunisten, die dabei auf Demokratie verzichteten, verstand er
darunter eine egalitäre Ordnung, die dem großen Stellenwert des Subjekts in seiner
Philosophie entsprach.
Mit dem Bekanntwerden der Existenz der Lager in der UdSSR gingen Sartre und
der RDM noch auf stärkere Distanz zu den stalinistischen Kommunisten: „Ja, die
Frage wird immer dringlicher: wie konnte der Oktober 1917 zu der grausam
hierarchisierten Gesellschaft führen, deren Züge sich nach und nach immer
deutlicher vor unseren Augen abzeichnen? Weder bei Lenin noch bei Trotzki und
noch weniger bei Marx finden wir ein Wort, das nicht richtig wäre, das nicht noch
zu den Menschen aller Länder spräche, das uns nicht begreifen ließe, was bei uns
geschieht. Und nach soviel Hellsichtigkeit, Opfern und Intelligenz nun die 10
Millionen sowjetischer Deportierter, die Dummheit der Zensur, die Panik der
Rechfertigungen.“381 An dieser Passage aus einem Text von Merleau-Ponty und
378
Aufruf des Komitees für das Rassemblement Démocratique Révolutionnaire, Februar
1948, in : Sartre, Jean-Paul: Krieg im Frieden I, Reinbek bei Hamburg, 1982, S. 9
379
Sartre, Jean-Paul: Hunger im Bauch – Freiheit im Herzen, in: Sartre, Jean-Paul: Krieg
im Frieden I, a.a.O., S. 14
380
Ebd., S. 12
381
Merleau-Ponty, Maurice und Sartre, Jean-Paul: Die Tage unseres Lebens, in: Sartre,
Jean-Paul, Krieg im Frieden I, a.a.O., S. 23
111
Sartre wurde deutlich, wo sich Sartre positionierte. Ein deutliches Bekenntnis zu
Marx, bei gleichzeitiger Ablehnung der KP. Eine Haltung, die er mit der kritischen
Theorie teilte.
Die größte Beachtung der Sartreschen Schriften zu dieser Zeit erfuhr allerdings
sein Theaterstück: „Die schmutzigen Hände“, in dem er eine harte Anklage gegen
die Politik Moskaus und deren Satellitenparteien mit den Mitteln des Theaters
schrieb. Die große These des Stückes bestand darin, daß den Kommunisten ein
Menschenleben – wenn es einer Sache diente – nicht viel wert gewesen war und
jede Kursänderung mit Blut bezahlt wurde. Der Protagonist des Buches, Hugo,
bekam von der Partei den Auftrag den „Abtrünnigen“ Hoederer zu ermorden. Nach
langen Diskussionen tat er dies, doch mittlerweile hatte die Partei ihren Kurs
geändert und Hoederer sollte rehabilitiert werden. Hugo, der diese Widersprüche
nicht aushalten konnte, nahm sich das Leben.
Das Stück würde von der bürgerlichen Presse frenetisch gefeiert. Doch mit diesem
Ruhm machte er sich zum Feind der KPF. Vier Jahre später, als er 1952 mit den
Kommunisten Versöhnung feierte, sollte dieses Stück eine ganz besondere Rolle
im Werk Sartres einnehmen, da er seine Aufführung in verschiedenen Ländern
verbot. Sartre sagte dazu in einem Interview mit Paolo Caruso: „Man kommt daran
nicht vorbei: Wenn die gesamte französische Bourgeoisie den Schmutzigen Händen
einen Triumph bereitet und wenn die Kommunisten es angreifen, so bedeutet das,
daß tatsächlich etwas passiert ist. Das bedeutet, daß das Stück durch sich selbst
objektiv anti-kommunistisch geworden ist und daß die Intention des Autors nicht
mehr zählt.“382
Die Jahre 1946-1949 waren für Sartre von erstaunlicher Produktivität. Cohen-Solal
beschreib eindrucksvoll die „Maschinerie“ Sartres383. Doch mit dem Scheitern des
RDM legte Sartre eine schöpferische Pause ein - zwar schrieb er weiter, doch nicht
mehr im „gewohnten“ Ausmaß. Vor allem die unterschiedlichen Vorstellungen
über den Weg, den der RDM gehen sollte, ließ die Gruppe letztendlich
auseinanderbrechen. Für Sartre entwickelte sich der RDM zu weit nach rechts, da
sich Bestrebungen im RDM für ein stärkeres antikommunistisches und proamerikanisches Engagement (z.B. durch Rousset) breit machten. Aber auch de
Gaulles Rassemblement bestand nicht viel länger: 1953 scheiterte der RPF an
innerparteilichen Querelen und gabt seine Auflösung bekannt.
Festzuhalten bleibt, daß Sartre in politischer Aktivität und im Engagement aufging.
Demzufolge machten sich Transformationen seines Subjektbegriffes in seinem
Werk bemerkbar. 1950 schrieb er: „Es ist sehr einfach und auch notwendig, der
Subjektivität der Massen eine bestimmte Rolle zu geben, wenn sich in einem
kapitalistischen und stark industrialisierten Land die Massen als Verkörperung der
Widersprüche einer ganzen Gesellschaft erweisen.“384 – das war neu für Sartre. Die
„Subjektivität der Massen“ wäre ein vormals undenkbares Begriffsinstrumentarium
gewesen, da das Sartresche Subjekt äquivok zum Individuum und zum Einzelnen
stand. Über das Jugoslawien Titos schrieb er: „Die bloße Existenz eines
sozialistischen, vom Kreml unabhängigen Jugoslawien muß von innen her auf
382
Jean Paul Sartre über die schmutzigen Hände. Gespräch mit Paolo Caruso, in: Sartre,
Jean-Paul: Die schmutzigen Hände, Reinbek bei Hamburg, 1989, S. 144
383
vgl. Cohen-Solal, a.a.O., S. S. 436ff
384
Sartre, Jean-Paul: Falsche Wissenschaftler und falsche Hasen, in: Krieg im Frieden I,
a.a.O., S. 39
112
unsere aktiven Kommunisten einwirken und sie ihre Subjektivität wiederentdecken
lassen.“385
In gewisser Weise blieb Sartre sich treu: Subjekt und Subjektivität standen
weiterhin an exponierter Stelle in seiner Philosophie, doch das isolierte, sich frei
entwerfende Subjekt war nun eingebettet in eine Objektwelt, in gesellschaftliche
und politische Zusammenhänge. In einem posthum veröffentlichten Fragment, daß
als Anschluß an die „Cahier pour une morale“ geplant war, schrieb Sartre: „Die
Unkenntnis als Schattenseite der Wahrheit ist Notwendig für die Freiheit, ihre
Existenz zu wagen in einer Welt, die sich ihr radikal entgegenstellen kann. Somit
erscheint die Wahrheit vor dem Hintergrund einer Welt, die die Wahrheit
unmöglich machen kann.“386 Dies hätten Marcuse oder auch Adorno nicht viel
anders geschrieben. Auch Sartres alte Abgrenzung zum Unbewußten begannen zu
wanken und es formten sich Gedanken zur Existenz eines gesellschaftlichen
Unbewußten: „Alles geschieht dann so, als wäre das Bewußtsein mystifizierend
und als ob das Soziale und das Ökonomische das Unbewußte des historischen
Agens wäre.“387
So war die Kritik Marcuses, die er 1948 an Sartres „Das Sein und das Nichts“
formulierte, durch Sartres veränderte Position schon obsolet geworden. Vier Jahre
später hätte er Sartre eine zu große Nähe zur KPF vorwerfen können. Doch auch
Marcuse war Sartre in diesem Punkt sehr ähnlich: Der orthodoxe Marxist Robert
Steigerwald seufzte 1969 im Vorwort seines Buches über Marcuse: „Wer sich mit
Herbert Marcuse anlegt, gerät in die Rolle des Igels in der Geschichte vom
Wettlauf des Stacheltiers mit dem Hasen: kaum ist die ein Kritik an Marcuse
geschrieben, schon liegt ein neues Werk von ihm vor.“388 Warum also sollte es
Marcuse, der 1948 Sartres „Das Sein und das Nichts“ rezensierte, mit Sartre anders
ergehen?
Zu spät besprochener Sartre
Marcuses: Rezeption von „Das Sein und das Nichts“
Wie kam es dazu, daß Sartres „Das Sein und das Nichts“ erst so spät besprochen
wurde? Es war ein gewaltiges Unterfangen ein Buch wie „Das Sein und das
Nichts“ in eine andere Sprache zu übersetzen. Erst 10 Jahre nach dem Erscheinen
der französischen Ausgabe kam die englische auf den Markt, so daß die meisten
englischsprachigen Rezensoren, die des französischen nicht mächtig waren, auf
eine Besprechung des Buches verzichten mußten. Damit war Herbert Marcuse
sogar einer der ersten, die in Amerika „Das Sein und das Nichts“ besprachen.
Vor allem war es der erste, - wenn auch nicht persönliche - Kontakt zwischen
Sartre und Marcuse. Doch auch Marcuse konnte nicht ahnen, wie weit sich Sartre
inzwischen selbst von „Das Sein und das Nichts“ entfernt hatte. Jahre später
schrieb Marcuse ein weiteres Kapitel, das er seiner Rezension hinzufügte. So
vernichtend die Beurteilung, des ehemaligen Heideggerschülers Marcuse über den
Heiddeggerianer Sartre des Jahres 1944 war, so wohlwollend und bewundernd
waren die Worte, die er 1965 in dem kleinen neuen Kapitel für Sartre fand.
385
Ebd., S. 67
Sartre, Jean-Paul: Wahrheit und Existenz, Reinbek bei Hamburg, 1998, S. 139
387
Ebd., S. 147
388
Steigerwald, Robert: Herbert Marcuses dritter Weg, Köln, 1969, S. V
386
113
Marcuse begann mit einer Einordnung der Philosophie des Existentialismus in die
Zeit des Faschismus: „Es ist die Zeit des totalitären Terrors: das Naziregime ist auf
der Höhe seiner Macht; Frankreich ist von deutschen Armeen besetzt. Die Werte
und Normen der abendländischen Kultur sind vom faschistischen System
gleichgeschaltet und ersetzt. Das Denken ist wieder einmal auf sich selbst
zurückgeworfen durch die Wirklichkeit, die allen Versprechungen und Ideen
widerspricht, die den Rationalismus so gut wie die Religion, Idealismus so gut wie
Materialismus widerlegt.“389
Das Paradoxe an der historischen Situation sei gewesen, daß die Welt nach dem
Faschismus nicht zusammenbrach, sondern „in ihre früheren Formen zurückfiel“.
Dies Paradoxon hafte auch dem Sartreschen Existentialismus an, da er auf
vormarxistischer Philosophie aufbaue. Vor allem das Fehlen des gesellschaftlichen
Momentes bei gleichzeitiger Betonung der allgegenwärtigen Freiheit erregte
Marcuses Mißfallen: „Die wesentliche Freiheit des Menschen, wie Sartre sie sieht,
bleibt die gleiche vor, während und nach der totalitären Versklavung des
Menschen. Denn Freiheit ist für ihn die Struktur des menschlichen Seins selber und
kann selbst durch die widrigsten Umstände nicht vernichtet werden: der Mensch ist
selbst in den Händen des Henkers frei.“390 Diesem Freiheitsbegriff konnte der
Theoretiker Marcuse, der von „perforierten Individuen“ sprach, keinesfalls
zustimmen. „Gegen diese Proklamation der absoluten Freiheit des Menschen
erhebt sich unmittelbar der Einwand, daß der Mensch in Wirklichkeit durch seine
spezifisch gesellschaftlich-geschichtliche Situation bestimmt ist, die wiederum den
Umfang und den Inhalt seiner Freiheit und den Spielraum seiner »Wahl«
bestimmt.“391 Doch traf diese Kritik noch? Als hätte Sartre Marcuse gelesen – was
allerdings unmöglich gewesen wäre, da die „Überlegungen zur Judenfrage“ vor
Marcuses Rezension veröffentlicht wurden - schrieb er: „Da [der Jude] wie jeder
Mensch, eine Freiheit in Situation ist, muß man seine Situation von Grund auf
verändern: es genügt in der Tat, die Perspektiven der Wahl zu ändern, damit die
Wahl sich verändert; nicht, daß man dann Zugang zur Freiheit fände; aber die
Freiheit entscheidet dann auf anderer Grundlage, hinsichtlich anderer
Strukturen.“392 Sartre war sich also mittlerweile sehr wohl der Bedeutung des
gesellschaftlichen Zwanges aufs Individuum bewußt – zwar nicht in dem Maße wie
Marcuse ihn betonte, doch immerhin hatte sich in Sartres Philosophie das isolierte
Individuum zum gesellschaftlichen Wesen gewandelt. Doch Marcuses Kritik ging
noch weiter: Er unterstellte Sartres Existentialismus die verdeckte Apologie des
Marktes und des Kapitalismus. „Hintere der nihilistischen Sprache des
Existentialismus verbirgt sich die Ideologie der freien Konkurrenz, der freien
Initiative und der für jeden gleichen Chance.“393
Dieser Vorwurf konnte nur gelten, wenn man „Das Sein und das Nichts“ als
isoliertes Buch betrachtete. Der Sartre des Jahres 1948 hatte in „Materialismus und
Revolution“ dargelegt, was er von der kapitalistischen Produktionsweise hielt.
Doch da diese Schrift Herbert Marcuse nicht bekannt war, konnte er sich auch
nicht auf sie beziehen – sonst hätte er wohl diese Passage nicht geschrieben.
Marcuse, Herbert: Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Ếtre et le
Néant, in: Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt &M, 1965, S. 49
390
Ebd., S. 52
391
Ebd., S. 63
392
Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, a.a.O., S. 89
393
Marcuse, Herbert: Existentialismus. a.a.O. , S. 66
389
114
Doch Marcuses Kritik traf an anderen Stellen: Sartres Gleichsetzung von
ontologischem und historischem Subjekt sei, so Marcuse, unzulässig. „So hat das
»Für-sich« Nation, Klasse, Klassenunterschiede usw. geschaffen, hat sie zu Teilen
seines eigenen freien »Entwurfs« gemacht und ist folglich für sie »verantwortlich«.
Hier geschieht die trügerische Gleichsetzung von ontologischem und historischem
Subjekt.“394 Sartre würde durch die Formel, daß die Existenz dem Wesen
vorausgehe, in einem Konflikt mit seinem eigenen Subjektbegriff stehen. Alle
Subjekte seien subsumiert unter der ontologischen Idee des für-sich. Eine
Wirkliche und reale Daseinsfülle an-sich sei somit verunmöglicht. „Indem die
verschiedenen historischen Subjekte unter die ontologische Idee des »Für-Sich«
subsumiert werden und diese zum leitenden Prinzip der Existentialphilosophie
gemacht wird, setzt Sartre die spezifischen Unterscheide, die die wirkliche
Konkretheit menschlicher Existenz bilden, zu bloßen Manifestationen des
gesamten menschlichen Wesens herab – und verstößt so gegen seine eigene These,
daß »Existenz das Wesen erschafft.«395
Gegen den großen Freiheitsbegriff des Subjekts bei Sartre hielt er die
Verdinglichung und Entfremdung des Einzelnen dagegen. Der Mensch existiere
auch in Situationen, so Marcuse, in denen er auf den Stand eines Dinges, eines
Instruments heruntergebracht sei. Dies stehe im Widerspruch zu Sartres Idee der
Freiheit.
Einigkeit bestand hingegen in dem Wunsch nach der Veränderung des
Bestehenden: „Nun aber erkennt er [Sartre, S.O.C.] die Tatsache an, daß die
Existenz des Menschen in der empirischen Wirklichkeit auf eine solche Weise
organisiert ist, daß seine Freiheit völlig »entfremdet« ist und daß nichts als eine
revolutionäre Veränderung in der Struktur der Gesellschaft die Entfaltung seiner
Freiheit wiederherstellen kann. […] Sartre versucht jedoch, seine Freiheitsidee
vom historischen Materialismus freizuhalten. Er akzeptiert die Revolution als den
einzigen Weg zur Befreiung der Menschheit, aber er besteht darauf, daß die
revolutionäre Lösung die Freiheit des Menschen, diese Lösung zu ergreifen,
voraussetzt, mit anderen Worten, daß der Mensch vor seiner Befreiung frei sein
muß “396
Sartre verwechsle, so Marcuse, historische mit ontologischer Freiheit. Die
ontologische Freiheit sei Vorbedingung für eine reale, gesellschaftliche Freiheit:
„In der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit ist also die Freiheit des »FürSich«, deren Verherrlichung Sartre sein ganzes Buch weiht, nichts anderes als eine
der Vorbedingungen für die Möglichkeit der Freiheit – nicht Freiheit selbst.“397
Für Marcuse war die Freiheit des während der Folter sterbenden Antifaschisten
keine Freiheit: „Der Antifaschist, der zu Tode gefoltert wird mag seine moralische
und geistige Freiheit bewahren, um diese Situation zu transzendieren: er wird
dennoch zu Tode gefoltert.“398 Der gesellschaftliche Druck auf dem Einzelnen war
bei Marcuse von höherem Rang als das Betonen der menschlichen Freiheit. Und
doch war auch bei Marcuse ein Kern, eine Grundannahme des freien Menschen
enthalten – denn wie sonst hätte der Mensch sonst versklavt werden können? Auch
394
Ebd., S. 67
Ebd., S. 68
396
Ebd., S. 76
397
Ebd., S. 76
398
Ebd., S. 77
395
115
auf die Frage nach der Freiheit bei Folter hatte Sartre bereits geantwortet: „Tote
ohne Begräbnis“ war seine Auseinandersetzung mit dem Thema.
Übereinstimmung herrschte darin, daß die Vernunft im Subjekt nicht zu sich selbst
gekommen sei. Entfremdung und Verdinglichung stünden dem entgegen:
„Glücklicherweise ist Sartres Interpretation der gesellschaftlich-geschichtlichen
Sphäre die Existenz nicht des freien Subjekts, sondern des verdinglichten Subjekts,
die den Weg zur wirklichen Befreiung weist.“399
Auch von der Methode Sartres und Camus, Philosophie, Roman und Theater zu
mischen, hielt Marcuse nicht viel: „Der Existentialismus spielt mit jeder
Affirmation, bis sie sich als Negation erweist, modifiziert jeden Satz, bis er sich ins
Gegenteil verkehrt, dehnt jede Behauptung bis ins Absurde aus, verwandelt
Freiheit in Zwang und Zwang in Freiheit, Wahl in Notwendigkeit und
Notwendigkeit in Wahl; er geht von der Philosophie zur Belletristik und
umgekehrt, mischt Ontologie und Sexualwissenschaften usw. Die schwerfällige
Ernsthaftigkeit Hegels und Heideggers wird in ein artistisches Spiel übersetzt. Die
ontologische Analyse schließt eine Reihe »amouröser Szenen« ein, und der
existentialistische Roman trägt in Kursivschrift philosophische Thesen vor.“400
Umgekehrt könnte aber auch argumentiert werden, daß der Existentialismus
versuchte, das Hegelsche Unterfangen weiterzuführen: Ein eignes philosophisches
System zu liefern, zu dessen Wahrheitsbegriff die Kunst genauso gehörte, wie zur
kritischen Theorie – mit dem Unterschied, daß Sartre und Camus das Wagnis
eingingen, sich als philosophische Schriftsteller und schreibende Philosophen zu
entwerfen. Die Konzeption ähnelte dabei der kritischen Theorie in dem Maße, da
sie eine Systematik – auch wenn die kritische Theorie sich dieses nie eingestand –
der Theorie zu entwerfen suchte. Wie sonst war zu verstehen, daß sowohl „Les
Temps Modernes“ wie auch das Institut für Sozialforschung auf allen relevanten
politischen und gesellschaftstheoretischen Ebenen Texte produzierten, die ein
theoretisches System verband?
Doch Marcuse änderte seine Sichtweise auf Sartre: 1965 schrieb er in einem
hinzugefügten Kapitel: „Auf diesem Weg [des radikalen Widerspruchs Sartres,
S.O.C.] zählt die Realität als das, was umzustürzen ist, so daß die menschliche
Existenz beginnen kann.“401 Damit nahm Marcuse - unausgesprochen - Momente
seines vormaligen Textes zurück. Denn die Auffassung der Realität des
Existentialismus Sartres als „Realität als das was umzustürzen ist“, wie Marcuse
ihm bescheinigte, war unvereinbar mit dem Vorwurf, daß sich „hinter der
nihilistischen Sprache des Existentialismus die Ideologie der freien Konkurrenz“
verberge.
Vor allem schätzte Marcuse den politischen Sartre. Mit der Errichtung eines
textlichen Denkmals zu Sartres Lebzeiten ließ er den Text enden: „In der politisch
gewordenen Philosophie wird die existentialistische Grundkonzeption gerettet
durch das Bewußtsein, daß der Realität den Kampf ansagt – in dem Wissen, daß
die Realität Sieger bleibt. Wie lange? Die Frage, auf die es keine Antwort gibt,
ändert nichts an der Gültigkeit dieser Position, die für die Denkenden heute die
einzig mögliche ist. In dem großen Vorwort zu Fanons Les Damnés de la Terre, in
399
Ebd., S. 77
Ebd., S. 80
401
Ebd., S. 84
400
116
den Erklärungen gegen die Kolonialkriege in Vietnam und San Domingo hat Sartre
das Versprechen einer »Moral der Befreiung« eingelöst. Wenn er, wie er fürchtet
eine »Institution« geworden ist, so wäre es eine Institution in der das Gewissen und
die Wahrheit Zuflucht gefunden haben.“402
Doch zuvor sollte die Differenz das Verhältnis beider prägen, obwohl sich bereits
mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen zwischen den beiden abzuzeichnen
begannen. Das Mißtrauen Marcuses gegenüber einer Philosophie, die sich an
entscheidenden Stellen auf Heidegger berief, saß tief. Die Ironie der Geschichte
bestand darin, daß Marcuse in den Jahren als Mitarbeiter des OSS nur einen
einzigen Text für die „Zeitschrift für Sozialforschung“ schrieb – und den
ausgerechnet über Sartre.
Statt eines Vorwortes: 900 Seiten Jean Genet
Sartres: Saint Genet
1951 sollte von Jean Genet bei Gallimard, Sartres Verlag, eine Gesamtausgabe
seiner Werke veröffentlicht werden. Sartre wurde gebeten, das Vorwort zu
schreiben. Doch statt eines Vorwortes steigerte sich Sartre in die Lektüre Genets
hinein und heraus kam eine ganze Studie von 900 Seiten. Genet faszinierte ihn vor
allem wegen seines freien und ungezügelten Lebens. Als Kind wurde Genet von
der Fürsorge groß gezogen und kam im Alter von sieben Jahren zu einer
Pflegefamilie. Wegen wiederholten Diebstahls wurde er in eine Erziehungsanstalt
gesteckt. 1929 schloß er sich der Fremdenlegion an, aus der er kurze Zeit später
desertierte. Zwischen 1929-42 zog er durch Europa und verdiente sein Geld als
Stricherjunge, Dieb, Bettler und Rauschgiftschmuggler. Während dieser Zeit
landete er mehrfach in Gefängnis. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich wurde
der homosexuelle und pädophile Genet inhaftiert. Im Gefängnis begann er
erfolgreich, seine ersten literarischen Werke zu schreiben. Genet wurde populär
und durch Sartres und Cocteaus Intervention begnadete ihn Frankreichs
Staatspräsident Auriol.
Wie schon in seinen Werken zuvor, setzte Sartre auch bei Genet bei der
Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt an. Warum Genet zu dem geworden, der
er war? Durch seine eigenen Entscheidungen und durch die gesellschaftliche
Situation. Sartre schrieb über Genets Werdegang: „Man erinnere sich an die
Geschichte jenes Fürsorgezöglings, der brutalen Bauern anvertraut wurde, die ihn
schlugen und nicht ernährten; mit zwanzig Jahren konnte er noch nicht lesen: man
machte einen Soldaten aus ihm. Als er die Armee verließ, hatte man ihm das Töten
gelehrt. Also tötete er; er sagte: »Ich bin ein wildes Tier.« Als man ihn nach der
Anklagerede fragte, ob er nicht dazu zu sagen hätte, meint er: »Der Herr
Staatsanwalt hat meinen Kopf verlangt, und sicher wird er ihn bekommen. Aber
wenn er mein Leben geführt hätte, wäre er vielleicht heute an meiner Stelle, und
ich, wenn ich seine gehabt hätte, ich klagte vielleicht ihn an.« Der Gerichtssaal war
erschrocken: er hatte einen Abgrund gesehen, etwas wie eine nackte,
undifferenzierte, zu allem fähige Existenz. Ich sage nicht, daß das völlig stimmt:
402
Ebd., S. 84
117
nicht dieser Justizbeamte wäre dieser Verbrecher geworden.“403 Sartre benutzte für
seine Analyse ein Wechselspiel aus gesellschaftlicher Prägung und eigener
Entscheidung. So definierte er Genet als das Andere der bürgerlichen Gesellschaft.
Genet sei wie ein Spiegel, in dem sich die Tugend als Zerrbild betrachtete, da er als
das definiert sei, was Tugend nicht ist; er war sozusagen das fleischgewordene
Andere. Mit der Lektüre Genets könne man erkennen, wer man nicht sein und
welche Elemente von Genet dennoch im Eigenen vorhanden waren: „Der Mensch,
sagt Marx, ist für den Menschen Objekt. Das ist richtig. Aber es ist auch richtig,
daß ich für mich Subjekt bin, genau in dem Maß, wie mein nächster in meinen
Augen Objekt ist; und eben das trennt uns; er und ich sind nicht homogenen, und
wir können nur in den Augen eines Dritten, der jeden von uns als einzelnes Objekt
erfaßt, Teil ein und desselben Ensembles sein. Wenn wir alle, in vollkommener
Gleichgültigkeit und Wechselseitigkeit, zugleich Objekte und Subjekte sein
könnten, die einen für die anderen und die einen durch die anderen, oder wenn wir
gemeinsam in einer objektiven Totalität versinken könnten oder wenn wir, wie im
Kantschen Reich der Zwecke, niemals etwas anderes als Subjekte wären, die sich
als Subjekte anerkennen, fielen die Trennungen fort; aber man kann nicht bis zum
Äußersten gehen, weder in der einen noch in der anderen Richtung: wir können
nicht alle Objekte sein, es sei denn für ein transzendentes Subjekt, und wir können
auch nicht alle Subjekte seien, es sei denn, wie unternähmen zuerst die unmögliche
Auflösung jeder Objektivität; was die absolute Wechselseitigkeit betrifft, so ist sie
durch die historischen Klassen- und Rassenbedingungen, durch die Nationalitäten,
durch die gesellschaftliche Hierarchie verdeckt; ein Chef ist für seine
Untergebenen niemals Objekt, oder ist verloren; für seine Vorgesetzten ist er selten
Subjekt.“404
Sartre definiert den Menschen also dahingehend, daß er weder ganz Objekts noch
ganz Subjekt sei. Das Phänomen Genet war für ihn dabei ein grenzgängerisches, da
Genet das kollektive Objekt für andere war, die darüber ihre eigene Subjektivität
konstituieren konnten. Genets Situation beschrieb Sartre folgendermaßen: „Man ist
einsam, wenn man zugleich unrecht und hatte: wenn man sich als Subjekt recht
gibt – weil man bewußt ist und lebt und, was man gewollt hat wieder verleugnen
kann noch will – und als Objekt unrecht, weil man die objektive Verurteilung
durch die gesamte Gesellschaft nicht zurückweisen kann.“405 Für Sartre war Genet
also Opfer der Gesellschaft und gleichzeitig Täter an ihr. Das Verdienst Genets
bestand für Sartre in der bewußten Annahme dieser Rolle. Genet wählte
letztendlich die Einsamkeit zu der ein besiegter Opponent der bürgerlichen
Gesellschaft verurteilt war. Durch seine Literatur überschreite er jedoch diese Rolle
durch die Realisierung einer allgemeinen Ohnmacht aller reduzierten Opposition.
Sartres schrieb: “Er trieb diese latente, verhüllte Einsamkeit, die die unsere ist, bis
zum äußersten, er bläht unsere Sophismen bis zum Zerplatzen auf, er läßt unser
Scheitern bis zur Katastrophe anwachsen, der überbietet unsere Unaufrichtigkeit
bis zu Unerträglichkeit, bläst am hellen Tag unsere Schuld erscheinen. Es stimmt:
welche Gesellschaft auch immer auf unsere folgt, seine Leser werden nicht
aufhören, ihm unrecht zu geben, da er jede Gesellschaft opponiert; aber gerade
deswegen sind wir seine Brüder: denn unsere Epoche hat gegenüber der Geschichte
403
Sartre, Jean-Paul: Saint Genet, in: Gesammelte Werke 3. Schriften zur Literatur,
Reinbek bei Hamburg, 198, S. 912
404
Ebd., S. 915f
405
Ebd., S. 918f
118
ein schlechtes Gewissen.“406 Kein Zweifel: Sartres Subjekttheorie war dialektisch
geworden. Er untersuchte Genet in beiden Richtungen: Was hatte man aus ihm
gemacht? Und gleichzeitig: Wie entwarf er sich selbst? Er analysierte welche
Anteile an Genet gesellschaftlich waren und zu welchem Zeitpunkt Genet sich
darüber erhob und seine Subjektivität selbst bestimmte. Aus dem daraus folgenden
Konflikt dechiffrierte Sartre die Art und Weise der gesellschaftlichen Ablehnung
gegenüber Genet, um hieraus wieder die verdrängten gesellschaftlichen Muster
abzuleiten, die aus Genet einen Spiegel der angeblichen Tugenden machte. Sartre
schrieb: „Heute geht es darum, das Subjekt, den Schuldigen, dieses monströse und
elende Tier, das wir jeden Moment zu werden drohen, erscheinen zu lassen.“407
Damit rekurrierte Sartre auf das Phänomen, daß Frankreich in seinen Kolonien
Kriege führte und folterte, während sich die bürgerliche Öffentlichkeit an Genet
stieß. Genet war durch seine Andersartigkeit das offensichtlich böse und
abstoßende, mit dem die Konfrontation deshalb einfach fiel, weil sie konkret war.
Folter und der Krieg gehörten einem andern Typus der Bestialität an:
Gesellschaftlich abgesegnet und wo nicht legitimiert, so doch geduldet. Dagegen
setzte Sartre den konstruktiven Nihilisten Genets mit seiner Poesie der Gosse und
des Knastes, den Verstoßenen und Gedemütigten, der sich seiner bewußt wurde
und sich selbst zum Subjekt machte. Dahinter verbarg sich Sartres lebenslange
Sympathie für alle Unterdrückten und seine Engagement für Minderheiten. Lange
bevor der Konstruktivismus in Mode kam zeigte Sartre bereits auf, in welchem
Zusammenspiel das Gute und das Böse standen, wie die verschiedenen Stigmata
konstruiert wurden und welche Interessen sich dahinter verbargen. Doch sein
Engagement für die Unterdrückten sollte ihn auch auf Irrwege führen, wie die
folgenden Jahre zeigen sollten.
Der „Compagnon des routes“
Sartre als Weggefährte der KPF von 1952-1956
Die politische Situation in Frankreich spitzte sich zu: Am 17. Juni 1951 gingen aus
den Wahlen zur Nationalversammlung die Gaullisten als Sieger hervor. Die
Regierung der «dritten Kraft» fiel auseinander. Auch wenn de Gaulle und die
französische Rechte stets auf die Eigenständigkeit der, wie sie sagten, „Grande
Nation“ achteten, hatten sie mit den USA im Antikommunismus große
Gemeinsamkeiten. Der Historiker Eric Hobsbawm schrieb: „im Gegensatz zur
Sowjetunion war die USA eine Demokratie. Leider muß man sagen, daß
ebendieser Umstand wahrscheinlich der gefährlichere war. […] Öffentliche
Hysterie machte es Präsidenten sehr viel einfacher, die riesigen Summen von
notorisch unwilligen Steuerzahlern einzufordern, die für die amerikanische
Weltpolitik nötig waren.“408
Fast überall in Westeuropa verschwanden die Kommunisten aus den nationalen
Regierungen und wurden zu permanenten politischen Außenseitern. Doch im Jahr
1952 war das Ende dieser Entwicklung nicht absehbar, sondern sie war gerade im
Begriff sich durchzusetzen. Wie groß die Angst vor den kommunistischen Parteien
406
Ebd., S. 927
Ebd., S: 929
408
Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme, a.a.O., S. 296
407
119
in Europa war, zeigte sich daran, daß die USA 1948 eine militärische Intervention
für den Fall eines Wahlsieges der Kommunisten in Italien geplant hatten409.
Auch die französische KP war zu dieser Zeit nicht ohne Einfluß, besonders ihre
Position zum Indochinakrieg, war den bürgerlichen Parteien ein Dorn im Auge. So
versuchten die bürgerlichen Parteien - nicht ohne Erfolg – sämtliche politischen
Positionen an der Frage des Kommunist-Seins zu polarisieren; eine Taktik, die
nach dem Zweiten Weltkrieg überall in Europa und den USA angewandt wurde.
Am 28. Mai 1952 mobilisierten die französischen Kommunisten für eine
Demonstration gegen den frisch nominierten Chef des „SHAPE – Supreme
Headquater of the Allied Powers in Europe“ Mathew B. Ridgway. Ridgeway, war
im April Oberbefehlshaber der UN-Truppen in Korea gewesen und wurde von den
Kommunisten für den Einsatz von bakteriologischen Waffen verantwortlich
gemacht.
Der Demonstration voraus ging die Verhaftung von André Stil, dem Chefredakteur
der kommunistischen Tageszeitung „Humanité“. Dem Aufruf der Kommunisten
zur Demonstration folgten nur vergleichsweise wenige Menschen. Nach
Zusammenstößen mit der Polizei wurden 718 Menschen verhaftet. Ein halbe
Stunde nach dem Ende der Demonstration wurde Jaques Duclos, der Vorsitzende
der kommunistischen Fraktion in der Nationalversammlung verhaften. In den
nächsten Tagen kam es zu einer landesweiten Verhaftungswelle gegen
kommunistische Funktionäre und zur Beschlagnahmung kommunistischer
Zeitungen.
Für Sartre war dies der Anlaß sich auf die Seite der Kommunisten zu schlagen. Im
Juli 1952 schrieb er den ersten Teil von „Die Kommunisten und der Friede“, dem
ein zweiter im November und anderthalb Jahre später ein dritter folgte. Seine
Biographin Cohen-Solal schreibt über den Sartre dieser Zeit: „Einige Beobachter
staunten nicht schlecht über die «Sartresche Wende». In Wirklichkeit beglich der
Schriftsteller eigene Rechnungen, als er sich der neuen, putschistischen KPF-Linie
anpaßte. Es war wie das Zusammentreffen zweier Aufstandstrategien: Sartre, der
Erbe des 19. Jahrhunderts, der die Bourgeoisie so haßte, wie man sie damals haßte;
die KPF von 1952, die sich im Kontext des Kalten Krieges auf einen neuen
Bürgerkrieg vorbereitete. Henri Martin verhaftet, Jacques Duclos verhaftet, die
KPF Opfer einer um sich schlagenden Staatsmacht. Sartre fand alles, woran er
seinen Haß festmachen konnte: Er spürte die Dringlichkeit, sprang auf riß sich los
[…] Innerhalb weniger Minuten wurde alles, was die KPF an Negativem zu
verbuchen hatte, getilgt: getilgt die Beschimpfungen von Kanapa zu Hoch-Zeiten
des Existentialismus, getilgt die Gemeinheiten von Leclerc zu Les maines sales,
vergessen die Pfiffe der Kommunisten, als das Stück später im Kino gezeigt wurde,
weggewischt die Beleidigungen von Fadejew auf dem Wroclawer Kongreß zur
RDR-Zeit: In wenigen Minuten und für ganze vier Jahre wurde der frühere
Schakal, der frühere Iltis, die frühere Viper, die frühere Ratte zum Weggefährten.
Sartre selbst hatte nicht einmal diese Gedanken; eine Logik des NichtWiderspruches war nie die seine gewesen, er dachte in Zyklen, praktizierte die
Technik der permanenten Bewegung, des Abwägens von Prioritäten und liebte es,
wenn Konflikte offen und nicht verdeckt waren.“410
409
410
vgl. Ebd., S. 300
Cohen-Solal, a.a.O., S. 513
120
Welche Auswirkungen hatte dieses Engagement auf Sartres Subjekttheorie? Auf
den ersten Blick schien es unmöglich ein freies Subjekt an der Seite einer KPF
aufrechtzuerhalten, der Sartre ja vorwarf, daß ihr „Materialismus den
revolutionären Entwurf erstickt“411 und „sie ihre Subjektivität wiederentdecken“ 412
müßten. Und tatsächlich rückte der Subjektbegriff immer weiter zur Klasse als
Subjekt und immer weiter weg vom Individuum. Die Freiheit des Individuums?
Damit war es für den compagnion des routes nicht weit her. In seinen politisch
schwärzesten vier Jahren brach er elementar mit seiner Subjekttheorie. Das
Individuum? Der Einzelne? Es gab sie für Sartre kaum noch außerhalb der Partei.
Im November 1952 schrieb Sartre: „Mit einem Wort: Die Partei ist seine [des
Arbeiters, S.O.C.] Freiheit.“413 Sartre verließ den „Dritten Weg“ und schloß sich
der KPF an, die er bedingungslos verteidigte. 1961 sollte er über seine Artikelserie
„Die Kommunisten und der Friede“ sagen: „In Wahrheit war mir die Luft
ausgegangen, ich erkannte, daß ich nichts wußte.“414 In dieser Beziehung ähnelte
Sartre Hegel – denn was stand bei Hegel um nicht widerlegt zu werden? MerlauPonty, zu dessen Tod er diese Sätze schrieb, urteilte sehr Weise in seiner Schrift
„Sartre et l’ultrabolschevisme“ über den Sartre als compagnion des routes: „Und
wenn die Zeitverhältnisse so beschaffen sind […] daß man nicht zugleich freier
Schriftsteller und Kommunist oder Kommunist und Opponent sein kann, besteht
zwar die Möglichkeit, die marxistische Dialektik, die diese Gegensätze miteinander
vereinigte, durch ein ermüdendes Hin und Her zwischen ihnen zu ersetzen, doch
mit Gewalt lassen sie sich nicht miteinander versöhnen. Man muß also
zurückweichen und von der Seite angreifen, was frontal nicht zu ändern war, und
eine andere Aktion als die kommunistische suchen.“415 Es sollte noch weitere 18
Monate dauern, nachdem Merleau-Ponty 1955 diese Zeilen verfaßte, bis Sartre
nach der sowjetischen Invasion in Ungarn wieder nach anderen Aktionen und
Bündnispartnern suchte.
In der Zeit von 1952-56 entwarf er sein politisches Engagement neu: Statt der
Gründung einer weiteren Gruppe, unterstützte er die Kommunisten in einer Zeit, da
alle anderen Intellektuellen sich von der KPF abwandten. „Weiß Sartre nicht, daß
im selben Augenblick, in dem er derlei Schändliches äußert, Tausende in den
Moskauer Kerkern dahinvegetieren oder in die »finsteren und stinkenden
Leitungen der Strafkolonisation« (Solschenizyn) geschwemmt werden […]? Weiß
er nicht, daß auch noch nach Stalins Tod – von den Schriftstellern einmal
abgesehen – zweieinhalb Millionen Inhaftierte oder Verschwundene in der eisigen
Hölle der großen Strafkomplexe des Gulag ihr Leben fristen? Hat er nie von den
zwei oder drei Millionen »Umsiedlern« gehört, die aus den Völkern der Balkaren,
Tschetschenen, Inguschen, Kalmücken, Krimtartaren und anderen »bestrafter
Völker« stammten und unter Stalin massenhaft deportiert wurden?“416 fragt Lévi.
411
Sartre, Jean-Paul: Materialismus und Revolution, a.a.O., S. 215
Sartre, Jean-Paul: Falsche Wissenschaftler und falsche Hasen, a.a.O. , S. 67
413
Sartre, Jean-Paul: Die Kommunisten und der Friede, in: Sartre, Jean-Paul, Krieg im
Frieden II, a.a.O. , S. 203
414
Sartre, Jean-Paul: Über Merleau-Ponty, in: Sartre. Jean-Paul: Gesammelte Werke 2.
Autobiographische Schriften, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 116
415
Merleau-Ponty, Maurice, Sartre et l’ultrabolschevisme, in: Les aventures de la
dialectique, zit. n.: Cohen-Solal, a.a.O., S. 532
416
Lévy, Bernard-Henri: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, München, Wien,
2002, S. 417
412
121
Er wußte es. Doch er wurde zum „Hypostalinist“ (Edgar Morin) – ein Stalinist, der
im Gegensatz zum „Hyperstalinisten“, welcher alle Kritik am Stalinismus brüsk als
bourgeoise Verschwörung abtut, alle Kritik gelten ließ, sich um sie aber nicht
scherte und trotzdem in seinem bittersüßen Wahn blieb. Gab es eine Linie
zwischen dem Sartre des dritten Weges und dem Sartre des Stalinismus?
Zumindest im Reflex den Unterdrückten zu Hilfe zu eilen, zeigte sich eine
Sartresche Kontinuität. Die Kommunisten wurden wegen einer Demonstration
festgenommen? Antikommunismus breitete sich im Land aus? Sartre ließ in seinem
römischen Urlaub alles stehen und liegen, um den Kommunisten zu Hilfe zu eilen.
„Wenn er sich der KPF zu diesem Zeitpunkt trotz allem näherte, so vor allem
deshalb, weil ihm die Absicht der Regierung, diese Partei zum Schweigen und ins
Gefängnis zu bringen, unannehmbar erschien: ein absoluter Notfall.“417 In diesem
Fall blieb Sartre dem unterdrückten Subjekt treu – mit dem gravierenden
Unterschied, daß seine vormalige Gleichsetzung des Subjekts mit dem Einzelnen
nicht nur in die Gleichsetzung des Subjekts mit der Klasse, sondern direkt in die
Gleichsetzung mit der ganzen KPF mündete.
In gewisser Weise näherte sich Sartre Marcuse nun von der anderen Seite: Die
Betonung des gesellschaftliche Drucks auf den Einzelnen war bei Marcuse nach
seiner Heideggerzeit stets von höherem Rang als das Betonen des grundsätzlich in
seinen Entscheidungen frei seienden Menschen. Nur schoß Sartre – auf der
Überholspur der Betonung des gesellschaftlichen Zwangs – an Marcuse vorbei und
schnürte das Subjekt in Parteistiefel.
Der Bruch mit Camus
Die neue Position des Compagnion des Routes brachte Konsequenzen mit sich:
Den Bruch mit Camus. Mit ihm war eine Annäherung an die KPF nicht zu machen.
In einem erbitterten Wortgefecht, das in der französischen Literaturgeschichte
seinesgleichen suchte, brachen die beiden miteinander.
Vorausgegangen war Camus Veröffentlichung von „Der Mensch in der Revolte“,
das bei der gesamten Redaktion der Temps Modernes durchfiel. Vor die Frage
gestellt, über das Buch zu schweigen oder es schlecht zu besprechen, wählte man
die zweite Variante, da man dachte, daß ein Schweigen als noch größere
Beleidigung aufgefaßt werden könnte. Schließlich wählte man Jeanson aus, eine
Rezension darüber zu schreiben. Camus reagierte auf diesen Verriß mit einem
öffentlichen Schreiben an Sartre.
Die Härte des Tons ließ mehr vermuten, als eine rein politische
Auseinandersetzung. Dennoch war die unterschiedliche politische Konzeption
beider Autoren Grundlage für den Bruch: Sartre auf der einen Seite, der das
konkrete Subjekt zugunsten der Partei fallenließ, auf der andern Seite Camus
Philosophie, die mit den Anarchosyndikalisten sympathisierte, weil er dort die
größtmögliche Übereinstimmung zwischen der Verwirklichung des Subjekts (im
Gegensatz zu Sartre im Sinne vom Einzelnen, vom Individuum) und notwendiger
politischer Organisation sah.
„Atmen heißt urteilen. Es ist vielleicht falsch zu sagen, das Leben sei eine
unaufhörliche Wahl. Aber es ist richtig, daß man sich kein Leben vorstellen kann,
das jeglicher Wahl beraubt ist.“418 schrieb Camus in der Einleitung zum „Menschen
417
418
Cohen-Solal, a.a.O., S. 521
Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Reinbeck bei Hamburg, 1991 , S. 11
122
in der Revolte“. Dies bedeutete ein Festhalten am starken, wenn auch abstrakten
Subjekt Mensch. Im Gegensatz zu Sartre beharrte Camus auf dem Haß und der
Ablehnung gegenüber der Gewalt: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das sich
weigert zu sein, was es ist. Die Frage ist, ob diese Weigerung ihn zur Vernichtung
der anderen und seiner selbst führen kann, ob jede Revolte mit der Rechtfertigung
des allgemeinen Todschlags enden muß, oder ob sie im Gegenteil ohne Anspruch
auf eine unmögliche Schuldlosigkeit, das Prinzip einer angemessenen Schuld
entdecken kann.“419 Während für Sartre die politische Gewalt legitim war, bedeute
sie für Camus ein Greuel. Dem Marxismus setzte er den Anarchismus der ersten
Internationale entgegen: „Die Geschichte der ersten Internationale, in der der
deutsche Sozialismus unaufhörlich gegen das freiheitliche Denken der Franzosen,
Spanier und Italiener ankämpft, ist die Geschichte des Kampfes der deutschen
Ideologie und dem mittelmeerischen Geist.“420 Doch Camus Analyse schwelgte oft
mehr in den schönen Worten, denn an einer praktischen Lösung der Probleme der
Zeit.
Camus beschwor eine menschliche Natur, deren „unbezwingbare Forderungen“
gegen den geschichtlichen Absolutismus stünden und „deren Geheimnis das
Mittelmeer mit seiner Verschwisterung von Geist und hartem Licht bewahrt. Das
revoltierende Denken, das der Kommune oder des revolutionären Syndikalismus
hat diese Forderungen dem bürgerlichen Nihilismus wie den cäsarischen
Sozialismus gegenüber immerfort verleugnet.“421 „Verschwisterung von Geist und
hartem Licht“ und ähnliche Formulierungen mit denen Camus ans Werk ging,
ließen den Bürgersohn der Familie Schweitzer – Sartre -, der gerade seine
proletarische Ader entdeckte, aufschreien und er schleuderte Camus entgegen, daß
dieser, statt in der wirklichen Welt, in der „Republik der schönen Seelen“ wohne.
Auf der einen Seite der Bürgersohn Sartre, auf der anderen Seite der Bauernsohn
eines Algeriers. Später bezeichnete Sartre Camus einmal als „kleinen
Gassenjungen aus Algier“, der den Philosophen spiele. Beide traten mit dem
Anspruch dem Gestus des schriftstellerischen Alleinherrschers über die
französische Literatur auf, gepaart mit sich überschneidenden Frauengeschichten
war dies eine explosive Mischung. Auch Jahre später mischten sich bei Sartre noch
Bewunderung und Verachtung: „In intellektueller Hinsicht durfte man nicht zu
weit, denn er wurde leicht kopfscheu; ein bißchen war er immer noch der kleine
Gassenjunge aus Algier, sehr ungezogen und frech. Er ist vermutlich mein letzter
Freund gewesen.“422
Der Ton des Disputs sprach Bände: „Ich will deshalb antworten: ganz ohne Zorn,
aber zum ersten Mal, seit ich sie kenne, ohne jede Schonung.“, schrieb Sartre. Und
weiter: „Ein Gemisch aus unbewußter Selbstgefälligkeit und Verwundbarkeit hat
einen immer davon abgehalten, Ihnen die ganze Wahrheit zu sagen. Das Ergebnis
ist, daß Sie einer dumpfen Maßlosigkeit zum Opfer gefallen sind, die Ihre inneren
Schwierigkeiten verdeckt und die Sie, glaube ich mediteranes Maß nennen.“ 423
Zwischen den beiden größten französischen Schriftstellern dieses Jahrhunderts
419
Ebd., S. 13
Ebd., S. 242
421
Ebd., S. 243
422
Sartre, Jean-Paul: Selbstportrait mit siebzig Jahren, Interview mit Michel Contat, in:
Sartre, Jean-Paul: Gesammelte Werke, Autobiographische Schriften 2, XXX., S. 253
423
Sartre, Jean-Paul: Antwort an Albert Camus, in: Sartre, Jean-Paul: Krieg im Frieden,
a.a.O., S. 27
420
123
entbrannte ein Streit, der, dem Ton nach zu urteilen, weit über das politische Maß
hinausging, Dennoch basierte er auf politischen Unterschieden. Der
„Hypostalinist“ Sartre verteidigte die UdSSR und den Kommunismus gegen das
bürgerliche Frankreich: „Ja, Camus, ich finde diese Lager wie Sie untragbar: aber
ebenso untragbar die Art, wie die «sogenannte bürgerliche Presse» sie jeden Tag
ausschlachtet. […] Das einzige Gefühl das diese Nachricht [der Existenz der Lager,
S.O.C.] in ihm [dem Anitkommunisten, S.O.C.] hervorrief, war – ich sträube mich
fast, es auszusprechen – Freude. Freude, weil er darin endlich einen Beweis für
seine Sache sah und weil man jetzt gespannt sein konnte, wie es weiterging.“424
Die Lektüre dieses Streites mutet heute – nach 60 Jahren – absurd an. Doch der
Geist des Bürgertums der damaligen Zeit war unzweifelhaft. Antoine Pinay, der
damalige Ministerpräsident der fünften Republik sprach über das Ideal der
französischen Ordnung: „Die Ordnung der Finanzen spiegelt sich in der Ordnung
der Wechselkurse wider, die Währungsordnung in der Wirtschaftsordnung, die
Gesellschaftsordnung in der Sittenordnung.“425 Gepaart mit der Verfolgung der
KPF waren dies eindeutige Signale. Sartres früherer Philosophie zufolge müsse
man sich entscheiden: Schweigen hieße sich der vorherrschenden Tendenz zu
beugen – und das war die des Antikommunismus. Oder dagegen auf Seiten der
KPF Partei zu beziehen. Der Position Camus warf er vor: „Sie tadeln das
europäische Proletariat, weil es den Sowjets nicht öffentlich seine Mißbilligung
ausgesprochen hat, aber sie tadeln auch die Regierungen Europas, weil sie Spanien
in die UNESCO aufnehmen wollen; in diesem Fall sehe ich für sie nur noch eine
Lösung: die Galapagosinseln. Denn die einzige Möglichkeit, den Sklaven dort zu
helfen, scheint mir im Gegenteil darin zu liegen, daß man die Partei der von hier
ergreift.“
Zumindest schien Sartre – für seine eigene Person, seine eigene Subjektivität –
noch an die Grundlage der freien Entscheidung zu glauben. Auch wenn seine
politischen Texte mit diesen Positionen brachen, so hatten sie doch noch Geltung
für die öffentliche und private Person Jean-Paul Sartre. Auf ihrer Grundlage fällte
er die Entscheidung ins Lager der Kommunisten zu wandern – und auch 1956 sich
von der KPF zu trennen. Die dazwischen liegende Periode von 1952-1956 gehörte
zu seiner Dunkelsten und entschuldigt keinesfalls seine Artikel- und
Interviewserien dieser Zeit.
Nach einem Besuch in der Sowjetunion im Jahre 1954 bediente er das mit André
Gide begonnene Genre vom „Bericht eines Schriftstellers nach einem Besuch in
der UdSSR“. Er behauptete allen ernstes, daß in der UdSSR „die totale Freiheit der
Kritik herrscht“. „»Habe Sie den Eindruck«, fragt der Journalist, »daß es in der
Sowjetunion einen besonderen Menschentyp gibt?« Ja, natürlich antwortet Sartre.
Und wäre es nur wegen dieser freundlichen »Pionierlager«, wo man die Kinder
»von sieben Jahren an« daran gewöhnt, vor großen »Stalinportraits« »zu tanzen«
und »vergnügt zu sein«. Haben Sie das Gefühl, daß sich die Frage der
»gesellschaftlichen Privilegien« dort mit derselben Schärfe stellt »wie bei uns«?
Lieber Himmel, nein! Es gibt fast nicht einmal einen kleinen »Kern einer Elite«,
die geneigt wäre, sich zur »Schicht auszubilden«; außerdem ist diese Elite »der
Kritik« zugänglich; ja sie unterwirft sich »permanenter Selbstkritik« und ist
durchaus gewillt, ihr Privilegien aufzugeben […]. In der Sowjetunion besitzt der
Bürger die »volle Freiheit der Kritik«. Er »kritisiert mehr und auf viel effektivere
424
425
Ebd., S. 37f
zit. n.: Cohen-Solal, a.a.O., S. 520
124
Weise« als »der französische Arbeiter«. Er tut es – darin liegt das höchste
Verdienst! - »nicht in einem Café«, sondern »öffentlich« und in voller,
uneingeschränkter »Verantwortung«.“426 Später, in einem Interview mit Michele
Contat anläßlich seines siebzigsten Geburtstag äußerte sich Sartre über die Artikel
folgendermaßen: „[…] nach meinem Besuch in der Sowjetunion habe ich gelogen.
Na »gelogen« ist vielleicht zu viel gesagt: Ich verfaßte einen Artikel – den übrigens
Cau zu Ende schrieb, weil ich krank war, ich hatte in Moskau ins Krankenhaus
gehen müssen -, in dem ich über die UdSSR freundliche Dinge sagte, die ich nicht
wirklich dachte. Ich tat das meinerseits, weil ich der Meinung war, wenn man bei
Leuten zu Gast gewesen sei, dann könne man sie nicht, kaum wieder zu Hause, mit
Dreck bewerfen, und andererseits, weil ich mir über die UdSSR und meine eigenen
Ideen nicht ganz klar war.“427
Gelogen? Nicht selbst geschrieben? Als Intellektueller sich nicht über seine
eigenen Ideen im klaren sein? Dies waren sehr schwache Entschuldigungen und
Selbsterkenntnisse eines Siebzigjährigen. Sartre sollte anfällig bleiben für die
Faszination der politischen Aktion, auch wenn sie den Hang zum Totalitarismus
hatte. Zu Sartres Verteidigung kann nur gesagt werden, daß sich die KPF von
anderen kommunistischen Parteien unterschied, die KPI unter Togliatti
ausgenommen – zu der Sartre immer ein enges Verhältnis hatte –, da es ihr gelang,
neben den üblichen „Apparatschicks“, Künstler und Intellektuelle zu versammeln.
Sie verfügte als eine der wenigen KPs über ein literarisches und kulturelles
Umfeld.
Im Rahmen seiner Aktivitäten traf er unter anderem auf Brecht, Chaplin und
Picasso. Er lernte Heidegger und Lukács kennen, freundete sich mit Togliatti an,
der nach 1956 öfter für „Les Temps Modernes“ schrieb und unterhielt Kontakt mit
Moravia Silone, Ungaretti, Piovene, Pablo Neruda und Carlo Levi sowie dem
„Kulturpapst“ der KP, den Surrealisten Louis Aragon. Die Vorstellung eines
parierenden Parteisoldaten wäre völlig deplaziert. Er fällte die Entscheidung der
KPF zu helfen im Rahmen seiner Philosophie der Freiheit – und irrte mit ihr.
Doch er irrte nicht in allem: Als die französische Regierung den Matrosen Henry
Martin, der Flugblätter gegen den Krieg in Vietnam verteilte, festnahm, unternahm
die KPF eine breite Kampagne gegen den Indochinakrieg und zur Befreiung
Martins. Sartre verfaßte mit anderen – darunter auch Jacques Prévert - ein ganzes
Buch über Martin, in dem er das Portrait eines Matrosen meißelte, das aus dem
gleichen Marmor wie die stalinistischen Denkmäler stammen könnte. Martin wurde
schließlich „vorzeitig entlassen“. Keine andere gesellschaftliche Kraft in
Frankreich außer der KPF war in der Lage effizient gegen den Krieg vorzugehen.
In dieser, seiner „hypostalinistischen“ Zeit, sollte er wenigstens mit seiner Position
gegen den Kolonialkrieg recht behalten.
Sartres Subjekttheorie dieser Zeit kann damit umrissen werden, daß er eine
offizielle Theorie vertrat, in der das Subjekt in der Partei aufging und eine, die für
den politischen Intellektuellen galt. Die zweite sollte sich in den nächsten Jahren
wieder durchsetzen und den Einzelnen nicht mehr in der Partei aufgehen lassen.
Für Sartres Ansprüche an sich selbst galt weiterhin die freie Entscheidung, auf
dessen Grundlage er die Solidarität mit der KPF wählte.
426
427
Lévi, Bernard-Henry, a.a.O., S. 415
Sartre, Jean-Paul: Selbstportrait mit siebzig Jahren, a.a.O. , S. 272
125
Dem Weltgeist in die Nüstern spucken
Marcuse und der Traum von der Rückkehr zum Institut für
Sozialforschung
Über die Zeit Marcuses beim OSS ist wenig bekannt. Posthum wurden seine
„Feindanalysen“ publiziert, die einen kleinen Einblick in die ersten Jahre Marcuses
beim Geheimdienst gaben. Bekannt ist, daß er ein Fellowship am Russian Institute
der Columbia University wahrnahm und ein Angebot des Russian Research Center
der Harvard University in Cambridge hatte. Doch der Tod seiner Frau Sophie
bestimmte, bevor Marcuse Pläne für eine Rückkehr zum von Horkheimer
geleiteten Institut für Sozialforschung schmiedete, sein Leben: „Teddie428 hat schon
ganz recht: der Tod ist ein Absurdität, und die einzige Möglichkeit mit ihm
fertigzuwerden, ist sie zu verdrängen. Helfen tut doch nichts. […] Ich bin noch
nicht so weit, entscheiden zu können, was jetzt geschieht. […] Diese letzten
Monate haben mir ganz stark eingeprägt, daß ich eigentlich nur noch das tun sollte,
was ich für richtig halte. Für alles andere ist keine Zeit mehr. Ich bin vielleicht zum
ersten Mal frei, die Entscheidungen zu machen – und ich verstehe jetzt die
Unannehmlichkeiten der Freiheit“429 Nach einem Besuch in Frankfurt schrieb
Marcuse an Horkheimer sechs Monate später, im Oktober 1951: „[…] die wenigen
Tage in Frankfurt haben mir wieder einmal gezeigt, daß in einem halbstündigen
Gespräch zwischen uns mehr herauskommt als in wochenlangen isolierter oder
berufsmäßiger Bemühung. […] Wenn Sie bereit sind, dem Weltgeist in die Nüstern
zu spucken, mache ich gerne mit – aber das Spucken muß sich lohnen. […] Ich bin
so egoistisch geworden, daß mir an der »Flaschenpost« jetzt weniger gelegen ist als
an der Erfüllung unserer verbleibenden Lebensjahre.“430
Trotz der großen Verbundenheit Marcuses gegenüber Horkheimer blieben die
Nüstern des Weltgeistes unbespuckt. Marcuses Rückkehr zum Institut scheiterte
daran, daß „sich die alte Konstellation aus der Zeit der Trennung Marcuses von
Horkheimer wieder herstellten. Horkheimer und das Institut wollten Marcuse
gegenüber – dem allerdings während der langen Krankheit seiner Frau durch
Kredite geholfen war – keine finanziellen Verpflichtungen eingehen; Marcuse –
inzwischen ein 55jähriger Mann – wollte nicht auf gut Glück nach Deutschland
gehen; Adorno bekundete unverhohlene Eifersucht.“431
Und so erreichte Horkheimer am 3.6.1954 ein weiterer Brief Marcuses in dem er
schrieb: „Sie werden inzwischen schon […] gehört haben, daß ich ein Angebot der
Brandeis University angenommen habe: full professorship in the Department of
Political Science. […] – denn ich denke selbstverständlich nicht daran, dort die
Jahre meines noch verbleibenden Berufslebens zu verbringen. Aber ich kann nur
abwarten, wie sich die Dinge bei Ihnen entwickeln.“432
428
gemeint war Adornos Kosename
Marcuse, Herbert: Brief an Max und Maidon Horkheimer sowie Friedrich und Carlota
Pollock, 3. März 1951, in: Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und
Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcoctail. 1946-1995, Band 2,
Hamburg, 1998, S. 58
430
Marcuse, Herbert: Brief an Max Horkheimer, 18. Oktober 1951, in: Kraushaar, a.a.O., S.
62f
431
Wiggershaus, a.a.O., S. 517f
432
Marcuse, Herbert: Brief an Max Horkheimer, 3.6.1954, zit. n.: Wiggershaus, a.a.O., S.
519
429
126
Marcuse gab also die Hoffnung nicht auf, doch noch einmal mit Horkheimer
arbeiten zu können. Erfüllen sollte sie sich nicht. Statt dessen arbeitete er an
seinem Freudbuch, daß 1955 mit dem Titel: Eros and Civilasation erschien.
Als hätte der Weltgeist Marcuses Begehrlichkeit, ihm in die Nüstern zu spucken,
zur Kenntnis genommen, revanchierte er sich auf seine Weise: Neben Marcuse
sollte vier Jahre später jemand anderes ebenfalls an einem Buch, genauer gesagt an
einem Drehbuch über Freud arbeiten: Sartre, der in Geldnot geraten war, lieferte
dem Regisseur John Huston ein Freud-Drehbuch für einen – wäre das Drehbuch
umgesetzt worden – achtstündigen Film. Nachdem das Einzige was Marcuse in
jenen Jahren publizierte, eine Besprechung von Sartre war, sollten sich ihre
Arbeitsschwerpunkte ein weiteres Mal kreuzen. Doch diesmal mit weit mehr
Sympathien füreinander.
Marcuses: Eros and Civilization 1955
Marcuses letztes Buch, “Vernunft und Revolution“, lag 14 Jahre zurück und
dennoch schien er nahtlos an seine alten Schriften anknüpfen zu können. In seinen
letzten Schriften konstatierte er ein verwaltetes Subjekt und im Gegensatz zu
Sartre, der vom Subjekt der totalen Freiheit zum Arbeiter in der Partei als
temporäre Verwirklichung der Freiheit überging, blieb er bei seiner Konzeption
und vertiefte sie.
Einigkeit zwischen beiden Theorien bestand in der gesellschaftlichen Dominanz
über den Einzelnen. Doch Marcuse kam in den USA zu anderen Schlüssen als
Sartre in Frankreich. Während in Frankreich durch eine einflußreiche KPF eine
gesellschaftliche Kraft existierte, die – wenn auch keine annehmbare – eine
Perspektive auf den Sozialismus bot. Weiterhin sorgte sie für ein kulturelles
Umfeld, das als metapolitisches Feld verstanden werden konnte. Die große
kulturindustrielle Vereinnahmung des Einzelnen wie in den USA fand in
Frankreich nicht in dem Maße statt, um von einer kulturellen Hegemonie sprechen
zu können. Die Kommunisten hatte mit der „Humanite“ eine wichtige Zeitung in
der eine Gegenöffentlichkeit organisiert werden konnte. Marcuses Beobachtungen
in den USA, wo Kommunisten und Sozialisten eine politisch zu vernachlässigende
Größe waren und die Subjekte bereits in ganz anderem Maße durch die
Kulturindustrie geprägt wurden, mußten different ausfallen. Die USA mit
Hollywood konnte als Mutterland der Kulturindustrie angesehen werden. Die
Verschmelzung von politischer Ideologie und Subjektivität war in den USA ein
weit dringlicheres und offensichtlicheres Thema als in Frankreich. Es galt also zu
erklären, wie es um die psychische Situation der Einzelnen bestellt war. Deshalb
suchte Marcuse mit der psychoanalytisch geprägten Kulturtheorie Freuds nach
Wegen, um die gesellschaftlichen und subjektiven Transformationen zu erklären.
Marcuses Grundannahme war, daß aus der Logik der Produktion Rückschlüsse auf
die Transformation der Individuen zu schließen wären. Dabei seien die Individuen
nicht als aufgeklärte anzusehen, da ihnen das gleiche Schicksal wie der Aufklärung
selbst widerfuhr. Die Aufklärung blieb für die kritische Theorie vor der Aufklärung
der ökonomischen Verhältnisse stehen. Marcuses Konzeption war der „Dialektik
der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer sehr nah. Man könnte sagen, daß
Marcuse danach suchte die „Dialektik der Aufklärung“ triebtheoretisch zu
fundieren. Großes Augenmerk legte er auf die prinzipielle Möglichkeit des
Subjekts auf gesellschaftliche und damit persönliche Veränderung. Die
Triebstruktur der Subjekte stünde, so Marcuse, in direktem Bezug zum sie
umgebenden gesellschaftlichen Produktionssystem. Mehr noch: Die Subjekte seien
127
auf dem Weg nur noch zu Anhängseln der Produktion zu werden. Die
Austauschbarkeit des Einzelnen im Produktionsprozeß habe, so Marcuse,
grundlegende Auswirkungen auf die Beziehungen der Menschen: „Die
Entfremdung der Arbeitsleistung ist fast vollständig. Die Mechanik des Fließbands,
die Routine des Bürobetriebes, das Ritual von Kauf und Verkauf sind jeder
Beziehung zu menschlichen Möglichkeiten entkleidet. Arbeitsbeziehungen sind in
hohem Maße zu Beziehungen zwischen Personen als austauschbaren Objekten
wissenschaftlicher Lenkung geworden.“433 Dahinter verberge sich die Ideologie,
„daß Produktion und Konsum die Beherrschung des Menschen durch den
Menschen rechtfertigt und ihr Dauer verleiht.“434
Dies habe Auswirkungen auf die Wissenschaft der Psychologie: „Die traditionelle
Grenze zwischen der Psychologie einerseits und der politischen und
Sozialphilosophie andererseits ist durch die Lage des heutigen Menschen unscharf
geworden: ehemals autonome und identifizierbare Prozesse sind durch die
Funktion des Individuums im Staat übernommen und absorbiert worden – durch
das öffentliche Dasein des Einzelnen. So wandeln sich psychologische in politische
Probleme: private Verwirrungen spiegeln heute in viel unmittelbarer Weise die
Verwirrung des Ganzen wider, und die Heilung persönlicher Störungen hängt viel
direkter als ehedem von der Heilung der Gesamtstörung ab.“435
Durch die Konstatierung der Störungen des Einzelnen als gesellschaftliche
Störungen, ließ sich eine Konzeption des menschlichen Wesens ableiten, die ihre
Determination durch die Kultur erhielt. Ähnlich wie Sartre akzeptierte auch
Marcuse keinen Kern des Subjekts der durch erste Natur bestimmt war: „Der
Bereich der Natur ist völlig verschieden vom Bereich der Freiheit: in die
Kausalitätsgesetze kann keine subjektive Autonomie einbrechen und kein aus dem
Bereich der Sinne kommendes Faktum kann die Autonomie des Subjekts
bestimmen (denn sonst wäre das Subjekt nicht frei). Und doch muß die Autonomie
des Subjekts eine »Wirkung« in der objektiven Wirklichkeit haben, und die Ziele,
die das Subjekt sich selbst setzt, müssen wirkliche sein.“436 Das was den Subjekten
als „Natur“ erschien, war für Marcuse nichts anderes, als die die Subjekte
umgebende Gesellschaft. Marcuse widersprach der Auffassung, daß „der Eros als
Trieb die (reine) Natur des Menschen ist, sondern [er] versteht ihn als geschichtlich
entwickeltes schöpferisches Potential, mithin als die aktuell erreichten
menschlichen Fähigkeiten.“437
Das Projekt seiner neuen Freudrezeption war klar umrissen: Marcuses
Überlegungen unternahmen den Versuch, „die tabuisierten Einsichten der
Psychoanalyse (tabuisiert sogar in der Psychoanalyse selbst) auf eine Deutung der
Grundtendenzen der Kultur anzuwenden.“438 Anders gesagt: Nicht nur das Subjekt,
sondern ebenso die Gesellschaft gehöre auf die Couch.
433
Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt /M, 1980, S. 103
Ebd., S. 101
435
Ebd., S. 7
436
Ebd., S. 172
437
Flego, Gvozden: Erotisieren statt sublimieren, in: Institut für Sozialforschung: Kritik
und Utopie im Werk von Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1992, S. 194
438
Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, a.a.O., S. 13
434
128
Die wohl streitbarsten Momente des Buches bestanden darin, daß Marcuse seine
Lesart Freuds auch als die von Freud selber vertrat und damit in Konflikt mit den
neofreudianischen Theoretikern geriet. Besonders seine Ansicht, daß „[…] die
Triebe selbst »historische« sind. […]“ und das „es keine Triebstruktur »außerhalb«
der historischen Struktur“439 gebe, verärgerte all jene, deren Theorien auf
biologischen Triebsubstanzen aufbauten.
Angelehnt an Freuds „Unbehagen an der Kultur“ konstatierte Marcuse: „Kultur
beginnt dort, wo auf das primäre Ziel – nämlich die vollständige Befriedigung von
Bedürfnissen – mit Erfolg verzichtet wird.“440
Freuds Fragestellung am Ende von „Das Unbehagen in der Kultur“ lautete: „Die
Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es
ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch
den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.“441
Freud stellte diese Frage 1930, nachdem bereits ein Weltkrieg mit den schlimmsten
Massakern der bisherigen Menschheitsgeschichte getobt hatte. Marcuses Antwort
auf diese Frage im Jahr 1955, nachdem das Undenkbare Wirklichkeit geworden
war, konnte nicht mit großem Vertrauen in die Kulturentwicklung formuliert
werden. Vielmehr analysierte er das Möglichwerden von Auschwitz als Resultat
bisheriger Kultur: „Konzentrationslager, Massenvernichtung, Weltkriege und
Atombomben sind kein »Rückfall in die Barbarei«, sondern die hemmungslose
Auswirkung der Errungenschaften der modernen Wissenschaft, Technik und
Herrschaftsformen über Menschen. Und diese erfolgreichste Unterwerfung und
Vernichtung des Menschen durch den Menschen geschieht auf der Höhe der
Kultur, in einem Zeitpunkt, wo die materiellen und intellektuellen
Errungenschaften der Menschheit die Schaffung einer wirklich freien Welt zu
erlauben scheinen.“442
Es war nach zwei Weltkriegen notwendig geworden, diese Analogie zwischen der
bisherigen Kultur und der durch sie produzierten Grausamkeit herzustellen. Dabei
war die Ausgangssituation paradox: Die westlichen Zivilisationen verfügten über
die technischen Möglichkeiten, die ein Leben jenseits der Not hätten ermöglichen
können; doch anstatt eine Welt einzurichten, die von Not und Hunger befreit
gewesen wäre, kam es zu zwei Weltkriegen. Marcuse resümierte: „Da es die Kultur
selbst war, die dem modernen Menschen »diese Wunde zufügte« [die Wunde der
Entfremdung, S.O.C.], kann nur eine neue Form der Kultur sie heilen.“443
Doch worin sollte sich diese neue Kultur von der alten unterscheiden? Was war das
spezifische Moment an der alten Kultur, das in der Lage war, den Individuen, der
„lebendige Substanz der Geschichte“444, ihre Entmenschlichung als Lust zu
präsentieren? Und wie könnte eine andere Kultur beschaffen sein, die diese
„Heilung“ ermöglichte?
Der freudschen Triebtheorie zufolge, kennzeichnete der unauflösliche Konflikt
zweier Grundtriebe das menschliche Wesen: Eros und Thanatos (wobei Freud
439
Ebd., S. 132
Ebd., S. 17
441
Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: Freud, Sigmund: Studienausgabe,
Band IX, Frankfurt /M, 2000, S. 270
442
Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, a.a.O. , S. 10
443
Ebd., S. 184
444
Ebd., S.106
440
129
daneben auch ein Nirwana-Prinzip kannte445). Aus diesen Trieben folgten zwei
Prinzipien: Das Lustprinzip auf Seiten des Eros und das Realitätsprinzip auf Seiten
des Thanatos. Das Lustprinzip definierte „die Grundorientierung der menschlichen
Triebe, wie sie sich ohne alle äußere Einflüsse auswirken würden; das
Realitätsprinzip dagegen ihre – phylogenetisch und onthogenetisch – sich
entfaltende Kontrolle und Umformung durch Anpassung an die objektiven
Existenzbedingungen.“446 Marcuse plädierte für eine Neubestimmung der Begriffe
in dem Sinne, daß der Begriff des Realitätsprinzips nicht ausreichend sei, um das
zu bezeichnen, was den Fortschritt der westlichen Kultur und Zivilisation
beherrsche. „Wir bezeichnen dies Realitätsprinzip als das Leistungsprinzip; und
wir versuchten nachzuweisen, daß Herrschaft und Entfremdung – der
vorherrschenden gesellschaftlichen Organisation der Arbeit entspringend – in
hohem Maße die den Trieben durch dieses Realitätsprinzip auferlegten
Forderungen bestimmen.“447 Das Leistungsprinzip, so Marcuse, sei die
„vorherrschende historische Form des Realitätsprinzipes“448
Die gesellschaftliche Realität sei, so Marcuse, von einem absurden Widerspruch
erfüllt: Auf der einen Seite verfügten die fortgeschrittenen Industriegesellschaften
über die technischen Möglichkeiten Hunger und Armut zu besiegen und zu einer
freieren Gesellschaft, die sich durch ein Ausbleiben von Verteilungskämpfen
auszeichnen könnte, überzugehen. Auf der anderen Seite weise die Gesellschaft in
realitas ein Höchstmaß an Unterdrückung und Gewalt auf. Dieses Paradoxon fände
sich, so Marcuse, direkt im Subjekt wieder: „[…] Je näher die reale Möglichkeit
rückt, den Einzelnen von den ehemals durch Mangel und Unreife gerechtfertigten
Einschränkungen zu befreien, desto mehr steigert sich die Notwendigkeit, diese
Einschränkungen aufrecht zu erhalten und immer funktionstüchtiger zu gestalten,
damit sich die bestehende Ordnung nicht auflöst. Die Zivilisation muß sich gegen
das Traumbild einer Welt verteidigen, die frei sein könnte.“449
Aus dem Widerspruch zwischen der realen Möglichkeit einer anderen Welt und
dem real herrschenden Gesellschaftssystem kam Marcuse dazu den Begriff der
zusätzlichen Unterdrückung zu definieren: „Zusätzliche Unterdrückung: die durch
die soziale Herrschaft notwendig gewordene Beschränkungen. Sie unterscheiden
sich von der (Grund-) Unterdrückung, der Triebmodifizierung, die für das
Fortbestehen der menschlichen Rasse in der Kultur unerläßlich ist.“450
Marcuse Konzeption ging von einem widersprüchlichen Subjekt aus. Das Subjekt
verfügte bei ihm über einen Kern, der nach Befreiung strebe, aber gleichzeitig über
eine gesellschaftlich implementierte Triebstruktur, die es das Leistungsprinzip
verinnerlichen lasse.
In Marcuses Theorie interiorisierte das moderne Subjekt die gesellschaftlichen
Determinanten sogar soweit, daß die traditionelle Rolle des Vaters durch die
moderne Verwaltung übernommen werde: „Der innerhalb der Familie und in seiner
individuellen biologischen Autorität beschränkte Vater wird, mit viel höherer
Machtvollkommenheit, in der Verwaltung wieder aufgerichtet, in der Verwaltung,
445
vgl. Marcuse, Herbert: Trieblehre und Freiheit, in Marcuse, Herbert: Psychoanalyse und
Politik, Frankfurt /M, 1968, S. 12
446
Arnason, Johann Pall: Von Marcuse zu Marx, Neuwied & Berlin, 1971, S. 146
447
Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, a.a.O. , S.129
448
Ebd., S. 40
Ebd., S. 95
450
Ebd., S. 40
449
130
die das Leben der Gesellschaft erhält, und in den Gesetzen, die die Verwaltung
schützen. Diese letzte und sublimste Interaktion des Vaters kann nicht
»symbolisch« durch Emanzipation überwunden werden; es gibt keine Freiheit vor
der Verwaltung und ihren Gesetzen, denn sie erscheint als die höchsten Garantien
der Freiheit selbst. Die Auflehnung gegen sie wäre wiederum das äußerste
Verbrechen – diesmal nicht gegen das Despot-Tier, das die Befriedigung verbietet,
sondern gegen die weise Ordnung, die die Güter und Dienst für die fortschreitende
Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse sicherstellt. Jetzt erscheint die
Auflehnung als das Verbrechen gegen die gesamte menschliche Gesellschaft und
daher jenseits jeder Sühne und Erlösung.“451 Doch genau diese „große Weigerung“
sei nötig gegen eine Welt „in der weite Gebiete in Armut leben“. Dies liege „nicht
mehr in erster Linie am Mangel menschlicher und natürlicher Hilfsmittel, sondern
an der Art, wie diese Mittel verteilt und ausgenutzt werden.“452
Die Zivilisation habe sich also gegen das Traumbild einer Welt zu verteidigen, die
frei sein könnte. In diesem Zusammenhang sprach Marcuse von der
„Automatisierung des Über-Ich“. An die Stelle des Patriarchen der Familie, der
maßgeblich zur Ausbildung des Über-Ichs beitrug, trat die verwaltete Welt mit
ihren Institutionen. Damit war die alte Rolle der Familie, die vielerorts als
„Keimzelle der Gesellschaft“ bezeichnet wurde, historisch überholt, die
„technische Aufhebung des Individuums“ spiegle sich im Abstieg der sozialen
Funktion der Familie wieder. Die Verwaltung, die an die Stelle des traditionellen
Vaters trete, setzte dagegen den „großen Niemand“ (Arendt): „Auf ihrem
Gipfelpunkt scheint sich die Konzentration der ökonomischen Macht in
Anonymität zu verwandeln: von den Begegnungen und eigenen Gesetzen des
Apparates scheint jedermann, selbst wenn er an der Spitze steht, machtlos zu
sein.“453
Die Leistungsprinzipien der fortgeschrittenen Industriegesellschaften, so Marcuse,
würden direkt im Ich verankert: „Das Ich erlebt das Dasein als »Herausforderung«,
als »Entwurf«, es erfährt jeden Daseinszustand als eine Einschränkung, die
überwunden werden muß, als etwas, das in etwas anderes umzuformen ist. Das Ich
wird darauf geprägt, erfolgreich tätig zu sein, ehe noch irgendeine besondere
Situation solch eine Haltung erfordert.“454
Marcuse zitierte hier Sartresche Begrifflichkeiten, als er vom Entwurf schrieb. Es
war das erste Mal, das er in seiner Arbeit einen – wenn auch leisen – Bezug zu
Sartre herstellte. Den Begriff des Entwurfes sollte er in späteren Arbeiten noch
häufiger verwenden.
Den Zustand dessen, was mit den objektiven technischen Möglichkeiten zu
erreichen sei, bezeichnete Marcuse als Abschaffung zusätzlicher Unterdrückung:
“Die Versöhnung zwischen Lust- und Realitätsprinzip hängt nicht vom »Überfluß
für alle« ab. Die einzig richtige Fragestellung ist die, ob vernünftigerweise ein
Kulturstand vorstellbar ist, in dem menschliche Bedürfnisse in einer Weise und in
einem Maße befriedigt werden, die die Abschaffung zusätzlicher Unterdrückung
erlauben.“455
451
Ebd., S. 93
Ebd., S. 93f
453
Ebd., S. 99
454
Ebd., S.111
455
Ebd., S. 151
452
131
In der Einschätzung der Psychoanalyse, der eigentlichen Theorie des Subjekts,
begannen sich Gemeinsamkeiten zwischen Sartre und Marcuse herauszubilden.
Zwar war Marcuse weit davon entfernt Sartres Positionen der freien Wahl und des
Fehlens eines Unterbewußten zu teilen, doch dessen Attacken richteten sich
vornehmlich gegen die biologische Vorstellung eines Unbewußten. Im „SaintGenet“ zeichnete er ja bereits ein Bild einer übermächtigen Gesellschaft und auch
in „Der Ekel“ war ebenfalls das Erdrücken des Einzelnen durch die Welt zu spüren.
Für Marcuse, bei dem das Subjekt in viel stärkerem Maß als bei Sartre verwaltet
war, versagte die Psychoanalyse, wenn sie gesellschaftlichen Faktoren außer acht
lasse. Er schrieb: „Aber an einem entscheidenden Punkt scheint die
psychoanalytische Methode zu versagen: die Geschichte hat sich »hinter dem
Rücken« der Individuen und über den Einzelnen hinaus fortentwickelt und die
Gesetze der historischen Prozesse haben auf diese Weise mehr die verdinglichten
Institutionen als die Individuen beherrscht.“456 So wie für Sartre die
Bewußtwerdung einer „Urwahl“ zum Grundstock seiner psychoanalytischen Praxis
gehören sollte, bei der eine Aufklärung über die gesellschaftlichen Zustände und
Zuschreibungsprozesse ein Teil des Heilungsprozesses war, so war auch für
Marcus eine „unpolitische“ Psychoanalyse undenkbar.
Die Existenz der zusätzlichen Unterdrückung analysierte Marcuse in den USA wie
in der UdSSR. Damit unterschied er sich von Sartre, der sich damals auf dem
Höhepunkt seiner Solidarität mit der KPF befand. Einen Satz wie Marcuses:
„Tüchtigkeit und Unterdrückung reichen sich die Hand: die Produktivität der
Arbeit zu steigern, ist das geheiligte Ideal des Kapitalisten wie der stalinistischen
Stachanow-Methode. Diese Auffassung der Produktivität hat aber ihre historischen
Grenzen: es sind diejenigen des Leistungsprinzips. Jenseits dieser Domäne hat die
Produktivität andere Inhalte und eine andere Beziehung zum Lustprinzip: in den
Vorgängen der Phantasie sind sie vorweggenommen, die sich freihalten vom
Leistungsprinzip, während sie den Anspruch eines neuen Realitätsprinzips
unterstützen.“457 wäre von Sartre erst nach 1956 unterschrieben worden. Zu diesem
Zeitpunkt vertrat Sartre noch das Bild der glücklichen Kinder, „die unter
Stalinbüsten spielten“. Erst nach dem Einmarsch der UdSSR in Ungarn sollte die
Annäherung zwischen Sartre und Marcuse weitergehen.
Welche Möglichkeiten boten sich für Marcuse, um dieser erdrückenden Welt
entgegenzutreten und Ausblicke auf eine bessere Welt zuzulassen? Marcuse
beantwortete diese Frage damit, daß er der Kunst die Rolle zuschrieb. Sie böte, so
Marcuse, einen Ausblick auf eine andere Form des Lebens. Daneben sah er in
Sinnlichkeit und Phantasie Gegengifte gegen die Entfremdung: „Phantasie sieht
das Bild der Wiederversöhnung des Einzelnen mit dem Ganzen, des Wunsches mit
der Verwirklichung, des Glücks mit der Vernunft. Für das geltende Realitätsprinzip
ist diese Harmonie ins Reich der Utopie entrückt, aber die Phantasie besteht darauf,
daß es Wirklichkeit werden muß und kann: daß hinter der Illusion ein Wissen steht.
Die Wahrheiten der Vorstellungskraft werden erst realisiert, wenn die Phantasie
selbst Form annimmt, wenn sie ein Universum der Wahrnehmung und des
Verständnisses – ein subjektives und gleichzeitig objektives Universum schafft.
456
457
Ebd., S.107
Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt /M, 1980, S. 155
132
Dies geschieht in der Kunst.“458 Für Marcuse stellte Kunst die „sichtbarste
»Wiederkehr« des Verdrängten“ dar. „Die Kunst verbündet sich mit der
Revolution. Das kompromißlose Bekenntnis zu den unverfälschten
Wahrheitsgehalten der Phantasie erfaßt die Wirklichkeit vollkommener.“459 Die
große Triebkraft der Kunst stelle die Phantasie dar: „Der Wahrheitswert der
Phantasie bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern ebensosehr auf die
Zukunft: die Formen der Freiheit und des Glücks, die sie aufruft, erheben den
Anspruch, historische Wirklichkeit zu werden.“460 Über die Phantasie und die
Kunst sei es möglich die repressiven Kontrollen abzuschaffen, welche „die Kultur
der Sinnlichkeit auferlegt“ habe.
Der Übermacht der Gesellschaft war für Marcuse nur mit „der großen Weigerung“
entgegenzutreten: „Die »große Weigerung« ist der Protest gegen unnötige
Unterdrückung, der Kampf um die höchste Form der Freiheit, »ohne Angst zu
leben«.“461 Sie sei eine Möglichkeit der Subjekte gegen ihre gesellschaftliche
Fragmentierung vorzugehen. „In einer entfremdeten Welt stehen Exemplare der
Gattung einander gegenüber: erst Eltern und Kinder, Männer und Frauen, dann
Herr und Knecht, Chef und Angestellter. Sie treten zu erst einmal in den
spezifischen Formen der universellen Entfremdung miteinander in Beziehung.“462
Auffällig war, daß es für Marcuses Subjekte – im Gegensatz zu früheren Schriften
– Möglichkeiten gab, sich zumindest teilweise dem großen Ganzen zu entziehen.
Zwar war Marcuse weit davon entfernt das Bild einer neuen Gesellschaft
aufzuzeigen – dies geschah nur ex-negativo – doch gegenüber den Schriften, die
von der ungeheuren Verdunklung des Faschismus geprägt waren, entstanden nun
wenigstens Möglichkeiten und Wege für eine andere Form des Lebens. Sicherlich
waren Marcuses und Sartres Theorien Kinder ihrer Zeit. Marcuse war in den USA
mit einer ganz anderen kulturindustriellen Entwicklung konfrontiert als Sartre in
Frankreich. Das „Überschwappen“ der amerikanischen Massenkultur nach
Frankreich sollte erst später erfolgen. So war es nicht verwunderlich, daß Marcuse
Momente der amerikanischen Massenkultur früher und klarer erkennen konnte, als
dies anderen möglich war.
Für Sartre sollte nun die Zeit des längst überfälligen Bruchs mit den Kommunisten
anstehen. „Der Spiegel“ widmete dem Bruch Sartres mit den Kommunisten eine
Titelseite und unterschrieb sie treffend mit: „Moskaus schmutzige Hände. Von den
Barrikaden gefallen: Jean-Paul Sartre“463
Der Bruch mit den Kommunisten: Ungarn 1956
Wie definierte Sartre selbst sein Verhältnis zu den Kommunisten? Gegenüber
Pierre Naville bezeichnete er es als „unabhängig“ und nannte sich „einen
Verbündeten der Kommunisten“464. Mit dem Einmarsch der roten Armee in
458
Ebd., S. 143
Ebd., S. 149
460
Ebd., S. 148
461
Ebd., S. 149
462
Ebd., S. 249
463
Der Spiegel, 1956, Nr. 49, Titelseite
464
Sartre, Jean-Paul: Antwort an Pierre Naville, in: Sartre, Jean-Paul: Krieg im Frieden II,
Reinbek bei Hamburg, 1982, S. 214
459
133
Ungarn änderte sich Sartres Haltung und der „Verbündete“ wurde zum einfachen
Kommunisten – gemeint ist damit, daß Sartre an seiner sozialistischen
Grundhaltung festhielt, aber seine Bande zur KP aufgab. Im November 1956
schrieb er in L’Express: „Ich verurteile die sowjetische Aggression voll und ganz,
ohne die geringste Einschränkung. Ohne das russische Volk dafür verantwortlich
zu machen, wiederhole ich, daß seine gegenwärtige Regierung ein Verbrechen
begangen hat… Und für mich ist das Verbrechen nicht nur der Angriff auf
Budapest mit Panzern, sondern auch das er ermöglicht worden ist…durch zwölf
Jahre Terror und Dummheit…Ich sage, daß eine Wiederaufnahme der Beziehung
zu denen, die heute die KPF führen, jetzt nicht mehr möglich ist und nie wieder
möglich sein wird. Jeder einzelne Satz, jede einzelne Geste von Ihnen ist das
Ereignis von dreißig Jahren Lüge und Verknöcherung. Ihre Reaktionen sind
einfach verantwortungslos.“465
Bernard-Henri Lévy weist darauf hin, daß Sartres Verurteilung zwar in scharfem
Ton geschah, eine tatsächliche Ablösung von der UdSSR allerdings erst 1968
stattfand466. Dem gegenüber sei ein Wort aus Sartres Autobiographie „Die Wörter“
gegenübergestellt, in dem er resümiert: „Seit ungefähr zehn Jahren bin ich ein
Mann, der geheilt aus einem langen, bitteren und süßen Wahn erwacht […]“467Auf
jeden Fall war die Zeit, in der Sartre die Freiheit des Arbeiters in der Partei enden
sah, vorbei.
Sartre blieb Kommunist, doch dieses Mal nahm er den Bruch mit der KPF in Kauf
und den ungarischen Arbeitern, deren Sozialismusmodell er teilte, eilte er mit der
Feder zu Hilfe. Cohen-Solal urteilte über diesen Schritt: „Genauso schnell und
genauso überzeugt, wie er im Frühjahr 1952 von Rom aus der KPF zu Hilfe geeilt
war, stürzt er im Oktober 1956 von Rom aus zur Unterstützung der unterdrückten
Ungarn los.“468 Zur Einschätzung des ungarischen Aufstandes schrieb er: „Diese
Arbeiterräte, die sich von den ersten Tagen des Aufstandes an konstruiert haben,
die niemals aufgehört haben zu funktionieren, die immer noch funktionieren, sie
haben den bewaffneten Widerstand in einen Generalstreik verwandelt, sie sind es,
die es in mehreren Provinzstädten geschafft haben, mit reaktionären Umtrieben
fertig zu werden, sie haben Kádár gezwungen, mit ihnen zu verhandeln: nach der
Niederschlagung der Revolte waren sie die einzig lebendige, zugleich sozialistische
und nationale Kraft, die sich sowohl den Russen wie der Reorganisation der
Bürokratie widersetzte; […] Was ist das für ein Sozialismus, der darauf versessen
ist, die durch das Proletariat gewählten Kontrollorgane zu zerstören? Und wenn er
sie als wirkliche Repräsentanten des Volkes anerkannte, wie kann er dann heute
ohne sich zu disqualifizieren, ihre Führer verhaften lassen? […] Meine
kommunistischen Freunde haben manchmal geschriehen: «Räte überall!» Das ist
ein schönes Programm. Jetzt müßten sie ein wenig genauer werden: «Räte überall
außer in Ungarn»“469
Sartre kommunistische Überzeugung definierte er gegen das Vorgehen der UdSSR.
Es sah in der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes einen Verrat an den
kommunistischen Idealen und Prinzipien. Wenn man Sartres politische
L’Express, 9. November, 1956, zit.n.: Cohen-Solal, a.a.O., S.552
siehe: Lévy, Bernard-Henri, a.a.O., S. 419ff
467
Sartre, Jean-Paul: Die Wörter, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 143f
468
Cohen-Solal, a.a.O., S. 552
469
Sartre, Jean-Paul: Das Gespenst Stalins, in: Krieg im Frieden II, a.a.O., S. 252f
465
466
134
Veränderung benennen wollte, so war diese am besten mit dem Wandel von Parteizum Rätekommunisten bezeichnet. Den Idealen der Revolution blieb er treu: „Nur
eine Volksfront kann unser Land retten“, schrieb er, „nur sie kann unsere
kolonialen Krebsgeschwüre heilen, die Wirtschaft aus ihrem Malthusianismus
herausreißen, ihr einen neuen Impuls geben, eine Massenproduktion unter
Arbeiterkontrolle organisieren, um das französische Lebensniveau zu heben; nur
sie kann die Grundlagen einer sozialen Demokratie legen, die nationale
Souveränität zurückerobern, den atlantischen Block zerbrechen und die Macht
Frankreichs in den Weltfrieden stellen.“470
Sartre kehrte zu seiner Theorie des Subjekts zurück, doch dieses Mal mit der
nötigen Aufwertung der gesellschaftlichen Zwänge. Das zur Freiheit verurteilte
Subjekt tauchte wieder in seinen Schriften auf. Er schrieb: „[…] die Volksfront
oder der Stillstand, man muß wählen.“471 Auch wenn sich Sartre in den Jahren von
1952-1956 der Partei verschrieben und untergeordnet hatte, so geschah auch dies
auf der Grundlage von „Das Sein und das Nichts“. Sartre hatte einmal gewählt und
nun wählte und entschied er sich erneut. Diesmal für den Bruch mit der KPF: „[…]
ja, es ist der Moment, es ist der richtige Moment, vielleicht ist es sogar schon zu
spät! Damit die Dinge soweit gekommen sind, damit derselbe Irrtum, zehnmal
angeprangert, noch einmal auftaucht, muß die französische KP schwer krank sein;
wenn man nicht einen energischen Schritt tut, wird ein Krebsschaden entstehen.“
Selbstverständlich hatte diese Position auch in Sartres Umgebung Konsequenzen:
Jeanson, der die Rezeption über Camus „Der Mensch in der Revolte“ geschrieben
hatte, hielt Sartres Position für überzogen. Es folgte der Bruch. Schlußendlich hatte
Sartre damit sowohl mit Camus wie mit Jeanson gebrochen, aber dafür eine eigene
Position widergewonnen.
Sartre hatte sein politisches Engagement klar umrissen. Der „Rückzug ins Private“
oder das Fernbleiben von politischer Aktivität war mit Sartres Philosophie nicht in
Einklang zu bringen. Die nächsten sozialen Kämpfe, zu deren Teilnahme sich
Sartre entschied, waren die Kämpfe gegen den Kolonialismus. Damit tauchte für
Sartre auch ein neues Subjekt der Befreiung auf, das er mit Marcuse teilte: Die
kolonialen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt.
Unabhängiger Sartre
Der Kampf für die Befreiung in der Dritte Welt.
1956-1964 waren die produktivsten und qualitativ ergiebigsten Jahre für Sartre.
Die Schriften aus dieser Zeit sollten das Fundament für den Respekt und die
Anerkennung Marcuses gegenüber Sartre legen und manchmal, in den letzten
Jahren ihres Lebens, sollte Marcuse Sartre theoretisch und praktisch näher stehen,
als den alten Freunden von Institut für Sozialforschung. Mit großer Sicherheit war
für diesen Respekt und diese Wertschätzung Sartres Paradigmenwechsel, weg von
der Proklamation der Verantwortung für sich selbst und hin zur Verantwortung für
Andere maßgeblich. Nach der gescheiterten Annäherung zur KPF explodierte
Sartres Produktivität förmlich. Die Schriften dieser Zeit machten ihm zum
„Philosophen des Jahrhunderts“ (Lévi). Sartres Engagement für eine bessere Welt
traf auf die ungeteilte Zustimmung Marcuses. In einem Gespräch mit Habermaß
470
471
Ebd., S. 320
Ebd., S. 322
135
stimmte Marcuse der These zu, daß Sartre die einzige Figur außerhalb des
„Frankfurter Einzugsbereiches“ (Habermas) gewesen sei, die zur intellektuellen
Auseinandersetzung gereizt hätte472.
Nachdem auch andere „Compagnons des routes“ (wie z.B. Picasso) ihren Bruch
mit der KPF öffentlich gemacht hatten, zeichnete sich das Ende der „ideologischen
Immunität“ (Spurk) der UdSSR ab. Spurk weist darauf hin, daß für das Verhältnis
„zwischen der Partei und den Intellektuellen in Frankreich […] die Kolonial- und
Innenpolitik sicherlich wichtiger war, als der XX. Parteitag der KPdSU.“473
Mit dem Einmarsch in Ungarn konstituierten sich die Beginne der „deuxiéme
gauche“, neuer linker Strömungen in Frankreich, die unorthodoxe Lesweisen des
Marxismus entwickelten. Nachdem Sartre kein Engagement gegenüber dem
spanischen Bürgerkrieg – im Gegensatz zu Camus, für den der Anarchismus in
Spanien der politische Ausgangspunkt war – entwickelte und auch sein
Engagement im Zweiten Weltkrieg scheiterte, war nun „sein“ Krieg gekommen. Er
wurde zur tragenden Figur der französischen Linken durch sein Engagement gegen
die Kolonialherrschaft.
Mendès-France hatte nach der Niederlage in Dien Bien Phu Frieden geschlossen,
im gleichen Zuge wurde Tunesien innere Autonomie zugebilligt. Doch die
Situation in Algerien blieb unverändert: Die mächtige Lobby der Siedler, die
„Pieds-noirs“ versuchten den Staus Quo in Algerien zu halten. Als Resultat dieser
Politik kam es am 7. November 1954 zu einer Serie von Attentaten in Algerien.
„Die Regierung Edgare Faure löste die Regierung Mendès-France ab. Die
Regierung Guy Mollet löste die Regierung Edgar Faure ab. Als Generalgouverneur
in Algerien folgte auf Edmond Naegelen Roger Léonard. Auf Roger Léonard folgte
Jacques Soustelle. 1956 schließlich wurde Roberte Lacoste zum Residierenden
Minister in Algerien ernannt. In knapp sechs Jahren erlebten die Franzosen in der
Metropole und die Franzosen in Algerien mehr als sechs Politiker, die die
unangenehme «Affaire», wenn nicht lösen, so doch wenigstens verwalten
sollten.“474
Sartres Position gegenüber der Algerienfrage war eindeutig. Er trat für ein
bedingungsloses Ende der Kolonialherrschaft ein. Die Texte aus jener Zeit zeigten
einen Sartre, dessen Marx-Revision in der Frage nach der Stellung des Subjekts zu
höchst fruchtbaren Resultaten führte. Er begann wieder die Auswirkungen der
politischen Systeme auf den Einzelnen zu untersuchen, womit er methodisch sehr
nah an Marcuse geriet; denn warum sonst schrieb dieser „Triebstruktur und
Gesellschaft“, wenn nicht, um die gesellschaftlichen Veränderungen in der
Veränderung der Triebstruktur des Einzelnen zu erfassen?
Dabei gingen beiden von einer Übermacht des Systems aus, die den Einzelnen ihre
Charaktermasken aufoktroyierten.
Beide griffen dabei auf eine marxsche Grundüberlegung zurück: Im Vorwort des
Kapitals schrieb Marx: “Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer
zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um Personen
nur, sowie sie die Personifikation ökonomischen Kategorien sind, Träger von
bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann
mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformationen
als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich
472
Habermaß, Jürgen, Bovenschen, Silvia, u.a., a.a.O. , S. 21
Spurk, Jan: Bastarde und Verräter. a.a.O., S. 515
474
Cohen-Solal, a.a.O., S. 563
473
136
machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch
subjektiv über sie erheben mag.”475
Eben von diesen „Personifikationen ökonomischer Kategorien“ gingen Sartre und
Marcuse aus. In einer Rede, die Sartre vor einer Versammlung gegen den
Algerienkrieg hielt, sagte er: „Und wenn ich »Kolonialsystem« sage, dann verstehe
man mich recht: es handelt sich nicht um einen abstrakten Mechanismus. Das
System existiert, es funktioniert; der Teufelskreis des Kolonialismus ist eine
Realität. Diese Realität ist verkörpert in einer Millionen Kolonisatoren, Söhnen und
Enkeln von Kolonisatoren, die vom Kolonialismus geformt sind und die nach den
Prinzipien des Kolonialsystems denken, sprechen und handeln.“476 Dabei gerate die
ökonomische Wirklichkeit, so Sartre, zunehmens in Konflikt mit ihrem liberalen,
aufklärerischen Ursprung. Wo vormals der Universalismus des bürgerlichen
Liberalismus vorherrschte, kehre sich dieser in Rassismus um: „Eine der
Funktionen des Rassismus besteht darin, den latenten Universalismus des
bürgerlichen Liberalismus zu kompensieren: da alle Menschen die gleichen Rechte
haben, macht man aus dem Algerier einen Untermenschen.“477
Kurz: dem Algerier werde der Subjektstatus verweigert. Hätten die Kolonisatoren
anders sein können? Nein, antwortete Sartre, nicht solange sie Kolonisatoren seien.
„[…] Es ist nicht wahr, daß es gute Kolonialherren gäbe und andere, die böse sind:
es gibt Kolonialherren, das ist alles. Wenn wir das begriffen haben, werden wir
verstehen, warum die Algerier recht haben, zunächst politisch den Kampf gegen
dieses wirtschaftliche, soziale System aufzunehmen, und warum ihre Befreiung
und die Befreiung Frankreichs nur aus der Zerschlagung der Kolonialherrschaft
hervorgehen kann.“478
Auffällig an Sartres Schriften war das erneute Wechselspiel zwischen „Eigenem“
und „Anderem“. Die Befreiung Frankreichs – hier das Eigene - könne nur aus der
Befreiung vom Kolonialsystem – dort der Andere - hervorgehen. Hier benutzte
Sartre in seinen Schriften die Kollektivsubjekte „Frankreich“ und „Algerien“,
wobei diese weniger die eigentlichen Individuen ersetzten, sondern vielmehr das
bürgerliche „Wir“ repräsentierten. Problematisch daran war, daß er sowohl
„Frankreich“ als auch „Algerien“ als Homogenitäten darstellte. Er benutzte das
bürgerliche „Wir“, um ein Höchstmaß an Identifikation beim Leser auszulösen. So
schrieb er z.B. „Wir sind alle Mörder“, um zu kennzeichnen, daß das Schweigen
der Partizipation am Kolonialismus gleichkomme.
Auch wenn der Bruch mit der KPF weiterhin bestand hatte, mußten sich
zwangsläufig Gemeinsamkeiten in den antikolonialen Positionen finden. Ein
Mitglied der KPF beschrieb das Verhältnis Sartre-KPF zu dieser Zeit wie folgt:
„Man kann nichts mit Ihnen machen, aber auch nichts ohne sie.“
Aus dem Jahr 1957 datierte ein kleiner Text von Sartre, der wohl zu seinen
schönsten und leidenschaftlichsten gezählt werden könnte: „Ihr seid fabelhaft“. Das
Wort „formidable“ wurde in Frankreich gerade zum Modewort. Jean Nohain, ein
populärer Radio- und später Fernsehmoderator wiederholte diese Worte
wöchentlich, um den Franzosen für ihre Hilfe gegen die Not einzelner Familien zu
danken. Das Konzept der Show war einfach: Eine Familie schilderte ihre Not und
475
Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, 1962, S. 16
Sartre, Jean-Paul: Der Kolonialismus ist ein System, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle
Mörder, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 28
477
Ebd.
478
Ebd., S. 16
476
137
Jean Nohain rief die Franzosen dazu auf mit Matrazen, Hausrat, Konserven,
Medikamenten oder Kleidungsstücken zu helfen. „Unversehens sah sich jene
notleidende französische Familie im Besitz eines Reichtums, den sie diesem
besonderen, illusorischen Moment von Großzügigkeit, dieser zugleich herzlichen
wie trügerischen landesweiten Mobilisierung zu verdanken hatte.“479
Mit anderen Worten: Die Kulturindustrie hielt Einzug in Frankreich. Was für die
Exilanten der kritischen Theorie im Mutterland der Kulturindustrie längst Teil ihrer
Analysen zum präformierten Subjekt war, kam nun auch nach Frankreich, das im
Begriff war sich zu modernisieren. Jean Nohain war dabei nur eines der Rädchen
im System. „Ihr seid fabelhaft“ schallte es einer Nation aus den Radio- und
Fernsehgeräten kurz bevor die IV Republik untergehen sollte. Für Sartre war dieses
Frankreich gar nicht so fabelhaft, er diagnostizierte: „Wir sind krank, schwer
krank; fiebernd und entkräftet, verfolgt von seinen alten Träumen von Ruhm und
Ahnung seiner Schande, schlägt Frankreich um sich inmitten eines undeutlichen
Alptraums, den es weder fliehen noch entschlüsseln kann. Entweder wir werden
Klarheit gewinnen, oder wir werden krepieren.“480
Krepiert war das reale Frankreich nicht, aber in einer solchen Krise, daß die IV
Republik nicht mehr lange überlebten. Die Algerienfrage wurde immer dringlicher,
da es der französischen Armee nur noch mit Terror gelang, ihre Macht
aufrechtzuerhalten, und Folter gehörte in Algerien zum Alltag. „Aber in der Folter,
diesem sonderbaren Match, scheint der Einsatz radikal: der Folterer kämpft mit
dem Gefolterten um den Titel Mensch, und alles geschieht, als ob nicht beide
gleichzeitig der Spezies Mensch angehören könnten.“481 Diesem pardoxen
Frankreich also, rief Nohain zu: „Ihr seid fabelhaft !“ Sartre konterte: „Wenn wir
uns weigern, uns selbst an die Erforschung der französischen Wahrheit zu machen,
während wir fähig sind, unsere alten Matratzen auf den 4 CV zu stapeln, um sie
irgendeinem Jean Nohain vor die Füße zu werfen, so tun wir das aus Angst. Angst
unser wahres Gesicht nackt zu sehen.“482
In gewisser Weise war hier wieder der alte Sartre aus den „Überlegungen zur
Judenfrage“, der mit radikalem Engagement zur Entscheidung drängte: „Über die
Lösung des Algerienproblems konnten Freunde verschiedener Meinung sein, sich
aber weiterhin schätzen. Aber die standrechtlichen Erschießungen? Aber die
Folterungen? Kann man mit jemanden, der sie billigt, noch befreundet sein? [...]
Das Mißtrauen lehrt uns eine neue Einsamkeit kennen: wir sind von unseren
Nachbarn getrennt durch die Furcht, verachten zu müssen oder verachtet zu
werden.“483
Der ganze Stil des bürgerlichen „Wir“ redete vom Einzelnen, der sich entscheiden
müsse. Dabei war sich Sartre sehr wohl um die gesellschaftlichen Zwänge bewußt:
„Das System, das ist die Ohnmacht an der Macht.“484 schrieb er. In gewisser Weise
schienen die alten existentialistischen Prinzipien wieder aufzuerstehen, doch das
bewußte Subjekt war einer Mischung aus freier Entscheidung und Präforation
gewichen: „[...] uns demoralisiert nur die künstliche Unwissenheit in der man uns
479
Cohen-Solal, a.a.O., S. 558
Sartre, Jean-Paul: Ihr seid fabelhaft, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, a.a.O.,
S. 38
481
Sartre, Jean-Paul: Ein Sieg, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, a.a.O., S. 58
482
Sartre, Jean-Paul: Ihr seid fabelhaft, a.a.O., S. 42
483
Ebd., S. 43
484
Sartre, Jean-Paul: Die Frösche, die einen König haben wollen, in: Sartre, Jean-Paul: Wir
sind alle Mörder, a.a.O., S. 83
480
138
hält und die wir selbst mit aufrechterhalten.“485 Ähnliches meinten einmal Adorno
und Horkheimer, als sie von „Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“486
schrieben. Sartres Formel, daß der „Mensch Freiheit in Situation“ sei, tauchte
modifiziert wieder auf – nur diesmal als „[...] die Situation entscheidet.“487 Die
Situation, das blieben aber dennoch die Subjekte. Neue Fragen tauchten auf: „Sind
es die Menschen, die das System geschaffen haben, oder hat das System die
Menschen geschaffen?“488 Die Frage blieb offen. Ein neues, immenses
theoretisches Projekt sollte aus diesen Fragen geboren werden: Die „Kritik der
dialektischen Vernunft“.
Man müsse sich entscheiden – dies blieb dennoch. „Das Sein und das Nichts“,
während der Zeiten der größten Unterdrückung der Menschheitsgeschichte
geschrieben, rang damals dem erdrückenden System Individualismus ab und auch
nun stellte Sartre die Frage nach dem Einzelnen: „Damals durfte die deutsche
Bevölkerung nicht behaupten, von den Konzentrationslagern nichts gewußt zu
haben. «Von wegen!» sagten wir. «Sie wußten alles!» Wir hatten recht, sie wußten
alles, und erst heute können wir es verstehen: denn auch wir wissen alles. Die
meisten hatten Dachau oder Buchenwald niemals gesehen, aber sie kannten Leute,
die wieder andere kannten, die den Stacheldraht gesehen oder in einem
Ministerium Einblick in vertrauliche Notizen genommen hatten. Sie dachten wie
wir, daß diese Informationen nicht zuverlässig seien, sie schwiegen, sie mißtrauten
einander. Können wir sie heute noch verurteilen? Können wir uns noch die Hände
in Unschuld waschen? Wie viele Matratzen müßten wir an der lace de la Concorde
abgeben, um die Welt vergessen zu lassen, daß in unserem Namen Kinder gefoltert
werden und daß wir dazu schweigen?“489
Sartres Engagement gegen den Kolonialismus ging so weit und war von solcher
Wichtigkeit, daß auf einer Demonstration am 3. Oktober 1960 Schilder von
Anhängern eines französischen Algeriens getragen wurden, auf denen zu lesen
war: „Erschießt Jean-Paul Sartre“. Die OAS nahm dies wörtlich und plazierte eine
Bombe in Sartres Wohnung.
Doch zuvor spitzte sich die Situation in Frankreich zu und die IV. Republik ging
unter. De Gaulle trat erneut auf den Plan. In weiser Voraussicht schrieb Sartre:
„Ein großer Mann ohne Funktion ist für eine Nation gefährlich; auch wenn er sich
in ein entlegenes Dorf zurückgezogen hat. Schweigt er, dann hört man seine
Vergangenheit. General de Gaulle schweigt seit langem, aber seine Vergangenheit
blieb unter uns.“490 Wenig später sollte de Gaulle erneut an der Spitze Frankreichs,
der neuen V. Republik stehen. Oder anders gesagt: „Mit den Bomben von Algerien
flog die IV. Republik in die Luft.“491
485
Sartre, Jean-Paul: Ihr seid fabelhaft, a.a.O., S. 39
Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt /M, 1988,
S. 129
487
Sartre, Jean-Paul: Der Prätendent, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, .a.a.O., S.
68
488
Sartre, Jean-Paul: Die Frösche, die einen König haben wollen, a.a.O., S. 84
489
Sartre, Jean-Paul: Ihr seid fabelhaft, a.a.O., S. 44
490
Sartre, Jean-Paul: Der Prätendent, a.a.O., S. 62
491
Spurk, a.a.O., S. 523
486
139
Marx und die UdSSR
Marcuses: Soviet Marxism: A Critical analyses
Nachdem Marcuse dem Weltgeist nicht wie angedacht mit einer Rückkehr zum
Institut für Sozialforschung nach Frankfurt in die Nüstern spucken konnte,
publizierte er die Ergebnisse seiner Arbeiten über die UdSSR. 1953 schrieb er an
Horkheimer: „noch ein Jahr über Russisches zu arbeiten, [...] das hängt mir zum
Hals raus.“492 Die Publikation „Soviet Marxism: A Critical analyses“ sollte seine
Arbeiten über die UdSSR abschließen.
Vor allem ging es Marcuse darum die UdSSR mit Marxschen Mitteln zu
analysieren und eventuelle Analogien zur westlichen Welt herauszuarbeiten. Dabei
begann Marcuse seine Analyse mit den ökonomischen Grundlagen der UdSSR.
Durch ihr Programm der nachgeholten Industrialisierung sei sie in einer
historischen Situation, in der sie sich von der Arbeits- und in der Sexualmoral
kaum vom Westen unterscheide. Das Individuum sei in der UdSSR, „in der
Massenproduktion und Massenmanipulation zum Schrumpfen des Ichs und zur
administrativen Verortung seiner materiellen und geistigen Bedürfnisse“493 geführt
worden.
Während in der bürgerlichen Gesellschaft die „Gleichschaltung der privaten und
öffentlichen Existenz“ weitgehend unbewußt und „hinter dem Rücken der
Individuen“ stattfände, sei sie in der UdSSR „Teil der totalen Mobilmachung der
Individuen für die Erfordernisse konkurrierender, totaler Industrialisierung.“494 Die
„autonome Persönlichkeit“, das „autonome Subjekt“ sei durch das Anwachsen
technischer Kontrollen zersetzt worden.
Marcuse blieb beim Glücksanspruch der Einzelnen; zwar gestand er der UdSSR ein
Mindestmaß an Unterdrückung zu, um den Mangel zu beseitigen, doch dies
rechtfertige nicht die zusätzliche Unterdrückung, die in der UdSSR herrsche. Die
Ethik der Werte weise eine hohe Ähnlichkeit mit jener der bürgerlichen
Gesellschaft auf: „Schwere Arbeit als solche ist […] kein Wert, wohl aber schwere
Arbeit für den Sozialismus und Kommunismus; nicht jedes auf den Wettbewerb
eingestellte Verhalten, sondern nur der sozialistische Wettbewerb; nicht das
Eigentum, sondern nur das sozialistische Eigentum; nicht der Patriotismus, sondern
nur der Sowjetpatriotismus und so fort. Für das Individuum bedeutet dies keinen
Unterscheid, solange es keine Wahl hat und der Staat definiert, was Sozialismus
und Kommunismus sind und diese Definitionen durchsetzt.“495
Der Tenor des Buches bestand darin, daß auch die UdSSR nicht das erwünschte
„Reich der Freiheit“ für die Individuen war. Statt dessen orientiere sie sich an
staatskapitalistischen Modellen. Auch Lenin sprach von der UdSSR als
staatskapitalistischer Ökonomie. Die Probleme der Revolution faßte er wie folgt
zusammen: „Uns genügt nun diese Kulturrevolution, um ein vollständig
sozialistisches Land zu werden, aber für uns bietet diese Kulturrevolution
ungeheure Schwierigkeiten sowohl rein kultureller (denn wir sind Analphabeten)
als auch materieller Natur (denn um Kultur zu haben, braucht man eine bestimmte
Entwicklung der materiellen Produktionsmittel, braucht man eine bestimmte
492
Marcuse-Horkheimer, 9.2.1953, zit. n. Wiggershaus, a.a.O., S. 517
Marcuse, Herbert: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied und
Berlin, 1964, S. 240f
494
Ebd., S. 241
495
Ebd., S. 244
493
140
materielle Basis).“496 Die Bezeichnung „Staatskapitalismus“ benutzte Lenin, um
deutlich zu machen, daß im Rußland der Revolution nicht einmal derartig
kapitalistische Verhältnisse herrschten, daß eine Revolution wie von Marx erdacht
stattfinden könnte und ein „Staatskapitalismus“ bereits ein Fortschritt zu den
archaischen Verhältnissen des zaristischen Rußlands gewesen sei. Er schrieb: „Sie
merkten jedoch nicht [jene, die den Begriff Staatskapitalismus kritisietren, S.O.C.],
daß die Bezeichnung "Staatskapitalismus" bei mir gebraucht wurde: ERSTENS,
um den historischen Zusammenhang unserer gegenwärtigen Position mit der
Position in meiner Polemik gegen die sogenannten linken Kommunisten
herzustellen, und auch damals schon suchte ich zu beweisen, daß der
Staatskapitalismus höher stehen würde als unsere heutige Wirtschaftsweise“497
Akzeptierte man diese Analyse Lenins, so war es nicht verwunderlich, daß nach
der NEP und der nachgeholten Industrialisierung Ähnlichkeiten zwischen beiden
Systemen bestanden. Das Programm der UdSSR bestand in der „totalen
Industrialisierung“ oder wie es in der dortigen bürokratischen Sprache hieß:
Vorrang der Hauptabteilung I vor der Hauptabteilung II. Gemeint war damit, daß
die Produktion von Produktionsmitteln Vorrang vor der Produktion von
Konsumgütern hatte.
Letztendlich war es für das Individuum irrelevant, ob es im Osten oder im Westen
einer repressiven Moral ausgesetzt war: „Ob der Arbeitstag auf fünf Stunden und
weniger reduziert wird oder nicht, ob die freie Zeit des Individuums diesem gehört
oder nicht, ob es seinen »Unterhalt verdienen« muß, indem es das für die
Lebensbedürfnisse Notwendige herbeischafft oder nicht – all das kann durch die
Individuen selbst überprüft werden [...] Wenn das Sowjetregime die repressive
Moral nicht entsprechend lockern kann oder lockern will, dann wird es nach seinen
eigenen Maßstäben immer irrationaler“498
Dabei betonte Marcuse vor allem das Wechselspiel von Ideologie und Wahrheit.
Mit der Methode der immanenten Kritik suchte Marcuse danach die UdSSR mit
marxschen Mitteln an ihren eigenen Ansprüchen zu analysieren. Die Originalität
der Arbeit bestand in dem Unterfangen die Sowjetunion mit gerade der Theorie zu
konfrontieren, um deren Verwirklichung sie sich offiziell bemühte. Dabei kam er
zu dem Schluß, daß die „historische Schranke“ (Marx) der marxschen Philosophie
nicht gefallen sei, sondern die UdSSR durchaus mit Mitteln der kritischen
Philosophie zu analysieren sei und mit Marx selbst kritisiert werden konnte. Der
Dialektik von Wahrheit Ideologie komme dabei, so Marcuse, besondere Bedeutung
zu, da eine klare Trennung von dem, was einst Ideologie war, unmöglich sei, da
bestimmte Momente der Ideologie zur Wahrheit geworden seien. Marcuse ging
davon aus, daß „der Sowjetmarxismus […] keine bloße Ideologie ist, die vom
Kreml propagiert wird, um seine Politik zu rationalisieren und zu rechtfertigen,
sondern daß er in verschiedenen Formen die Realität der Entwicklung
ausdrückt.“499
Ein Moment des marxschen Denkens bestünde darin den zukünftigen
sozialistischen Staat „im Hinblick auf die tatsächlichen Subjekte“, die ihn
konstituierten, zu behandeln und nicht „im Hinblick auf spezifische
496
vgl. Lenin, Wladimir I.: Über das Genossenschaftswesen , in: Lenin, Werke, OstBerlin, 1973, Band 33, Seite 453 bis 461
497
Ebd.
498
Marcuse, Herbert: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, a.a.O. , 1964, S.
245ff
499
Ebd., S. 23
141
Institutionen.“500 Dabei komme den Begriffen von Subjekt und Objekt eine
exponierte Stellung zu. Das Proletariat bleibe bis zur Revolution Objekt
kapitalistischer Herrschaft und „als solches Bestandteil des kapitalistischen
Systems“. Dabei komme dem Sozialismus als gesellschaftliches Übergangsmoment
zur freien Gesellschaft eine widersprüchliche Rolle zu. „Die erste Phase des
Sozialismus kettet den Arbeiter noch an seine spezifische Funktion, behält die
»knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit« noch bei,
und damit den Automatismus zwischen Rationalität und Freiheit; die rationale
Weise die Gesellschaft zu entwickeln, widerstreitet der Selbstverwirklichung des
Individuums. Das Interesse des Ganzen erheischt noch das Opfer der Freiheit, und
Gerechtigkeit für alle schließt noch Ungerechtigkeit ein.“501
Ein elementares Problem komme dem verdinglichten Bewußtsein zu.
„Verdinglichung“ (Lukács) bestehe in dem Moment, da „der Kapitalismus als ein
»erfolgreiches Geschäft« fortbesteht und den Lebens Standard seiner arbeitenden
Klassen sogar noch erhöht“502 und die arbeitenden Klassen „zum Bestandteil des
kapitalistischen Systems werden“. Genau dies sei in der Geschichte des
Kapitalismus passiert. Trotz aller Krisenhaftigkeit war es dem Kapitalismus
möglich den Lebensstandard der Arbeiter zu erhöhen – Ironischerweise durch die
Konkurrenz zur UdSSR, der gegenüber sich der Kapitalismus als Alternative zu
präsentieren hatte.
Bereits 1858 schrieb Engels an Marx, daß „das englische Proletariat faktisch mehr
und mehr verbürgert. So daß diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin
bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches
Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen.“503 Lenins Festhalten am
„revolutionären Proletariat“ habe sich, so Marcuse, als von Anfang an unzulänglich
erwiesen. Durch die „Zusammenarbeit der Klassen“ drohte der Begriff des
Proletariates als „revolutionärem Subjekt“ ungültig zu werden. Dem hatte Lenin
die „Strategie der Avantgarde“ entgegengestellt: „Lenins Strategie der Avantgarde
anerkannte faktisch, was sie in der Theorie leugnete, daß nämlich ein
grundlegender Wandel in den objektiven und subjektiven Bedingungen der
Revolution eingetreten war.“504 So waren die verschiedenen Sozialdemokratien
mehr organischer Ausdruck der realen ökonomischen Verhältnisse, denn
„Verräter“ an der Idee des Marxismus.
Grundlage aller Transformationsprozesse bliebe die Ökonomie. Marcuse bezog
damit eine Position, die in der Diktatur Stalins, „die Erfordernisse des
Gesellschaftssystems“505 sah. Auch Stalin sei nur Ausdruck eines Systems: „Die
Führer selbst sind nicht immun – sie sind nicht die absoluten Herren der
Unterdrückung. Die Umstände, die die Maschine gegen ein besonderes Ziel in
Gang setzten, scheinen die Endkonstellationen zahlreicher sich kreuzender
Strömungen in den Ressorts der jeweiligen Bürokratien zu sein.“506 Der Staat, so
Marcuse, sei „die Manifestation des wirklichen (gesellschaftlichen) Interesses, aber
500
Ebd., S. 41
Ebd., S. 40
502
Ebd., S. 41
503
Engels an Marx, 7. 10. 1858, in: MEW 29, Berlin /Ost, 1973, S. 358
504
Marcuse, Herbert: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, a.a.O. , S. 49
505
Ebd., S. 114
506
Ebd., S. 116
501
142
als solche ist der Staat »noch nicht« mit den Interessen des Volkes identisch, das er
regiert.“507
Auffällig an Marcuses Analyse der Sowjetunion war seine zurückhaltende Kritik.
Zwar fand Marcuse deutliche Worte gegenüber der Rolle der Kunst in der UdSSR,
die Anteil habe „an der wachsenden Ohnmacht individueller Autonomie und
Erkenntnis“508, doch kaum ein Wort über die Lager, den Antisemitismus oder die
Schauprozesse. Kein Zweifel: Marcuse sah in der UdSSR nicht die freie
Gesellschaft verwirklicht, aber er hegte Hoffnungen auf eine Transformation der
UdSSR; darauf daß mit „dem fortschreitenden Rückgang der Knappheit“ ein
Verschwinden der „repressiven Moral“ einhergehe. Marcuse hoffte sogar auf ein
„Nachlassen der Unterdrückung.“509
Zwar sah Marcuse nicht – wie Sartre bis 1956 – die UdSSR als Land „in dem die
uneingeschränkte Freiheit der Kritik herrscht“, doch auch Marcuses Analysen
ließen eine gewisse Schärfe vermissen. Hätte man die Politik der KPdSU nicht
schärfer verurteilen müssen? Hätte man nicht von den zwei oder drei Millionen
„Umsiedlern“ sprechen müssen, von den bestraften Völkern der Balkaren,
Tschetschenen, Inguschen, Kalmücken und anderer? Hätte man nicht deutlicher
von den Schauprozessen und dem Antisemitismus sprechen müssen? Reichte es die
Unterdrückung auf „Knappheit“ zurückzuführen? Was für ein Sozialismus war das,
in dem sich jeder zwanzigste Bürger in einem Straflager befand?
Oder, um es mit Merleau-Ponty und dem frühen Sartre auszudrücken: „Wenn in
der UdSSR auf zwanzig Einwohner ein Saboteur, ein Spion und ein Faulenzer
kommt, während bereits mehr als eine Säuberung das Land «gereinigt» hat, wenn
man heute zehn Millionen Sowjetbürger «umerziehen» muß, wo doch die
Säuberlinge vom Oktober 1917 schon über zweiunddreißig Jahre alt sind, dann
heißt das, daß das System selbst seine Opposition schafft. Wenn permanente
Repression herrscht und wenn der Repressionsapparat keineswegs abstirbt, sondern
sich im Gegenteil verselbstständigt, dann heißt das, daß sich das Regime im
Ungleichgewicht etabliert, daß Produktivkräfte von den Produktionsformen erstickt
werden.“510
Marcuses „Sowjetmarxism“ wirkte wie ein taktisches Buch, daß es sich mit dem
orthodoxen Flügel des Marxismus nicht ganz verscherzen wollte. Zwar waren
grundlegende Theoreme der kritischen Theorie enthalten und die Rolle des
Subjekts in der UdSSR wurde keinesfalls als ideal angesehen, doch tendierte
Marcuse – ähnlich wie Sartre – nicht zu sehr dazu das Geschehen in der UdSSR zu
entschuldigen? Reichte die marxsche Analyse der UdSSR, die zeigen sollte, daß
diese nicht die Verwirklichung der marxschen Gedankenwelt war, aus?
Tatsächlich sollte Marcuse mit Sartre eine Schwäche – die gleichzeitig eine
unglaubliche Stärke war - verbinden, die sich aus ihrem Konzept des sich
einmischenden, politisch aktiven Intellektuellen ergab. Wenn man sich einmischte,
Position bezog, so konnte man dies - wie viele andere es taten - von einem
abstrakten Standpunkt aus tun, z.B. aus der „Republik der schönen Seelen“, wie
Sartre Camus vorwarf. Doch nahm man das Ideal des mündigen Subjektes ernst, so
mußte in dieser Welt Position bezogen werden und es mußten reale politische
Strömungen unterstützt oder kritisiert werden. Dieses „Abenteuer Praxis“
507
Ebd., S. 120
Ebd., S. 135
509
Ebd., S. 247
510
Merleau-Ponty, Maurice / Sartre, Jean-Paul: Die Tage unseres Lebens, a.a.O., S. 22f
508
143
beinhaltete damit auch, sich stärker täuschen zu können, als dies im akademischen
Elfenbeinturm möglich war. Sowohl Marcuse wie Sartre waren nicht frei davon. So
begrüßten beide – Sartre wie Marcuse gleichermaßen – auch die kubanische
Revolution und noch 1969 sollte Marcuse schreiben, daß „Fidel, Che und die
Guerillas“ von den Begriffen „Freiheit, Sozialismus und Befreiung“ nicht zu
trennen seien511.
Intermezzo: Sartre entdeckt Freud
Sartres: Freud. Ein Drehbuch
Drei Jahre nach Marcuses Freudbuch „Eros and Civilisation“ arbeitete Sartre an
einem Werk, das ihm einen Ausweg gegen seine Geldsorgen bot, aber erst posthum
erschien. Zwar war Sartre nie arm, aber ein bürgerliches Verhältnis zu Geld
entwickelte er nie. Im Gegenteil, seine Großzügigkeit war bekannt. Er unterstützte
mehrere Freunde und Freundinnen finanziell ohne sich groß um sein Bankkonto zu
kümmern. 1958 sollte sich dies rächen, so daß Sartre von dem Regisseur John
Huston eine Auftragsarbeit annehmen mußte. Huston plante die Verfilmung des
Lebens von Sigmund Freud und suchte einen Drehbuchautor.
„Der linke Sartre war zwar Antifreudianer, doch ich meinte, daß er der ideale
Autor für das Freud Drehbuch wäre. Er war ein Philosoph, der Freuds Werk
beherrschte und es objektiv und scharfsinnig behandeln könnte.“512 Dies war die
Meinung von John Huston, und sie war ein schwerer Irrtum. Sartre war weit davon
entfernt Freuds Werk zu kennen. Nach einem intensiven Freud-Studium schickte
Sartre Huston ein dreihundert Seiten starkes Drehbuch, was zu erst von ihm
angenommen wurde und Sartre mit der Auflage es zu kürzen, zurückgesandt
wurde. Sartres Kürzung bestand im Hinzufügen weiterer Seiten. Bei einer Eins-zuEins-Verfilmung wäre dabei ein Film von sieben bis acht Stunden Länge
herausgekommen.
Später äußerte sich Sartre über das Freud-Projekt folgendermaßen: „An diesem
Projekt war schon etwas recht Komisches: Man verlangte eine Arbeit über Freud,
den Großmeister des Unbewußten, ausgerechnet von mir, der ich ein Leben lang
behauptet hatte, es gebe kein Unbewußtes. Übrigens wollte Huston anfangs nicht,
daß ich vom Unbewußten spreche. An dieser Frage ist das Ganze dann schließlich
gescheitert. Die Arbeit an dem Film hat mir vor allem eine bessere Kenntnis Freuds
gebracht und mich veranlaßt, meine Meinung über das Unbewußte zu ändern.“513
Damit war ein weiterer Berührungspunkt der Theorien von Marcuse und Sartre
gelegt: Freud. Ein Kernpunkt von Marcuses Subjekttheorie bestand ja gerade darin,
daß die Individuen über ein verdinglichtes Bewußtsein verfügten, welches aus den
gesellschaftlichen Entfremdungsmechanismen resultierte. So bot sich nun auch für
Sartre ein begriffliches und theoretisches Instrumentarium, mit dem er das
Verhältnis von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis besser fassen konnte.
511
siehe: Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, Frankfurt /M, 1969, S. 126
Huston, John: An open book, New York, 1980, S. 294, zit. n.: Cohen-Solal, a.a.O., S.
589
513
Sartre, Jean-Paul: Selbstporträt mit siebzig Jahren, a.a.O., S. 260
512
144
Den methodischen Übergang stellte genau jenes Freudbuch dar. Sartre blieb bei
seiner Methode die historische Situation mit den in ihr handelnden Individuen zu
konfrontieren: Auf der einen Seite Freud, umgeben von einer antisemitischen und
verknöcherten Gesellschaft. Die Psychologie der Zeit? Elektroschocks und
Eisbäder. Auf der anderen Seite beschrieb Sartre Cäcilie, getrieben von ihren
unbewußten Störungen, eingetaucht in ihre Neurosen.
Im Drehbuch rang Freud sich selbst und seiner Umwelt die psychoanalytische
Methode ab, und in dem von Sartre gezeichneten Freud wechseln sich Analyse und
Selbstanalyse ab. Dabei überschnitten sich die Schicksale: Nach mehreren
Irrwegen entdeckte Freud seinen eigenen Ödipuskomplex und war durch diese
Erkenntnis in der Lage Cäcilie zu heilen. Die Person Freuds wurde von Sartre als
getriebener, großer Mann angelegt, der letztendlich gegen seine Umwelt und sich
selbst revoltierte und den Sieg davontrugt. Unterschied sich dieser Freud so sehr
von Sartre selbst? Wohl kaum. Wie auch schon in Sartres früheren Texten, war hier
Freud nur die Bronze, die in die Sartresche Form gegossen wurde.
Die Kategorie der Entscheidung blieb auch im „Freud“ enthalten. Doch neben den
Einflüssen der Gesellschaft, die auch auf Freud übermächtig wirkten und in deren
Rahmen er sich bewegte, kam in Sartres Schrift das Unbewußte mit hinzu. Freuds
Vaterfiguren Meynert, Breuer und Fliess stellten für Sartre Instrumente des
freudschen Unterbewußtseins dar, der er sich mit der Entdeckung der Beziehung
zwischen der Störung des Patienten und seiner Biographie entledigte. Dennoch
blieb das Bewußtsein über die Möglichkeit des Erkennens über das Unbewußte die
Triebkraft des Drehbuches. Sartre akzeptierte von nun an das Unterbewußte, aber
insistierte weiterhin darauf, daß es der Vernunft grundsätzlich zugänglich sei. Für
ihn blieb das Leben nach der Therapie das Leben der Entscheidungen und des
politischen Engagements. Was ließ er Freud gegenüber Cäcilie sagen, nachdem er
sie heilte? „Jetzt muß man zu leben versuchen.“514
Das Subjekt im Marxismus – Sartres Revision des
Marxismus
Sartres: Marxismus und Existentialismus
Ungefähr vier Jahre nach dem Bruch mit der KPF mündeten Sartres theoretische
Bemühungen in der Einnahme eines eigenen Standpunktes zum Marxismus,
ausgedrückt in seinem zweiten Hauptwerk, der „Kritik der dialektischen Vernunft“.
Bereits 1957 wurde sein Text „Marxismus und Existentialismus“ in „Les Temps
Modernes“ und in der polnischen Zeitschrift Twórczość veröffentlicht, in der
französischen Ausgabe der „Kritik der dialektischen Vernunft“ war der Aufsatz als
Einleitung vorangestellt.
Die Zeit von „Marxismus und Existentialismus“ und der „Kritik der dialektischen
Vernunft“ war gleichzeitig die, in der die Berührungspunkte zwischen Marcuse
und Sartre am größten waren. Vieles ähnelte, deckte sich – nur wenig war
verschieden. Ähnlich wie die kritische Theorie insistierte auch Sartre auf einem
„Zeitkern der Wahrheit“ (Horkheimer). Der Geltungsanspruch der Philosophie sei
ein zeitlich gebundener: “ Philosophie bleibt […] nur so lange wirksam, wie die
Praxis, der sie entstammt, vorhanden ist und sie trägt und erhellt. Sie wandelt sich
jedoch, sie verliert ihre Einzigartigkeit, sie entäußert sich ihres ursprünglichen und
epochemachenden Gehalts in dem Maße, in dem sie nach und nach die Massen
514
Sartre, Jean-Paul: Freud, Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 396
145
durchdringt, um in ihnen und durch sie ein allgemeines Emanzipationsmittel zu
werden”515
Konkret bezog Sartre dies auf die Hegelsche Philosophie, die für ihn in der
Marxschen seine Aufhebung erfuhr. Philosophie, so Sartre, sei an den sie
produzierenden kollektiven Akteur gebunden: „Eine Philosophie tritt nämlich,
wenn sie in voller Wirklichkeit steht, niemals als träge, unveränderliche Sache, als
passive und bereits vollendete Einheit des Wissens auf; aus der gesellschaftlichen
Bewegung hervorgegangen, ist sie Antrieb für sich selbst und frißt sich in die
Zukunft hinein [Herv. v. m., S.O.C.]; denn diese konkrete Totalisierung ist zugleich
abstrakter Entwurf für den Vollzug absolut endgültiger Vereinigung; demgemäß ist
die Philosophie als Untersuchungs- und Erklärungsmethode zu bestimmen; das
Vertrauen, das sie in sich selbst und ihre künftige Entwicklung setzt, spiegelt nur
die Überzeugung der sie tragenden Klasse wieder.”516 Damit besitze die Wahrheit
ein Art Trägerschicht, in der konkreten Geschichte sei dies die Klasse. Doch
Philosophie sei nicht gleichzeitig Kritik. Die kritische Philosophie entstamme einer
Situation der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung, denn „die unmittelbare Reaktion
der Unterdrückten auf die Unterdrückung ist die Kritik.”517
Hegel, so Sartre, verkörpere die höchste Dignität des Wissens. In der hegelschen
Philosophie steige der Geist stetig auf, er objektiviere, entfremde und gewinne sich
unaufhörlich zurück. Doch je höher die hegelsche Objektivierung des Geistes
voranschreite, desto weiter entferne sie sich vom tatsächlichen, realen Leben der
Subjekte.
Sartre insistierte hier – genau wie Marcuse – auf das wahre Moment Kierkegaards
für den „Schmerz, das Bedürfnis, die Leidenschaft, die menschliche Mühsal durch
Erkenntnis weder überschreitbare noch abwandelbare Realitäten“518 waren. Auch
die Aufhebung Kierkegaards sah Sartre in der kritischen Theorie Marxens
verwirklicht, die die objektiven Bedingungen im Subjekt widerspiegelte. “Folglich
hat Marx zugleich Kierkegaard und Hegel gegenüber recht, weil er mit ersterem
die Spezifität der menschlichen Existenz behauptet und mit letzterem die konkreten
Menschen in seiner objektiven Realität erfaßt.”519
Doch vor allem ging es Sartre – genauso wie Marcuse – darum den Marxismus als
lebendige Theorie zu bewahren. Das bedeutete zwangsläufig ihn gegenüber dem
orthodoxen Marxismus-Leninismus, aber noch viel mehr der stalinschen
Transformation zu entreißen. Ein Projekt, mit dem Sartre keinesfalls allein war. In
Deutschland war das ganze Projekt des Institutes für Sozialforschung, das unter
Grünberg ursprünglich „Institut für Marxismus“ geheißen hatte und einer
siegreichen Arbeiterrevolution übergeben werden sollte, als eine Revision des
Marxismus angelegt, wobei diese Revision gerade die kritischen Momente
Marxens herausarbeiten wollte. Die daraus resultierende „Kritische Theorie“ stand
genauso wie Bloch oder Lukacs im Zeichen des Unterfangens, den Marxismus als
lebendige, die Gegenwart erklärende und verändernde Theorie zu begreifen und zu
modifizieren.
Eben gegen jenen offiziellen Parteimarxismus der UdSSR zog Sartre in der
französischen Form der Revision, dem Existentialismus zu Felde. Sowohl die
Kritische Theorie, als auch Sartres Existentialismus nach 1956, sahen sich einem
515
Ebd., 1964, S. 8
Ebd.
517
Ebd., S. 9
518
Ebd., S. 13
519
Ebd., S. 15
516
146
Marxismus verpflichtet, in dem die Befreiung und der Glücksanspruch des
Subjekts das zentrale Telos waren. Beiden ging es um die Abgrenzung des
Parteimarxismus „östlicher“ Prägung. Konkret warf Sartre diesem vor: Die
„Trennung von Theorie und Praxis führte zu einer Umformung der Praxis in einen
prinzipienlosen Empirismus und einer Umwandlung der Theorie in ein reines und
starres Wissen. Andererseits wurde die – von einer für ihre eigenen Irrtümer
blinden Bürokratie – durchgeführte Planwirtschaft eben dadurch zu einer die
Realität vergewaltigenden Willkür, und weil man die zukünftige Produktion einer
Nation in Büros – oftmals außerhalb ihres Hoheitsgebietes – festlegte, hatte diese
Gewalt einen absoluten Idealismus zum Komplement: man unterwarf a priori
Menschen und Dinge den Ideen; widersprach die Erfahrung dann den
Voraussetzungen, so konnte sie nur Unrecht haben. Die Budapester
Untergrundbahn war in der Vorstellung von Rakosi bereits verwirklicht; wenn die
Bodenbeschaffenheit von Budapest nicht erlaubte, sie zu bauen, dann war eben der
Boden konterrevolutionär.”520
Der Marxismus verkam im Osten, so Sartre, zur blanken Legitimationsideologie.
Die offenen Begriffe wurden zu geschlossenen Phrasen, die nichts mehr erklärten,
sondern nur noch der Aufrechterhaltung des status quo dienten: “Sie sind nicht
länger Schlüssel, Interpretationsschemata: sie geben sich selbst den Anschein eines
schon totalisierten Wissens. Der Marxismus erhebt, um mit Kant zu sprechen, diese
singularisierten und fetischisierten Begriffe zu konstitutiven Begriffen der
Erfahrung. Der eigentliche Inhalt dieser Typbegriffe besteht stets aus vergangenem
Wissen; der heutige Marxist macht daraus ein ewiges Wissen. Seine einzige Sorge
bei der Analyse ist es, diese »Abstraktionen« unterzubringen.”521 Anders
ausgedrückt: Der sowjetische Marxismus bestand nur noch aus
Zuordnungsritualen. Die Erfahrung des Besonderen, oder um mit Adorno zu
sprechen, das Nicht-Identische wurde liquidiert. In Sartres Worten ausgedrückt:
“Die totalisierende Untersuchung ist der Scholastik der Totalität gewichen. Das
heuristische Prinzip »das Ganze vermittels der Teile zu suchen« ist dem
terroristischen Verfahren geworden, »die Besonderheit zu liquidieren«.”522
Demgegenüber gelte es einen Marxismus zu stellen, der sich des Subjektes wieder
annehme und das subjektive Leben der Einzelnen zum Ausgangspunkt der Theorie
mache. Dies sei, so Sartre, der Existentialismus. Seine historische Grenze liege an
der Stelle, da der Marxismus zur Theorie des Subjektes zurückkehre. Der
Existentialismus ginge in ihm auf.
Auch dieser Gedanke war der Kritischen Theorie nicht fern. Wie sonst sollte das
Unterfangen verstanden werden, Marx und Freud zu verbinden? Warum Freud,
wenn nicht um die Theorie des Subjekts mit der Marxschen Theorie des Objekts zu
verbinden? Sartre schrieb, der Existentialismus suche den Menschen „wo er geht
und steht, bei seiner Arbeit, zu Hause und auf der Straße.”523 Dabei gehe es
keinesfalls darum in einen kantschen Idealismus zurückzufallen. “Man kann auf
zwei Arten in den Idealismus geraten: die eine besteht darin, daß man das
Wirkliche in der Subjektivität auflöst, die andere besteht darin, daß man alle
eigentliche Subjektivität zugunsten der Objektivität leugnet. Die Wahrheit ist aber
die, daß die Subjektivität weder alles noch nichts ist; sie bildet nur einen Moment
des objektiven Prozesses (der Verinnerlichung der Äußerlichkeit), und zwar ein
520
Ebd., S. 22
Ebd., S. 25
522
Ebd., S. 26
523
Ebd.
521
147
Moment, das sich unaufhörlich aufhebt, um ebenso unaufhörlich immer wieder ins
Spiel zu treten.”524 Mit anderen Worten: Subjekt und Objekt waren für Sartre,
ebenso wie für Marcuse dialektisch in einem historischen Prozeß vermittelt. “Für
uns [die Existentialisten, S.O.C.] wird die Wahrheit, ist sie geworden und wird sie
geworden sein.”525
Doch wo sollte der Existentialismus konkret ansetzen? Was war sein spezifisches
Erkenntnismoment? Sartre schrieb: Der Existentialismus „beabsichtigt, ohne den
marxistischen Thesen untreu zu werden, diejenigen Vermittlungen zu finden, die es
erlauben, das Konkrete in seiner jeweiligen Besonderheit, das Leben, den
wirklichen und ausgestandenen Kampf und die Personen aus den allgemeinen
Widersprüchen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
hervorgehen zu lassen.”526 Das bedeutete, daß der sartresche Existentialismus für
sich beanspruchte, eine Art marxsche Theorie des Subjekts zu sein. Hierzu führte
kein Weg an der Psychoanalyse vorbei. Um zu begreifen, warum die Einzelnen zu
dem geworden waren, was sie sind, bedurfte es der Psychoanalyse. “Allein die
Psychoanalyse ermöglicht heute ein eingehendes Studium der ersten Versuche, in
denen ein Kind noch ganz im Dunkeln tappend – ohne es zu begreifen – die ihm
von den Erwachsenen auferlegte gesellschaftliche Rolle spielen sucht; nur die
Psychoanalyse kann uns zeigen, wie es an dieser Rolle erstickt, wie es sie
abzustreifen versucht oder wie es gänzlich in sie hineinwächst. Und nur sie allein
ermöglicht, den ganzen Menschen im Erwachsenen zu finden, d.h., über seine
jeweiligen momentanen Bestimmungen hinaus, auch das Gewicht seiner
Geschichte. Und es ist völlig abwegig zu glauben, diese Disziplin sei mit dem
dialektischen Materialismus unverträglich.”527 Diese Sätze hätte ebensogut Herbert
Marcuse schreiben können. Ihm und Sartre ging es darum die Schnittstellen
zwischen Individuum und Gesellschaft zu verstehen, um sie der Veränderung
zugänglich zu machen.
An diesem Relais zwischen Subjekt und Objekt, am Moment der gesellschaftlichen
Vermittlung plazierten sich sowohl die kritische Theorie Marcuses, wie die
existentialistische Sartres. Sowohl Sartres „Marxismus und Existentialismus“, bzw.
die „Kritik der dialektischen Vernunft“ wie Marcuses „Eros and Civilisation“ und
„Der eindimensionale Mensch“ suchten nach einer Erweiterung des Marxismus im
Verstehen um das menschliche Geworden-Sein. Sartre argumentierte: “Die
Marxisten von heute kümmern sich nur um die Erwachsenen: wenn man sie liest
könnte man glauben, wir kämen an dem Tag zur Welt, an dem wir unser erstes
eigenes Geld verdienen; sie haben ihre eigene Kindheit vergessen, und alles
geschieht bei ihnen, als verspürten die Menschen ihre Selbstentfremdung und
Versachlichung erstmalig bei ihrer eigentlichen Berufsarbeit, während sie doch
jeder schon als Kind in der Arbeit seiner Eltern erlebt. [...] Der Existentialismus
glaubt dagegen, diese Methode einbeziehen zu können, weil sie den Ansatzpunkt
des Menschen in seiner Klasse, d.h. die jeweilige Einzelfamilie als Vermittlung
zwischen der allgemeinen Klasse und dem Individuum entdeckt hat: die Familie
wird wirklich im und durch den allgemeinen Geschichtsablauf konstituiert und
524
Ebd., S. 31
Ebd., S. 28
526
Ebd., S. 49
527
Ebd., S. 51
525
148
doch als ein Absolutes in der Tiefe und Undurchschaubarkeit der Kindheit
erlebt”528
Der Existentialismus sollte die Lücke schließen, die der offizielle Marxismus
zwischen Subjekt und Objekt hinterlassen hatte, da er dazu tendierte die
Subjektivität in einem solchen Maß unter die objektiven Verhältnisse zu
subsumieren, daß der Einzelne kaum noch von Belang war. Sicherlich war dieses
starke Hervorheben der Subjektivität gegenüber dem Marxismus in vielen
Momenten der Epoche geschuldet: Der Marxismus vor der 68er Bewegung war
starr geworden und viele Marxisten empfanden wie Sartre. Auch andere insistierten
auf eine andere Marxrezeption: Verschiedentlich versuchten Theoretiker und
Theoretikerinnen dem Marxismus das Subjekt im Sinne des Einzelnen wieder
abzuringen. Bloch fragte beispielsweise, in welchen Bereichen die UdSSR den
Marxismus nicht nur zur Unkenntlichkeit, sondern eben zur Kenntlichkeit gebracht
habe. Die vielerorts versuchte Verbindung Freuds mit Marx stellte einen ähnlichen
Versuch dar.
Sartre formulierte die Problemstellung des Existentialismus so: Der
Existentialismus „lehnt es ab, das wirkliche Leben den unausdenkbaren Zufällen
der Geburt zu überlassen, um über eine Allgemeinheit nachzudenken, die darauf
beschränkt ist, sich unendlichfach in sich selbst widerzuspiegeln. Er beabsichtigt,
ohne den marxistischen Thesen untreu zu werden, diejenigen Vermittlungen zu
finden, die es erlauben, das Konkrete in seiner jeweiligen Besonderheit, das Leben,
den wirklichen und ausgestandenen Kampf und die Personen aus den allgemeinen
Widersprüchen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
hervorgehen zu lassen.”529 Der gegenwärtige Marxismus, so Sartre, “gliedert ein,
aber er entdeckt sonst weiter nichts [...]”530
Die Ähnlichkeiten zu Marcuse waren erstaunlich: Sartre und Marcuse gingen beide
den Weg vom Heideggerschüler zum Marxisten und beide kamen – unabhängig
voneinander – an den Punkt der Erweiterung des Marxismus durch die
Psychoanalyse. Man könnte sagen, daß bei beiden ihr heideggersches Erbe Früchte
trug. Wenn es stimmte, daß der Existentialismus Heideggers von „Sein und Zeit“
dem Individuum „zu Hilfe eilte“, dann fanden sich beide in derselben Funktion,
diesmal gegenüber dem Marxismus, wieder. Auch hier drohte der praktische
Marxismus Moskaus das Individuum zu erdrücken und zur bloßen Manövriermasse
zu degradieren, wogegen Sartre wie Marcuse ihm zu Hilfe eilten und die
Subjektivität des Einzelnen adäquat verorten wollten. Sie wollten den Einzelnen
gerade nicht als Zuordnungsritual begriffen wissen, es ging darum, „dem
Menschen innerhalb des Marxismus wieder seinen Platz zurückzuerobern.”531
Beide suchten danach die Frage zu beantworten wie der Mensch zu dem, was er
geworden war, wurde. Man könnte auch sagen, daß beide am Punkt der
Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt mit ihren Theorien ansetzten. “Diese
verschiedenen Realitäten deren Sein dem Nichtsein der Menschheit direkt
528
Ebd., S. 52f
Sartre, Jean-Paul: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik, Reinbek
bei Hamburg, 1964, S. 49
530
Ebd., S. 49
531
Ebd., S. 69
529
149
proportional ist, stehen zueinander dank der Vermittlungen [Herv. v. m., S.O.C.]
durch menschliche Beziehungen und zu uns in manigfaltigen Verhältnissen, die an
sich untersucht werden können und müssen. Geprägt von seiner Arbeit und den
gesellschaftlichen Produktionsbedingungen, existiert der Mensch als Produkt
seines Produktes zugleich in Mitten seiner Produkte und bildet die Substanz der ihn
zersetzenden <Kollektive>; auf jeder Lebensebene erfolgt ein Kurzschluß, eine
horizontale Erfahrung, die dazu beiträgt, ihn auf der Grundlage seiner materiellen
Ausgangsbedingungen zu ändern: das Kind erlebt nicht nur seine Familie, es erlebt
auch – teilweise durch sie, teilweise selbständig - die kollektive Umwelt; und es ist
wiederum die Allgemeinheit seiner Klasse, die sich ihm in dieser besonderen
Erfahrung enthüllt.”532
Die Grenzen dieser Theorie der Vermittlung bestanden für Sartre darin weder in
Objektivismus, d.h. ein völlig determiniertes Individuum vorauszusetzen, noch in
Subjektivismus, im Sinne des jederzeit mündigen sich seiner selbst und die Welt
verstehenden Subjekts auszugehen, zu enden. Das Verhältnis von Subjekt und
Objekt stelle sich für beide als dialektisches dar: „gewiß ist das Individuum durch
das gesellschaftliche Milieu bedingt, und gewiß wendet es sich darauf zurück, um
es seinerseits zu bedingen; das – und nichts anderes – macht ja gerade seine
Realität aus.”533 Doch die Realität sei eine, die nicht ständig bewußt sei und die die
hintergründige, verborgene Geschichte der Produktionszusammenhänge
ausblenden konnte: “Die Realität des Marktes, wie unerbittlich auch immer seine
Gesetze sein mögen, beruht samt allen Einzelheiten seiner konkreten Erscheinung
auf der Realität selbstentfremdeter Individuen und auf deren Trennung.”534
Auch in dieser Frage waren sich Marcuse und Sartre einig, doch dieses Mal war es
Marcuse, der mit dem Zugeständnis der „rebellischen Subjektivität“ vom
präformierten Subjekt - zumindest teilweise - abrückte. Für Sartre war die
Vorstellung eines gänzlich präformierten Subjektes sowieso unannehmbar, da mit
einem solchen keine historische Veränderung möglich gewesen wäre. Dennoch gab
es auch für ihn das Moment der gesellschaftlichen Verselbstständigung: “Der
Mensch macht also seine Geschichte, daß besagt, er objektiviert und entfremdet
sich darin; in diesem Sinne erscheint die Geschichte, die das reine Werk der
Gesamttätigkeit aller Menschen ist, ihnen als fremde Macht, und zwar in dem
Maße, in dem sie den Sinn ihrer (selbst örtlich glücklich verlaufenen)
Unternehmungen im gegenständlichen Gesamtergebnis nicht wiedererkennen.”535
In gewisser Weise befand sich Sartre mit dieser These in größter Nähe zur Position
Adornos und Horkheimers aus der „Dialektik der Aufklärung“. Auch dort suchten
die Menschen zur Besiegung der Angst nach Systemen, die in letzter Konsequenz
noch mehr Angst produzierten und nicht mehr kontrollierbar waren.
Die Grenze der Entfremdung lag für Sartre in der Möglichkeit auf eine veränderte
Geschichte, die sich auf eine andere Zukunft hin entwarf. Sartre zufolge stecke in
jeder Handlung, jeder Tat gleichzeitig ein Entwurf auf den hin das Individuum sich
totalisiere. “ Selbst das rudimentärste Verhalten muß sich zugleich mit Bezug auf
reale, vorliegende Faktoren, die es bedingen, und mit Bezug auf ein bestimmtes
zukünftiges Objekt, das es entstehen zu lassen sucht, bestimmen. Das aber nennen
532
Ebd., S. 66
Ebd., S. 59
534
Ebd., S. 65
535
Ebd., S. 73
533
150
wir Entwurf.”536 Die Kategorie des Entwurfs – auch eine Analogie zu „Das Sein
und das Nichts“ – lag für Sartre direkt in der Dialektik der Zeit begründet.
Dialektik selbst falle in sich zusammen, so Sartre, wenn „die Zeit nicht dialektisch
ist, d.h. wenn man so etwas wie ein Wirken der Zukunft als solcher ablehnt.”537
Von diesem theoretischen Ausgangspunkt ausgehend, sei der Mensch
grundsätzlich als Negation bestimmt. Darunter verstand er das „Insgesamt des
Möglichen“ des Individuums, „das ihm verschlossen bleibt“ – genau jenes
Moment, an dem die Kritik an der Situation der bestehenden Gesellschaft beginne:
“Für die benachteiligten Klassen stellt jeder kulturelle, technische und materielle
Aufschwung der Gesellschaft eine Minderung, eine Verarmung dar; die Zukunft ist
beinahe gänzlich verriegelt. So werden die sozialen Möglichkeiten, positiv oder
negativ, als Determinationsschema der persönlichen Zukunft erlebt. Und selbst das
höchstindividuell Mögliche ist nur die Verinnerlichung und Ausgestaltung eines
gesellschaftlich Möglichen.”538
Man könnte sagen, daß Sartre von zwei Subjekten ausging: Ein onthologisches
Subjekt, daß als Träger von Wahrheit auftrat und in dem qua des Menschseins, also
über die Vernunft, sämtliche Potentiale angelegt waren, die es zu einem wirklich
freien Subjekt hätten machen können und ein real existierendes, gesellschaftliches
Subjekt, das den Verhältnissen entfremdet gegenüberstand – ebenfalls eine
Gemeinsamkeit zu Marcuse.
Durch diese Konzeption des Subjekt zwischen Möglichem und Versperrtem bekam
seine Dialektik von Subjekt und Objekt ihren Sinn: „Man müßte dazu [zur
Beschreibung der vollen Dialektik von Subjektivem und Objektivem, S.O.C.] die
notwenige Verknüpfung der <Verinnerlichung des Äußerlichen> und der
<Veräußerung des Innerlichen> aufweisen. Die Praxis ist nämlich ein Übergang
des Objektiven zum Objektiven durch Verinnerlichung; der Entwurf, der sich als
subjektive Überschreitung der Objektivität auf Objektivität hin zwischen den
objektiven
Verhältnissen
des
Milieus
und
den
objektiven
des
Möglichkeitsbereiches erstreckt, stellt an sich die bewegende Einheit der
Subjektivität und Objektivität, dieser Grundmomente der Aktivität, dar. Die
Subjektive erscheint mithin als notwendiges Moment des objektiven
Geschehens.”539
Durch den „Überhang des Objekts“ (Adorno) lief der Mensch für Sartre Gefahr, in
eindimensionales Denken zu geraten: „All diese Mauern sind ein einziges
Gefängnis, und dieses Gefängnis ist ein einziges Leben, ein einziger Akt: jede
Bedeutung ändert sich, formt sich unaufhörlich um, und ihre Umformung strahlt
auf den anderen aus. Die Totalisierung muß also die mehrdimensionale Einheit des
Aktes entdecken; unsere alten Denkgewohnheiten laufen Gefahr, diese Einheit, die
die Bedingungen der wechselseitigen Durchdringung sowie der relativen
Autonomie der Bedeutung bildet, ungebührlich zu vereinfachen; [...]”540
Philosophie, die sich als Theorie totalisiere, müsse, so Sartre, „die
Mehrdimensionalität entdecken“ – eine These, die Marcuse sofort unterschrieben
hätte. Bei Sartre hieß dies „progressiv-regressive Methode“.
536
Ebd., S. 75
Ebd.
538
Ebd., S. 78
539
Ebd., S. 79
540
Ebd., S. 90
537
151
Die Kritische Theorie und der französische Existentialismus waren Kinder ihrer
Zeit und Orte. Wären sie bei einer anderen historischen Entwicklung zu solch
bedeutenden Theorien aufgestiegen? Hätten sie einen ähnlichen Wirkungskreis
erlangt, wenn die russische Revolution nicht gescheitert wäre und sich nicht um
jene Freiheit des Subjekts gekümmert hätte, die Sartre und Marcuse so vehement
einforderten? Oder wären sie überflüssig gewesen? Sehr weise schrieb Sartre über
die historische Schranke des Existentialismus: „Von dem Tage an, da der
Marxismus sich der Untersuchung der menschlichen Dimension, d.h. der
Untersuchung des existentialistischen Entwurfes zuwendet und die Grundlegung
des anthropologischen Wissens aufnehmen wird, hat der Existentialismus keine
Existenzberechtigung mehr.”541
Sartres: Kritik der dialektischen Vernunft
Die Ankündigungen, die Sartre in „Marxismus und Existentialismus“ machte,
definierten den Rahmen der „Kritik der dialektischen Vernunft“: Eine neue
Vermittlungstheorie sollte geschrieben werden, die sich auf marxistischem
Fundament bewegte. Tatsächlich waren die Gemeinsamkeiten zwischen Sartres
„Kritik der dialektischen Vernunft“ und dem frühen Marx der „ÖkonomischPhilosophische Manuskripte“ erheblich. Marxens Versuch der Verbindung der
Hegelschen Philosophie mit der politischen Ökonomie um die Schnittstellen
zwischen Individuum und Gesellschaft auszumachen, fanden bei Sartre ihr
Pendant. Der Ausgangspunkt Marxens, daß die Produktionsverhältnisse und die
damit verbundene Arbeit in direktem Zusammenhang zur Charakter- und
Wertebildung der Menschen stünden, griff Sartre auf.
Doch die „Kritik der dialektischen Vernunft“ sollte, so Sartres Anspruch, über den
Marxismus hinausgehen. Sie sollte eine „strukturelle Anthropologie“ werden. Sein
Ausgangspunkt war folgender: „Wenn die Geschichte von dialektischen Gesetzen
beherrscht wird und wenn diese Gesetze vom Menschen erkannt werden können,
also nicht als bloße Produkte des menschlichen Bewußtseins zu betrachten sind,
sondern aus der Geschichte selber abgelesen werden, was wäre dann der
Wahrheitswert dieser Gesetze, wenn das menschliche Bewußtsein sie nicht
legitimieren könnte? Kurz, Sartres Meinung nach kann die Behauptung, die
Geschichte werde von dialektischen Gesetzen beherrscht, nur dann legitimiert
werden, wenn es tatsächlich eine diese Gesetze verstehende, weil selber dialektisch
existierende Rationalität gibt.“542
Dabei betonte Sartre, ähnlich wie Marcuse, die grundsätzliche Unzulänglichkeit
des Positivismus. Dieser frage nur nach dem was sei, nicht nach dem Sein-Sollen.
Damit würde er letztendlich nur auf eine Verdopplung des Bestehenden
hinauslaufen und sich selbst als Entwurf voraussetzen. Oder um es mit Sartre zu
sagen: „Die Zukunft ist also Wiederholung der Vergangenheit“543
T
T
Sartres definierte die theoretische Methode des Existentialismus als ein
Zusammentreffen von Materialismus und Idealismus. Materialismus in dem Sinne,
daß die bearbeitete Materie eine elementare Vermittlungsinstanz darstelle,
idealistisch in dem Maße, da es ein erkennendes Subjekt benötige. Anders
541
Ebd., S. 143
Fretz, Leo: Knappheit und Gewalt: Kritik der dialektischen Vernunft, in: König,
Traugott (hg.): Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 247f
543
Sartre, Jean-Paul: Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek bei Hamburg, 1967, S. 24
542
152
ausgedrückt: Vernunft und Geschichte standen bei Sartre in einer dialektischen
Beziehung. „Wenn die dialektische Vernunft die Vernunft der Geschichte sein soll,
muß dieser Widerspruch selbst dialektisch erlebt werden. Das heißt: der Mensch
erleidet die Dialektik, indem er sie schafft, und er schafft sie, indem er sie erleidet.
[...] Die Dialektik ist das Totalisierungsgesetz, was bewirkt, daß es Kollektive,
Gesellschaften, aber nur eine Geschichte gibt, das heißt Realitäten, die sich dem
Individuum aufzwingen. Gleichzeitig muß es aus Millionen Individuen gewoben
sein.“544 Oder an anderer Stelle: „[...] die Vertiefung der individuellen Praxis wird
uns zeigen, daß sie das äußere Feld verinnert (indem sie eben durch die Aktion ein
praktisches Feld absteckt); umgekehrt jedoch werden wir im Werkzeug und in der
Objektivierung durch die Arbeit eine intentionale Entäußerung der Interiorität
erkennen.“545
Ebenso stehe der Philosoph in diesem Zusammenhang. Sartre schrieb über die
Verortung des Wissenschaftlers bzw. des Philosophen – und jeder der
Protagonisten der kritischen Theorie hätte das unterschrieben: „Unser Problem ist
ein kritisches und zweifellos ist dieses Problem selbst von der Geschichte
aufgeworfen worden. Aber es geht eben gerade darum, in der Geschichte und in
diesem Augenblick der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften die
Instrumente des Denkens, durch die die Geschichte sich denkt, als gleichzeitig
praktische Instrumente, durch die sie sich schafft, zu prüfen, zu kritisieren und zu
begründen.“546
T
Die existentialistische Methode, so Spurk, „ist also repressiv-progressiv und
analytisch-synthetisch. Im Hin und Her zwischen dem Objekt und seiner Epoche,
d.h. in der einfachen, inerten Verknüpfung der Epoche und des Objekts zeichnet
sich plötzlich ein lebendiger Konflikt ab. Denn der Mensch als Epoche enthält in
sich die die Epoche als hierarchisierte Bedeutungen, und die Epoche enthält dieses
Objekt in seiner Totalisierung.“547 Dabei verändere das Individuum seinen Status:
Vom Objekt zum Subjekt und umgekehrt. Der Einzelne war für Sartre Objekt
seiner Epoche als „Empfänger“ von Werten, Denkrastern und Vermittlungen und
reproduziere als Subjekt die Totalität. Das Subjekt wurde zum Subjekt-Objekt. Nur
durch die Überwindung des objektiven Zwangs erlange das Individuum
Subjektivität im Entwurf: „Im Erlebnis entreißt (vécu) wendet sich die
Subjektivität gegen sich selbst und entreißt sich der Objektivierung. Es hat deshalb
seinen Platz im Ereignis des Handelns. Der projezierte Sinn der Aktion erscheint in
der Realität als Wahrheit im Prozeß der Totalisierung.“548
T
Doch wie funktionierten die Vermittlungen genau? Sartre gab folgendes Beispiel:
„Von meinem Fenster aus sehe ich einen Straßenarbeiter auf der Straße und einen
Gärtner, der in einem Garten arbeitet. Zwischen ihnen ist eine mit Glasscherben
bedeckte Mauer, die das bürgerliche Eigentum, in dem der Gärtner arbeitet,
schützt. Keiner von ihnen hat also eine Ahnung von der Anwesenheit des anderen;
jeder von ihnen, völlig von seiner Arbeit beansprucht, denkt nicht einmal daran,
sich zu fragen, ob es auf der anderen Seite Menschen gibt. Ich dagegen, der sie
sehe, ohne selbst gesehen zu werden, bin ihnen gegenüber durch meine Stellung
544
Ebd., S. 37
Ebd., S. 74
546
Ebd., S. 42
547
Spurk, Jan, a.a.O., S. 555
548
Ebd., S. 556
545
153
und diesen passiven Überblick «situiert»: ich «mache Ferien» in einem Hotel, ich
verwirkliche mich in meiner Zeugentätigkeit als kleinbürgerlicher
Intellektueller.“549
Eine Dreiecksbeziehung entstehe: Der Philosoph sei derjenige der einen Bezug
zwischen dem Arbeiter und dem Gärtner herstellt. Doch ohne das Wissen um sich
selbst und den Anderen wäre es nicht möglich den Arbeiter als Arbeiter und den
Gärtner als Gärtner zu identifizieren: „Und indem ich mich zu dem mache, was ich
bin, erkenne ich sie als die, zu dem sie sich machen, das heißt so, wie sie ihre
Arbeit hervorbringt.“550
Die Kontinuitäten und Brüche zu „Das Sein und das Nichts“ wurden deutlich:
Während Sartre in „Das Sein und das Nichts“ beim Anderen stehenblieb, kamen
nun in der „Kritik der dialektischen Vernunft“ weitere Vermittlungsinstanzen
hinzu: Die Mauer als bearbeitete Materie, die die Klassenpositionen im Sinne der
Eigentumsabgrenzung virulent machen sollte oder die jeweilige Arbeit, über die
gesellschaftliche und private Identitäten hergestellt werden, erweiterten die einst
idealistische Theorie um die nötigen materialistischen Momente. Sartre blieb also
nicht mehr bei der „Intersubjektivität“ stehen, sondern ergänzte seine Theorien an
entscheidenden Stellen um den marxschen Arbeitsbegriff und die Einbeziehung der
bearbeiteten Materie. Arbeit und Materie wurden zu zentralen
Vermittlungsinstanzen.
Doch wie ging es konkret weiter? Menschlichen Beziehungen bestanden aus weit
mehr als diesen drei Personen, komplexe, arbeitsteilige Gesellschaften waren nicht
mehr für den einzelnen Betrachter zu durchschauen. Tatsächlich, so Sartres These,
hingen all diese Individuen zusammen: „Hüten wir uns diese Vermittlung auf einen
subjektiven Eindruck zu reduzieren: man kann nicht sagen, daß für mich diese
beiden Arbeiter keine Kenntnis voneinander haben. Sie haben durch mich genau in
dem Maße keine Kenntnis voneinander, wie ich durch sie zu dem werde, was ich
bin.“551 Die Theorie von Subjekt und Objekt begann sich zu bewegen. Das Subjekt
wurde zum Objekt und umgekehrt: „Unmöglich unter den Mensch zu existieren,
ohne daß sie durch mich und für mich und für sie zu Objekten werden, ohne daß
ich für sie Objekt bin, ohne daß ich durch sie meine Subjektivität ihre objektive
Realität gewinnt als Verinnerung meiner menschlichen Objektivität.“552 So
entstanden Interaktionen, zwischen Subjekten die durch die „bearbeitete Materie“
vermittelt wurden: Sobald beispielsweise eine Zeitmeßmaschine mit dem Ziel die
Effektivität des Arbeiters zu erhöhen, aufgestellt würde, veränderten sich die
Beziehung der Menschen untereinander. Grundsätzlich, so Sartre, seien die
Menschen einander durch Arbeit entfremdet, doch durch die Einbeziehung der
bearbeiteten Materie weite sich die Entfremdung aus. Nach Sartre sei eine
gänzliche Aufhebung der Entfremdung kaum möglich, da mit ihr die Aufhebung
der Arbeit selbst einherginge.
Die Geschichte der Gesellschaften sei neben der von Klassenkämpfen, so Sartres
große These, auch die Geschichte des Kampfes gegen die Knappheit gewesen:
549
Sartre, Jean-Paul: Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S. 105f
Ebd., S. 106
551
Ebd., S. 108
552
Ebd., S. 111
550
154
„Man muß jedoch daran denken, daß dieses einseitige Verhältnis der umgebenden
Materialität zu den Individuen in unserer Geschichte in einer besonderen
kontingenten Form auftritt, weil das ganze menschliche Geschick – zumindest bis
jetzt – ein erbitterter Kampf gegen den Mangel ist.“553
Soweit schienen die Kritische Theorie und Sartres Existentialismus nicht
auseinander: Bei Adorno/Horkheimer war die Angst ein Motor der Geschichte, für
Sartre der Mangel, die Knappheit. Der Mangel, so Sartre weiter, sei eine von der
Epoche abhängige Kategorie: „Daher ist der Mangel trotz seiner Kontingenz eine
grundlegend menschliche Beziehung zur Natur und zu den Menschen. In diesem
Sinne muß man sagen, daß es der Mangel ist, der uns zu diesen Individuen macht,
die diese Geschichte hervorbringen und sich als Menschen definieren. Ohne den
Mangel ist zwar eine dialektische Praxis und sogar die Arbeit denkbar.“554 Sartre
ging davon aus, daß das verbindende Band zwischen den Mensch das Bedürfnis
sei. Der Mangel definiere die Einzelnen epochal, d.h. überspitzt gesagt, daß zur
Zeit der französischen Revolution kein Mangel an Fernsehern vorherrschte. Was
jeweils der Mangel sei, definiere die Epoche, in der die Menschen lebten, „diese
natürliche Substanz oder jenes hergestellte Produkt existieren nur in einem
bestimmten sozialen Feld in nur ungenügender Anzahl in bezug auf die Anzahl der
Mitglieder der Gruppen oder der Bewohner der Gegend; es gibt nicht genug davon
für alle. Daher existiert für jeden alle Welt (die Gesamtheit) insofern, als der
Verbrauch irgendeines Produktes durch andere dort hinter ihm hier eine Chance
entzieht, einen Gegenstand derselben Ordnung zu finden und zu verbrauchen.“555
Unter dem Blickwinkel, daß Sartre die nächsten Jahre als, man könnte sagen,
„Militanter Botschafter“ durch die Welt reiste und vor allem gegenüber den
Revolutionen der Dritten Welt größte Sympathie hervorbrachte, war seine Theorie
einleuchtend. Die Geschichte des Reichtums der Ersten Welt war gleichzeitig die
Geschichte der Armut der Dritten Welt. Nicht zuletzt war die menschliche
Geschichte auch immer die Geschichte der Arbeit und der ungerechten
Eigentumsverteilung – ob als Grundbesitz, Wissensressourcen, Militärtechnologie
oder Kapital. Die menschliche Geschichte war, mit Marx gesprochen, die
Geschichte von Klassenkämpfen, in denen es Gruppen oder Kollektiven darum
ging, Eigentumsverhältnisse zu verändern oder zu erhalten – damit war sie
zwangsläufig auch die Geschichte der Gewalt. „Das bedeutet nach Marx, daß die
Revolution – die er für nahe bevorstehend hielt - nicht bloß Erbin eines Bankrotts
wäre und daß das Proletariat durch die Umwandlung der Produktionsverhältnisse
bald in der Lage wäre, diesen gesellschaftlichen Mangel in einer neuen
Gesellschaft zu absorbieren. Erst später sollte die Wahrheit zu Tage treten, als man
in der sozialistischen Gesellschaft aus dem gigantischen Kampf gegen den Mangel
neue Widersprüche entstehen sah.“556 Grundsätzlich seien, so Sartre, alle Menschen
durch eine „negative Solidarität“ miteinander verbunden. Mangel müsse nicht
zwangsläufig in Gewalt münden, dennoch stelle der Besitz des Anderen (dies gelte
genauso für Gruppen, Kollektive und Klassen) grundsätzlich den Mangel des
Eigenen dar. Die Gewalt sei „vielmehr die ständige Unmenschlichkeit der
menschlichen Verhaltensweisen als verinnerter Mangel, kurz das, was jeden in
jedem den Andern und das Prinzip des Übels sehen läßt. Deshalb muß es, damit die
553
Ebd., S. 130
Ebd., S. 131
555
Ebd., S. 135
556
Ebd., S. 157
554
155
Ökonomie des Mangels Gewalt ist, nicht notwendig zu Massakern oder
Einkerkerungen, also zu sichtbarer Gewaltanwendung kommen, auch nicht einmal
zu dem gegenwärtigen Plan ihrer Anwendung.“557
Dabei hafte den gegenwärtigen Gesellschaften das Gewaltmoment systematisch an:
„Man verstehe uns recht, wenn wir sagen, daß eine Gesellschaft ihre unterernährten
Produzenten bestimme und ihre Toten auswähle.“558 Das bedeutete, daß in den
kapitalistischen Gesellschaften von vornherein ein bestimmter Prozentsatz der
Bevölkerung Bergarbeiter, Lehrer oder Arbeitslos sei. Über die Menge des Geldes,
das eine Gesellschaft oder Klasse in ein Gesundheitswesen investiert, regele sich
beispielsweise die Anzahl der Toten und das Lebensalter der Menschen. Von
vornherein könnten nur eine bestimmte Anzahl der Menschen einer Gesellschaft zu
den Besitzenden, Forschenden, Arbeitenden, usw. gehören. Oder um mit Sartre zu
sprechen, „der Tausch als Zweikampf kennzeichnet vielmehr den Menschen des
Mangels.“559
Diese spezifisch historischen Konstellationen machten es möglich, daß sich die
jeweiligen Gruppen- oder Klasseninteressen bildeten. Wenn man unter Gruppenund Klasseninteressen „verstehen würde, daß ein subjektiver Charakter des
Individuums mit den subjektiven Charakteren aller Anderen übereinstimmte,
müßte man zunächst die Dialektik der Alterität außer acht lassen, die diese
Übereinstimmung als solche unmöglich macht.“560
An dieser Position wurde ein Wandel Sartres gegenüber seiner Zeit als
„compagnon de route“ deutlich. Während zu jener Zeit die Subjektivität des
Arbeiters für Sartre in der Partei aufging, stellte sich nun eine grundsätzliche
Differenz zwischen dem Mensch-Sein und dem Klasseninteresse heraus. Die
Subjektivität des Menschen konnte also nicht in seiner Gesamtheit in der Klasse
aufgehen – eine Position, die, einmal durchgehalten, die Marxisten vor so manch
totalitärer Entwicklung bewahrt hätte.
Das Konzept des „Anderen“ bedurfte aber auch der realen Klassengemeinsamkeit:
„Die konkrete Einheit der Bourgeoisie kann also nur in einer gemeinsamen
Ablehnung der gemeinsamen Praxis der Arbeiter realisiert werden.“561 Dabei
verschwömmen, so Sartre, die Grenzen zwischen Sein und Tun: Die Arbeiterin, die
jeden Tag acht Stunden in einer Haarwaschmittelfabrik denselben Handgriff
erledige, sei in diesem Tätigkeitsmoment genau das, wozu sie gemacht werde.
Anders ausgedrückt: „Dieser minuziöse Apparat, in dem alles wie durch einen
sadistischen Willen minuziös geregelt ist, ist gleichzeitig die Arbeiterin selbst.“562
Dennoch blieben Momente außerhalb dieses Prozesses, die sich mit der
Wirklichkeit der Arbeit an der Maschine vermischten. In der Phantasie, so Sartre,
in diesem Fall in der erotischen, vermischen sich die Grenzen von Subjekt und
Objekt.
Anhand des Beispiels einer Arbeiterin – das Marcuse übrigens sehr schätzte und in
„Der eindimensionale Mensch“ aufgriff – exemplifizerte Sartre seine These von
der temporären Einheit aus Arbeit und Persönlichkeit weiter: Durch die Monotonie
557
Ebd., S: 158
Ebd., S, 163
559
Ebd.
560
Ebd., S. 218
561
Ebd., S. 227
562
Ebd., S. 248
558
156
der Arbeit entstehe eine „Hingabe“ an die Maschine, die sich wiederum in
sexuellen Hingabephantasien der Frau widerspiegelten.
Was war jetzt die „wahre“ oder „echte“ Frau? Was war gesellschaftliche Prägung
und was eigentliche Subjektivität? Gab es ein ursprüngliches Subjekt in diesem
Beispiel? Für Sartre war die Subjektivität der Frau untrennbar mit ihrer Arbeit
verknüpft: „Die Frau kann an das Vergnügen des Vorabends denken, von dem des
nächsten Tages phantasieren oder unbestimmt die Erregung anläßlich einer Lektüre
wieder heraufbeschwören; sie kann auch aus dem sexuellen Bereich ausbrechen
und sich der Verbitterung über ihre persönliche Lage hingeben. Das Wesentliche
besteht darin, daß das Objekt dieser Phantasien gleichzeitig das Subjekt selber ist,
das beide ständig ineinanderübergehen. [...] Die Bedingtheit der Person ist also
selbst der zukünftige Widerspruch – der plötzlich eintreten wird -, aber sie ist
dieser Widerspruch in seiner gegenseitigen Zweideutigkeit“563 Das bedeutete, daß
das Individuum seiner Subjektivität nicht beraubt war, sondern die Subjektivität
innerhalb der aufgezwungen Objektwelt entstand, die direkt aus dem Objekt – in
diesem Falle der Maschine – entsprang und wieder die sie umgebende Welt
hervorbrachte und in ihr einging. Dazu gehörte für Sartre der Widerstand gegen die
Arbeit genauso wie die Momente der unbewußten Hingabe an sie.
Durch die grundsätzliche Ersetzbarkeit der (Arbeits-)Subjekte im Kapitalismus sei
es historisch möglich gewesen, so Sartre, Kollektivinteressen als Arbeiter zu
entwickeln. Mit Sartres Worten ausgedrückt: „Jeder ist der Gleiche wie die
Anderen, insofern er Anderer ist als er selbst.“564
Die „Kritik der dialektischen Vernunft“ machte an der Stelle weiter, wo „Das Sein
und das Nichts“ endete. In „Das Sein und das Nichts“ blieb Sartre beim
Individuum stehen, daß die Welt hervorbringe. Die gesamte "Kritik der
dialektischen Vernunft" war zwar von ihrem inneren Aufbau ähnlich angelegt,
doch schlug der Prozeß der Hervorbringung der Welt regelmäßig in die
Hervorbringung des Subjekts durch die Welt um. Das erste Buch der "Kritik der
dialektischen Vernunft" begann mit der individuellen Praxis, die zum „Praktischinerten“ führte. Dann folgte die Materie, die in das Leben der Menschen trete und
zum Schluß kamen die Kollektive. Das zweite Buch behandelte „Von der Gruppe
zur Geschichte“. Die Struktur der "Kritik der dialektischen Vernunft" erschien
induktiv; vom Individuum zur Geschichte aufsteigend. Tatsächlich produzierte sich
das Individuum in den objektiven Prozessen, wurde selbst Objekt und brachte sich
wieder als Subjekt hervor.
Dabei war der Bezugsrahmen der Sartreschen Philosophie nicht weniger als die
gesamte Menschheitsgeschichte - ihm ging es um die Rekonstruktion der
Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft. Konsequenterweise kam dem
Marxismus dabei nur eine temporäre Gültigkeit zu, die allerdings nach Sartre als
einzige die Gegenwart zu erklären vermochte. Er selbst verstand das Projekt der
"Kritik der dialektischen Vernunft" als „strukturelle Anthropologie“. Ähnlich
Hegels „Phänomenologie des Geistes“, die auch als Menschheitsgeschichte gelesen
werden konnte, war es ebenso möglich Sartres "Kritik der dialektischen Vernunft"
als solche zu lesen: Daher seine Methode vom Einzelnen auszugehen und in der
Geschichte und der Gruppe als Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes zu
enden.
563
564
Ebd., S. 249
Ebd., S. 277
157
Für die Rekonstruktion des Subjekts war besonders Sartres Beschreibung dessen,
was er als „praktisch-innertes“ bezeichnete, erwähnenswert: „es ist das, was uns
umgibt und bedingt. Ich brauche nur einen Blick aus dem Fenster zu werfen: Ich
werde Autos sehen, die Menschen sind und deren Fahrer Autos sind, einen
Polizisten, der an der Straßenecke den Verkehr regelt, und weiter hinten eine
automatische Regelung des gleichen Verkehrs durch rotes und grünes Licht,
hundert Forderungen, die vom Boden zu mir aufsteigen, Fußgängerpassagen,
Verkehrsschilder, Verbote, Kollektive (eine Zweigstelle der «Crédit Lyonnais», ein
Café, eine Kirche, Wohnhäuser und suche eine sichtbare Serialität: Leute stehen
vor einem Laden Schlange), Instrumente (die mit ihrer versteinten Stimme ihre
Benutzungsweise angeben, Gehsteige, Fahrdamm, Taxisstand, Autobushaltestelle
usw.). All diese Wesen – die weder Dinge noch Menschen, sondern praktische
Einheiten des Menschen und des inerten Dinges sind –, all diese Forderungen
betreffen mich noch nicht direkt. Gleich werde ich auf die Straße hinuntergehen
und dann werde ich ihr Ding sein, ich werde eine Zeitung, jenes Kollektiv, kaufen
und der praktisch-inerte Komplex, der mich belagert und bezeichnet, wird sich
plötzlich enthüllen [...]“565
Im Vokabular der Kritischen Theorie: die verwaltete Welt brach sich im Subjekt.
An diesem Punkt war die kritische Theorie und der französische Existentialismus
auf einer Linie: Das Subjekt in der verwalteten Welt wurde – in beiden Theorien zu einem großen Teil gemacht. Oder um es mit Sartre auszudrücken: Die
Erfahrung des Subjekts in der verwalteten Welt ist „nicht mehr das positive
Moment, das man schafft, sondern das negative Moment, in dem man in der
Passivität hervorgebracht wird durch das, was der praktisch-inerte Komplex aus
dem gemacht hat, was man selber gerade gemacht hat.“566 Unter der Prämisse, das
der Einzelne, durch das „praktisch-inerte Feld“, wie Sartre sagen würde,
hervorgebracht wird, war natürlich auch der Begriff der Freiheit neu zu definieren.
„Man unterstelle uns vor allem nicht“, schrieb Sartre, „die Behauptung, daß der
Mensch in allen Situationen frei ist, wie es die Stoiker behaupten. Wir wollen
genau das Gegenteil sagen: nämlich daß alle Menschen Sklaven sind, insofern sich
ihre Lebenserfahrung im praktisch-inerten Feld abspielt und zwar genau in dem
Maße, wie dieses Feld ursprünglich durch den Mangel bedingt ist.“567 Endlich
revidierte Sartre seinen idealistischen Freiheitsbegriff und ersetzte ihn durch einen
politischen. Dennoch lag der gesamten Sartreschen Konzeption – wie auch
Marcuses – der Gedanke zugrunde, daß der Mensch als Gattungswesen frei sein
mußte, um ihn überhaupt versklaven zu können.
Den Institutionen falle bei der Interiorisierung von Gesellschaft im Einzelnen, so
Sartre, eine besondere Bedeutung zu. Sie seien ein „Verdinglichungskomplex“.
„Vermittels des Macht-Menschen, der sich – durch Zeremonien und bekannte
Tänze – als Institutution-Sein offenbart, glaubt das organisierte Individuum sich
selbst als durch den institutionellen Komplex in der Gruppe integriert zu begreifen
(und das ist es auch tatsächlich, was jeder Staatsbürger glaubt und sagt), während
die Institution in Wirklichkeit nur in einem bestimmten Moment de Rückbildung
der Gruppe und als genauer Index ihrer Desintegration auftauchen kann.“568 Das
565
Ebd., S. 346
Ebd., S. 360
567
Ebd., S. 354
568
Ebd., S. 641
566
158
sartresche Subjekt war umgeben von erdrückenden, beeinflussenden, befehlenden
oder disziplinierenden Momenten. Mittlerweile war seine Theorie an einen Stand
gelangt, an dem sie mit der von Marcuse unter dem Blickwinkel „Individuum und
Gesellschaft“ fast Deckungsgleich waren. Anders ausgedrückt: Das reine Subjekt
existierte nicht (höchstens im epistimologischen Sinne), es wurde zum SubjektObjekt.
Man merkte der "Kritik der dialektischen Vernunft" an, unter welchen Mühen sie
geschrieben wurde. Mehrfache Wiederholungen, lange ausgedehnte Passagen, die
versuchten einen Punkt zu fassen, ihn wieder losließen, wieder aufgriffen,
wendeten – ein ständiges oszillieren von Subjekt und Objekt, subjektivem im
Objekt, objektivem im Subjekt. Was sich an manchen Stellen wie ein Rausch laß,
wurde teilweise auch in solchem geschrieben. Die "Kritik der dialektischen
Vernunft" verlangte Sartre alles ab: Das Projekt der „politischen Grundlegung der
Anthropologie“ war nur durch die Einnahme von Corydran-Tabletten möglich.
„Nach einem schweren Abendessen und einigen Stunden schlechtem, künstlichen,
durch vier oder fünf Schlaftabletten erzwungenem Schlaf begann er gleich nach
dem Aufstehen mit Kaffee, gefolgt von Corydran: ein, zwei Tabletten, die er
nebenbei während der Arbeit einnahm... Am Ende des Tages war das Röhrchen –
manchmal auch zwei – leer. Ein leeres Röhrchen für dreißig, vierzig neue SartreSeiten. Manchmal war die blaue Tintenschrift ruhig, besonnen, linear – die Wörter
aneinandergepreßt -, floß munter dahin, nach rechts gebeugt, nach unter abfallend,
jedoch immer unter Kontrolle. Von Zeit zu Zeit dagegen gab es ein Gewitter, einen
Sturm, die Entladung, den unkontrollierten Wahn: geschundene, deformierte,
monströse, nach links, nach unten verdrehte, gedehnte, vergrößerte, anarchische,
über die Zeilen springende, reduzierte oder überdimensionale, volltrunkene Wörter.
So ist die Critique de la raison dialektique geschrieben. In einem hastigen Fluß
wildgewordener Wörter und aneinandergereihter, kompakter, manchmal schlecht
gebauter Sätze. In Phasen von Übererregung und Drogeneinnahme mit allen
möglichen Begleiterscheinungen, nach vorne, zurück, halt, nach vorne und so
weiter und so fort... in einem wahnwitzigen Kampf gegen sich selbst, gegen einen
müden Körper, gegen die Zeit und gegen den Schlaf. Und mit Riesendosen.
Denken wir nur an das Programm, daß er sich für einen vierundzwanzigstündigen
Tag auferlegte: zwei Päckchen Zigaretten - «Boyard mais» - plus zahlreiche mit
dunklem Tabak gestopfte Pfeifen; dazu ein Liter Alkohol – Wein, Bier, klare
Schnäpse, Whiskey usw.; zweihundert Milligramm Amphetamine, fünfzehn
Gramm Aspirin; mehrere Gramm Barbiturate, ganz zu schweigen von Kaffe, Tee
und den Fetten seiner täglichen Ernährung.“569
Diesem Programm, so wie Cohen-Solal es beschreibt, entspricht auch die "Kritik
der dialektischen Vernunft" – ein Buch, daß nur unter der völligen
Vernachlässigung von Sartres Gesundheit geschrieben werden konnte. Das die
„Kritik der dialektischen Vernunft“ so viele Wiederholungen und unklare
Formulierungen beinhaltete war neben Sartres exzessiven Lebenswandel auch dem
Umstand eines Bombenattentates auf Sartres Wohnung zuzuschreiben. Gallimard
und er beschlossen das Buch so schnell wie möglich zu publizieren, bevor ein
weiteres Attentat vielleicht erfolgreicher wäre.
Sartre hätte sich publizistisch zurücklehnen und auf sein Werk blicken können –
was sollte nun noch kommen? Alle, die in Frankreich noch kamen, konnten nicht
569
Cohen-Solal, a.a.O., S. 574
159
an Sartre vorbei. Im Bereich der Theorie des Subjekts war Sartre eine solche
Autorität geworden, daß es nur möglich war, von „der anderen Seite“ Theorie zu
betreiben. Es war z.B. kein Zufall, daß bei Foucault kaum vom epistemologischen
Subjekt die Rede war und es in seinem Werk fast bedeutungslos erschien.
Der außerparlamentarischer Botschafter
Sartres: Die Unabhängigkeit Algeriens und das Vorwort zu Fanons
„Die Verdammten dieser Erde“
Sartre hatte in Frankreich den Status eines außerparlamentarischen Ministers
zugeschrieben bekommen. „Einen Voltaire verhaftet man nicht.“ hatte de Gaulle
über Sartre gesagt. Mit der "Kritik der dialektischen Vernunft" zementierte Sartre
seinen Rang als überragender Intellektueller Frankreichs. Der Einzige seiner
Generation, der ihm diesem Platz hätte streitig machen können verstarb im Januar
1960 bei einem Autounfall: Albert Camus. Diesmal fand Sartre gerechtere Worte
über seinen ehemaligen Weggefährten.
In den nächsten Jahren war er als „militanter Botschafter“ (Cohen-Solal) unterwegs
und repräsentierte dabei das linke bzw. linksliberale Frankreich. Er reiste nach
China, Kuba, Brasilien, Jugoslawien und wieder in die UdSSR. Wie zerrissen die
französische Gesellschaft war und welchen Rang Sartre darin einnahm, zeigte sich
vor allem in seinem Engagement gegen den Algerienkrieg. Francis Jeanson, der
einst den Artikel gegen Camus verfaßt und der den Disput zwischen Sartre und
Camus ausgelöst hatte, kämpfte mittlerweile im Untergrund gegen die französische
Kolonialmacht in Algerien. Als er an Sartre herantrat, um ihn um Unterstützung zu
bitten, lief er offene Türen ein. Die „Temps Modernes“ und ihr Umkreis sammelten
Unterschriften für einen Text der mit „Recht zum Ungehorsam im Algerienkrieg“
überschrieben und von 121 Personen des öffentlichen Lebens unterschrieben war.
Der Text wurde sofort verboten und durfte in keiner öffentlichen Zeitung gedruckt
werden. Die Oktoberausgabe der „Temps Modernes“ erschien mit zwei leeren,
provokanten Seiten.
Als im September der Prozeß gegen Mitglieder der „Réseau Jeanson“ begann,
kurierte Sartres Namen überall. Der Vorsitzende des Gerichtes rief erzürnt: „Ich
warne Sie, kein Sartre hier!“570 Sartre avancierte zum Staatsfeind Nr. 1. Am 3.
Oktober versammelte sich die französische Rechte mit 6000-7000 Menschen auf
dem Champs-Elysées. Auf ihren Plakaten war zu lesen: „Erschießt Jean-Paul
Sartre“, „Algerien bleibt französisch“, usw.. De Gaulles Politik bestand in dem
Konzept: Friedenstauben für die Einen, Knüppel für die Anderen. Die
Tageszeitung „Paris Jour“ titelte: „De Gaulle: Ich verzeihe Voltaire, aber nicht den
Staatsdienern.“ Es blieb nicht bei Demonstrationen. Am 22. April 1961 versuchten
die Generäle Salan, Challe, Jouhand und Zellen in Algier die Macht zu
übernehmen. Die OAS (organisation da l’armée secrète), ein Sammelbecken für
alle von der Unabhängigkeit Algeriens vor den Kopf gestoßenen), begann mit
Attentaten. Am 13. Mai 1961 explodierte eine Bombe in den Redaktionsräumen
von „Les Temps Modernes“, am 19. Juli eine in Sartres Wohnung und am 7. Januar
1962 eine weitere.
Der Kampf Sartres und vieler Anderer zahlte sich aus, doch bot das Resultat nur
mäßigen Anlaß zur Freude. Am 1. Juli 1962 war Algerien unabhängig. Sartre
570
siehe Cohen-Solal, a.a.O., S. 640ff
160
kommentierte: „Man muß zugeben, daß Freude nicht angebracht ist: seit sieben
Jahren ist Frankreich ein tollwütiger Hund, der am Schwanz einen Kochtopf hinter
sich herschleift und jeden Tag ein wenig mehr über sein eigenes Getöse erschrickt.
Jeder weiß heute, daß wir ein Volk armer Leute ruiniert, ausgehungert, massakriert
haben, damit es auf die Knie geht. Es ist stehengeblieben. Doch um welchen Preis!
In dem Augenblick, wo die Delegationen die Sache beendeten, befanden sich zwei
Millionen vierhunderttausend Algerier in den Lagern des langsamen Todes; mehr
als eine Million haben wir umgebracht. Die Felder liegen brach, die Duras sind von
Bomben verwüstet, der Viehbestand, der karge Reichtum der Bauern, ist
verschwunden. Nach sieben Jahren muß Algerien am Nullpunkt anfangen:
zunächst den Frieden erringen, dann mit allergrößter Anstrengung jenes
produzierte Elend überwinden, unser Abschiedsgeschenk.“571
1961 in Rom traf Sartre das erste Mal mit Frantz Fanon zusammen. Fanon, schwer
krank, bat Sartre eindringlich das Vorwort zu „Die Verdammten dieser Erde“ zu
schreiben sowie dessen Publikation zu beschleunigen. Ein halbes Jahr später starb
Fanon; „Les damnés de la terre“ wurde in 17 Sprachen übersetzt und überschritt
die Auflage von 1 Million Exemplaren – es wurde zu einem Klassiker der 68er
Bewegung. Das Vorwort Sartres wurde zu seinem engagiertesten Text für die dritte
Welt, mit dem sich auch Marcuse solidarisierte. Einer der am häufigsten – auch
von Marcuse - zitierten Aussprüche Sartres bezog sich auf das Recht zum
Widerstand, auch mit Gewalt: „[…] wenn die Gewalt heute abend begonnen hätte,
wenn es auf der Erde niemals Ausbeutung noch Unterdrückung gegeben hätten,
dann könnte die demonstrative Gewaltlosigkeit vielleicht den Streit besänftigen.
Aber wenn das ganze System bis zu Euren gewaltlosen Gedanken von einer
tausendjährigen Unterdrückung bedingt ist, dann dient eure Passivität nur dazu,
euch auf die Seite der Unterdrücker zu treiben“572 Sartre war kein Pazifist aus
Prinzip – genau wie Marcuse. Für beide existierte ein Recht auf Widerstand der
Unterdrückten, daß Gewalt einschloß, sofern es die Gewalt der Schwachen war.
Die Gewalt blieb für beide etwas zu verabscheuendes und von einer
Verherrlichung waren sie meilenweit entfernt. Ebenso bezweifelten sie, daß die
Gewalt einen großen Nutzen brächte – im Gegenteil: „Lesen sie Fanon“, schrieb
Sartre, „und sie werden erkennen, daß zur Zeit ihrer Ohnmacht das kollektive
Unterbewußtsein der Kolonisierten die Mordlust ist. Diese zurückgehaltene Wut
dreht sich, wenn sie nicht ausbricht, im Kreise herum und richtet unter den
Unterdrückten selbst Verheerungen an. Um sich von ihr zu befreien, schlachten sie
sich untereinander ab: die Stämme kämpfen gegeneinander, weil sie den
eigentlichen Feind nicht angreifen können […].“573 Sartre und Fanon behielten
damit auf tragische Weise bis heute Recht. Was war die Rolle des Einzelnen? Für
Sartre existierte keine Neutralität: Im Angesicht des Terrors der Kolonisation
könne man sich nicht neutral verhalten. Man müsse wählen: „Heute steht die
sengende Sonne der Folter am Zenit und blendet alle Länder. Unter diesem Licht
gibt es kein Lachen, das nicht falsch klänge, kein Gesicht, das sich nicht schminken
571
Sartre, Jean-Paul: Die Schlafwandler, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, a.a.O.,
S. 133
572
Sartre, Jean-Paul: Vorwort, in Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt
/M, 1981, S. 22f
573
Ebd., S. 17
161
müßte, um die Wut oder Angst zu kaschieren, keine Handlung, die nicht unseren
Ekel oder unsere Komplizenschaft verriete.“574
Das Ende der Restaurationszeit
Bei Betrachtung der Sartreschen Werke bis 1964 unter dem Blickwinkel des
Subjekts, fällt vor allem die Schwierigkeit einer Positionsbestimmung auf. In der
"Kritik der dialektischen Vernunft" vertrat Sartre einen Subjektbegriff, der es
endlich vermochte das Mitlaufen, das Schweigen, die Entfremdung der Menschen
gegenüber ihrer eigenen Unterdrückung zu erklären. Über eine solche Theorie
verfügte auch Marcuse. Andererseits lebten beide, – bis zu diesem Jahren
allerdings eher Sartre, Marcuse dann in den folgenden Jahren –, nach dem
Subjektbegriff von „Das Sein und das Nichts“. Es schien als galten für die beiden
Philosophen zwei Theorien: Die eine für das Gros der Gesellschaft und eine andere
für ihre eigene Praxis. Sie waren sich einig darüber, daß die übergroße Mehrheit
der Menschheit in Knechtschaft und Entfremdung lebte; sie selbst aber
verkörperten nahezu perfekt das Bild des vernunftgeprägten, freien Subjekt. Man
könnte sagen, daß ihr politisches Leben eine Gegensubjektivität zur präformierten
Subjektivität darstellte und in den folgenden Jahren sollten viele ihrem Entwurf
folgen.
Marcuses populärstes Werk war in der Entstehung: „Der eindimensionale Mensch“
sollte die erfolgreichste Publikation werde, die die kritische Theorie bis heute
hervorgebracht hat. Darin stellte sich das gleiche Problem: Die eindimensionalen
Subjekte Marcuses verloren in dem Maße an Gültigkeit, desto mehr Menschen ihn
lasen und ihr Leben und Handeln mit Hilfe seines Denkens planten und
einrichteten.
Nach Jahren der Niederlagen der Linken – vor allem der, daß nach dem 2.
Weltkrieg der Kapitalismus eine Prosperitätsphase durchlief und sich restaurierte,
anstatt, wie von Marcuse und Sartre gehofft, einer anderen ökonomischen Ordnung
zu weichen – trat eine neue soziale Bewegung in den Industrienationen auf den
Plan, die später unter dem Namen „‘68er“ in die Geschichte des 20. Jahrhunderts
eingehen sollte. Ihre Theoretiker? Jean-Paul Sartre, aber vor allem: Herbert
Marcuse.
Die Welt hatte sich in schier unglaublichem Tempo verändert. Als de Gaulle kam,
gab es eine Millionen Fernsehgeräte in Frankreich, als er ging waren es zehn
Millionen. Die industrialisierten Staaten der Welt prosperierten am „Goldenen
Zeitalter“, die Technik hielt Einzug in Millionen von Haushalten. Das Arrangement
von Gewerkschaften und Kapital, in Deutschland sogar mit dem Wort
„Sozialpartner“ versehen, garantierte dem Westen einen relativen Frieden und die
Integration der Arbeiterklasse in den „Sozialstaat“. „Für 80 Prozent der Menschheit
hörte das Mittelalter in den fünfziger Jahren mit einem Schlag auf; genauer gesagt,
in den sechziger Jahren wurden sich die Leute bewußt, daß es zu Ende war.“ 575
Doch vor allem erfüllte sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine
Vorhersage von Marx, die dieser zwar für weit vorher prognostiziert hatte, aber
sich erst jetzt vollständig erfüllte: Der Untergang des Bauerntums. „Daß sich die
Vorhersage von Marx, daß das Bauerntum durch die Industrialisierung ausgerottet
werden würde, schließlich in den Ländern, die eine rasche Industrialisierung
574
575
Ebd., S. 27
Hobsbawm, a.a.O., S. 364
162
durchlebten, offenkundig bewahrheitete, ist weniger erstaunlich als ein ganz
unerwartetes Phänomen: Die Anzahl der Bauern und Landarbeiter verringerte sich
auch dort, wo die Industrialisierung ganz augenscheinlich ausgeblieben war,
nämlich in Ländern, die die Vereinten Nationen mit allen möglichen Euphemismen
für die Begriffe »rückständig« und »arm« zu umschreiben versuchten. Während
junge, hoffnungsvolle Linke Mao Tse-tungs Strategie für den revolutionären Sieg
propagierten – die Mobilisierung der unzähligen Millionen Landarbeiter für den
Kampf gegen die umzingelten städtischen Hochburgen des Status quo –, verließen
diese Millionen ihre Dörfer und übersiedelten selbst in die Städte.“576 Während die
Bauern nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fast überall die Hälfte oder mehr
als die Hälfte der Bevölkerung stellten, waren sie nun fast überall in der
Minderheit. Wie sich erst mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989
herausstellte, war die bipolare Welt – trotz des kalten Krieges –, eine relativ stabile
Welt gewesen, gemessen an der ersten Hälfte des Jahrhunderts. In der dritten Welt
war die Entkolonialisierung nahezu abgeschlossen. Die Landkarten von 1914
waren 50 Jahre später in kaum einem Kontinent dieselben geblieben.
War es also verwunderlich, daß die Mehrzahl der Menschen der „sozialen
Marktwirtschaft“ mit keynsianistisch gesteuerter Ökonomie die Treue hielt? Mit
Sicherheit war die Frage einfacher zu beantworten, als die Frage warum einst so
viele Menschen dem Faschismus folgten. Um so erstaunlicher kam für viele die
neue soziale Bewegung der 68er, die in fast allen westlichen Ländern zu einer
Revolution der Kultur führte.
Wohl zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte war es aufgrund des
technologischen Fortschritts möglich geworden, den Mangel und die Knappheit ein
für alle mal zu besiegen. Die Wirklichkeit sah anders aus: Der kalte Krieg und der
Antikommunismus hatten ihren Zenit überschritten und das ungebremste
Wirtschaftswachstum sollte nicht anhalten. Nun rächte sich, daß das Zeitalter des
Antifaschismus (denn fast alle Regierungen nach 1945 basierten auf
antifaschistischen Legitimationen oder Mythen) die Reflexion auf später vertagte.
Vor allem in Deutschland war es die 68er Bewegung, die die Entnazifizierung
einforderte.
Der kalte Krieg lief in den folgenden Jahrzehnten vergleichsweise weniger Gefahr,
heiß zu werden. Die USA akzeptierten ein kommunistisches China und vor ihrer
Haustür ein sozialistisches Kuba, die Berliner Mauer schloß die Grenze der
Systeme. Nur einmal, während der Kubakrise, drohe der kalte Krieg noch einmal
heiß zu werden.
Für Sartre und Marcuse brach in ihren Theorien eine „optimistischere Zeit“ an, da
sie die Studentenbewegung begrüßten und die Bewegung sie. Sartre war auf dem
Höhepunkt seines Ruhmes angekommen, was der ihm zugedachte Nobelpreis für
Literatur 1964, den er ablehnte, belegte. Marcuse populärsten Jahre sollten ihm
noch bevorstehen und seine Sympathie für Sartre dahin bringen, daß er über ihn
sagte: „Sartre war schon immer mein Über-Ich“577
Für Marcuse und Sartre änderte sich viel: Eine soziale Bewegung, die beide
unterstützten und an der sie teilhatten, erforderte ein anderes Denken, als dies in
576
577
Ebd., S. 367
Hayman, Ronald, a.a.O., S. 655
163
ihren Theorien der Entfremdung zum Ausdruck kam. Bisher war es möglich, die
Theorie ex-negativo zu betreiben, in dem Sinne das man sagen konnte: Das hier ist
keine Freiheit. Trotz alledem hielten sich beide an ein die jüdische Tradition des
sogenannten Bilderverbots, d.h. sie weigerten sich das Bild einer freien
Gesellschaft zu zeichnen. Formulierungen einer positive Utopie fandet sich bei
keinem der beiden Denker, dort wo es eine gegeben hatte – Sartres Entwurf eines
Nachkriegsfrankreichs – blieb sie verschollen und erfuhr keine Neuauflage. Mit
den Worten Marcuses ausgedrückt: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt
keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft
überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt
sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der
großen Weigerung hingegeben haben und hingeben.“578
Die Theorie war also vor große Aufgaben gestellt. Den „Achtundsechzigern“ ein
weiteres, zynisches „Ihr seid fabelhaft“ wie der starren und verstaubten
Nachkriegszeit entgegenzuschmettern, wäre am Kern des Problems
vorbeigegangen.
578
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Hamburg, 1988, S. 267
164
5. 1968 und die Folgen: Kulturkampf
zwischen Revolution und Reform - Rebellische
Subjektivität
„ES IST UNMÖGLICH, EINE ZEITUNG, GLEICH VON
WELCHEM TAG ODER VON WELCHEM MONAT ODER
VON WELCHEM JAHR ZU ÜBERFLIEGEN, OHNE AUF
JEDER ZEILE ZEICHEN DER ERSCHRECKENDSTEN
MENSCHLICHEN VERDERBTHEIT ZU BEGEGNEN
UND
GLEICHZEITIG
DER
ERSTAUNLICHSTEN
PRAHLEREI MIT ANSTAND UND GÜTE, AUßERDEM
DEN UNVERSCHÄMTESTEN BEHAUPTUNGEN ÜBER
FORTSCHRITT UND ZIVILISATION.“
CHARLES BAUDELAIRE
„AUF DEM BOULEVARD BONNE NOUVELLE
SCHWINGT SEINE SCHELLE
DER KÖTER DER PRESSE
BELLT SEIN AUFREIZENDES GELÄUTE
UND BLUT AUF DER ERSTEN SEITE
UND BLUT AUF DER ZWEITEN SEITE
UND BLUT AUF DER DRITTEN SEITE
UND BLUT AUF DEM HINTERN
DEM HINTERN DES HINTERN
AUF DEM HINTERN BLATT BEREIT
SCHON ZUM NÄCHSTEN STREIT“
JACQUES PRÉVERT
Die Welt im Wandel
Die Welt von 1964 bis 1989 war von drei großen Momenten gekennzeichnet: Die
Studentenbewegung mit ihrem Höhepunkt im Jahre 1968, die ökonomische Krise
von 1973 und der Zusammenbruch des Ostblocks 1989.
Der technologische Fortschritt und der Untergang des Bauerntums waren
einschneidende demographische und kulturelle Ereignisse. Während die Städte der
3. Welt an der unglaublichen Menge von Einwanderern aus den ländlichen
Gebieten überquollen und verslumten, konnten die reicheren Länder diese
Bewegung, sofern sie nicht schon in den 20er Jahren des Jahrhunderts stattfand,
besser abfedern. Durch die Pattsituation der Weltmächte füllten sich die Lohntüten
der Arbeiter und Angestellten in den westlichen Gesellschaften zunehmens, da es
unumgänglich geworden war, ein politisches System aufzubauen, das die Arbeiter
165
in die westlichen Gesellschaften integrierte – wollte man nicht die innere
Opposition stärken.
„Der große Weltboom hatte es unzähligen Familien (kleinen Angestellten,
Inhabern kleiner Läden und Geschäfte, Bauern, und im Westen auch den
bessergestellten Facharbeitern) mit bescheidenem Einkommen ermöglicht, ihren
Kindern ein Vollzeitstudium zu bieten. Denn der westliche Wohlfahrtsstaat
offerierte Studenten die verschiedensten Förderungsmöglichkeiten, wobei die USA
1945 den Anfang machten, indem sie ehemaligen Soldaten Stipendien anboten. [...]
In den siebziger Jahren hatte sich die Anzahl der Universitäten auf der Welt
schließlich mehr als verdoppelt. [...] Die Massen der jungen Männer und Frauen
und ihrer Lehrer waren nur noch in Millionen oder wenigstens Hunderttausenden
zu zählen.“579 1939 gab es im Deutschland 40.000 Studenten, die allesamt nur ein
gutbürgerliches Leben im Jugendstadium repräsentierten und in organisierter Form
zumeist einen reaktionären Anstrich hatten. Im Jahr 2002 entsprach die Anzahl von
40.000 Studenten einer einzigen Universität in einer Stadt der Größe Hannovers. In
manchen kleineren Städten nahmen Studenten einen Anteil von bis zu 33% der
Gesamtbevölkerung ein (Giessen). Im Jahr 2002 lebten allein in Berlin 132.553
Studenten.580
Da das Bauerntum weltweit auf dem Rückzug war und die neuen Technologien
immer mehr ausgebildete Arbeiter benötigten, kam es nach dem sog.
„Sputnikschock“ zur Öffnung der Universitäten. In marxistischen Termini
ausgedrückt: Die herrschenden Klassen benötigten ein weitaus größeres Reservoir
an qualifizierten Arbeitern. Da ein Hochschulstudium meist mit einem besseren
Leben gleichbedeutend war, schickten viele, die es wenn auch sich leisten konnten
oder es sich nur unter größtem Verzicht leisten konnten, ihre Kinder auf die
Universitäten. Damit entstand ein neues soziales Milieu, das zwischen den Klassen
„hing“. Auf der einen Seite war der den Studenten zugedachte Entwurf ein
kleinbürgerliches Leben (dem sich – nebenbei angemerkt – auch viele der einst
aktiven 68er später hingaben), auf der anderen Seite war ihre finanzielle Situation
meist mit der einer einfachen Kassiererin vergleichbar. Wer war also besser
geeignet, sich für die Theorien einer „Neuen Linken“ zu begeistern? Die
Kommunistischen Parteien der einzelnen Länder – wenn sie noch nicht
bedeutungslos waren – beharrten auf der Arbeiterklasse als revolutionärem
Subjekt. Den meisten – damals leninistisch geprägten – Parteien entging dabei, daß
sich die Struktur der Arbeiterklasse grundlegend änderte. In den USA arbeiteten
mittlerweile mehr Arbeiter in den Hamburgerläden von „McDonalds“ als in der
Stahlindustrie. „Die Zahl der Arbeiter in der Textil- und Bekleidungsindustrie der
Bundesrepublik Deutschland sank zwischen 1960 und 1984 um mehr als die
Hälfte; dafür wurden in den frühen achtziger Jahren für jeweils hundert deutsche
Arbeiter vierunddreißig Arbeiter von der deutschen Textilindustrie im Ausland
eingestellt (1966 waren es noch weniger als drei gewesen). Die Eisen-, Stahl- und
Werftindustrien begannen aus den frühen Industriestaaten allmählich völlig zu
verschwinden, tauchten dafür aber in Brasilien und Korea, in Spanien, Polen, und
Rumänien wieder auf. Die alten Industriegebiete verkamen zu sogenannten
579
Hobsbawn, a.a.O., S. 375
Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, R4.1, WS 2000/2001 / Gemeindeverzeichnis GV
2000, Stand: August 2002
580
166
rustbelts (Rostgürtel) – ein in den USA der siebziger Jahre erfundener Begriff.“581
Was war also mit dem „revolutionären Subjekt“ geschehen? Die meisten
kommunistischen Parteien hingen einem Industrieproletariat an, das – wo es nicht
fast völlig verschwunden war – von der Schließung ihrer Betriebe bedroht war.
Keine besonders gute Ausgangssituation für eine Revolution klassischen Typs. Ein
Mitarbeiter Sartres, der 1962 der „Temps Modernes“ beitrat, drückte diese
Erkenntnis provokativ in einem Buchtitel aus: „Der Abschied vom Proletariat“.
Dieser Mitarbeiter war Àndre Gorz.
Die neue „Zwitterklasse“ der Studenten – zwischen materieller Armut und dem
Versprechen auf ein Leben in der Mittelschicht – war besonders empfänglich für
die Theorien einer Linken, die mit den Kommunistischen Partein gebrochen hatte
und die UdSSR nicht länger als legitimes Experiment marxscher Philosophie
ansah. Vor allem aber war sie höchst mißtrauisch gegenüber Autoritäten, was sie
dem emanzipatorischen, subjektorientierten Marxismus näherbrachte.
Verschiedene Momente galten als Auslöser der Bewegung: Sicherlich war der sich
zuspitzende Vietnamkrieg eines der beherrschenden Themen, das in den Ländern,
wo die 68er aktiv waren, heftigst diskutiert wurde. 550.000 amerikanische Soldaten
waren in Vietnam statioiert und während der Kubakrise von 1962 war es
keinesfalls sicher, daß der kalte Krieg nicht doch noch drohte, heißer zu werden.
Am 21. 10. 1967 gingen in Washington 250.000 Menschen auf die Straße und
demonstrierten gegen den Vietnamkrieg.
In Deutschland brachte die Notstandsgesetzgebung die Menschen auf die Straße.
Viele sahen dadurch – nach der 1956 erfolgten Wiederbewaffnung – die
Bundesrepublik auf dem Weg zu einem aggressiven und totalitären Staat
heranwachsen. Die größten Auswirkungen hatte die 68er Bewegung jedoch in
Frankreich und Italien: beide Länder standen vor Revolutionen, da die
Studentenunruhen auf die Arbeiter übergriffen und es zu Generalstreiks kam. Die
Regierung des General de Gaulle wankte so stark, daß sie den Elysée-Palast
verließ, um sich in Deutschland mit hohen französischen Offizieren zu beraten.
„Der Studentenaufstand der späten sechziger Jahre war das letzte Hurra der alten
Weltrevolution. Er war revolutionär im Sinne der alten Utopie, eine permanente
Umkehr der Werte zu erreichen und eine neue, perfekte Gesellschaft zu erschaffen;
er war revolutionär im operativen Sinne, dieses Ziel durch Aktionen auf den
Straßen, mit Barrikaden und durch Bomben und Überfälle aus dem Hinterhalt zu
erreichen. Er war global nicht nur, weil die Ideologie der revolutionären Tradition
von 1789-1917 universell und internationalistisch gewesen war – selbst eine derart
nationalistische Bewegung wie die separatistische baskische ETA, ein typisches
Produkt der sechziger Jahre, behauptete in gewisser Hinsicht, marxistisch zu sein –,
sondern weil die Welt, in der die studentischen Ideologen lebten, zum ersten Mal
wirklich global war. Dieselben Bücher (darunter 1968 mit größter Sicherheit die
von
Herbert
Marcuse)
erschienen
nahezu
gleichzeitig
in
den
Studentenbuchhandlungen von Buenos Aires, Rom und Hamburg. Dieselben
Revolutionstouristen überquerten Ozeane und Kontinente zwischen Paris,
Havanna, São Paolo und Bolivien. Die erste Menschheitsgeneration, für die
schnelle und billige Flugverbindungen und Telekommunikation etwas völlig
normales war – die Studenten der späten sechziger Jahre –, hatten keinerlei
581
Ebd., S. 382
167
Probleme zu erkennen, daß die Geschehnisse an der Sorbonne, in Berkeley oder
Prag Teil desselben Ereignisses im selben globalen Dorf waren […].“582
Der Name Marcuses wurde innerhalb der „Neuen Linken“ sogar noch häufiger
genannt, als der von Che Guevara583. Mit seinem „One-Dimensional-Man“ trat
Marcuse, so Wiggershaus, an die Seite Sartres584 und auch er handelte nach dem
Bild des unabhängigen Intellektuellen, das Sartre vorgelebt hatte. Die Kluft
zwischen Marcuse und den Frankfurtern wurde stetig größer und man kann sagen,
daß er in dieser Zeit Sartre näher stand, als seinen alten Freunden vom „Institut für
Sozialforschung“.
Das Buch einer Bewegung
Marcuses: Der eindimensionale Mensch
„Der eindimensionale Mensch“ war eine Bestandsaufnahme der kritischen Theorie
Marcuses zum Nachkriegskapitalismus. Wie war der restaurierte Kapitalismus
organisiert? Was hielt ihn zusammen, ließ ihn sich gegen andere
Gesellschaftssystem durchsetzen? Wie erhielt sich die Diskrepanz zwischen der
durch den technischen Fortschritt theoretisch machbar geworden Utopie einer Welt
ohne Hunger und der Wirklichkeit von der bipolaren Welt mit der Drohung eines
Atomkrieges am Leben? Was behinderte die Möglichkeit der Erfüllung des einst
von der kritischen Theorie postulierten „Recht auf Glück“ der Individuen?
Marcuses Zielsetzung des Buches las sich bescheiden: „Im Brennpunkt meiner
Analysen stehen Tendenzen in den höchstentwickelten gegenwärtigen
Gesellschaften. Es gibt weite Bereiche innerhalb und außerhalb dieser
Gesellschaften, wo die beschriebenen Tendenzen nicht herrschen – ich würde
sagen: noch nicht herrschen. Ich entwerfe diese Tendenzen und biete einige
Hypothesen, nichts weiter.“585
Tatsächlich war das Buch weit mehr als das: In ihm fand sich nicht weniger als die
theoretische Legitimation auf Widerstand gegen die fortgeschrittenen
Industriegesellschaften. Diese theoretische Sprengkraft war einer der Gründe,
warum es eine solch große Leserschaft fand. Dabei waren Marcuses Argumente
keinesfalls neu, sie stellten vielmehr einen verdichteten, klaren und griffigen
Höhepunkt seiner Arbeiten dar. Kernpunkt der kritischen Theorie Marcuses blieb
das Beharren auf der Möglichkeit einer Welt jenseits des Kapitalismus: „Wäre das
Individuum nicht mehr gezwungen sich auf dem Mark als freies ökonomisches
Subjekt zu bewähren, so wäre das Verschwinden dieser Art von Freiheit eine der
größten Errungenschaften der Zivilisation.“586
Mit „Der eindimensionale Mensch“ plante Marcuse keineswegs ein Manifest für
eine neue Bewegung zu schreiben, tatsächlich war es die politische Quintessenz
seines Denkens bis 1964. Geprägt vom Scheitern der deutschen Revolution, dem
Aufstieg des Faschismus und dem Fortbestehen des Kapitalismus nach dessen Fall
war es eine Abrechnung mit der spezifischen Form des Kapitalismus nach 1945
582
Ebd., S. 554
Katsiaficas, George: The Imagination of the New Left: A global analysis of 1968,
Boston, 1987, zit.n.: Hobsbawn, a.a.O., S. 550
584
vgl. Wiggershaus, a.a.O., S. 677
585
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Hamburg, 1988, S. 20
586
Ebd., S. 22
583
168
und dessen Geschichtslosigkeit: „Der Vernichtungskrieg hat noch nicht
stattgefunden, die nazistischen Ausrottungslager wurden abgeschafft. Das
Glückliche Bewußtsein verdrängt den Zusammenhang.“587 Die Kernthese Marcuses
war unmißverständlich: Die Menschen im spätindustriellen Kapitalismus waren
dumm gehalten und dumm gemacht worden. Die gesellschaftlich vorgegebene
Kultur zielte auf die Begrenztheit ihres Denkens und Verstandes und machte sie zu
eindimensionalen Menschen, deren Denken sich widerspruchsfrei durch die
kulturindustriellen Normen reproduziere. Marcuse sah in der Kulturindustrie einen
zentralen Garanten zur Weiterführung der Unterdrückung: „Das Nichtfunktionieren
des Fernsehens und verwandter Medien könnte so erreichen, was die immanenten
Widersprüche des Kapitalismus nicht erreichten – den Zerfall des Systems.“588
Die Übermacht der Gesellschaft als Objekts über das Subjekt schien grenzenlos.
Tatsächlich reflektierte Marcuse, wie vor ihm bereits Adorno im Kapitel über
Kulturindustrie in der „Dialektik der Aufklärung“, einen historischen Bruchpunkt
im Umgang der Gesellschaft mit dem Einzelnen. Überhaupt war die „Dialektik der
Aufklärung“ die große Inspirationsquelle für den „One-Dimensional-Man“. 1962
schrieb Marcuse an Adorno und Horkheimer bezüglich ihrer Planungen zu einer
Neuauflage: „Ein ungeheures Buch, das in den beinahe zwanzig Jahren seit es
geschrieben wurde, nur noch ungeheurer geworden ist. Aber auch nichts was
inzwischen von den Herren sotzoologen pschickologen publiziert worden ist,
kommt auch nur an eine Fußnote des Buches heran.“589
Der Kapitalismus hatte sich verändert: Die Durchsetzung des Fordismus in den
USA, aber auch der europäische Faschismus, begründete eine Kultur, in der die
Arbeiter Teil des Ganzen sein sollten – selbstredend keinesfalls in ökonomischer
Gleichberechtigung, aber dennoch als Kultur-, bzw. Produktempfänger. Ausdruck
und Möglichkeit dieses Einheitsbewußtseins stellten die neuen Medien des Radios
und Fernsehens dar.
Oder mit den Worten Henry Fords gesprochen: „Sie können jede Farbe haben,
solange es schwarz ist“. Dieser Satz symbolisierte, was mit Eindimensionalität
gemeint war: Zu denken, daß jede Farbe zu haben sei, während die Wirklichkeit
aus Schwarz bestand. Die Vergesellschaftung des Bewußtseins, so Marcuse, sei der
Kern des neuen Typus des Kapitalismus, in dem die neuen Formen der Propaganda
mittels der neuen Technologien jeden Haushalt erreichten: „Die massive
Vergesellschaftung beginnt zu Hause und hemmt die Entwicklung des Bewußtseins
und Gewissens. Autonomie zu erreichen, erfordert Bedingungen, unter denen die
unterdrückten Dimensionen der Erfahrung wieder lebendig werden können; ihre
Befreiung erfordert die Unterdrückung der heteronomen Bedürfnisse und
weisender Befriedung, die das Leben in dieser Gesellschaft organisiert.“590
Während das Establishment die permanente Verfügbarkeit sämtlicher Farben
proklamierte, wurde jenen, die der schönen, neuen Welt nicht trauten mit dem
Knüppel gedroht: „Der Grad, in dem es der Bevölkerung gestattet ist, den Frieden
zu stören, wo immer es noch Friede und Stille gibt, unangenehm aufzufallen und
587
Ebd., S. 103
Ebd., S. 257
589
Herbert Marcuse: Brief an Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, 21. August 1962,
in: Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung, Hamburg, 1998,
Band II, S. 155
590
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a a.O., S. 256
588
169
die Dinge zu verhäßlichen, vor Vertraulichkeit überzufließen und gegen die guten
Formen zu verstoßen, ist beängstigend. Beängstigend, weil er die gesetzliche, ja
organisierte Anstrengung ausdrückt, das ureigene Recht des nächsten nicht
anzuerkennen, Autonomie selbst in einer kleinen reservierten Daseinssphäre zu
verhindern.“591
Die neue Form der Herrschaft bestand für Marcuse in einer Maschinerie, die im
Begriff war sich zu verselbstständigen. Dem Einzelnen bliebe im Falle des
Protestes nur ein bürokratischer Niemand an der Spitze. Das Komplizierte an dieser
neuen Form politischer Herrschaft bestand in ihrer Undurchschaubarkeit. So wie
Foucault das Prinzip des Panoptikums als maßgeblich verantwortlich für
Introjektion von Herrschaftswerten zeichnete, bestand auch für Marcuse die
Herrschaftsarchitektur aus eine riesigen Maschinerie, die letztendlich sogar für jene
die an ihrer Spitze standen, undurchschaubar blieb. Das historisch neue an dieser
Form des Kapitalismus bestand letztendlich nur in einer altbewährten Tendenz: Der
Eroberung neuer Märkte. Nur das diese Märkte in den fortgeschrittenen
Industriegesellschaften nicht ausschließlich die Kolonien der 3. Welt waren,
sondern das vormals Private der Arbeiter und Angestellten. Fernsehen und Radio
brachen in die einstige Stille des Privaten ein, Vergnügungszentren boomten,
Illustrierte eroberten den Markt. 1953 erschien der erste „Playboy“, – Ausdrück
einer öffentlicher werdenden Sexualität. Überall wo vormals nicht markvermittelte
Beziehungen zwischen den Menschen herrschten, übernahm der Markt die
Kontrolle. Der Effekt: Die „zwanghafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich
durchschauten Kulturwaren“ (Adorno). Reflexion, Emanzipation, Unbotmäßigkeit
und Eigensinn blieben dabei auf der Strecke. “Die Anpreisung der immergleichen
Waren unter verschiedenen Markennamen, das wissenschaftlich fundierte Lob des
Abführmittels in der geschleckten Stimme des Ansagers zwischen Traviata- und
Rienziouvertüre ist allein schon wegen seiner Läppischkeit unhaltbar geworden.
Endlich kann einmal das durch den Schein der Auswahlmöglichkeit verhüllte
Diktat der Produktion, die spezifische Reklame, ins offene Kommando des Führers
übergehen.”592
Das Resultat? Der homo oeconomicus. So wie für Sartre die Subjekte zu SubjektObjekten wurden, waren sie dies auch für Marcuse. Was bei Sartre das „praktischinnerte“ Feld und „Die Anderen“ genannt wurde, existierte in Marcuses Theorie
schon immer. „Die Anderen“ waren bei Marcuse ganz einfach „die Menschen des
täglichen Lebens“: „Um zu leben, hängen Menschen von Chefs, Politikern,
Stellungen und Nachbarn ab, die sie dazu verhalten, das zu sagen und zu meinen,
was sie sagen und meinen; die gesellschaftliche Notwendigkeit zwingt sie dazu ein
»Ding« (einschließlich ihrer eigenen Person, ihres Denkens und Empfindens) mit
seinen Funktionen zu identifizieren. Wieso wissen wir das? Weil wir fernsehen,
dem Radio zuhören, Zeitungen und Illustrierte lesen, mit den Menschen reden.“593
Durch die Kulturindustrie war den Menschen, so Marcuse, auch das nötige
sprachliche Instrumentarium abhanden gekommen, um die Gesellschaft adäquat
kritisieren zu können: „Indem die Menschen ihre eigene Sprache sprechen,
sprechen die Menschen auch die Sprache ihrer Herren, Wohltäter und Werbetexter.
591
Ebd., S. 255
Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/ M, 1988,
S. 168f
593
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O. , S. 207
592
170
Daher drücken sie nicht nur sich selbst aus, ihre eigene Erkenntnis, ihre Gefühle
und Bestrebungen, sondern auch etwas anderes als sich selbst.“594 Dieses „andere“
bestand für ihn in der Reproduktion des Vorgegebenen. Die tätige Leistung des
eigenen Denkens werde erdrückt von der großen Maschine des Ganzen. „Es war
die totale Mobilisierung der materiellen und geistigen Maschinerie, die ganze
Arbeit leistete und ihre mystifizierende Macht über die Gesellschaft installierte. Sie
diente dazu, die Individuen unfähig zu machen, »hinter« der Maschinerie jene zu
sehen, die sich ihrer bedienten, von ihr profitierten und jene, die für sie zahlten.“595
Bei der so diagnostizierten Ausgangslage schien es schwer, Ansatzpunkte für
bessere Zeiten zu sehen. Was war für den Theoretiker zu tun? Eine neue
Flaschenpost zu verkorken? Oder eine Revision an einem entscheidenden Punkt
der Theorie zu tätigen? Marcuse diagnostizierte den „schwächsten Punkt der
kritischen Theorie: „[...] ihre Unfähigkeit, die befreienden Tendenzen innerhalb
der bestehenden Gesellschaft aufzuweisen.“596 Diese Revision kündigte Marcuse
mehrfach an (ohne sie tatsächlich einzulösen), was zu Störungen im Verhältnis mit
Adorno/Horkheimer führte und wohl einen Teil dazu beitrug, daß Marcuse auch im
letzten versuchten Anlauf nicht mehr nach Frankfurt zurückkam. Statt dessen
konnte man sagen, daß Marcuse und Sartre an diesem entscheidenden Punkt der
Theorie, kollektive Akteure der Befreiung aufzuzeigen und mit ihnen solidarisch
zu leben, weit mehr gemeinsam hatten, als Marcuse mit den Frankfurtern.
Differenzen zwischen Marcuse und Sartre gab es vor allem in der Verortung dieses
kollektiven Akteurs. Während Sartre an der Arbeiterklasse als revolutionärem
Subjekt festhielt, wurde Marcuses sog. „Randgruppentheorie“ populär: „Unter der
konservativen Volksbasis befindet sich jedoch das Substrat der Geächteten und
Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer
Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des
demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der
Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre
Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewußtsein. […] Wenn sie sich
zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die
primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, daß sie Hunden, Steinen und
Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen.
Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz
und Ordnung. Die Tatsache, daß sie anfangen sich zu weigern, das Spiel
mitzumachen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode
markiert. Nichts deutet darauf hin, daß es ein gutes Ende sein wird.“597
Während Marcuse also bei der „traditionellen“ Arbeiterklasse ein eindimensionales
Bewußtsein diagnostizierte, setzte er seine Hoffungen auf die sog. „Randgruppen“.
Diese Verschiebung des revolutionären Subjektes, machte ihn in den Kreisen des
orthodoxen Marxismus verhaßt598. Ein Schicksal, daß er mit Sartre teilte599. Von
594
Ebd., S. 208
Ebd., S. 204
596
Ebd., S. 265
597
Ebd., S. 267
598
siehe Beispielsweise: Holz, Hans Heinz: Utopie und Anarchismus. Zur Kritik der
kritischen Theorie Herbert Marcuses, Köln, 1968. Sowie: Steigerwald, Robert: Herbert
Marcuses dritter Weg, Köln, 1969.
599
siehe beispielsweise: Schaff, Adam: Marx oder Sartre?, Wien, 1964
595
171
chinesischer Seite wurde entschlossen Sartres und Marcuses Position abgelehnt –
bezeichnenderweise wurden dabei beide zwar als „existentialistischer Marxismus“
bzw. „psychoanalytischen Marxismus“ unterschieden, doch im gleichen Atemzug
verurteilt, als „Verbindung verschiedenster Ideologien, die Individualismus und
Anarchismus miteinander vermischten.“600 Für die chinesische KP waren die
Unterschiede zwischen Marcuse und Sartre so marginal, daß sie es nicht für Wert
hielten, zwischen ihnen zu unterscheiden und wo sie es taten, kamen Marcuse und
Sartre letztendlich doch in den selben Topf. Und auch der orthodoxe Marxismus
der UdSSR nahm beide kaum positiver auf.
Marcuses radikales Eintreten für eine Gesellschaft neuen Typs zielte auf ein
wirkliches historisches Novum ab: Sowohl den real existierenden Demokratien des
Westens, wie dem real existierenden Kommunismus des Ostens sprach er die Basis
für eine gerechte Welt ab: „Die verhängnisvolle wechselseitige Abhängigkeit der
einzigen beiden »souveränen« Gesellschaftssysteme in der gegenwärtigen Welt
drückt die Tatsache aus, daß der Konflikt zwischen Fortschritt und Politik,
zwischen dem Menschen und seinem Herren total geworden ist. Wenn der
Kapitalismus sich der Herausforderung des Kommunismus stellt, so stellt er sich
seinen eigenen Möglichkeiten: eine beachtliche Entwicklung aller Produktivkräfte,
nachdem die privaten Profitinteressen zurückgestellt wurden, die solch eine
Entwicklung hemmen. Wenn der Kommunismus sich den Herausforderungen des
Kapitalismus stellt, so stellt auch er sich seinen eigenen Möglichkeiten: ein
beachtlicher Komfort, Freiheiten und ein Erleichterung der Lebenslast. Beide
Systeme enthalten diese Möglichkeiten bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und in
beiden Fällen ist der Grund dafür in letzter Instanz derselbe – der Kampf gegen
eine Lebensform die die Grundlage der Herrschaft auflösen würde.“601
Der Zirkel zwischen Anpassung der Subjekte an die herrschenden Zustände sowie
der Anpassung der herrschenden Normen an die Subjekte bestimmte das Bild, das
Marcuse von den Einzelnen zeichnete. Dabei sprach er dem Kapitalismus nach
1945 eine neue Qualität und Quantität zu, er ging soweit zu sagen, daß eine „neue
Gesellschaft“ entstanden war: „Verglichen mit ihren Vorgängerinnen, ist sie in der
Tat eine »neue Gesellschaft«. Traditionelle Unruheherde werden jetzt beseitigt
oder isoliert, auflösende Elemente gebändigt. Die Haupttendenzen sind bekannt:
Konzentration der Volkswirtschaft auf die Bedürfnisse der großen Konzerne,
wobei die Regierung sich als anregende, unterstützende und manchmal sogar
kontrollierende Kraft betätigt; Verflechtung dieser Wirtschaft mit einem
weltweiten System von militärischen Bündnissen, monetären Übereinkünften,
technischer Hilfe und Entwicklungsplänen; allmählicher Angleichung der Arbeiterund Angestelltenbevölkerung, der Führungstypen bei den Unternehmer- und
Arbeitgeberorganisationen, der Freizeitbeschäftigungen und Wünsche der
verschiedenen sozialen Klassen; Förderung einer prästabilen Harmonie zwischen
Wissenschaft und nationalem Anliegen; Angriff auf die Privatsphäre durch die
Allgegenwart der öffentlichen Meinung, Auslieferung des Schlafzimmers an die
Kommunikation der Massenmedien.“602
Die traditionelle Arbeiterklasse, die Marx vor Augen hatte, als er ihr die Würde
und gleichermaßen die Bürde zusprach, die befreiende Klasse für die Freiheit aller
600
Frankfurter Rundschau, 31.3.1981, zit. nach Claussen, Detlev: Spuren der Befreiung Herbert Marcuse, Darmstadt, 1981 S. 7
601
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 75
602
Ebd., S. 39
172
Menschen zu sein, hatte sich transformiert. Die Integration ins System, so Marcuse,
sei nicht nur das Moment der Partei- und Gewerkschaftsspitzen, sondern greife
auch auf den Einzelnen über. „Der Proletarier auf früheren Stufen des Kapitalismus
war zwar das Lasttier, das durch die Arbeit seines Körpers für die Lebens- und
Luxusbedürfnisse sorgte, während er in Dreck und Armut lebte. Damit war er die
lebendige Absage an diese Gesellschaft. Demgegenüber verkörpert der organisierte
Arbeiter in den fortgeschrittenen Bereichen der technologischen Gesellschaft diese
Absage weit weniger deutlich und wird gegenwärtig, wie die anderen
menschlichen Objekte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der technischen
Gemeinschaft der verwalteten Bevölkerung einverleibt.“603
Doch wie war dies praktisch möglich geworden? Wie funktionierte diese
systemintegrierende Vermittlung konkret? Für Marcuse fand sie auf verschiedenen
Ebenen statt: Zu allererst in der gestiegenen Anzahl der Konsumgüter und deren
kulturindustrieller Vermarktung: „Die Erzeugnisse durchdringen und manipulieren
die Menschen; sie befördern ein falsches Bewußtsein, das gegen seine Falschheit
immun ist. Und indem diese vorteilhaften Erzeugnisse mehr Individuen in mehr
gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden, hört die mit ihnen einhergehende
Indoktrination auf, Reklame zu sein; sie wird Lebensstil, und zwar ein guter – viel
besser als früher -, und als guter Lebensstil widersetzt er sich qualitativer
Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens,
worin die Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende
Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu
Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden. Sie werden neubestimmt von
der Rationalität des gegebenen Systems und seiner quantitativen Ausweitung.“604
Anders ausgedrückt: Durch die Reklame, bekam der Fetischcharakter der Ware
eine weitere Dimension. Während beispielsweise ein Parfüm hunderttausendfach
hergestellt und beworben wurde, sollte der Einzelne das Gefühl bekommen, als
Einziger einen exklusiven Duft auszustrahlen. In diesem Zusammenhang entstehe,
so Marcuse, das „glückliche Bewußtsein“.
Dieses führe jedoch nur zu oberflächlichem Glück und diene letztendlich zur
Verdeckung, Tarnung und Verschleierung der eigentlichen Geschichte, die sich
hinter dem Rücken der Subjekte abspiele. Das glückliche Bewußtsein „reflektiert
den Glauben, daß das Wirkliche vernünftig ist und daß das bestehende System trotz
allem die Güter liefert. Die Menschen werden dazu gebracht, im
Produktionsapparat das wirksame Subjekt von Denken und Handeln zu finden,
dem ihr persönliches Denken und Handel sich ausliefern kann.“605 Dabei existierte
für Marcuse ein Missverhältnis zwischen dem eindimensionalen Bewußtsein der
Einzelnen und der realen Funktionsweise dieses neuen Typus des Kapitalismus.
Die Kontinuitäten, die zu Auschwitz geführt hatten, seien nicht beseitigt worden:
im Gegenteil. Für Marcuse besaß dieser neue Typ des Kapitalismus dieselben
Widersprüche, die die Konzentrationslager hervorgebracht hatten. „Die Welt der
Konzentrationslager [...] war keine besonders entsetzliche Gesellschaft. Was wir
dort sahen, war das Bild, in gewissem Sinne die Quintessenz der höllischen
Gesellschaft, in der wir jeden Tag stecken.“606
603
Ebd., S. 46
Ebd., S. 32
605
Ebd., S. 98
606
Ionesco, E., in: Novelle Revue Française, Juli, 1956, zitiert in: Marcuse, Herbert: Der
eindimensionale Mensch, Hamburg, 1988, S. 99
604
173
Kollektive Verdrängung halte davon ab, sich mit der Realität auseinanderzusetzen.
Die Psychoanalyse sei daher die notwendige Methode, die zur Dechiffrierung des
Einzelnen im Ganzen tauge. Freud konstatierte er, daß er „in der Psyche des
Individuums die Verbrechen der Menschheit aufdeckte, in der individuellen
Krankheitsgeschichte die Geschichte des Ganzen.“607. Das Leid des Patienten sei
„[...], in gewissem Sinn […] eine Protestaktion gegen die kranke Welt, in der er
lebt.“608
Neben dem Fetischcharakter der Ware bestand für Marcuse auch in der neuen Art
der Sprache ein Moment, das die Menschen zur Begriffslosigkeit führe. „Diese
Sprache, die den Menschen unausgesetzte Bilder aufnötigt, widersetzt sich der
Entwicklung und dem Ausdruck von Begriffen.“609 Doch gerade Begriffe seien
nötig, um die Gesellschaft zu erklären. Statt dessen nähmen in der Kulturindustrie
Sätze die Form suggestiver Befehle an. „[…] sie sind eher evokativ als
demonstrativ. Die Aussage wird zur Vorschrift; die gesamte Kommunikation hat
einen hypnotischen Charakter und gleichzeitig einen Anstrich von falscher
Vertraulichkeit - das Ergebnis beständiger Wiederholung und geschickt gelenkter,
ans Volk gerichteter Unmittelbarkeit der Kommunikation. Diese wendet sich direkt
an den Empfänger – ohne die durch Status, Bildung und Amt gesetzte Distanz und findet ihn oder sie in der zwanglosen Atmosphäre von Wohnzimmer, Küche
und Schlafzimmer vor. Dieselbe Vertraulichkeit wird durch die personalisierte
Sprache hergestellt, die in der fortgeschrittenen Kommunikation eine erhebliche
Rolle spielt. Es ist die Rede von »Ihrem« Kongreßabgeordneten, »Ihrer« Autobahn,
»Ihrem« bevorzugten Drugstore, »Ihrer« Zeitung; »Ihnen« wird sie gebracht, »Sie«
werden eingeladen, usw. Auf diese Weise werden aufgenötigte, genormte und
allgemeine Dinge und Funktionen als »speziell für Sie« dargeboten. Es verschlägt
wenig, ob die so angesprochenen Individuen daran glauben oder nicht. Der Erfolg
deutet darauf hin, daß die Selbstidentifikation der Individuen mit den Funktionen
befördert wird, die sie und andere ausführen.“610
Durch diesen hypnotischen Charakter der Sprache sei es zunehmend unmöglich
geworden, Dinge von Wichtigkeit von unwichtigen zu unterscheiden. Erfahrungen
würden reduziert auf die Schnittstellen des täglichen Lebens, so daß die Dinge von
Belang als solche nicht mehr auszumachen seien. Dem gegenüber existiere ein
realer, größerer Zusammenhang von Erfahrungen – eine ebenso wirkliche
empirische Welt. „[…] Diese […] ist heute noch die der Gaskammern und
Konzentrationslagern, von Hiroshima und Nagasaki, von amerikanischen Cadillacs
und deutschen Mercedeswagen, die des Pentagon und des Kreml, nuklearer Städte
und chinesischer Kommunen, von Kuba, von Gehirnwäsche und Massakern. Aber
die wirkliche, empirische Welt ist zugleich die, in der diese Dinge als
selbstverständliche hingenommen, vergessen oder verdrängt werden oder
unbekannt sind, in der die Menschen frei sind. Es ist eine Welt, in der der Besen in
der Ecke oder der Geschmack »von etwas wie Ananas« recht wichtig sind, in der
die tägliche Mühe und tägliche Bequemlichkeiten vielleicht die einzigen
Tatbestände sind, die alle Erfahrung ausmachen. Und dieses zweite, beschränkte
empirische Universum ist ein Teil des ersten; die Mächte, die das erste
beherrschen, gestalten auch die beschränkte Erfahrung. [...] Die operationelle oder
behavioristische Übersetzung gleicht Worten wie »Freiheit«, »Regierung«,
607
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 102
Ebd., S. 197
609
Ebd., S. 114
610
Ebd., S. 110f
608
174
»England« solchen wie »Besen«, und »Ananas« an und die Realität jener der
Realität dieser.“611
Im Universum der Kommunikation glichen sich Banales und Wichtiges an. Anders
ausgedrückt: Wenn ein Militär eine wichtige Nachricht zu versenden hatte, so
mußte der Überbringer der Nachricht fünfzig Nachrichten auswendig lernen – ohne
zu wissen, welche Nachricht von wirklicher Wichtigkeit gewesen war. Für den
Überbringer wurde es unmöglich, die eigentliche Nachricht zu erkennen. Nach
diesem Prinzip funktionierte für Marcuse die Gesellschaft neuen Typs. Das
Individuum werde in „Eindimensionalität“ gehalten und verfüge über keinerlei
kritisches Denkinstrumentarium, das zur Dechiffrierung des Ganzen tauge und statt
zielgerichteter Verschleierung sei ein verselbstständigtes Ganzes an der Spitze des
Systems, das noch immer durch Klassenantagonismen funktioniere. „Die
Gesellschaft ist in der Tat das Ganze, das eine unabhängige Macht über die
Individuen ausübt. Und diese Gesellschaft ist kein unfaßbarer »Geist«. Sie hat
ihren empirischen, festen Kern in dem System von Institutionen, die etablierte und
geronnene Beziehungen zwischen Menschen sind. Die Abstraktion von diesem
Kern verfälscht die Messungen, Befragungen und Berechnungen – aber in einer
Dimension, die in den Messungen, Befragungen und Berechnungen nicht erscheint
und dadurch mit diesen nicht in Konflikt gerät und sie nicht stört. Sie behalten ihre
Exaktheit und sind gerade in ihrer Exaktheit mystifizierend.“612
Als weiteres Moment der Entfremdung identifizierte Marcuse die Technik als
„Vehikel der Verdinglichung“. Technik könne, so Marcuse, zum Guten wie zum
Schlechten beitragen. Der gegenwärtige Stand der Technik befähige die
Menschheit ein Leben ohne Hunger zu führen – statt dessen schlage sie in ihr
Gegenteil um und drohe vermittels der Atombombe die menschliche Spezies und
alles weitere Leben auf der Erde auszurotten. Der spezifische Charakter der
Technik, so Marcuse, entwerfe jedoch eine „geschichtliche Totalität“. Dieser
geschichtliche Entwurf überführe den Logos der Technik, so Marcuse, in den
Logos der Herrschaft. „Eine elektronische Rechenmaschine kann einem
kapitalistischen wie einem sozialistischen Regime dienen; ein Zyklotron kann für
eine Kriegs- wie für eine Friedenspartei ein gleich gutes Werkzeug sein. Diese
Neutralität wird in Marx polemischer Behauptung angefochten, daß die
»Handmühle eine Gesellschaft mit Feudalherren ergibt, die Dampfmühle eine
Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten«. Nun wurde diese Behauptung in der
Marxschen Theorie selbst eingeschränkt: die gesellschaftliche Produktionsweise,
nicht die Technik sei der grundlegende historische Faktor. Werde die Technik
jedoch zur umfassenden Form der materiellen Produktion, so umschreibe sie eine
ganze Kultur; sie entwerfe eine geschichtliche Totalität – eine »Welt«.613
Anbei: Der Begriff der „geschichtlichen Totalität“ und der des „Entwurfes“
stammten von Sartre614 – Marcuse übernahm in der „Der eindimensionale Mensch“
explizit einige von Sartres philosophischen Elementen615.
Was war also zu tun? Wie diesem modernen Koloß begegnen? An welchen Stellen
waren Ansatzpunkte, die Anlaß zur Hoffnung boten? Die Ausgangsdiagnose war
611
Ebd., S. 194f
Ebd., S. 205
613
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Hamburg, 1988, S. 169
614
vgl. Sartre, Jean-Paul: Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S. 77
615
vgl. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 18, 47
612
175
denkbar schlecht: „Die gesellschaftliche Stellung des Individuums und seine
Beziehung zu anderen scheinen nicht nur durch objektive Qualitäten und Gesetze
bestimmt, sondern diese Qualitäten und Gesetze scheinen auch ihren
geheimnisvollen und unkontrollierbaren Charakter zu verlieren; sie erscheinen als
berechenbare Manifestation (wissenschaftlicher) Rationalität. Die Welt tendiert
dazu, zum Stoff totaler Verwaltung zu werden, die sogar die Verwalter verschlingt.
Das Gewebe der Herrschaft ist zum Gewebe der Vernunft selbst geworden, und
diese Gesellschaft ist. Verhängnisvoll darein verstrickt.“616 Es war also mit dieser
Diagnose nicht möglich eine Position zu beziehen, die Vertrauen in Reformen im
klassisch sozialdemokratischen Sinn gerechtfertigt hätte. Vielmehr bleib Marcuse
gegenüber der Frage „Was tun?“ auf marxistischer Seite in dem Sinne, daß er die
Systemfrage stellte. Für Marcuse mußte das ganze System durch ein anderes ersetzt
werden. Der Einzelne könne dem modernen Koloß der verwalteten Welt gegenüber
keine andere Haltung einnehmen als „die große Weigerung“, wenn er sich nicht
selbst korrumpieren wollte. Doch hier endete das Problem nicht: Wie war die
„große Weigerung“ zu artikulieren? Mit der Sprache? „Die Anstrengungen, die
große Weigerung in der Sprache wiederzugewinnen, erleiden das Schicksal, von
dem absorbiert zu werden, was sie widerlegen.“617
Marcuses Antwort auf diese Frage war auch die traditionelle der kritischen
Theorie: Die Kunst vermöge dies zu leisten. „Ob ritualisiert oder nicht, enthält
Kunst die Rationalität der Negation. In ihren fortgeschrittenen Positionen ist sie die
Große Weigerung – der Protest gegen das, was ist.“618
In seiner Bestimmung, was diese große Kunst sei und was nicht, war sich Marcuse
nicht immer sicher. Zumeist jedoch umfaßte Marcuses Kunstbegriff die großen
Klassiker des Bürgertums und endete beim Surrealismus. Man könnte sagen, daß er
ein Bild von Cezanne bereits für gewagt hielt. Die neuen Formen der Kunst, die
sich mit dem Protest paarten, waren für Marcuse eher Teile der Eindimensionalität
denn Quell von Mehrdimensionalität. „Als moderne Klassiker haben die
Avantgardisten und Beatniks an der Funktion teil, zu unterhalten, ohne das gute
Gewissen der Menschen guten Willens zu gefährden.“619 Erst in seinem „Versuch
über die Befreiung“ erweiterte Marcuse seinen Kunstbegriff und ließ z.B. auch
Raum für die Kunst des Kochens620. Die „ästhetische Dimension“ blieb für ihn
Hoffnungsquelle gegen die herrschende Eindimensionalität: Sie bewahre „sich
noch eine Freiheit des Ausdrucks, die den Schriftsteller und Künstler befähigt,
Menschen und Dinge bei ihrem Namen zu nennen – das sonst Unnennbare zu
nennen.“621
1966 gestand er allerdings den vormals abgeurteilten „Beatniks“ und „ Bohemiens“
Momente Individualität zu: „Das Individuum wird authentisch als Ausgestoßener,
Drogensüchtiger, Kranker oder Genie. Etwas von dieser Authentizität ist noch im
»Bohemien«, selbst im »Beatnik« enthalten; beide Gruppen stellen eben noch
geschützte und gestattete Manifestationen individueller Freiheit und individuellen
616
Ebd., S. 183
Ebd., S. 90
618
Ebd., S. 83
619
Ebd., S. 90
620
Ebd., S . 54
621
Ebd., S. 258
617
176
Glücks dar, an denen der Bürger nicht teilhat, der Freiheit und Glück eher in den
Begriffen seiner Regierung und Gesellschaft definiert als in seinen eigenen.“622
Einen Wechsel in seiner Position nahm er bezüglich dem von ihm früher als
„befreiende Kraft der Sexualität“ bezeichneten Aufbrechen der herrschenden
Sexualmoral ein. Während er noch in „Eros and Civilastion“ gegen die Prüderie
der 50er Jahre schrieb und sich von einer freieren Sexualität eine befreiende
Wirkung auf die Gesellschaft versprach, mußte er nun feststellen, daß die
Sexualität der Massenkultur ihrer befreienden Möglichkeiten beraubt war. Er
bescheinigte der Sexualität ihre Eingliederung in die Reklame und
Arbeitsbeziehungen, so daß auch sie Teil des kontrollierten Ganzen wurde: „Die
Zerstörung der Privatsphäre in Apartmenthäusern und Vorstadtheimen hebt die
Schranken auf, die das Individuum früher vom öffentlichen Dasein trennten, und
stellt die attraktiven Qualitäten anderer Ehefrauen und Ehemänner leichter zur
Schau. [...] Das Sexuelle wird in die Arbeitsbeziehungen und die Werbetätigkeit
eingegliedert und so kontrollierter Befriedigung zugänglich gemacht.“623
Dennoch ließ Marcuse von seiner Vorstellung des „neuen Menschen“ nicht ab. Für
ihn sehr untypisch formulierte er eine positive Utopie in Form eines Phantombildes
des Subjekts. Er definierte die wünschenswerten Charaktereigenschaften des
Subjekts wie folgt: „Heute im gedeihenden Kriegsführungs- und Wohlfahrtsstaat,
scheinen die menschlichen Qualitäten eines befriedeten Daseins asozial und
unpatriotisch – Qualitäten wie die Absage an alle Härte, Kumpanei und Brutalität;
Ungehorsam gegenüber der Tyrannei der Mehrheit; das Eingeständnis von Angst
und Schwäche (die vernünftigste Reaktion gegenüber dieser Gesellschaft!); eine
empfindliche Intelligenz, die Ekel empfindet angesichts dessen, was verübt wird;
der Einsatz für die schwächlichen und verhöhnenden Aktionen des Protestes und
der Weigerung.“624
Wo die kritische Theorie auch weiterhin stehen sollte, war für Marcuse klar. Er
schloß sein Buch mit den eindringlichen Worten: „Die kritische Theorie der
Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und
seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg
zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung
ihr Leben der großen Weigerung hingegeben haben und hingeben.“625
Die Anfänge der 68er Bewegung
Marcuses Solidarität
Es fällt schwer ein historisches Datum zu finden, daß den Beginn der 68er
Bewegung markierte. Wahrscheinlich konnte das Jahr 1955 als Ursprung der
Bürgerrechtsbewegung, die der Vorläufer der 68er Bewegung war, bezeichnet
werden. Ein ganz normaler Vorgang in den rassistischen USA löste weiten Protest
aus: Die schwarze Rosa Parks wurde verhaftet, weil sie sich in Montgomery
weigerte, ihren Platz im Bus für einen weißen Mann zu räumen. Hiernach kam es
622
Marcuse, Herbert: Das Individuum in der »Great Society«, in: Marcuse, Herbert: Ideen
zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt /M, 1970, S. 171
623
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 94
624
Ebd., S. 253
625
Ebd., S. 267
177
zu weiten Protesten, und die ersten Bürgerrechtsgruppen organisierten sich. Dieses
Ereignis konnte als die Geburtsstunde der schwarzen Bürgerrechtsbewegung
angesehen werden.
Höhepunkt dieser Bewegung war das Jahr 1963, als Martin Luther King vor dem
Lincoln-Memorial der US-Hauptstadt seine weltberühmte "I have a dream"-Rede
hielt, worin er sagte: “Statt seine heiligen Verpflichtungen zu erfüllen, hat Amerika
den Negern einen Scheck gegeben, der mit dem Vermerk zurückgekommen ist:
"Keine Deckung vorhanden". Aber wir weigern uns zu glauben, daß die Bank der
Gerechtigkeit bankrott ist. Wir weigern uns zu glauben, daß es nicht genügend
Gelder in den großen Stahlkammern der Gelegenheiten in diesem Land gibt.“ 626
King rekurrierte dabei auf Schätzungen, wonach ein getöteter Vietcong ca. ein
halbe Millionen Dollar kostete, für einen Schwarzen aber nur 50 Dollar
aufgewendet wurden – nur ein Moment der Diskriminierung von Schwarzen in den
USA. Die Anfänge der 68er Bewegung solidarisierten sich mit der schwarzen
Bürgerrechtsbewegung: „Bei den Bürgerrechtskämpfen im Süden der USA, bei
denen seit Anfang der 60er Jahre versucht wurde, durch sit-ins die Aufhebung der
Rassentrennung in Restaurants, Geschäften und öffentlichen Verkehrsmittel zu
erzwingen, wurden auch Studenten – und nicht nur schwarze – Opfer weißer
Gewalt. In Berkley war es zum Free Speech Movement gekommen, hatten
Studenten für das Recht gekämpft, auf dem Universitätskampus Geld für u.a. für
die Organisationenen der Bürgerrechtsbewegung zu sammeln, waren im Dezember
1964 bei einem sit-in-Streik 800 Studenten verhaftet worden – die größte
Massenverhaftung in der Geschichte der USA. Studenten waren es auch, die gegen
den Krieg in Vietnam protestierten und sich gegen ihre Einberufung durch
Verbrennen der Einberufungsbefehle wehrten.“627
Auch begannen 1964 die ersten Studenten mit der Bestreikung von Universitäten:
Als der radikale Schwarzenführer Malcom X „auf dem Campus der kalifornischen
Universitätsstadt Berkeley Redeverbot erhält und sämtlichen Studentengruppen ein
Versammlungsverbot erteilt wird, organisieren sich die betroffenen Studenten zu
einer «Free Speech Movement». Als – am 2.10. – ein Student aus Protest das
Verbot übertritt, wird er von der Campus-Polizei verhaftet. Beim Versuch ihn
abzutransportieren wird jedoch der Einsatzwagen von 3.000 Studenten eingekesselt
und – das Dach als Rednertribüne benutzend – über 36 Stunden auf dem Campus
festgehalten. Als dann – am 2.12. – ein Disziplinarverfahren gegen vier Studenten
eröffnet werden soll, besetzen 6.000 Studenten unter Anführung des
Philosophiestudenten Mario Savio und der Folksängerin Joan Baez das
Verwaltungsgebäude der Universität und funktionieren es in eine «Free University
of California» um. Als daraufhin die Staatspolizei das Gebäude in einer nächtlichen
Aktion räumt und annähernd tausend Besetzer verhaftet, wird am Morgen des 3.
12. auf dem Campus der Generalstreik ausgerufen, der – am 8. 12. – schließlich mit
der Erfüllung aller studentischen Forderungen und einer Generalamnestie aller
Beschuldigten endet.“628
Bereits ein Jahr später verschärfte sich die Situation an den Universitäten,
besonders in Berkeley, das als Zentrum der Revolte galt: „In über dreißig
amerikanischen Universitäten und Colleges beteiligen sich über 100.000 Studenten
626
http://www.derriere.de/King/Martin_Luther_King_5.htm, Stand: Dezember, 2002
Wiggershaus, a.a.O., S. 678
628
Kraushaar, Wolfgang: Notizen zu einer Chronologie der Studentenbewegung,
http://www.partisan.net/archive/1967/2667112.html, Stand: Dezember, 2002
627
178
am Vietnam Day. In Berkeley gehen dabei 1.000 Polizisten und 700
Nationalgardisten mit aufgepflanzten Bajonetten gegen 10.000 Studenten vor, die
am Militärstützpunkt Oakland die weitere Verschickung von amerikanischen
Truppen nach Südvietnam zu verhindern versuchen.“629
Marcuses Engagement und seine Solidarität mit den Studierenden ließen seine
Professur, auf die er so lange warten mußte und die ihm so viele Mühen bereitet
hatte, auf dem Spiel stehen. Als die Studenten in Brandeis zur Unterstützung der
kubanischen Revolution aufriefen, folgten verschiedene Professoren – unter ihnen
Marcuse. Michael G. Horowitz beschreib die Situation in Brandeis
folgendermaßen: „With the emergence of Communist Cuba, the Waltham campus
became more polarized than ever. Faculty support for Castro, though confined to a
minority, threatened for the first time to stamp a Marxist label on Brandeis. At that
point, the mostly Jewish, mostly moderate-to-liberal philanthropists who had
funded the university since 1948, threatened to sever the purse strings if Brandeis
turned firebrand. Sachar got the point. His first head-on challenge came during the
Cuban missile crisis, when the acclaimed anthropologist Kathleen Aberle closed an
address to students with the words, "Viva Fidel! Kennedy to hell!" Sachar
reprimanded her for "reckless" and "irresponsible" remarks, Aberle resigned, and
Marcuse was in the forefront of a campus move to reproach the president for
stifling academic freedom. (For its part, the American Association of University
Professors declined to censure the university.) It was the aging Marcuse’s most
significant political act in America and it cost him the tenured position he had
waited years to attain. With Marcuse, it might be added, went the intellectual
frontline of the faculty, and the university has never quite recovered from the
exodus.”630
Die Situation spannte sich weiter an, da die schwarze Bürgerrechtsbewegung
immer mehr Solidarität – vor allem bei den Studenten der Universitäten – fand und
sich der Widerstand gegen den Vietnamkrieg ausweitete. Der 1965 veröffentlichte
Aufsatz Marcuses: „Kritik der reinen Toleranz“ war seinen Studenten an der
Brandeis University zugedacht. Dahinter verbarg sich mehr als die akademische
Dankbarkeit eines Hochschullehrers gegenüber seinen Studenten. Den Studenten,
die sich gegen den Vietnamkrieg organisierten, für die schwarze
Bürgerrechtsbewegung Geld sammelten oder für das Wahlrecht in Teilen der
Südstaaten unter Einsatz ihres Lebens kämpften, attestierte er: „Wenn sie Gewalt
anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalt, sondern zerbrechen die
etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt
sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am wenigsten der Erzieher und
Intellektuelle, das Recht ihnen Enthaltung zu predigen.“631
Marcuses Vertrag in Brandeis wurde erwartungsgemäß nicht verlängert. Frei
davon, sich um seine Stelle noch groß Sorgen machen zu müssen, machte Marcuse
aus seinem Herzen keine Mördergrube. Horowitz berichtete: „During his final year
at Brandeis, as his contract was being terminated, Marcuse became a vociferous
critic of American policy in Vietnam. After the U.S. began its intensive bombing of
629
Ebd.
Horowitz, Michael G.: Portrait Of The Marxist As An Old Trouper, in: Playboy, Sept.,
1970 (US) und auf: http://www.marcuse.org/herbert/PlayboyInt709.htm#pedagogy , Stand:
Dezember, 2002
631
Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz, in: Wolff, Robert Paul / Moore, Barrington /
Marcuse, Herbert: Kritik der reinen Toleranz, S. 127f, Frankfurt /M, 1966, S. 127f
630
179
North Vietnam in February 1965, he delivered his most scathing polemic: "When I
came to this country in the Thirties," he exclaimed in an unusual show of emotion,
"there was a spirit of hope in the air. Now I detect a militarism and a repression
that calls to mind the terror of Nazi Germany." Needless to say, that sealed his
departure, but he wasn’t allowed to leave without a standing student ovation, a
yearbook dedication, and a gala student reception.”632 Dennoch erhielt er 1965 – 67
jährig – noch einen Lehrstuhl an der Universität von Kalifornien in San Diego.
Von Naturrecht auf Widerstand
Marcuses: Repressive Toleranz und ein Nachwort auf Walter
Benjamin
Zwei Texte aus seiner Zeit in Brandeis sollten noch Erwähnung finden: Zum einen
das Nachwort, welches Marcuse für einen 1965 erschienenen Sammelband mit
Texten Walter Benjamins geschrieben hatte und sein berühmt gewordener Aufsatz
über „Repressive Toleranz“.
Im Nachwort zu Benjamin verwies Marcuse ein weiteres Mal auf die alles
durchdringende und den Einzelnen erdrückende Gesellschaft und stellte die
kritische Theorie in die Tradition der Revolution: “Glück ist Erlösung vom
Schicksal, aber wenn das Schicksal das der zur Geschichte gewordenen
Gesellschaft ist, d.h. der als Recht gesetzten Unterdrückung, dann ist Erlösung ein
materialistisch-politischer Begriff: der Begriff der Revolution”633 Benjamin habe,
so Marcuse, die kritische Theorie in diesem Sinne gedacht. Und er präzisierte, was
er unter revolutionärem Kampf verstand: “Der revolutionäre Kampf geht um die
Stillstellung dessen, was geschieht und geschehen ist – vor allen positiven
Zielsetzungen ist die Negation das erste Positive. Was der Mensch dem Menschen
angetan hat, muß aufhören, radikal aufhören – dann erst und dann allein können die
Freiheit und die Gerechtigkeit anfangen.”634
Der gegenwärtigen Gesellschaft räumte er keine Chance auf eine Reformierung
ein. Das zwanzigste Jahrhundert stehe weit mehr in der Kontinuität der Greuel des
Faschismus, denn in Brüchen damit. Zur Verwirklichung des Glückes der
Menschen sei eine radikal andere Gesellschaft nötig, die mit der kapitalistischen
Ökonomie breche: „Das Denken erfährt den »Choc«, der es unfähig macht, in den
überlieferten Bahnen weiterzudenken; die Negation wird zu seinem konstruktivsten
Prinzip. Eines der Resultate ist die Unmöglichkeit des Staunens darüber, daß die
Dinge, die wir unter und seit dem Faschismus erlebt haben, »im zwanzigsten
Jahrhundert >noch< möglich sind«. Sie sind die Wirklichkeit des zwanzigsten
Jahrhunderts, das einer Abkunft behaftet bleibt und sie erfüllt.”635 Im Gegensatz zu
seinen früheren Texten stellte Marcuse die Revolution wieder stärker in den
Mittelpunkt der Theorie. In „Der eindimensionale Mensch“ diagnostizierte er noch
die eindimensionalen Subjekte, mit dem Aufkommen der Studentenbewegung
wurde Marcuse zunehmens optimistischer. Später modifizierte er seine
Subjekttheorie dahingehend, daß er die Möglichkeit einer „rebellischen
632
Horowitz, a.a.O.
Marcuse, Herbert: Nachwort, in: Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt und andere
Aufsätze, Frankfurt /M, 1965, S. 101
634
Ebd. , S. 104
635
Ebd. , S. 105
633
180
Subjektivität“ neben der „eindimensionalen“ sah. Das Nachwort zu Benjamin
bedeutete dahingehend einen Wendepunkt, daß Marcuse die Unabdingbarkeit einer
Revolution für die Durchsetzung einer gerechteren Welt in einer Deutlichkeit
thematisierte, die in seinen anderen Schriften eher zwischen den Zeilen standen.
Marcuse sollte bei dieser Deutlichkeit bleiben. In einem 1964 an der University of
Kansas gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Ethik und Revolution“636 bekräftigte er
diese Position.
Der Aufsatz „Repressive Toleranz“ gehörte mit Sicherheit zu seinen am meisten
gelesenen Texten. Darin verschärfte er die Tonart: „Der Verfasser ist sich dessen
voll bewußt, daß gegenwärtig keine Macht, Autorität oder Regierung vorhanden
ist, die eine befreiende Toleranz in Praxis übersetzen würde, doch er meint, daß es
die Aufgabe und Pflicht des Intellektuellen ist, an geschichtliche Möglichkeiten,
die zu utopischen geworden zu sein scheinen, zu erinnern und sie zu bewahren –
daß es seine Aufgabe ist, die unmittelbare Konkretheit der Unterdrückung zu
durchbrechen, um die Gesellschaft als das zu erkennen, was sie ist und tut.“637
Marcuse entfaltete darin die These daß die moderne Form der Toleranz nichts
anderes als eine Herrschaftstechnik sei. Dabei rekurrierte er auf die Entstehung der
Toleranz in dem Sinne, daß der ursprüngliche Sinn der Toleranz ein zu tiefst
demokratischer gewesen war: „Die Duldung der freien Diskussion und das gleiche
Recht gegensätzlicher Positionen sollte die verschiedenen Formen abweichender
Ansichten bestimmen und klären: ihre Richtung, ihren Inhalt, ihre Ansichten. Aber
mit der Konzentration ökonomischer Macht und der Integration gegensätzlicher
Standpunkte einer Gesellschaft, welche die Technik als Herrschaftsinstrument
benutzt, wird effektive Abweichung dort gehemmt, wo sie unbehindert aufkommen
konnte: in der Meinungsbildung, im Bereich von Information und Kommunikation,
in der Rede und in der Versammlung.“638 Die ursprüngliche Idee von der Toleranz
basiere auf einem Machtvakuum, das zur politischen Stabilität der Pluralität
bedurfte. Die verschiedenen, mit dem Begriff der Toleranz verbunden Bürgerrechte
entstanden, so Marcuse, aus der Prävention des Bürgerkrieges. Doch in der neuen
Form des Kapitalismus, der „Tyrannei der Mehrheit“, so Marcuse, herrsche
Diskussion im Überfluß: „Alle Standpunkte lassen sich vernehmen: der
Kommunist und der Faschist, der Linke und der Rechte, der Weiße und der Neger,
die Kreuzzügler für Aufrüstung und die für Abrüstung. Ferner wird bei Debatten in
den Massenmedien die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die
intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete, und
Propaganda geht einher mit Erziehung, Wahrheit mit Falschheit.“639 Die neue Art
der Toleranz trage eine nivellierendes Moment in sich, die ein Mittel sei „den
Kampf ums Dasein zu verewigen und die Alternativen zu unterdrücken.“640 Die
neue Toleranz beinhalte vor allem eines: Toleranz gegenüber der Herrschaft, dazu
gehöre die „Nachsicht gegenüber der systematischen Verdummung von Kindern
wie Erwachsenen durch Reklame und Propaganda, die Freisetzung von
unmenschlicher zerstörender Gewalt in Vietnam, das Rekrutieren und die
636
Marcuse, Herbert: Ethik und Revolution, in: Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft
2, a.a.O., S. 143ff
637
Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz, in: Wolff, Robert Paul / Moore, Barrington /
Marcuse, Herbert: Kritik der reinen Toleranz, a.a.O. , S. 93
638
Ebd., S. 106
639
Ebd., S. 105
640
Ebd., S. 94
181
Ausbildung von Sonderverbänden, die ohnmächtige und wohlwollende Toleranz
gegenüber unverblümten Betrug beim Warenverkauf.“641 Dies seien keine
Verzerrungen, sondern das Wesen des Systems selbst. Die Toleranz trete dort auf
den Plan, wo ursprünglich widersprüchliche Interessen am Werke seien: beim
Arbeiter, dessen Interessen der Betriebsleitung entgegen stünden, beim
Konsumenten, der ein gegenteiliges Interesse zu den Produzenten habe, usw.
Diese neue Ideologie der Toleranz bildete für Marcuse den gesellschaftlichen Kitt
zwischen den eigentlich widersprüchlichen Interessen. Hinter dieser Toleranz
stünden weiterhin die traditionellen Gewalten der Herrschaft („Polizei, Armee,
Aufseher aller Art“).
Die Subjektvorstellungen Marcuses hatten sich jenseits der „rebellischen
Subjektivität“ nicht sonderlich stark geändert. Noch immer betonte er das
präformierte Individuum, das qua seines Menschseins befähigt sei auch anders zu
leben, nämlich „als ein menschliches Wesen, das imstande ist, frei zu sein mit den
anderen.“642 Stärker als bisher betonte er die Notwendigkeit des Umsturzes, um
eine Gesellschaft herzustellen, „worin der Mensch nicht an die Institutionen
versklavt ist, welche die Selbstbestimmung von vornherein beeinträchtigt.“643
Ein Unterschied zu seinen früheren Schriften war jedoch auffällig: Im Einklang mit
der kritischen Theorie Adornos und Horkheimers hielt Marcuse bisher an den
Errungenschaften des Liberalismus fest. In der „Repressiven Toleranz“ brach er
damit und gestand den Gruppen, die er für eine andere Welt kämpfen sah, einen
höheren Stellenwert zu, als der Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten des
traditionellen Liberalismus: „Den kleinen und ohnmächtigen Gruppen, die gegen
das falsche Bewußtsein kämpfen, muß geholfen werden: ihr Fortbestehen ist
wichtiger als die Erhaltung mißbrauchter Rechte und Freiheiten, die jenen
verfassungsmäßige Gewalt zukommen lassen, die diese Minderheit unterdrücken.
Es sollte mittlerweile klar sein, daß die Ausübung bürgerlicher Rechte durch die,
die sie nicht haben, voraussetzt, daß die bürgerlichen Rechte jenen entzogen
werden, die ihre Ausübung verhindern, und das die Verdammten dieser Erde nicht
nur die Unterdrückung ihrer alten, sondern auch ihrer neuen Herren voraussetzt.“644
Mit anderen Worten: Marcuse rechtfertigte eine Übergangszeit der Unterdrückung
nach einer Revolution. Letztendlich war dies nichts anderes als die alte marxsche
Vorstellung der „Diktatur des Proletariats“, angereichert mit Positionen aus Platons
„Der Staat“: „Wo der Geist zum Subjekt-Objekt der Politik und ihrer Praktiken
gemacht worden ist, ist geistige Autonomie, die Anstrengung des reinen Denkens,
eine Sache politischer Erziehung (oder vielmehr Gegenerziehung) geworden.“645
Nur daß im Gegensatz zu Marx an die Stelle des Proletariates die „kleinen und
ohnmächtigen Gruppen“ treten sollten. Von dem Verdacht, eine avandgardistische
Erziehungsdiktatur nicht abzulehnen, war Marcuse nicht ganz freizusprechen.
Anders gefragt: Wie stand Marcuse dem chinesischen Model des Sozialismus
entgegen, der mit seiner „Kulturrevolution“ solche Momente einer
Erziehungsdiktatur verwirklichte? Er stand ihr, ebenso wie der kubanischer
Revolution, wohlgesonnen gegenüber: 1969 äußerte er sich wie folgt: “Ein anderes
641
Ebd.
Ebd., S. 98
643
Ebd.
644
Ebd., S. 121
645
Ebd., S. 123
642
182
Zeichen ist die Entwicklung der kubanischen Revolution; dort wird nach meiner
Meinung der Versuch gemacht, eine sozialistische Gesellschaft von unten her
aufzubauen, anstatt sie von oben durch Bürokratie und autoritäre Mittel zu
errichten. Vermutlich ist die chinesische Kulturrevolution ein ebensolcher
Versuch.”646 Das war ein Holzweg, den er mit Sartre gemeinsam ging. Auch Sartre
sprach seine große Sympathie für die kubanische und die chinesische Revolution
aus. Doch die Etikettierung des Befürworters einer „Erziehungsdiktatur“ wollte
Marcuse nicht ohne weiteres für sich gelten lassen: „Ich würde heute nicht einfach
von Erziehungsdiktatur sprechen. […] Vielleicht noch Erziehungsdiktatur
innerhalb der Demokratie, aber nicht Erziehungsdiktatur schlechthin.“647 In der
Frage des revolutionären Subjekts schwankte er. Während in „Der eindimensionale
Mensch“ noch die Randgruppen Träger der Revolution waren, schrieb er 1969:
„Die radikale Umgestaltung eines sozialen Systems hängt immer noch von der
Klasse ab, welche die menschlich Basis des Produktionsprozesses bildet. In den
fortgeschrittenen Ländern ist dies die Arbeiterklasse. […] Da sie »an sich«, aber
nicht »für sich« (objektiv aber nicht subjektiv) die revolutionäre Klasse ist, bleibt
ihre Radikalisierung an Katalysatoren außerhalb ihrer Reihen gebunden.“648
Tatsächlich war diese schwankende Position in hohem Maß der Entwicklung der
sozialen Bewegung geschuldet: Als 1968 die Revolte in Italien und Frankreich
auch auf die Arbeiter überging, und Generalstreiks beide Länder lahm legten,
schien für einen kurzen Moment die Revolution tatsächlich greifbar nah. Es schien
als habe Marcuse seine Position gegenüber der Arbeiterklasse nach diesen
Ereignissen modifiziert.
Praktische Solidarität
Marcuse in Deutschland
Marcuses Popularität ging weit über die Grenzen der USA hinaus. Seine
akademische Bekanntheit in Deutschland stieg schlagartig durch seine Teilnahme
am 15. Deutschen Soziologentag in Heidelberg, wo er ein Referat über Max Weber
hielt. In seinem Text „Industrialisierung und Kapitalismus im Werk von Max
Weber“ unternahm er eine scharfe Kritik Webers. Unter anderem warf er Weber
vor, daß dieser die Ebene der technischen Vernunft nicht verlasse649 und damit in
die unkritische Affirmation des Kapitalismus650 münde.
Am 22. Mai 1966 nahm er als Hauptreferent auf dem vom SDS veranstalteten
Kongreß mit dem Titel „Vietnam – Analyse eines Exempels“ teil, der von mehr als
2.000 Studenten und Professoren besucht wurde. Der Austragungsort: Frankfurt am
Main. So kam Marcuse, der 1964 zwar eine Gastprofessur in Frankfurt inne
hatte651, dann doch noch zurück an die alte Wirkungsstätte, doch nicht mehr als
646
Marcuse, Herbert: Zu aktuellen Problemen der Emanzipationsbewegung, Ein Interview,
in der Zeitschrift “abriss”, Januar 1969, S. 3
647
Habermas / Bovenschen, u.a.: Gespräche mit Marcuse, a.a.O., S. 30
648
Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, Frankfurt /M, 1969, S. 83
649
Marcuse, Herbert: Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, in:
Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft 2, 1979 , S. 111
650
Ebd., S. 108
651
Herbert-Marcuse-Archiv, Archivzentrum der Stadt- und Universitätsbibliothek
Frankfurt am Main, http://www.stub.uni-frankfurt.de/archive/marcusevita.htm, Stand:
15.12.2002
183
Mitarbeiter des Institutes für Sozialforschung, sondern als gefeierter Mentor und
Lehrer der neuen Linken.
Auf dem Kongreß berichtete er von seiner Zuneigung zu den gegen den
Vietnamkrieg protestierenden Studenten: „Auffallend ist die spontane Einheit von
politischer, intellektueller und instinktiver sexueller Rebellion – eine Rebellion im
Benehmen, in der Sprache, in der Sexualmoral, in der Kleidung. […] man spürt da
etwas, das über die politische Opposition hinausgeht und eine neue Einheit
darstellt: eine Einheit von Politik und Eros. Ein Bild, das mir im Gedächtnis bleibt:
Ich war in Berkeley am Vietnamtag und habe Demonstrationen mit 2000-4000
Studenten gesehen, die nach dem Truppenbahnhof marschierten, wo die
Truppentransporte der Eingezogenen abgehen. Der Zug der Demonstranten hielt
vor der Polizeibarrikade; es gab einige, entweder Provokateure oder einfach
Unbesonnene, die den Zug plötzlich aufreizen wollten, die Polizeiblockade zu
durchbrechen; das hätte natürlich nur blutige Köpfe gegeben. Im letzten
Augenblick hatte man sich anders besonnen, und es geschah, was schon oft in
solchen Situationen geschehen war: die Demonstranten setzten sich auf die Straße,
Arm in Arm, Jungen und Mädchen, die Liebkosungen beginnen, die Gitarren
kommen raus, Volkslieder werden gespielt, und auf diese Weise ist die Gefahr
wenigstens für einen Augenblick abgewendet, »aufgehoben« in der Einheit von
Politik und Erotik. Ich mag hier vollkommen romantisch sein, ich will das
zugeben, aber ich sehe in dieser Einheit eine Verschärfung und Vertiefung der
politischen Opposition.“652
Zu Disharmonien mit Adorno und Horkheimer kam es im Mai 1967 653.
Horkheimer, der gegenüber Marcuse die Position vertrat, daß sich die Kritische
Theorie nicht nur auf „die eine Seite des Bestehenden“ richten dürfe, antwortete er
im Juni 1967 mit Sartre: „Der Terror ist mir so gut wie Dir zuwider, aber ich kann
über die wesentliche Differenz seiner gesellschaftlichen Funktion nicht so leicht
hinweggehen. Die Gewalt, die in der Verteidigung des nackten Lebens gegen einen
mörderischen, tausendfach überlegenen Angreifer ausgeübt wird (werden muß), ist
sehr verschieden von der angreifenden und mörderischen Gewalt. Und welches die
reale Funktion einer Philosophie ist, die beide Gewalten gleichsetzt, das hat Sartre
in seinem Vorwort zu Fanons Les Damnés de la terre gezeigt.“654 Die Position
Marcuses und Sartres stieß bei Adorno auf heftige Ablehnung. Dazu kam, daß
Sartre durch seine frühen Heideggerbezüge bei Adorno und Horkheimer alles
andere als beliebt war. Mit Sartres Namen an der eigenen Seite gegen Adorno und
Horkheimer zu argumentieren, löste bei Adorno ein „frösteln“ aus: „Nach einem
Brief, wie dem von Herbert fängt es an, einen zu frösteln, wenn es nicht schon
längst damit angefangen hat.“655 Nie war Marcuse Sartre näher als in diesen Jahren
– näher vielleicht als den alten Freunden vom Institut.
Es schien, daß Marcuse seinerseits gegenüber der unausgesprochenen, jahrelang
bestehenden Solidarität mit den Frankfurtern, Einschränkungen gemacht hatte. So
nahm er 1967 das Angebot der Freien Universität Berlin, als Honorarprofessor zu
lehren, an. In dieser Zeit entstand der Band „Das Ende der Utopie“. Aus posthum
veröffentlichten Aufzeichnungen Horkheimers ging hervor, was er über Marcuses
Aktivitäten dachte: „Eine herrlich einfache Welt wird da vorausgesetzt ohne den
652
Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung, Band II, a.a.O., S.
207
653
Adorno an Horkheimer, 31. Mai 1967, in: Kraushaar, a.a.O., S. 233
654
Marcuse an Horkheimer, 17. Juni 1967, in: Kraushaar, a.a.O., S. 261
655
Adorno an Horkheimer, 20. Juni 1967, in: Kraushaar, a.a.O., S. 263
184
leisesten Hinweis auf die Verkettung von Schuld und Wohltat, Gerechtigkeit und
Ungerechtigkeit, Freiheit und Zwang. Man hat zwar Dialektik studiert, ja sogar
Bücher darüber geschrieben, um jedoch für Intellektualität noch Reklame zu
machen, ist nichts trivial genug.“656 Der Ton mäßigte sich zwar zunächst wieder,
doch die Differenzen zwischen Marcuse (und Sartre, der die Position Marcuses
teilte) auf der einen Seite und Horkheimer und Adorno auf der anderen waren
letztendlich unüberbrückbar. Horkheimer glaubte, daß ein neues Regime „sich als
schlimmer erweisen würde“. Er glaubte, daß sich mit Hilfe der Protestierenden
„wenn auch gegen ihre Absicht, einzig ein Regime durchsetzen, das anstatt durch
größere Freiheit viel mehr durch straffere Bürokratisierung gekennzeichnet
wäre.“657
Marcuse blieb zwar bei seiner grundsätzlichen Solidarität mit Adorno und
Horkheimer, doch schien diese so stark bedroht, daß er sie in einem Brief an die
beiden thematisierte: „Die Solidarität mit Euch ist mir eine ernste Sache: was gibt
es denn heute noch als die paar Menschen, die man zu treffen Glück hat und bei
denen man bleiben könnte.“658
Doch die Solidarität von einst so aufrechtzuerhalten wie bisher schien Marcuse
kaum noch möglich, nachdem das Frankfurter Seminar von Studenten besetzt
worden war und die Institutsleitung die Polizei gerufen hatte. Marcuse schrieb an
Adorno: „Wir wissen (und sie wissen), daß die Situation keine revolutionäre ist,
nicht einmal eine vor-revolutionäre. Aber dieselbe Situation ist so grauenhaft, so
erstickend und erniedrigend, daß die Rebellion gegen sie zu einer biologischen,
physiologischen Situation zwingt: man kann es einfach nicht mehr ertragen, man
erstickt und muß sich Luft schaffen. Und diese frische Luft ist nicht die eines
»linken Faschismus« (contradictio in adjecto!), es ist die Luft, die wir (wenigstens
ich) auch einmal atmen möchte und die sicher nicht die Luft des Establishment ist.
Ich diskutiere mit den Studenten, ich beschimpfe sie, wenn sie meiner Ansicht nach
stupide sind und den Anderen in die Hände spielen, aber ich würde wahrscheinlich
nicht die schlechteren, scheußlichen Waffen gegen ihre schlechten zu Hilfe rufen.
Und ich würde an mir (an uns) verzweifeln, wenn ich (wir) auf der Seite einer Welt
erscheinen würden, die den Massenmord in Vietnam unterstützt oder zu ihm
schweigt und alle Bereiche ihrer eigenen unterdrückenden Macht zur Hölle
verwandelt.“659 Adorno antwortete ihm: „Schroff gesagt: daß Du wegen der Dinge
in Vietnam oder Biafra einfach nicht mehr leben könntest, ohne bei den
studentischen Aktionen mitzumachen, betrachte ich als eine Art Selbsttäuschung.
Reagiert man aber wirklich so, dann müßte man nicht nur gegen das Grauen der
Napalmbomben protestieren, sondern ebenso gegen die unsäglichen Folterungen
chinesischen Stils, welche die Vietcong dauernd verüben.“660 Zu einem – bereits
geplanten – klärenden Treffen kam es nicht mehr. Adorno starb.
War die Debatte in ihren Grundzügen nicht bekannt? Erinnerten die Positionen
zwischen Marcuse und Horkheimer/Adorno nicht an die Debatte Sartre vs. Camus?
Hatte nicht Camus auch Sartre vorgeworfen, von den sowjetischen Lagern zu
656
Horkheimer, Max: Marcuses Vereinfachungen: Verstreute Aufzeichnungen 1950-1971,
in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 14: Nachgelassene Schriften, Frankfurt /M,
1988, S. 1963f
657
Horkheimer an Marcuse, 28. November 1967, in: Kraushaar, a.a.O., S. 324
658
Marcuse an Horkheimer und Adorno, 1. Dezember 1968, in: Kraushaar, a.a.O., S. 494
659
Marcuse an Adorno, 5. April, 1969, in: Kraushaar, a.a.O., S. 602
660
Adorno an Marcuse, 5. Mai 1969, in: Kraushaar, a.a.O., S. 624f
185
schweigen und einseitig Position zu beziehen? Hatte nicht Sartre geantwortet, daß
man sich in der wirklichen Geschichte entscheiden müsse und nicht „in der
Republik der schönen Seelen“ leben könne? Ähnlichkeiten waren kaum zu
übersehen, doch was den Stil und den Ton anging, blieben die Frankfurter sensibler
und mehr um Klärung – denn um öffentliche Auseinandersetzung – bemüht als die
beiden Pariser einst.
Sartre und die Studentenbewegung
Und Sartre? Wie stand er den 68ern und Marcuse gegenüber? Auch wenn sich in
seinem Werk kaum ein Rekurs auf Marcuse finden läßt, so ist dennoch berichtet,
daß er Marcuse gelesen hatte. Am 20 Mai 1968 sprach er im großen Hörsaal der
Sorbonne, der seit einer Woche von Studenten besetzt war. Ähnlich Bilder wie die
von Marcuses Auftritten gingen um die Welt, als Sartre in dem völlig überfüllten
Hörsaal sprach. Auf die Theorien Marcuses angesprochen, sagte er: „Das ist ein
Philosoph… Marcuse sagt, daß die einzigen Gruppen, durch die die Gesellschaft
verändert werden kann, die Randgruppen sind: «Unsere Hoffnung kann nur von
den Hoffnungslosen kommen» schreibt er in seinem letzten Buch, Der
eindimensionale Mensch. Ich stimme ihm nicht nur zu, sondern ich denke auch,
daß das eine der Bedeutungen der Studentenrevolte ist.“661 Andererseits gab es
auch Unterschiede zwischen ihren Positionen. In einem Spiegel-Interview sagte
Sartre 1968: „Wichtig ist, das eine Aktion stattgefunden hat, die doch alle für
undenkbar gehalten hatten. Wenn sie diesmal stattgefunden hat, so kann sie sich
abermals ereignen, und das entkräftete den revolutionären Pessimismus
Marcuses.“662 Man konnte Marcuse auch ein anderes Argument entgegenhalten:
Paul Mattick schieb über ihn, daß er selbst Zeuge für eine “nichtfetischisierte
Rationalität”663 sei.
Gegenüber Marcuse nahm Sartre – unter dem Eindruck des „Pariser Mai“ wenig
verwunderlich – eine klassisch-marxistische Haltung ein: Die Arbeiterklasse bleibe
das revolutionäre Subjekt. Gewiß war diese Aussage den spezifisch französischen
Verhältnissen geschuldet, wo sich große Teile der Arbeiter mit den Studenten
solidarisierten und mit ihnen zusammen kämpften, so daß der Pariser Mai 1968 in
Frankreich die größten revolutionären Unruhen seit 1871 darstellten.
Sartre nahm innerhalb der internationalen 68er Bewegung keinesfalls eine solch
herausragende Stellung wie Marcuse ein. Dennoch hatte auch er Einfluß auf ihr
Denken, besonders bei den Pariser Akteuren des 22. März. Cohn Bendit sagte
später: „Man hat uns Marcuse als Lehrmeister <anhängen> wollen, purer Unsinn.
Keiner von uns hat Marcuse gelesen. […] Die politischen Militanten der Bewegung
des 22. März haben fast alle Sartre gelesen.“664 Nachdem Cohn-Bendit sich von
seiner linken Vergangenheit losgesagt hatte, schienen ihm Sartre und Marcuse
doch nicht mehr so weit voneinander entfernt: „Herbert Marcuse war für mich
nachträglich das Musterbeispiel eines opportunistischen Philosophen, wie dies auf
661
Zit. n. Cohen-Solal, a.a.O., S. 697
Der Spiegel, 15. Juli 1968, Nr. 29, 22. Jahrgang, S. 61
663
Mattick, Paul Kritik an Herbert Marcuse. Der eindimensionale Mensch in der
Klassengesellschaft, Frankfurt /M, 1969, S. 59
664
Cohen-Solal, a.a.O., S. 690
662
186
eine andere Art und Weise auch Jean-Paul Sartre war.“665 Vielleicht sagt dieses
Urteil mehr über den Ureilenden, denn über die Beurteilten aus. Oskar Negt
jedenfalls resümierte über Cohn-Bendit: „Die aufdringlich radikale Pose, die
Daniel Cohn-Bendit wie ein Markenzeichen demonstriert, ist in dem Maße in einen
produktiven politischen Arbeitsprozeß eingegangen, wie er mit Amt und Funktion
im bestehenden System ausgestattet wurde.“666
Wie eng Sartre mit den 68ern verbunden war, demonstriert vielleicht die Tatsache,
daß es Alain Geismar war, der bei Simone de Beauvoir eingeladen war und sie und
Sartre in die Maiereignisse einweihte. Sartre verteidigte die Revolte: „Wer die
Leute als «Anarchisten» bezeichnet, die gegen die stalinistischen Bürokraten und
die Technokraten der Konsumgesellschaft aufbegehren und verlangen, Menschen
sollten nicht länger nur Produkte und Objekte sein, sondern ihr Herr über ihr
Schicksal, der klebt ihnen ein «Gift»-Etikett auf eine Bewegung, der man schaden
will, weil sie neu, weil sie auf unverfälschte Weise revolutionär ist, weil sie die
alten Apparate bedroht. Was die jungen Revolutionäre wollen, ob nun bürgerlicher
Herkunft oder nicht, ist keineswegs Anarchie, sondern genaugenommen die
Demokratie, eine wirklich sozialistische Demokratie, die noch nirgends mit Erfolg
verwirklicht worden ist.“667 Warum hätte er sie auch nicht unterstützen sollen? In
fast allen Slogans des Pariser Mais ging es um das Verhältnis des Einzelnen
gegenüber der Gesellschaft668 und darum, die Rechte des Individuums zu erweitern
und stärken. Die große Mehrheit der Protagonisten ging davon aus, daß das Subjekt
Mensch im Kapitalismus in einem nicht akzeptablen Ausmaß zum Objekt von
Herrschaftsinteressen gemacht werde. In sehr vielen Dingen glich Sartres
politisches Engagement den Vorstellungen und Überzeugungen der 68er.
Sartre selbst begriff sich als Mittler zwischen den politischen Studenten und seiner
Generation. 1969 schrieb er: „Wir werden es euch erklären, wir, ein paar
Erwachsene, sie nicht ganz so verfault oder sich zumindest ihrer Fäulnis
einigermaßen bewußt sind. Begreift ihr eigentlich, was das in Frankreich heißt:
Kulturrevolution?“669 Ebenso wie Marcuse hegte Sartre Sympathien für die
chinesische Kulturrevolution. Doch Sartre sollte sich – nicht zum ersten Mal in
seinem Leben – viel stärker als Marcuse im revolutionären Impetus verrennen.
Zwar war Sartre gemäßigter als noch 1952, als er behauptete, daß der Arbeiter
seine Freiheit in der Partei fände, doch seine Sympathien für die Maoisten trug er
öffentlich zur Schau.
Er führte zu dieser Zeit ein Art „Doppelleben“: Zum einen fand er neue Freunde
bei den Maoisten der „Gauche Prolétarienne“, zum anderen arbeitete er an seinen
großen Flaubert-Studien. Noch einmal wollte Sartre etwas in die Wagschale
Daniel Cohn-Bendit: Sie war keine ‚engagierte’ Philosophin..., Vortrag von Daniel
Cohn-Bendit auf der Hannah Arendt Tagung 1994 in Bremen, aus:
http://www.nakayama.org/polylogos/philosophers/arendt/arendt-philo.html,
Stand:
20.12.2002
666
Negt, Oskar: Achtundsechzig, Göttingen, 1995, S. 343
667
Sartre, Jean-Paul: Der neue Gedanke vom Mai 1968, Interview in: Le Nouvel
Observateur,
26.
Juni
1968,
zit. n.: Sartre, Jean Paul: Der Mai ’68 und die Folgen, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 49
668
Siehe zu den Plakaten des Pariser Mai: http://burn.ucsd.edu/paristab.htm, Stand:
23.12.2002
669
Sartre, Jean-Paul: Die geprellte Jugend, Interview in: Le Nouvell Observateur, 17. März
1969, zit. n.: Sartre, Jean-Paul: Der Mai ’68 und die Folgen, a.a.O., S. 79
665
187
werfen: Eine Essenz seines Denkens und den Abschluß seiner Bemühungen, den
Menschen zu verstehen. Die Flaubert Studie sollte nicht weniger sein, als „alles
was man von einem Menschen wissen kann.“ Wieder griff Sartre zu Corydran: „er
wird nervös und schrullig. Wiederholt sieht man die Arme mit gebogenem
Ellenbogen bewegen, als sei er mit eigenartigen Flügelchen ausgestattet:
Besorgniserregende Ticks. Er raucht und trinkt wie zu den schlimmsten Zeiten.“670
Doch zuvor trat ein anderes Ereignis auf den historischen Plan: Die Ausweitung
der 68er Bewegung nach Osten mit dem Prager Frühling.
Der Prager Frühling und der Vietnamkrieg
Sartres ungebrochenes Engagement
In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 rücken Truppen von fünf
Warschauer Pakt Staaten in die Tschechoslowakische Sozialistische Republik ein.
Dem voraus waren Reformversuche der kommunistischen Partei der CSSR
gegangen. Alexander Dubcek, erster Sekretär der Partei, wurde mit dem gesamten
Politbüro verhaftet und in die Sowjetunion gebracht. Am 26. August 1968 mußten
sie im "Moskauer Protokoll" die Rücknahme der eingeleiteten Reformen
versprechen. Unter einem Appell gegen die Besetzung der CSSR durch die UdSSR
fanden sich neben anderen Namen auch die von Sartre und Marcuse. Beide lehnten
die Besetzung der CSSR entschieden ab671. Sartre schrieb über die sowjetische
Besatzung: „Der Sozialismus ist in die lange Nacht des Mittelalters
zurückgesunken. Ich erinnere mich, daß meine Freunde in der Sowjetunion mir
1960 sagten: «Geduld, das braucht vielleicht seine Zeit, aber sie werden sehen: Der
Prozeß ist irreversibel.»; seitdem habe ich manchmal das Gefühl, daß nichts
irreversibel war – außer der fortgesetzten, starrsinnigen Selbsterniedrigung des
Sozialismus.“672
Die Subjekte sah Sartre weiterhin der Entfremdung unterworfen und in dem
Aufbegehren der CSSR einen Versuch, gerade diese zu durchbrechen. „Ein Keil
treibt den anderen: Die «Herrschaft der DINGE», die in der alten Republik bestand,
wurde zerstört und durch «Die Herrschaft anderer DINGE» ersetzt, die alte
Entfremdung gegen eine neue Entfremdung eingetauscht.“673 Dabei bewertete er
den Sozialismus Moskauer Prägart als dem Kapitalismus des Westens in der
Verdinglichung der Einzelnen ebenbürtig. Auch hier herrschte Einigkeit mit
Marcuse. Für beide waren weder der „Sozialismus der aus der Kälte kam“ (Sartre)
noch das „präformierte Individuum“ (Marcuse) des Westens annehmbare Zustände.
Man könnte sagen, daß beide in dieser Zeit eine praktische Politik des dritten
Weges betrieben hatten: Ablehnung gegenüber den imperialistischen
Manifestationen der UdSSR in der CSSR wie denen der USA in Vietnam.
Marcuses Gegnerschaft zu diesem Krieg war bekannt und auch Sartre engagierte
sich gegen den Vietnamkrieg.
670
Cohen-Solal, a.a.O., S. 701
siehe Haymann, a.a.O., S. 617
672
Sartre, Jean-Paul: Der Sozialismus, der aus der Kälte kam, in: Sartre, Jean-Paul:
Plädoyer für die Intellektuellen, Reinbek bei Hamburg, 1995, S. 348
673
Ebd., S. 354
671
188
Sartre war Vorsitzender der „Russel-Tribunals“, das von dem 94-jährigen Bernard
Russel ins Leben gerufen worden war. In ihm sollte entschieden werden, ob die
„Anklage auf Kriegsverbrechen […] gegen die Regierung der Vereinigten Staaten
sowie gegen die von Südkorea, Neuseeland und Australien […]gerechtfertigt
sind.“674 Das Tribunal kam zu dem Schluß: „Die amerikanische Regierung ist nicht
schuldig, den modernen Völkermord erfunden zu oder auch nur unter anderen
Möglichkeiten einer Antwort auf den Guerillakrieg ausgesucht zu haben. […] Die
amerikanische Regierung ist schuldig, eine Politik der Aggression und des Krieges,
die auf den totalen Völkermord abzielt, einer Politik des Friedens vorgezogen zu
haben […] Wenn ein Bauer auf einem Reisfeld mit einem Maschinengewehr
niedergemäht wird, dann treffen diese Schüsse uns alle.“675
Sartre und Marcuse engagierten sich auf zahllosen Veranstaltungen und
Kongressen, in Interviews und auch bei Demonstrationen gegen die Politik der
USA und der UdSSR. Die gemeinsame Basis des Protestes? Die Vorstellung einer
Welt, in der die Subjektivität nicht unter den Interessen der Weltmächte zermahlen
wird.
Sartre und die Maoisten
Die letzten Jahre Sartres waren – wie so oft in Sartres Biographie – von Brüchen
gekennzeichnet. Bevor er 1973 erblindete, sah man ihn in der Öffentlichkeit meist
an der Seite Pierre Victors, den er 1970 über Geismar kennengelernt hatte. Die
französischen Maoisten hegten keinesfalls allergrößte Sympathie für Sartre,
vielmehr stellte er für sie ein nützliches Instrument dar. Als die Gruppe „Gauche
prolétarienne“ verboten wurde, geriet auch ihre Zeitung „La Cause du Peuple“ in
Gefahr. Binnen kurzer Zeit wurden beide Herausgeber verhaftet.
Was sagte De Gaulle einst über Sartre? „Einen Voltaire verhaftet man nicht.“ Jetzt
benutzte Sartre diesen Status, um sich schützend vor die „Gauche prolétarienne“ zu
stellen. Auf fast jeder Seite stand einem Siegel gleich: „Herausgegeben von JeanPaul Sartre und Simone de Beauvoir“. Am ersten Mai 1970 erklärte Sartre seine
Absichten: „Es handelt sich darum, das Manöver der Regierung zu vereiteln, die
mit wiederholten Beschlagnahmungen die Zeitung ruinieren und mit der
Behauptung, ihre Artikel seien Aufrufe zum Mord, diskreditieren will.“676 CohenSolal berichtete, daß im ursprünglichen Text der Erklärung stand: „[…] erkläre ich
mich solidarisch mit allen Aktionen […]“, was in der nächsten Ausgabe revidiert
wurde in „allen Artikeln“. Dieser feine, aber doch gravierende Unterschied mag
deutlich machen, daß Sartre nicht mehr in die bedingungslose Solidarität von 1952
zurückfiel. Er äußerte zwar Anerkennung für das Werk Maos677, doch ein Maoist
wurde er nicht. Die Bezeichnung „Maoist“ war in Frankreich ohnehin zweifelhaft:
Alle marxistischen Strömungen neben der KPF wurden als „Maoisten“ bezeichnet
– ob sie dies nun waren oder nicht.
Die bürgerliche Öffentlichkeit reagierte auf Sartres Rückendeckung mit Erstaunen
und Ablehnung. Doch nicht alle teilten diese Reaktion. Ein alter Gegner Sartres,
674
Sartre, Jean-Paul: Eröffnungsrede, in: Sartre, Jean-Paul: Wir sind alle Mörder, a.a.O., S.
249
675
Sartre, Jean-Paul: Völkermord, in: Wir sind alle Mörder, a.a.O., S. 298f
676
La cause de Peuple, 1. Mai 1970, zit. n.: Cohen-Solal, a.a.O., S. 716
677
siehe: Sartre, Jean-Paul / Gavi, Philippe / Victor, Pierre: Plädoyer für die Intellektuellen,
Reinbek bei Hamburg, 1976 , S.76
189
dessen Philosophie fast ausnahmslos ohne Subjekt auskam, gesellte sich an seine
Seite: Michele Foucault. Die Gegnerschaft zwischen De Beauvoir und Foucault
war bekannt und auch Foucaults wütender Ausspruch, nachdem Simone de
Beauvoir „die dümmste Frau der Welt“ sei. Was die beiden zusammenbrachte war
nicht ganz klar, in jedem Fall entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den
beiden so gegensätzlichen französischen Meisterdenkern. Cohen-Solal schreibt:
„An Sartres Seite wird man in den jetzt folgenden Monaten fast ständig den
lächelnden Kahlkopf Michel Foucault sehen […]“678 Vielleicht war der Impetus der
Foucaultschen Philosophie, in der das Subjekt in einem gesellschaftlichen
Panoptikum existierte und der späten Sartreschen, bei den das Individuum immer
mehr unter die Räder der Entfremdung geriet, doch nicht so weit voneinander
entfernt, wie es anfänglich schien. Mit Sicherheit teilten beide die gleichen Ziele –
mit Marcuse gesprochen: „Was der Mensch dem Menschen und der Natur angetan
hat, muß aufhören, radikal aufhören – dann erst und dann allein können die Freiheit
und die Gerechtigkeit anfangen.“679 Beide hätten diese Worte unterschrieben und
sie können als inhaltliche Grundlage ihres gemeinsamen Engagements verstanden
werden.
Wie hatten sich für Sartre die Subjekte verändert? Welche Rolle kam der Partei,
der Gruppe und dem Einzelnen zu? Zu erst einmal verlagerte Sartre sein
Engagement: Man sah den kleinen Philosophen aus Protest gegen das Verbot der
„La Cause du Peuple“ auf der Straße Zeitungen verkaufen oder auf einem Faß
stehend, vor Renault-Arbeiter sprechend. Warum tat er das? Sartre antwortete:
„]…] ich bin ein Intellektueller, und es hat vor nunmehr einem Jahrhundert das
Bündnis des Proletariats und der Intellektuellen gegeben. Es stellte eine beachtliche
Kraft dar. Seit Anfang dieses Jahrhunderts besteht es nicht mehr; wir müssen es
wieder zusammen bringen. Arbeiter und Intellektuelle müssen es wieder
verwirklichen – nicht, damit die Intellektuellen den Arbeitern gute Ratschläge
erteilen, sondern um eine neue eigene Masse zu bilden, die den Standpunkt der
Intellektuellen verändert, die sie in ihrem Handeln selbst umwandelt und damit
eine feste und gefürchtete Vereinigung schafft.“680 Das „Bündnis zwischen
Intellektuellen und den Arbeitern“ zielte zweifelsohne auf den Marxismus ab. Das
erneute „Zusammenbringen“ dieses Bündnisses meinte nichts anderes als eine
Revitalisierung des Marxismus. So sah Sartre in den Arbeitern die revolutionäre
Kraft und vertrat einen Marxismus, der dem „Kommunistischen Manifest“ ähnlich
war.
Schnädelbach formulierte die Wendungen des Sartreschen Denkens und der
Kritischen Theorie wie folgt: “Schematisch gesprochen beginnt Sartre mit reiner
Philosophie und kommt bei Marx und einer umfassenden Gesellschaftstheorie an,
während die Frankfurter marxistisch und gesellschaftstheoretisch beginnen, um
sich dann immer mehr in die Philosophie zurückzuziehen. Auch wenn man darauf
besteht, Horkheimer und Adorno seien von allem Anfang Philosophen gewesen
und Sartre sei bis zuletzt Philosoph geblieben, stimmt das Bild einer gegenläufigen
678
Cohen-Solal, a.a.O., S. 720
Marcuse, Herbert: Nachwort, in: Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt, a.a.O., S.
104
680
Sartre, Jean-Paul: Rede vor Renault-Arbeitern, in: Sartre-Jean-Paul: Plädoyer für die
Intellektuellen, Reinbek bei Hamburg, 1995, S. 385f
679
190
Entwicklung, nur spielt sich die dann zwischen reiner Philosophie und
Sozialphilosophie ab.”681
Sartre fiel nicht noch einmal in den Impetus der bindungslosen Gefolgschaft
gegenüber einer Gruppe, die sich eines angeblich revolutionären Proletariates
verschrieben hatte, zurück. Er war sich sehr wohl bewußt, daß das Proletariat in
dieser historischen Phase nicht ausschließlich revolutionär war und nur auf die
„Gauche prolétarienne“ wartete, um zuzuschlagen. Sartre schrieb: „Wenn die
Arbeiterklasse – wie gegenwärtig – zwar in bestimmten Winkeln protestiert, in
ihrer Gesamtheit aber nicht protestiert, sondern sich ruhig verhält, hat sie dann
wirklich den ernsthaften Wunsch, alles zu verändern? Was ist eine Arbeiterklasse,
die nicht zutiefst antikapitalistisch ist? Und die Arbeiterklasse ist es nicht.“682
Damit ähnelte sein Standpunkt eher dem Marcuses, denn dem der Maoisten.
Sowohl Sartre wie auch Marcuse sahen in der Arbeiterklasse das potentielle
Subjekt der Befreiung, aber nicht das historisch konkrete. Beide trauten der
Stundentenbewegung Anstöße zu, um einen Aufklärungsgedanken in die
Arbeiterschaft zu transportieren. Die Situation des Arbeiters beschrieb Sartre mit
folgenden Worten: „Derselbe Arbeiter, der am Arbeitsplatz sich in einer
fusionierenden Gruppe befindet, kann vollständig serialisiert sein, wenn er bei sich
zu Hause oder in anderen Situationen seines Lebens ist. Wir haben es also mit sehr
verschiedenen Formen des Klassenbewußtseins vor uns: einerseits ein
fortgeschrittenes Bewußtsein, andererseits ein quasi inexistentes Bewußtsein, und
zwischen den beiden eine Reihe von Vermittlungen.“683 Sartre subsumierte das
Individuum nicht mehr wie einst unter die proletarische Manövriermasse. Mit dem
revolutionären Impetus der Maoisten – was die Dringlichkeit der Veränderung der
Verhältnisse anging – konnte er mehr anfangen, als mit ihrem deduktiven
Klassenaktivismus.
Marcuse und Sartre erhofften sich nach einem Leben, daß letztendlich von mehr
politischen Niederlagen als Siegen geprägt war, eine verändernde Kraft, die es
schaffen sollte, den Zielen des Glücks und der Gerechtigkeit näher zu kommen.
Das es dazu nicht kommen sollte lag nicht am mangelnden Engagement der beiden
alternden Philosophen.
Marcuse nach ’68: Rückkehr zur Kunst
Marcuses: Versuch über die Befreiung und Konterrevolution und
Revolte
1970 erschien Marcuses kleines Buch „Versuch über die Befreiung“. Darin sprach
er offen über den Bruch mit dem „Bilderverbot“ einer besseren Gesellschaft, an das
sich die Frankfurter Schule weiterhin hielt – so zumindest seine Ankündigung: „Ich
meine, daß diese restriktive Auffassung revidiert werden muß und das sich diese
Revision angesichts der tatsächlichen Evolution der gegenwärtigen Gesellschaften
681
Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule, in: Hrsg. V. Traugott König:
Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg, 1988, S.19
682
Sartre, Jean-Paul / Gavi, Philippe / Victor, Pierre: Plädoyer für die Intellektuellen, a.a.O.
, 126
683
Sartre, Jean-Paul, in: Massen, Spontaneität, Partei, in: Sartre, Jean-Paul: Mai’68 und die
Folgen II, Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 93
191
empfiehlt, ja notwendig wird.“684 Übrig blieb davon allerdings nichts anderes, als
das was die kritische Theorie Herbert Marcuses schon immer sagte. Auch im
„Versuch über die Befreiung“ ging Marcuse darüber nicht hinaus. Sieben Seiten
vor dem Schluß des Buches konstatierte er: „Wir stehen noch immer der Forderung
gegenüber, die »konkrete Alternative« zu setzen.“685 Alles was er diesbezüglich tat,
war die Determinanten einer neuen Gesellschaft zu umreißen, wobei er sich gegen
ein blankes Zerschlagen des Alten wehrte. Dies würde vernachlässigen, daß „das
Alte nicht einfach schlecht ist, daß es die Güter liefert und daß die Leute wirklich
an ihm interessiert sind. Es kann viel schlimmere Gesellschaften geben – es gibt
solche. Das System des korporativen Kapitalismus habe das Recht, darauf zu
beharren, daß diejenigen, die für seine Ersetzung arbeiten, ihr Handeln
rechtfertigen.“686 Damit äußerte Marcuse nichts anderes, als das klassische
Hegelsche Theorem von der Dialektik der „Aufhebung“: “Aufheben hat in der
Sprache den gedoppelten Sinn, daß es so viel als aufbewahren, erhalten bedeutet
und zugleich so viel als aufhören lassen, ein Ende machen. Das Aufbewahren
selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und
damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein entnommen wird, um
es zu erhalten. – So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine
Unmittelbarkeit verloren hat, aber es darum nicht vernichtet ist.”687
Und auch sonst blieb Marcuse sich treu: Über den Impuls Marxscher Theorie
votierte er für eine neue Aufteilung der Zeit, womit letztendlich auch eine
Neuverteilung des Eigentums einhergehen würde. Über diese „Neuaufteilung des
Zeit“ würde sich, so Marcuse, sogar die menschliche Triebstruktur verändern und
das Leistungsprinzip würde einer „ästhetischen Dimension“ weichen. Man könnte
– augenzwinkernd – sagen, daß Marcuse die marxsche Maxime, wonach es im
Kommunismus jedem freistehe „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends
Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe,
ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“688, dahingehend erweiterte,
daß jeder neben dem „kritischen Kritiker“ auch ein künstlerischer Künstler werde.
Zumindest gestand Marcuse der Kunst der 68er mittlerweile „befreiende
Momente“ zu. Dennoch unterschied sich seine Auffassung von Kunst nicht
sonderlich davon, was in der „FAZ“ unter Kunst verstanden wurde. Mit anderen
Worten: So revolutionär Marcuse auch war, so sehr er sich eine befreite Welt
wünschte, so sehr war er auch das was man als „Kulturkonservativ“ bezeichnen
könnte. Kunst bedeutete für Marcuse immer ein nicht-kommerzielles Moment:
„Die Entsublimierung läßt die traditionelle Kultur, die illusionistische Kunst
unbesiegt hinter sich; ihre Wahrheiten und ihre Ansprüche bleiben gültig neben
und zusammen mit der Rebellion, innerhalb derselben gegebenen Gesellschaften.
Die rebellische Musik, Literatur und Kunst werden auf diese Weise mühelos vom
Markt absorbiert und geformt – entschärft.“689 Zu Gute konnte man ihm halten, daß
er in der neuen Form der Kunst immerhin eine Basis für eine befreite sah: „Der
Sieg über diese unmittelbare Vertrautheit, die «Vermittlungen», die aus vielen
684
Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, a.a.O., S. 15
Ebd. S. 126
686
Ebd., S. 127
687
Hegel, G.W.F.: Die Wissenschaft der Logik, Erster Teil, Hrsg.: Lasson, Hamburg, 1975,
S. 94
688
Marx, Karl / Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 33
689
Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, a.a.O., S. 74
685
192
Formen rebellischer Kunst eine befreiende Kraft in gesellschaftlichem Umfang
machen würden (eine umstürzende Kraft als), müssen erst noch gewonnen
werden.“690 Christian Fuchs weist am Beispiel Blumfelds darauf hin, daß im
Gegensatz zu Marcuses Kunstverständnis Pop- und Rockmusik durchaus
befreiende und kritische Momente in sich bergen kann691. Es fällt schwer, der
Kunst eines Jan Garbarek oder Keith Jarrett nicht befreiende Momente
zuzusprechen. Sartre war gegenüber anderen Formen der Kunst als den klassischen
aufgeschlossener: Thelonious Monks Jazz gehörte zu dem, was er am liebsten
hörte.
Die befreienden Momente, die Marcuse noch der Kunst um 1968 zusprach, fehlten
zwei Jahre später in „Konterrevolution und Revolte“ wieder – er konstatierte: „Die
Spannung zwischen Kunst und Revolution scheint unüberwindlich.“692 Der
Rockmusik schrieb er ins Stammbuch: „Als die Weißen die Musik übernahmen,
fand ein bezeichnender Wandel statt: der weiße »Rock« ist, was sein schwarzes
Vorbild nicht ist, nämlich Veranstaltung. […] Die »Gruppe« wird zu einer
verdinglichten Entinität, welche die Individuen absorbiert; sie ist »Totalität«,
sofern sie das individuelle Bewußtsein überwältigt und ein kollektives
Unbewußtsein mobilisiert, das ohne gesellschaftliche Grundlage bleibt.“693
Marcuse verkannte dabei, daß für die Generation der 68er ein neues
Kunstempfinden unumgänglich war, da sie mit der traditionellen Kunst auch die
Repräsentationsfunktion der Väter-Generation einhergehen sah. Nicht umsonst
hatte die Kunst zu jener Zeit einen auf den ersten Blick wilden Charakter. Dabei
trat in Deutschland das bizarre Phänomen auf, daß sich die Generation, die Europa
in Schutt und Asche legte, über das Zubruchgehen der Saalbestuhlung bei einem
Konzert in Hamburg aufregte.
Was ließ Marcuse als Kunstwerk zu? Shakespeare, Goethe, Proust, Celan, Brecht,
Beckett, Stockhausen (aber auch Sartre) – diese Namen tauchten bei Marcuse oft
auf. An ihnen zeigte er, wie er seinen Kunstanspruch verwirklicht sah. Warum hing
dieser Kunstanspruch so hoch? Warum war es ein solch akademisches
Kunstverständnis?
Zu allererst sah er die Beschädigungen des Individuums als so schwerwiegend an,
daß alles was zum Aufrechterhalt des Status Quo beitragen konnte, als verdächtig
erschien. Für Marcuse waren die bestehenden Gesellschaften der Innbegriff des
Falschen, oder wie Adorno es in der „Minima Moralia“ ausdrückte: „Es gibt nicht
Wahres im Flaschen“. In diesem Sinne blickte Marcuse auf die Kunst. Kunst mußte
für Marcuse eine eigene Dimension von Wahrheit besitzen, in deren ästhetischer
Form Protest und Versprechen liegen mußte.
Nachdem sich die 68er Bewegung in viele kleine Flügel gespalten hatte – aus ihr
ging die Autonomen-, die Hausbesetzer-, die Ökologie-, die Bürgerrechts-, die
Schwulen und Lesben- und die Frauenbewegung hervor – sah der alte Marcuse,
wie der junge existentialistische des ersten Hegelbuches, das Individuum wieder in
690
Ebd., S. 75
vgl. Fuchs, Christian: Zur Aktualität ausgewählter Aspekte des Werks Herbert
Marcuses, o.A., 2002, S. 58ff
692
Marcuse, Herbert: Konterrevolution und Revolte, in: Marcuse, Herbert: Gesammelte
Schriften 9, Frankfurt /M, 1987, S. 113
693
Ebd., S. 112
691
193
Gefahr. Die in der Bewegung aufgekommene „rebellische Subjektivität“ drohte im
„business as usual“ unterzugehen. Dagegen formierten sich Flügel der 68er
Bewegung neu und gewannen an Bedeutung: die Frauenbewegung betrat wieder
die Weltbühne.
Subjekt Mann - Subjekt Frau: Die Frauenbewegung
Sartre und Marcuse zur Frauenbewegung
Während der späte Sartre von der Öffentlichkeit unbeachteter blieb als zuvor,
wurde Simone de Beauvoir durch die Frauenbewegung zur vielzitierten Person.
Eines der Strandartwerke der Bewegung: „Das andere Geschlecht“ von Simone de
Beauvoir aus dem Jahr 1949.
Daß Sartre selbst nichts zur Frauenfrage bzw. zur Frauenbewegung publizierte, lag
vor allem daran, daß dies die Domäne von Simone de Beauvoir war. Das Gros ihrer
Bücher waren ihm gewidmet, so wie er das meiste seiner Werke ihr zugedacht
hatte. Die Widmungen „Für Nestor“ und „Für Castor“ – wie sie sich gegenseitig
nannten – oder „Für Jean-Paul Sartre“ fanden sich vor fast all ihren Romanen,
Theaterstücken oder philosophischen Werken.
So wie die kritische Theorie der 30er und 40er Jahre einen interdisziplinären
Ansatz verfolge und jeder Mitarbeiter für die Bearbeitung eines speziellen
Bereiches in der Theorie zuständig war, funktionierte auch die Arbeit zwischen
Sartre und de Beauvoir. Er korrigierte ihre, sie seine Bücher. Warum also noch
etwas zum Feminismus publizieren, wenn die Lebensgefährtin die grande personne
des Feminismus war? Simone de Beauvoir soll einmal gesagt haben, daß ihr
wichtigstes Werk ihr Leben gewesen sei. Den Stellenwert den Sartre darin hatte,
brauchte nicht mehr betont zu werden. Zahlreiche Bücher behandelten dieses
Thema. So ist es zu erklären, daß Sartre, der sonst zu jeder wichtigen politischen
Bewegung etwas publizierte, zum Feminismus - außer in einem Interview mit
Simone de Beauvoir – nichts schrieb. Das gemeinsame Leben und die Organisation
ihrer Liebe in freier und gleichberechtigter Art galten vielen als Entwurf einer
gleichberechtigten Partnerschaft. Noch heute steht die Philosophie des Duetts
Sartre/De
Beauvoir
in
der
Auseinandersetzung
feministischer
Wissenschaftskritik694.
Auch Marcuse entging die Diskrepanz zwischen dem Subjekt Mann und dem
Subjekt Frau keinesfalls. Mit seinem Vortrag „Marxismus und Feminismus“, den
er 1974 an der Standford University hielt, versuchte er seine Sicht des Feminismus
darzulegen. Das dazu verwendete Instrumentarium war marxistisch. Er
konstatierte: „Erstens: Die Bewegung [Die Frauenbewegung, S.O.C.] entstand und
entfaltete sich in einer patriarchalischen Zivilisation; daraus folgt, daß zunächst mit
Begriffen diskutiert werden muß, die dem gegenwärtigen Status der Frauen in
dieser Zivilisation entsprechen. Zweitens entwickelt sich die Bewegung in einer
Klassengesellschaft; drin liegt das erste Problem. Frauen sind keine Klasse im
Marxschen Sinne des Begriffs. Die Beziehung zwischen Mann und Frau geht quer
durch die Klassen, aber die unmittelbaren Bedürfnisse und Möglichkeiten der
Frauen sind weitgehend von ihrer Klassenzugehörigkeit geprägt.“695 Marcuse ging
davon aus, daß männliches und weibliches Bewußtsein kulturell determiniert seien,
694
Siehe: Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/ M, 1991, S. 31
Marcuse, Herbert: Marxismus und Feminismus, in: Claußen, Detlev: Spuren der
Befreiung – Herbert Marcuse, a.a.O. , S. 262
695
194
diese „Qualitäten freilich zur »zweiten Natur« werden.“696. Anders gesagt: MannSein und Frau-Sein bestand für Marcuse weitestgehend in der sozialen
Konstruktion, die von ihren Trägern und Trägerinnen nicht durchschaut werde.
Dabei galt für Marcuse was ihm für alle Unterdrückung galt: „Freilich wird alle
Sublimierung durch die Macht der Gesellschaft erzwungen, aber das unglückliche
Bewußtsein dieser Macht durchbricht bereits die Entfremdung. Freilich nimmt alle
Sublimierung die gesellschaftliche Schranke der Triebbefriedigung hin, aber sie
überschreitet diese Schranke auch.“697 Durch diese Überschreitung war, so
Marcuse, die Frauenbewegung möglich geworden.
Marcuses Begriffsinstrumentarium war schon immer auf die Befreiung aller
Menschen ausgerichtet: “Der Begriff menschlicher Freiheit schließt Unterschiede
zwischen Mann und Frau aus, [...]”698 So galt ihm auch der Begriff der Freiheit
höher als der der Gleichberechtigung. Marcuse differenzierte die Anliegen der
Frauen in zwei Bereiche: Zum einen in jene, die nach Gleichberechtigung im
Bestehenden verlangten, und in jene die über die Gleichberechtigung im
Bestehenden hinausgingen, die feministischen Sozialistinnen. Ihnen sprach er eine
transzendierende Kraft der Erneuerung zu. Versteckt kritisierte Marcuse die Teile
der Frauenbewegung, die „nur“ nach Gleichberechtigung strebten. Sie sah er mit
dem Problem konfrontiert, daß sie das Leistungsprinzip, – mit der sich darin
befindlichen Entfremdung – aufrechterhalten und reproduzieren müßten. Im selben
Atemzug wandte er sich gegen die biologische Determination von Männern und
Frauen. Der Vorstellung, daß Frauen qua ihrer Natur befähigter seien, für eine
bessere Welt einzustehen, begegnete er mit den Worten: „Ein einziger Blick auf die
Photographien weiblicher Aufseher in Konzentrationslagern zeigt, bis zu welchem
Grad auch Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft institutionalisiert und
dehumanisiert werden können.“699 Trotzdem solidarisierte sich Marcuse – bei aller
Kritik – auch mit dem Teil der Frauenbewegung, der „nur“ nach
Gleichberechtigung strebte. Die Bedeutung, die er der Frauenbewegung beimaß,
demonstrierte am besten sein Vortrag „Marxismus und Feminismus“, der die
einzige Einladung war, die er in jenem akademischen Jahr annahm700.
Doch wie verortete Marcuse die Subjektivität innerhalb der Frauenbewegung? Die
Ausgangssituation der Frauenbewegung beschrieb er damit, daß die spezifischen
Eigenschaften einer Frau irrelevant seien, sie sei „immer Subjekt und Objekt
zugleich”701 Dem Flügel des feministischen Sozialismus schrieb er die Möglichkeit
zu über den Subjekt-Objekt-Status hinauszugehen – sogar zur „dritten Kraft der
Revolution zu werden“, der Fraktion die für Gleichberechtigung im Bestehenden
eintrat, hielt er warnend entgegen: “Auf der anderen Seite sollte Gleichheit
zwischen Mann und Frau nicht bedeuten, daß die Frauen gleichberechtigt als
Ausbeuter und Unterdrücker fungieren; etwa als gleichwertige Konkurrenten im
business.”702
696
Ebd.
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O. , S. 95
698
Marcuse, Herbert: Zu aktuellen Problemen der Emanzipationsbewegung, Ein Interview,
in Zeitschrift “abriss”, Januar 1969, S. 13
699
Marcuse, Herbert: Marxismus und Feminismus, a.a.O., S. 270
700
Ebd., S. 261
701
Marcuse, Herbert: Zu aktuellen Problemen der Emanzipationsbewegung, a.a..O. , S. 13
702
Ebd.
697
195
Eine weiterführungswürdige Tradition sah Marcuse in der „Romantischen Liebe“,
die gegen das Prinzip der männlichen Roheit einstand. Feminine Eigenschaften, die
in den bestehenden Gesellschaften ausgebildet würden, wären dadurch nutzbar
gemacht, daß die Emanzipation der Frau „die individuellen, eigenen erotischen
Qualitäten entgegen den herrschenden Normen befreien“703 könnten. Mit anderen
Worten: Die Durchsetzung femininer Subjektivität könnte oder müßte ein
integraler Bestandteil eines neuen sozialistischen Projektes sein. Es wäre ein
Moment „kreativer Reziptivität“ statt "repressiver Produktivität“
Doch konnte er damit den speziellen Repressionen, den Frauen ausgesetzt waren
und sind Rechnung tragen? Reichte das Konzept der „Romantischen Liebe“ um der
spezifischen Unterdrückungsgeschichte von Frauen gerecht zu werden?
Reflektierte Marcuse auch die „spezifische Deformation der Frau?“704 Xenia
Rajewski wies darauf hin, daß Marcuse ihnen in dem Moment, da sich Frauen
gegen ihre traditionelle Rolle zu wehren begannen, eine erneute Zuschreibung nach
altem Muster angedeihen ließ – er „funktionalisiere sie im Rahmen einer
Konzeption eines anderen, eines besseren Lebens für alle Menschen noch einmal –
einer Konzeption an deren Ausarbeitung sie selbst wiederum keinen Anteil
hätten.“705Anders ausgedrückt: Die Deformation der Subjekte in der Theorie
Marcuses orientierten sich am männlichen Subjekt, Frauen als „anderes Subjekt“
erschienen als „Negativabdruck“ (Rajewski) des in der Sinnlichkeit
eingeschränkten Mannes. Dabei stellte sich die Frage in wie weit Frauen überhaupt
ein gesellschaftlicher Subjektstatus eingeräumt wurde: Die Instrumentalisierung
von Frauen als Sexualobjekt „war gleichzeitig verbunden mit ihrer NichtZulassung als gesellschaftliches Subjekt, sie erfaßt sie mit Haut und Haaren, ihren
Körper und ihren Kopf, oder auch, wenn man so will, ihren Körper ohne Kopf.“706
Doch Marcuse war nicht abzusprechen, daß er sich – lange bevor die
Frauenbewegung der 70er Jahre auf die Repressionen öffentlich aufmerksam
machte – um die Freiheit und Gleichheit von Frauen bemühte und sie lange vor
anderen in seine Schriften aufnahm. Die Rolle des Vordenkers in dieser Frage
konnte er sicherlich nicht beanspruchen – diese Würde (und auch Bürde) fiel
Simone de Beauvoir zu.
Das unterschlagene Subjekt der Revolutionäre - Ein
letztes Gefecht für die freie Subjektivität:
Marcuses: Die Permanenz der Kunst
Eines seiner letzten Gefechte schlug Marcuse gegen die Kunstvorstellungen der
leninistischen Marxisten und des orthodoxen Teils der 68er Bewegung. Ihre
statische Kunstvorstellung kritisierte Marcus auf der Basis, daß er ihnen eine
Unterschlagung der Subjektivität vorwarf. Marcuse kritisierte: „Das Individuum in
seiner unreduzierten Subjektivität, seinem eigenen Bewußtsein galt nur als
»Element« des Klassenbewußtseins. Damit wurde aber eine der Vorbedingungen
703
Ebd., S. 270
Siehe Rajewsky, Xenia: Die zweite Natur – Feminismus als weibliche Negation, in:
Claußen, Detlev: Spuren der Befreiung, a.a.O., S. 250
705
Ebd., S. 252
706
Ebd., S. 257
704
196
der Revolution abgedrängt, nämlich, die Verankerung der Notwendigkeit radikaler
Veränderung in der psychischen Struktur der Individuen, ihrem Bewußtsein und
Unbewußten, ihren Triebzielen. In dieser Interpretation verfiel die Marxsche
Theorie selbst jener Verdinglichung, die sie im Gesellschaftlichen aufspürte und
bekämpfte: die Subjektivität wurde zum Atom der Objektivität; sie wurde ihr
ausgeliefert und zu ihrem (wenn auch rebellierenden) Vollzugsorgan gemacht.“ 707
Der offizielle Marxismus-Leninismus, aber auch studentische Gruppen, die dieser
Marx-Interpretation anhingen, verfielen, so Marcuse, in einen „reduktionistischen
Begriff von Bewußtsein“708 Sie reduzierten die Subjektivität auf die Kategorie des
„bürgerlichen Begriffs“ und vernachlässigten so das in dem Begriff der
Subjektivität selbst steckende Potential der Revolution.
Dem Subjekt, das sich nur als Klasse verwirklichen könne, fehle das eigenständige
Moment – es werde zur Reproduktion des Bestehenden dadurch, daß der
Subjektivität nicht Neues hinzugefügt werde. Das Subjekt, das sich als Klasse
verwirklichte, bliebe weiter unter dem Überhang des Objekts, anstatt aus ihm
herauszutreten. Marcuses Konzeption und Vorstellung des Subjekts sahen anders
aus: „[…] befreiende Subjektivität konstituiert sich in der inneren, nur ihm eigenen
Geschichte des Individuums. Sie ist nicht identisch mit seiner gesellschaftlichen
Existenz. Es ist die Geschichte der Begegnungen, die dem Individuum
widerfahren, seiner Leidenschaften, seines Glücks und seiner Trauer –
Erfahrungen, die nicht in seiner Klassenlage gründen müssen und durch sie
begreifbar sind. […] Haß, Lust, Liebe und Verzweiflung lassen sich leicht dem
Überbau zuordnen, als »ideologisch« der Psychologie zuweisen und dadurch von
den Belangen der radikalen Praxis abzurücken; sie mögen keine Produktivkräfte im
eigentlichen Sinne der politischen Ökonomie sein – für jeden Menschen sind sie
entscheidende Kräfte: Wirklichkeit.“709 Marcuse nahm den Strang des frühen Marx
im Sinne eines radikalen Humanismus wieder auf und kämpfte um die
Verwirklichung einer freieren, wirklichen und individuellen Subjektivität.
Auch in seinen letzten Schriften blieb Marcuse bei seiner theoretischen Position
Subjekt und Objekt betreffend: In seiner Theorie blieb die menschliche
Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Vernunft als das am Menschen zu befreiende
Wesen – stets war Marcuse in der Sorge, daß falsche, erdrückende Objekte die
menschlichen Möglichkeiten verbauen würden. Sartre traute den politischen
Bewegungen dabei scheinbar mehr befreiende Potenz zu. Er proklamierte, daß der
Intellektuelle seinen Platz im Volk einnehmen müsse, „der ihn erwartet“. Ein
Vorhaben, das er selbst auch nicht konsequent durchhielt. Während er tagsüber mit
„Gauche Proletarienne“ das praktizierte, was er für seinen Platz im Volk hielt,
arbeitete er an seinem „Flaubert“ – ein Projekt, was für das Gros der Volksmassen
gänzlich ohne Bedeutung war.
Wie der junge Marcuse, der mit heideggerschem Duktus das Subjekt verteidigte, so
blieb auch der Alte Anwalt des Einzelnen: „Der Spott auf die Innerlichkeit, auf die
»Seelenzergliederung« in der Literatur, den Brecht als Zeichen revolutionären
Bewußtseins deutete, ist nicht sehr weit entfernt von der Verachtung des
Kapitalisten gegenüber einer profitlosen Dimension des Lebens. […] Sicher gehört
der Begriff des Individuums als des sich in Solidarität frei entwickelnden
707
Marcuse, Herbert: Die Permanenz der Kunst, in: Marcuse, Herbert: Schriften IX, a.a.O.,
S. 199
708
Ebd., S. 200
709
Ebd., S. 201
197
Menschenwesens erst dem Sozialismus an. […] Die Negation des Individuums als
eines »bürgerlichen«Begriffs erinnert heute an faschistische Praxis. Solidarität,
Gemeinschaft ist nicht Aufgeben des Individuums: sie entspringt in autonomer
individueller Entscheidung; sie ist Solidarität von Individuen, nicht Massen.“710
Oder mit den Worten Sartres ausgedrückt: „"Der Marxismus wird zu einer
unmenschlichen Anthropologie degenerieren, wenn er nicht den Menschen als
seine Grundlage reintegriert.“711
Sartre nach ´68: Rückkehr zu Flaubert oder was kann
man heute von einem Mensch wissen?
Sartres Flaubert
Die letzten Arbeiten Sartres, in denen er noch von seinem Augenlicht gebrauch
machen konnte, sollten zugleich der Versuch sein, nochmals ein großes Werk
abzuliefern: Die Flaubert-Studien. Auf ungefähr 3000 Seiten sezierte Sartre Gustav
Flaubert. Seine Frage? Nicht mehr und nicht weniger als: „Was kann man heute
von einem Menschen wissen?“712 Einen weiten Weg hatte Sartre zurückgelegt von
„Das Sein und das Nichts“, in dem das Subjekt Kulminationspunkt der Wahrheit
war, bis hin zu den Sätzen, die den Flaubert einleiten: „Ein Mensch ist nämlich
niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen:
von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er
sie, indem er sich in ihr als Einzelheit wiederhervorbringt.“713
Die Beschäftigung mit Flaubert war Sartre nicht neu. Schon in „Das Sein und das
Nichts“ widmete er sich über mehreren Seiten Flauberts Psyche714. Sein damaliger
Beschluß über Flaubert? Eine Vertagung: „Wir hoffen, an anderer Stelle versuchen
zu können, anläßlich Flauberts und Dostojewskis zwei Beispiele […] zu geben.“715
Tatsächlich sollte der Beginn des Flaubert-Buches erst Jahrzehnte später erfolgen –
wieder mit Hilfe von Aufputschmitteln716 und wieder sollte das Werk unvollendet
bleiben: „Den vierten Band könnte ein anderer schreiben“, so Sartre, „ausgehend
von den dreien, die ich geschrieben habe. Trotzdem, dieser Flaubert nagt an mir
wie ein schlechtes Gewissen.“717
Der „Flaubert“ stellte Sartres Versuch der Exemplifizierung seiner eigenen Theorie
dar. Dieses monumentale Werk hatte nur den einen Sinn: Zu überprüfen, ob Sartre
mit Sartres Theorie arbeiten konnte. Er selbst sagte über das Flaubert-Projekt: „Ziel
meines Flaubert-Buches ist es nun, von diesen theoretischen Erörterungen, die
letztlich zu nichts führen, wegzukommen und ein konkretes Beispiel dafür zu
geben, wie man es hätte machen können. […] Die Frage, auf die ich in diesem
Buch eine Antwort geben will ist folgende: Kann ich mit all diesem Methoden
einen Menschen untersuchen, und wie bedingen sich diese Methoden dabei
710
Ebd., S. 220f
Sartre, Jean-Paul (1964): Marxismus und Existentialismus, a.a.O., S. 191
712
Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie I, Reinbek bei Hamburg, 1986, in: Gesammelte
Werke: Schriften zur Literatur 5, S. 7
713
Ebd.
714
Vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 958-963
715
Ebd., S. 986
716
Siehe Sartre, Jean-Paul: Selbstportrait mit siebzig Jahren, a.a.O. , S. 216
717
Ebd., S. 216
711
198
wechselseitig, welchen Stellenwert enthalten sie schließlich?“718 Warum
ausgerechnet Flaubert? Sartre antwortet: „Er begann mich zu fesseln, gerade weil
ich in ihm in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von mir selbst erkannte. Ich
fragte mich einfach: «Wie war ein solcher Mensch möglich?»“ 719
Das genaue Gegenteil? War Flaubert, der bürgerliche Schriftsteller, Sartre so
entgegengesetzt? Betrachtete man die Entwürfe, die beide ihrem Leben gaben,
dann traf die Gegensätzlichkeit zu, warf man aber einen Blick auf die Tatsache,
daß beide zu den größten Schriftstellern Frankreichs gehörten, so existierten
zwangsläufig Parallelen. An anderer Stelle antwortete Sartre auf die Frage, warum
er Flaubert gewählt habe: „Weil er das Imaginäre ist. Bei ihm bin ich an der
Grenze, an der Schwelle zum Traum. […] Flaubert ist eine der sehr seltenen
historischen oder literarischen Erscheinungen, die eine solche Menge an
Informationen über sich selbst hinterlassen hat. Seine Korrespondenz enthält nicht
weniger als dreizehn Bände, von denen jeder etwa 600 Seiten enthält.“720 Das
Gegenteil von Sartre? Sartre hinterließ vier Bände Korrespondenz mit Simone de
Beauvoir und unzählige Tagebücher, wobei das Gros dieser Seite des Sartreschen
Werkes verlorengegangen ist. Flaubert war weniger das Gegenteil Sartres, denn
würdiger Gegner auf gleicher Stufe. Zu fragen war also viel mehr: Wie näherte sich
Sartre diesem verzerrten Spiegelbild seines eigenen Ruhmes?
Die Methode Sartres war nicht neu. Er hatte sie in der „Kritik der dialektischen
Vernunft“ und in „Marxismus und Existentialismus“ dargelegt. Auch wenn Sartre
von der Subjektivität als „einzelnes Allgemeines“ sprach, so oszillierten Subjekt
und Objekt doch ständig. Flaubert wurde als durch die Epoche hervorgebrachter
Mensch dargestellt, der an ständig neuen Wendepunkten seines Lebens durch die
eigene Entscheidung seinen Entwurf von sich machte. Diesen freien Entwurf
fundamentierte Sartre auf der – wie er es nannte – „Urwahl“, um deutlich zu
machen, daß sich hinter der freien Entscheidung ein Abbild der gesellschaftlichen
Entwürfe im Kleinen widerspiegelte. „In dieser Urszene wird gemäß Sartres
Theorie nicht das Unbewußte konstruiert, sondern das Subjekt als Einheit, freilich
als eine falsche, als trügerische Einheit. Denn in der Konstitution, die nicht in
reiner Passivität, sondern in einer Wahl erfolgt, nimmt das Subjekt das Bild des
Anderen als seine Wahrheit an.“721 Man könnte – mit den Worten einer anderen
Theorie – sagen, daß Sartre einen kriminologischen Diskurs gegenüber seinen
Subjekten betrieb. Flaubert wurde seziert. Seine Kindheit säuberlich zerlegt in
Kapitel, die die Namen „Vater“, „Mutter“, „der ältere Bruder“ oder „Die Geburt
des jüngeren Bruders“ trugen. Flauberts jugendlicher Werdegang trug
Überschriften wie „Das imaginäre Kind“, „Vom imaginären Kind zum
Schauspieler“, „Vom Dichter zum Künstler“ und „Einen Beruf ergreifen“. Kurz:
Flaubert wurde so haarklein mit dem sartreschen Besteck tranchiert, daß nach
Fertigstellung aller Bände über Flaubert nur noch eins übrig blieb: Sartre. Flaubert?
Aufgearbeitet und „alles was man von diesem Menschen wissen konnte“ war
gesagt. Die Buchdeckel geschlossen - und Sartre hatte auch Flaubert besiegt, seine
„Rechnung“722 war beglichen, Flaubert war „vom Hals geschafft.“723
718
Sartre, Jean-Paul: Sartre über Sartre, a.a.O., S. 173
Ebd., S. 175
720
Ebd., S. 174
721
Schneider, Manfred: Eine ästhetische Theorie des Trugs: «Saint Genet», in: König,
Traugott (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, a.a.O., S. 171
722
Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie I, a.a.O. , S. 7
719
199
Doch warum ausgerechnet Flaubert und nicht: „Alles was man über einen Arbeiter
oder eine Versicherungsangestellte wissen kann“? Seine Freunde der „gauche
proletarienne“ drängten Sartre einen „Roman für das Volk“ zu schreiben – gemeint
war Agitationsliteratur. Doch dies war für Sartre ohne Reiz – hatte er doch schon
einmal dieses Sujet betreten, und mittlerweile wußte er um den intellektuellen
Preis.
Mit Flaubert war eine andere Rechnung offen: Die Konzeption der „Madame
Bovary“ stand der Sartreschen Philosophie diametral entgegengesetzt. Emma
Bovarys Selbstmord schien den objektiven Umständen geschuldet gewesen zu sein:
Die letzten Sätze, die Flaubert Charles Bovary sprechen ließ lauteten: „Das
Schicksal ist daran Schuld“724 Eingeleitet wurden sie von der Kommentierung des
Erzählers: „Er fügte sogar ein großes Wort hinzu, das einzige, daß er je gesprochen
hatte.“725 Das große Wort von der „Schuld des Schicksals“ war mit Sartres früher
Philosophie unmöglich in Einklang zu bringen. Eine Person war für Sartre „die
absolute Selbstwahl“726, fern eines Schicksals objektiver Bestimmungen. Bei
Flauberts Konzeption der Madame Bovary war klar, daß der Selbstmord Emmas
das Resultat der sie erdrückenden Gesellschaft war – sie war Opfer der Umstände.
„Emma Bovary gibt sich als Mensch ihren Leidenschaften, Ängsten und
Wünschen, ihren guten und bösen Absichten hin, lebt sie, leidet an ihren
Widersprüchen, scheitert an der Unmöglichkeit ihrer Lösung, wird immer
beziehungsunfähiger, vereinsamt zunehmend, versucht vergeblich ihr Leiden durch
Krankheit abzuwehren und zu heilen, und bringt sich um. Ihre Umwelt, das
System, ihre Mitspieler und Beteiligten: ihr Ehemann, der Landarzt Charles
Bovary, der Apotheker Homais, der Priester Bourisien, ihr Freund Léon und noch
ein Dutzend anderer Figuren, haben allesamt keinen Anteil daran, hatten nur gute
Absichten, haben vernünftig und wohlanständig gehandelt, haben getan, was zu tun
war, sind unschuldig an dem Tod. Niemand kann ihnen einen Vorwurf machen.“727
Flauberts lieh sich die bürgerlichen Tugenden der handelnden Personen aus, um sie
zu einem Werkzeug des Bösen zu machen: Jede tugendhafte Handlung des
Einzelnen war harmlos für Emma Bovary – zusammen erzeugten Sie einen
tödlichen Druck. Flaubert stellt in seinem Werk „ein System von Bürgern dar, die
gute Mittel sind, verfügbar, selbstbeherrscht, arbeitsam, moralisch, gesund, in den
Beziehungen untereinander aufgehend und in dem selben Maß auch erfolgreich,
freilich um den Preis, im gleichen Maß das Menschsein aufzugeben.“728 Jeder von
Ihnen war ein „einzelnes Allgemeines“, aber kein allgemeines Einzelnes. Das war
Sartres offene Rechnung: Wie kam ein Mensch wie Flaubert dazu die „Madame
Bovary“ zu schreiben? Wie kam dieses behütete Kind, der „kleine Gustave“ dazu
ein solches Werk zu verfassen?729
723
Vgl. Lévy: Bernard-Henry, Sartre, a.a.O., S. 130
Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Sitten der Provinz, Zürich, 1987, S. 404
725
Ebd.
726
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 953
727
Dörner, Klaus: Die Wiedergeburt der Psychiatrie aus der Philosophie in Sartres Flaubert
und die Kritik an Sartre daraus, in: König, Traugott: Sartres Flaubert lesen. Essays zu Der
Idiot der Familie, Reinbek bei Hamburg, 1980, S. 80
728
Ebd., S. 81
729
Beantwortet werden kann diese Frage hier nicht. Eine Zusammenfassung der Biographie
Flauberts würde den Rahmen der Arbeit weit überschreiten.
724
200
Sartre setzte das Sezierbesteck an: Zweifache Entschlüsselung. „Als objektiver
Ausdruck eines relativ subjektunabhängigen Bewandtniszusammenhanges, der sich
vor allem als Sprachsystem manifestiert, und subjektiv als Einheit von
Stilmerkmalen, in denen sich die individuelle Art und Weise kundgibt, wie ein
bestimmtes Subjekt diesen Zusammenhang aneignet und aufhebt, teils ihn
erhaltend, teils ihn verändernd.“730 Mit Sartres Worten: „Das er [der Mensch,
S.O.C.] durch die einzelne Allgemeinheit der menschlichen Geschichte allgemein
und durch die allgemeinmachende Einzelheit seiner Entwürfe einzeln ist, muß er
zugleich von beiden Enden her untersucht werden.“731 Dabei benutzte Sartre neue
Begriffe. Mit „Konstitution“ bezeichnete er das, „was man aus jemanden gemacht
hat“. Dem gegenüber stand sein Begriff der „Personalisation“, womit er das
„Überschreiten“732 dessen, was die Konstitution der Person ausmachte, bezeichnete
– in seinen früheren Worten: der freie Entwurf eines Menschen.
Vieles in Sartres Flaubert erinnerte an die Zeit von „Das Sein und das Nichts“. Es
schien, als habe Sartre seine alten Fäden wieder aufgenommen und versuchte nun
in einem gewaltigen Unterfangen alles, was er an Begriffen entworfen hatte, noch
einmal anzuwenden, doch diesmal sollten die Leerstellen gefüllt werden. Was in
„Das Sein und das Nichts“ fehlte wurde nachgeliefert. Sartre beschrieb, wie ein
Mensch gemacht wurde und sich gleichzeitig selbst erschuf. Die Analyse der
Kindheit wurde zu einem zentralen Moment der Sartreschen Methode zur
Dechiffrierung Flauberts: „Die Zuneigung des Kindes kann aufrichtig, das heißt
empfunden sein. Die Bravheit des Kindes dagegen ist eine Vorführung: das Kind
gibt sich gerne dafür her, es sagt was die Eltern von ihm verlangen, wiederholt die
Gesten, die ihnen Gefallen, es stellt dar.“733
Sartre versuchte nun, die Anteile des Gemacht-Seins stärker zu konnotieren als er
dies in „Das Sein und das Nichts“ getan hatte, ohne dabei die ihm eigene Methode
des Transzendierens der subjektiven Entwürfe ad acta zu legen. Auch bei Flaubert
konstatiert er: „Leider war der Übergang zur Reflexion unvermeidbar.“734 Sartre
schwenkte nicht einfach um: Das Subjekt war nicht bedeutungslos geworden,
vielmehr ging es Sartre jetzt darum die „Urwahl“ des Einzelnen mit ihrem Brüchen
und Kontinuitäten aufzuzeigen. Das ganze sartresche Begriffsuniversum kam noch
einmal zum Tragen: Der Entwurf, die Anderen, der Blick, die Imagination, usw.
Es schien als wolle Sartre selbst noch einmal Zeugnis vor seiner eigenen Theorie
ablegen – diesmal den Einfluß der Gesellschaft, des Objektes miteinbeziehend.
Den jungen Flaubert analysierte er folgendermaßen: „Der Unterschied zwischen
dem Schauspieler und dem kleinen Gustave, der sich ebenfalls den ganzen Tag
lang irrealisiert, besteht darin, das dieser es blind tut unter dem Einfluß von
Impulsen, die er nicht kennt und für Zufälle und zugleich für schlaue Inspirationen
hält; im übrigen verliert sich das Kind: so, wie es die Imagination betreibt, geht sie
im Nicht-Sein auf, ist sie eine Auflösung des Seins, zumal es ohne Auftrag
operiert; trotz bestimmten Wiederholungen vage und verschwommen, kommt diese
Irrealisierung nicht wie eine Aufgabe auf Gustave zurück; er weiß nicht einmal,
daß er dabei die Anderen auffordert, ihn entweder zu demaskieren oder sich mit
ihm zu irrealisieren: er spielt vielmehr; wir wissen es, damit das Irreale – das heißt
730
Frank, Manfred: Das Individuum in der Rolle des Idioten. Die hermeneutische
Konzeption des Flaubert, in: König, Traugott: Sartres Flaubert lesen, a.a.O. , S. 101
731
Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie I, a.a.O., S. 7
732
Ebd., S. 655
733
Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie II, a.a.O., S. 32
734
Ebd., S. 144
201
der Schein hier die Erscheinungsform und dort das unwiederbringliche Sein ist,
gegen das er sich ständig wappnet. Kurz, er ist ein mythomaner Schauspieler, das
heißt, er ist sich bewußt, daß er sich scheinbar verwandelt, damit die Anderen, die
sich mehr oder weniger täuschen lassen, diesen Schein für sein Sein halten, ihm
diesen Schein durch ihr offensichtliches Glaubenschenken als sein Sein
zurückschicken und ihn davon überzeugen, daß er es ist.“735
Kam das nicht bekannt vor? Erinnern diese Sätze nicht an den Kellner Pierre aus
„Das sein und das Nichts“, der das Kellner-Sein spielte? Und dennoch war etwas
anders geworden: Die Verbindung vom Einzelnen zu den Anderen, das SichMachen, bekam ihr Pendant in der Rückkopplung des Gemacht-Seins durch die
Anderen. Das dialektische Moment bestand in der Bewußtwerdung des GemachtSeins, der – wie Sartre schrieb – „dialektischen Progression“736. Diese
Bewußtwerdung auf erhöhter Stufenleiter markierte einen aufgehobenen
Subjektbegriff, aufgehoben im dreifachen Sinne: Getilgt, Erhoben und Bewahrt.
Getilgt war der subjektive Zustand des blinden Folgens, des reinen GemachtsSeins, da das Subjekt um die determinierten Anteile der Persönlichkeit sowie seiner
Prägung wissen konnte. Erhoben, da ein Bewußtseinsstand erreicht war, der über
der „sinnlichen Gewißheit“ (Hegel) stand. Bewahrt waren der Status der Würde des
Subjektes und seine exponierte Stellung in der sartreschen Philosophie. In jedem
Fall war Sartres Subjektbegriff reicher als zuvor. Ein um die deterministischen
Anteile wissendes Subjekt war Sartres Ausweg aus dem Dilemma zwischen
Selbstbestimmung und Prägung. Letztlich war dies die Rechtfertigung der eigenen
Existenz als kritischer Romancier, Schriftsteller und Philosoph und des Begreifens
um die eigene Subjektivität. 3.000 Seiten Flaubert waren geschrieben, und wenn
Sartre selbst über „Das Sein und das Nichts“ sagte, daß es „stinklangweilige
Passagen geben würde“, dann galt das ebenso für den Flaubert. Die epischen
Ausmaße der Flaubert-Bücher verweigerten ihm eine breite Leserschaft ebenso,
wie das Fehlen des für Sartre sonst so typischen Aktualitätsbezugs seiner
Philosophie. „Das Sein und das Nichts“ versuchte dem Individuum seinen Platz in
einer totalitären Welt zurückzugeben, die „Kritik der dialektischen Vernunft“
suchte danach die marxistischen Debatten der Zeit zu fassen und
weiterzuentwickeln, aber der „Flaubert“ war mehr Sartres Kampf mit sich selber
denn eine Neufassung oder auch Weiterentwicklung seiner Philosophie. So wurde
der Flaubert mit Respekt zu Kenntnis genommen, aber im Gegensatz zu Sartres
früheren Schriften blieb er unbeachtet.
Der letzte Gang
Sartre und Marcuse: Alter und Tod
In der Fülle der Literatur, die sich über beide Autoren finden läßt, sind die Stellen,
die von persönlichen Begegnungen handeln, rar gesät. Das erste gemeinsame
Treffen zwischen Sartre und Marcuse fand wohl im Jahr 1974 statt. Ein weiteres,
persönliches Treffen kam in der Wohnung von Simone de Beauvoir zustande.
Wenig bis gar nichts ist darüber bekannt. Worüber haben sie gesprochen? Worüber
bestand Konsens und wo nicht? Bekannt ist lediglich, daß Marcuse geäußert haben
soll, daß Sartre schon immer sein großes Vorbild gewesen sei. Mehr weiß man
nicht.
735
736
Ebd., S. 148
Ebd., S. 929
202
Im Jahr 1979 starb Herbert Marcuse in Deutschland. Im Gegensatz zu Sartres Tod,
der von Simone de Beauvoir chronologisch in der „Zeremonie des Abschieds“
festgehalten und seziert wurde, ist von Marcuses letzten Tagen und Wochen wenig
bekannt. Im Frühling 1979 kehrte er nach Frankfurt zurück, um an den
Römerberggesprächen teilzunehmen. Bis zum Schluß blieb er seiner Linie im
Kampf um das Subjekt treu: „Es geht um jeden Einzelnen und die Solidarität von
einzelnen; nicht nur um Klassen und Massen.“737 Daß Marcuse ausgerechnet in
Deutschland starb, jenem Land, dem er nach seiner Vertreibung den Rücken
kehrte, und nicht in seiner Wahlheimat USA, mag die Rache des Weltgeistes
gewesen sein, dem er in die Nüstern spucken wollte. Andererseits sah Marcuse in
Europa große Potentiale für eine bessere Welt und so hatte das Schicksal vom Ort
seines Todes vielleicht doch etwas von seinem Denken und Leben gegen den
Weltgeist. Sein Sohn Peter resümierte: „Ich hatte nicht vollständig begriffen, wie
persönlich und tief das Engagement meines Vaters in unmittelbare politische
Aktivitäten war, bis ich ihn diesen Sommer in Europa sah und die Rolle, die er
spielte… Die Möglichkeiten dort schienen ihm günstiger für ein direktes
Engagement zur Veränderung der Welt – und es ist sicher nicht sein geringstes
Verdienst, daß wir heute noch ernsthaft sagen können: die Welt verändern.“738
Sartre lebte bis zu seiner Erblindung zwei parallele Entwürfe: Der eine bestand
darin, der Autor von „Der Idiot der Familie“ zu sein, der Andere im Weiterführen
seines politische Engagements. Mit dem Verlust seines Augenlichtes blieb von der
schaffenden Tätigkeit, außer der Weiterführung der beiden Entwürfe im Privaten
wenig übrig. Auf der einen Seite Simone de Beauvoir und der Kreis von „Les
Temps Modernes“, auf der anderen Seite Pierre Victor, alias Benny Lévi und die
Maoisten. Doch in den letzten Jahren war Sartre mehr von Pierre Victor fasziniert
als von seinem alten Kreis.
Ungeklärt ist, ob sich Sartre im Zustand schleichender Demenz befand und den
Gedanken Pierre Victors nicht standhalten konnte, oder ob er sich – wie BernardHenri Lévy behauptet – nochmals zu einem neuen Denken aufschwang. In der
Beschreibung des Sartreschen Zustandes sind sich Lévy und de Beauvoir einig.
Lévy schreibt über das Jahr 1974: „Damals traf ich mit Sartre selbst zusammen: ein
aufgedunsenes Gesicht; der kleine gebrechliche Körper […] – eine übertriebene
Wachsamkeit des Auges wie auch eine Schwäche in der Stimme, die nicht zu ihm
paßte und die ihn daran hinderte, die Worte deutlich zu artikulieren.“739 Die
folgenden sechs Jahre bis zu Sartres Tod sollten einen weiteren Verfall seines
Körpers bedeuten – der jahrelange Corydran-, Alkohol- und Tabakmißbrauch
machte sich bemerkbar. Doch Sartre zeigte keine Reue – seinem eigenen
Ausspruch zufolge, daß es wichtiger gewesen sei die „Kritik der dialektischen
Vernunft“ geschrieben zu haben und dafür ein bißchen ruinöser zu sterben.
In diese Atmosphäre des körperlichen Verfalls trat also Pierre Victor, der junge
Studentenführer der „Gauche Proletarienne“ – selbst in einer Übergangsphase – in
Sartres Leben ein. Pierre Victor und seine Gruppe hatten Sartre einst aufgesucht,
nachdem Ihre Zeitung verboten worden war. Sie erhofften sich, daß das Etikett
„Herausgegeben von Jean-Paul Sartre“ die Zeitung vor weiterer Verfolgung
schützte. So konnte man dem bizarren Schauspiel bewohnen, daß der Philosoph
737
taz, 31.7.1979, zit. n.: Claußen, Detlev: Spuren der Befreiung, a.a.O., S. 45
Ebd.
739
Lévy, a.a.O, S. 593
738
203
von Weltrang mit Millionauflage auf den Pariser Strassen zusammen mit Simone
de Beauvoir die kleine illegale Zeitung „La Cause du Peuple“ unter die Menschen
brachte. Was blieb war die Beziehung zu Pierre Victor.
Dieser lebte unter Pseudonym, um seinen wirklichen Namen – Benny Lévi – aus
Angst vor der Ausweisung zu verbergen. Die Beziehung zu Lévi war Sartre so
wichtig, daß er – dies verdient Erwähnung – dem Präsidenten Giscard d´Estaing
persönlich schrieb, um für Victor die französische Staatsbürgerschaft zu erbitten.
D´Estaing gewährte die Bitte.
Pierre Victor selbst befand sich im Übergang: Weg von der grauen Eminenz der
Maoisten, hin zum religiös Suchenden. Nach dem Tod Sartres ging Levi diesen
Weg weiter: erst durch den Anschluß an eine Yeshiva (einer Religionsschule),
dann „in der Lektüre der Bibel, des Talmud, der Texte des Philon von Alexandria
und der Schriften Emmanuel Levinas“740 in Jerusalem.
Was war der Stein des Anstoßes, der die Debatte zwischen dem Kreis der „Les
Temps Modernes“ einerseits und Lévi auf der anderen Seite auslöste? Eine Woche
vor Sartres Tod erschien ein letzter Artikel, besser: ein letztes Gespräch, in dem
Sartre mit allem was er bisher geschrieben hatte, erneut radikal brach. Der
lebenslange Atheist Sartre sprach darin sogar von der „Auferstehung des
Fleisches“. „Den völlig verblüfften Lesern des Novelle Observateur verkündete
Sartre also, daß die Bibel einem Philosophen genauso viel zu denken gebe wie
Platon, der Rabbi Aktiva genausoviel wie Hegel oder Husserl und daß er, Sartre, so
Gott will die ihm verbleibende Zeit dringend darauf verwenden möchte, die beiden
Quellen, die beiden Ethiken und die beiden Religionen miteinander zu verbinden,
um das biblische Denken mit dem griechischen und dem prophetischen Diskurs mit
dem logozentrischen in Einklang zu bringen.“741
Zweifelsohne: Der Einfluß Lévis ließ sich nicht verhehlen. Er warf mehr Fragen
auf, als Antworten gegeben werden konnten: Hat Sartre „die unruhige Seele
geahnt, die auf der Suche nach etwas anderem war – hat er […] den potentiellen
Konvertiten erraten, welcher bereits im Begriff war, von Mao zu Moses und von
den Mythologien der Revolution zum heiligen Buchstaben des Talmuds
überzugehen? Faszinierte ihn Victors Judentum?“742 War es Victors Weigerung,
Sartres physische Schwäche wahrzunehmen oder zu respektieren?743 Gab er ihm
das Gefühl, immer noch im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein? War er der einzige
gewesen, „der wahnwitzigerweise daran geglaubt hatte, daß ein Werk zu zweit
daraus hervorgehen würde und auf diese Weise Sartres Werk weitergeführt werden
könnte“744?
Oder wurde Sartre, wie Simone de Beauvoir schrieb, einfach manipuliert? War es
so, daß „Victor zungenfertig war, er [ihn] mit Worten überschüttete, ohne ihm die
Zeit zu lassen, die er benötigt hätte, um sich eine Meinung zu bilden?“745 War es
für Sartre die Frage „auf die wichtige Verlängerung seiner selbst zu verzichten“746,
740
Vgl. Ebd., S. 595
Ebd., S. 600
742
Ebd., S. 596
743
Vgl. Cohen-Solal, a.a.O., S. 749
744
Vgl. Ebd., S. 750
745
De Beauvoir, Simone: Die lange Zeremonie des Abschieds, a.a.O., S. 155
746
Ebd.
741
204
die Victor bedeutete? Nötigte er Sartre seine Meinung auf?747 Hatte dieser
„tagelang gegen Victor angekämpft, bis er, der Kämpfe überdrüssig, nachgab“748?
Schlüssig ist, daß Sartre Zeit seines Lebens Atheist war, und wenn er über Religion
sprach, war er nur an ihrer Dechiffrierung interessiert, statt an ihrer Anwendung.
Bernard-Henry Lévys Sartre-Biographie wird das Verdienst zu Teil, diesen späten,
alten Sartre ernst genommen zu haben. Er interpretierte Sartre aus jüdischer, nichtmarxistischer Sicht, allerdings um den Preis des Verlustes der radikalen
Sartreschen Gesellschaftskritik. Für Levy ließ Sartre ein letztes Mal „die Knochen
im Kopf zerschlagen“ und die „Versteinerung seiner eigenen Ideen“ zertrümmern,
um zu einer neuen Philosophie zu gelangen, einer Philosophie die sich Lévi
zufolge auf vier Eckpfeiler berufe: Handeln, Gemeinschaft, Geschichte und Moral.
Den Bruch mit dem Marxismus sah Lévi als Konsequenz der Weiterführung der
Sartreschen Philosophie: „Schließlich waren alle revolutionären Ideologien – alle
Varianten des Marxismus, Leninismus, Stalinismus, Maoismus – in einem
Geschichtsbild befangen, das eine »mehrstufige« Abfolge von Produktionsweisen
vorsah, die nach einer blutigen, weil unerbittlichen Logik bis zur versprochenen
Apokalypse aufeinander folgen.“749 Bezeichnenderweise setzte Lévi das Ende der
bürgerlichen Gesellschaft mit der Apokalypse gleich – weit mehr wären statt
dessen die Paradiesvorstellungen zu kritisieren, die aus vielen revolutionären
Schriften nur nach einer Katharsis, ähnlich der Kreuzigung Jesus, hervorging.
Tatsächlich war das gängige Revolutionsmodell durchaus christlich motiviert:
Revolution als Auferstehung, der revolutionäre Weg als Leidensweg der
Kreuzigung. Lévi setzte diesem das Konzept des jüdischen Messias entgegen:
„Vom jüdischen Messias wird dagegen gesagt, daß seine Ankunft bevorstehe und
das er zugleich bereits da sei, in jedem Augenblick, in der Seele und in den
Handlungen jedes einzelnen Individuums, sofern dieses denn Vorschriften des
heiligen Gesetzes gemäß lebe; und damit wird nicht nur dem marxistischen
Ökonomismus und dem Reiz des Illegalen, sondern der eschatologischen Illusion
eine Absage erteilt, welche, indem sie das Ende auf ein genaues Datum festlegt,
ebenso wie viele andere Begradigungen des Geschichtsverlauf das unbarmherzige
Gesetz des Massakers rechtfertigt. Der jüdische Messianismus gegen die
Fortschrittsmythologie: das ist eine erste Leistung und zwar eine gewaltige.“750
Anders ausgedrückt: Das nach religiösen Gesetzen lebende Subjekt trage den
Messias bereits in sich, durch die Handlung, dem Gesetz folgend, könne Krieg und
Gewalt fast ausgeschlossen werden.
Lévi verfolgte einen radikalen religiösen Subjektivismus, der letztendlich die
Auswirkungen des Objekts Gesellschaft auf die psychologische Konstitution der
Einzelnen leugnete und an ihrer statt den „Messias des Alltags“ setzte. Doch genau
dies war das frühere Sartresche Thema: Der Widerspruch zwischen der
Entscheidung des Einzelnen und den objektiven Zwängen des Systems. Kein
Wunder also, daß Lévi triumphierte, als Pierre Victor alias Benny Lévy Sartre zum
„jüdischen Sartre“ machte. Dieser erschien bei Lévi nach dessen „Denkleistung“
als glücklich und gelöst: Hegel sei „geknackt“, weil das jüdische Volk
„metaphysisch gelebt hat und lebt“ und damit Hegel „ausgehebelt“ sei.
747
Ebd., S. 154
Ebd.
749
Lévi, a.a.O., S. 609
750
Ebd., S. 609
748
205
Warum Sartre dieses Denken übernahm bleibt ungewiß. Gewiß ist jedoch eines:
Sartre war Zeit seines Lebens im Denken verführbar – weit verführbarer als
Marcuse. Von Heidegger, der KPF, von Marx, von den Maoisten und zum Schluß
von Lévi. Doch diese Verführbarkeit gehörte zum Sartreschen Denken selbst,
damit es nicht erstarrte. Eine andere Frage als die, ob Sartre am Ende seines Lebens
aus freien Stücken, Verführbarkeit oder Zwang so dachte, wie er es tat, ist viel
wichtiger: Wäre Sartre zum Weltgewissen geworden, zum „Jahrhundertmensch“
(Lévi) mit dem Denken seiner letzten Schriften?
Mit Bestimmtheit kann dies Verneint werden. Sartres Originalität zeichnete sich
gerade durch seine Verführbarkeit aus: Marx mit Heidegger zu verbinden, Hegel
gegen Kant, Kant gegen Hegel, gegen beide mit Marx und dann mit Sartre gegen
alle. Geblieben ist dem alten Sartre nur das „Sartre gegen alle“. Wie er mit Camus,
Merleau-Ponty und vielen anderen brach, so brach er jetzt mit sich selbst. Mit dem
Unterschied, daß er vorher die bewegenden Fragen der Zeit in seiner Philosophie
auffing und weiterdachte. Doch genau dies fehlte Sartres letztem Text, auch wenn
Lévi davon schreibt, daß es der Auftakt eines neuen großen Werkes sein könnte.
Doch diese Zeit war für Sartre vorbei. Bereits der „Flaubert“ war eine Sache, die
Sartre mit sich selbst ausmachte – danach konnte nicht mehr viel kommen. Befreit
von dieser Last war Sartre ein Schatten seiner selbst. Der schwache Körper, den
Sartre stets dem Geiste unterordnete, zollte seinen Tribut und machte ihn auf ein
Fehlen seiner Philosophie aufmerksam: die Körperlichkeit. Das sensitive Moment
war nicht Sartres Sache: Die Kraft des Denken überstrahlte alles. Und nun, da der
Körper schwächer und schwächer wurde, mußte der Geist sich von diesem Körper
ein letztes Mal lösen. Wohin? In die Heiligkeit, in die Religion – denn die
Bedeutungslosigkeit hätte Sartre niemals akzeptiert.
Doch auf keinen Fall hätte Sartre den Weltruhm erlangt, den er genoß, wenn seine
letzte Schriften die Essenz seines Denkens dargestellt hätten.
Kaum ein Jahr nach Marcuses Tod starb auch Sartre – seinem Sarg folgten 50.000
Menschen751, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Man sprach von der letzten
Demonstration 68er. Sie kamen nicht, um seinen letzten Text zu diskutieren. Sie
kamen, um Sartre für sein Leben zu danken, jenseits dieser letzten Sartreschen
Eskapade.
751
vgl. Cohen-Solal, a.a.O., S. 781
206
6. Das
Ende
der
bipolaren
Welt:
Globalisierung
und
Neoliberalismus
als
Totengräber des Subjekts – Subjektivität nach
Marcuse und Sartre
„HEUTE SIND REVOLUTION UNMÖGLICH, UNS
DROHT DER BLUTIGSTEN UND SINNLOSES DER
KRIEG, DIE BESITZENDEN KLASSEN SIND SICH
IHRER RECHTE NICHT MEHR SEHR SICHER, UND DIE
ARBEITERKLASSE IST IM RÜCKGANG; WIR SEHEN
DIE UNGERECHTIGKEIT DEUTLICHER ALS JE
ZUVOR, UND WIR HABEN WEDER DIE MITTEL NOCH
DEN WILLEN, SIE WIEDERGUTZUMACHEN; DOCH
DIE
UNGEHEUREN
FORTSCHRITTE
DER
WISSENSCHAFT
GEBEN
DEN
KÜNFTIGEN
JAHRHUNDERTEN
EINE
BEDRÄNGENDE
GEGENWART;
DIE
ZUKUNFT
IST
DA,
GEGENWÄRTIGER ALS
DIE GEGENWART: MAN
WIRD AUF DEN MOND FLIEGEN, MAN WIRD LEBEN
SCHAFFEN, VIELLEICHT.“
JEAN-PAUL SARTRE
“DER REVOLUTIONÄRE KAMPF GEHT UM DIE
STILLSTELLUNG DESSEN WAS GESCHIEHT UND
GESCHEHEN IST – VOR ALLEN POSITIVEN
ZIELSETZUNGEN IST DIE NEGATION DAS ERSTE
POSITIVE. WAS DER MENSCH DEM MENSCHEN
ANGETAN
HAT
MUß
AUFHÖREN,
RADIKAL
AUFHÖREN – DANN ERST UND DANN ALLEIN
KÖNNEN DIE FREIHEIT UND DIE GERECHTIGKEIT
ANFANGEN.”
HERBERT MARCUSE
10 Jahre nach dem Tod Marcuses und 9 Jahre nach dem Tod Sartres fiel die Mauer
des kalten Krieges. Nachdem beide ihr Leben lang für die exponierte Stellung des
Subjekts in Theorie und Praxis gegen die erdrückende Macht der gesellschaftlichen
Systeme gekämpft hatten, brach die bipolare Welt zusammen.
Die erste Bresche in das kommunistische System des Ostblocks wurde 1980 am
Tor der Danziger Leninwerft geschlagen. Zwei Monate lang bestreiken die
Arbeiter die Leninwerft, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu
erzwingen. Am Ende unterzeichnete Lech Walesa in Danzig ein Abkommen, das
für einen "sozialistischen Staat" ein Novum war: Neben Lohnerhöhungen und einer
besseren Versorgung mit Lebensmitteln gestanden die polnischen Kommunisten
erstmals die Gründung unabhängiger Gewerkschaften zu.
207
Die "Solidarnosc" entwickelte sich in der kurzen Zeit ihrer legalen Existenz zum
Sprachrohr für Demokratie und Menschenrechte. Selbst ihr Verbot und die
Verhängung des Kriegsrechts 1981 konnten ihren wachsenden Rückhalt in der
Bevölkerung nicht unterdrücken. 1989 brach Polen als erstes Land mit der
Einparteienherrschaft der Kommunisten. Das polnische Beispiel beschleunigte die
Entwicklung in Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei.
Doch schnell entpuppte sich der neue Frühling der Freiheit als kurzer: Bald wurde
deutlich, daß sich die Lebensbedingungen der meisten Menschen im ehemaligen
Ostblock nicht verbesserten. Auch im Westen bedeutete der Sieg über den
ehemaligen Kontrahenten im Osten meist den Wegfall vormals erkämpfter sozialer
Rechte. Mit dem Wegfall des Staatskapitalismus im Osten erschien das Modell des
westlichen Kapitalismus als alternativlos. Die große Legitimation des Westens –
ihr Konzept der liberalen Demokratie – brauchte nicht mehr wie ein Schutzschild
gen Osten gehalten zu werden.
Das real existierende kommunistische Wirtschaftssystem war zwar Tod, doch der
westliche Kapitalismus war ebenfalls in keinem guten Zustand: In fast allen
Industrienationen stieg die Arbeitslosigkeit nach der Weltwirtschaftskrise von 1973
rapide an und trotz eines Wirtschaftsaufschwungs Mitte der 80er Jahre erholte sich
der Kapitalismus westlicher Prägung nicht mehr von der Massenarbeitslosigkeit,
deren vorläufiger Höhepunkt in Europa Mitte der 90er Jahre erreicht war und
seitdem mehr oder weniger stagnierte.752
Mit dem Wegfall der bipolaren Welt war noch ein anderes Szenario zu beobachten:
Der Nationalstaat hatte eine bedeutende Schwächung erfahren. „Seit dem Zeitalter
der Revolution war er die zentrale politische Institution gewesen, und zwar kraft
seines Monopols auf Recht und staatliche Amtsgewalt und dank der Tatsache, daß
er zu fast allen Zwecken den Wirkungsbereich für politische Aktion konstituierte.
[…] Er begann seine Macht rapide an supranationale Entitäten zu verlieren, und
absolute Macht insofern, als die Auflösung von großen Staaten und Imperien eine
Vielzahl an kleineren mit sich gebracht hatte, die zu schwach waren, um sich in
einem Zeitalter internationaler Anarchie behaupten zu können. Und er verlor sein
Gewaltmonopol und die historischen Privilegien, die ihm innerhalb seiner
Staatsgrenzen zugekommen waren, was sich nicht zuletzt mit der Zunahme von
Sicherheits- und Schutzorganisationen und privaten, mit der Post konkurrierenden
Kurierdiensten ausdrückte, die ja bislang effektiv überall einem staatlichen
Ministerium unterstanden hatten.“753
Dabei ließen sich gegenläufige Tendenzen beobachten: Nach dem Zusammenbruch
der UdSSR teilte sich der ehemalige Ostblock in Klein- und Kleinststaaten auf,
während die europäischen Länder des Westens ihre ökonomische und politische
Union weiter vorantrieben und sogar der bisherigen Weltwährung, dem Dollar,
durch den Euro Konkurrenz machten. So die UdSSR nicht nur geschwächt,
sondern implodiert förmlich, und an die Stelle des einstigen Imperiums traten
lauter kleine Nationalstaaten, von denen die Meisten wohl auch auf absehbare Zeit
mit den Attributen „arm und rückständig“ bezeichnet werden können. Die
ehemalige Tschechoslowakei spaltete sich und das Gebiet des ehemaligen
Jugoslawien wird heute von unterschiedlichen neu gebildeten Staaten regiert. Die
752
Siehe: http://www.ksh.hu/pls/ksh/docs/eng/e2001/e303/e30303.html, Stand: August
2003
753
Hobsbawm, a.a.O., S. 708
208
politische Landkarte des Ostblocks hatte eine Neuordnung erfahren, und kaum ein
Land existiert heute noch in den Grenzen, in denen es die letzten 50 Jahre
verbrachte. Während der Osten also auf absehbare Zeit politisch lahm gelegt war,
meldeten sich die westeuropäischen Nationalstaaten in Form eines vereinigten
Westeuropas auf der Weltbühne zurück.
Die Nationalstaaten des Westens waren also keineswegs bedeutungslos, doch
waren sie mittlerweile von unten und oben ausgehöhlt worden. Sie waren in die
Defensive geraten, gegenüber einer Weltwirtschaft, die sie nicht kontrollieren
konnten und gegenüber Institutionen wie der Europäischen Union oder IWF, die
sie selbst geschaffen hatten. Sie waren in der Defensive gegenüber ihrer
scheinbaren finanziellen Unfähigkeit, all die Dienste, die sie zu Zeiten des kalten
Krieges für ihre Bürger eingeführt hatten oder die sie weiter finanzierten, nunmehr
nicht finanzieren zu können oder zu wollen. Die kleineren Nationalstaaten waren in
der Defensive gegenüber multinationalen Konzernen deren Budgets oft die
Steuereinnahmen eines kleinen Landes überschritten. Mit einem Marktkapital von
über 240 Mrd. US$754 konnten Konzerne wie Exxon oder Microsoft problemlos mit
dem Staatsbudget eines Landes wie Österreich konkurrieren.755
Die multinationalen Konzerne trieben (und treiben) die Konkurrenz der
Nationalstaaten geschickt an: Meist produzierten sie an der Peripherie der drei
Schlüsselregionen USA, Japan und Europa; „die japanischen Konzerne in Ostasien,
die US-amerikanischen in Mexiko und die europäischen in Ostmitteleuropa“756 Das
bedeutete, daß sich sowohl die Regierungen der Nationalstaaten sowie deren
Arbeiter einem gewaltigen Konkurrenzdruck ausgesetzt sahen.
Letztendlich profitierten in ökonomischer Hinsicht nur jene vom Zusammenbruch
des Ostblocks, die auch zu Zeiten seines Bestehens nicht zu den Armen dieser Welt
gehörten. Die Situation der Dritten Welt verschlimmerte sich weiter: Der
französische Ökonom Frédéric F. Clermont faßte zusammen: „Allein die Schulden
der Dritten Welt stiegen von 1 300 Milliarden Dollar 1992 auf 2 100 Milliarden
Dollar Ende 2000, während die jährlichen Zinszahlungen im gleichen Zeitraum
von 167 Milliarden auf 343 Milliarden Dollar anwuchsen. Die Schuldnerstaaten
haben im Lauf der Jahre bereits ein Mehrfaches der geliehenen Summen
zurückgezahlt. Und wer kein Erdöl zu exportieren hat, bekommt die
Verlangsamung des amerikanischen Wirtschaftswachstums voll zu spüren.“757
Dabei traf das Problem der gigantischen Schulden der Nationalstaaten nicht nur die
armen Länder – auch die Länder der Ersten Welt wendeten und wenden ein gros
ihrer Steuereinnahmen zur Bezahlung alter und neuer Staatsschulden auf. Dabei
vergrößerte sich auch die Kluft zwischen Arm und Reich in den Industrieländern:
„Im Jahr 1998 verfügten die reichsten 10 Prozent der US-Amerikaner über 76
Prozent der nationalen Vermögenswerte, und mehr als die Hälfte dieser Werte
754
Financial Times Deutschland, Die Top Ten der Global 500 nach Branchen,
http://www.ftd.de/ub/di/1053857173052.html?nv=se, Stand: August 2003
755
Österreichs Bruttosozialprodukt betrug 1998 211 Mrd. US$ aus:
http://de.wikipedia.org/wiki/%D6sterreich#Wirtschaft_(Daten_1998), Stand: August 2003
756
Le Monde Diplomatique: Atlas der Globalisierung, Berlin, 2003. S. 31
757
In der Schuldenfalle: Das Ende des Wachstums in den USA,
http://monde-diplomatique.de/mtpl/2001/05/11/a0012.stext?Name=askRZMCbj&idx=7,
Stand: August 2003
209
konzentrierte sich in den Händen von einem Prozent der Bevölkerung.“ 758 Zur
selben Zeit saßen und sitzen in den USA 1% der Bevölkerung – vornehmlich
Schwarze – in Gefängnissen. Die Spaltung der Industrienationen in drei Klassen
zeichnete sich seit Mitte der siebziger Jahre ab: Bourgeoisie, Proletariat und
Subproletariat. Es entstanden typische Aus- und Abgrenzungsmechanismen
zwischen den Klassen. Das Subproletariat, das in den Industrienationen mehr
schlecht als recht vom Wohlfahrtssystem aufgefangen wurde, erntete vom Gros
derjenigen Verachtung, das noch Arbeit hatte. In den Ländern der Dritten Welt
entwickelten sich neben einer gigantische Ausmaße annehmenden Urbanisierung
zu meist paramilitärische Feudalstrukturen. Und mit wenigen Ausnahmen schaffte
es keine Regierung der Armut Herr zu werden.
Die kurze Zeit der Hoffnung auf eine friedlichere Welt, die sich mit der
Machtübernahme Gorbatschows verband, blieb von kurzer Dauer. So erleichternd
Gorbatschows Kursänderungen „Glasnost“ und „Perestroika“ gewesen waren, so
konzeptlos standen sie den ökonomischen Anforderungen der UdSSR gegenüber.
Während im amerikanischen Mittelwesten eine Maschine ein Feld mit der Breite
eines Fußballfeldes computergesteuert mähen konnte, brauchte die UdSSR zehn
Traktoren um das Feld in derselben Geschwindigkeit mähen zu können. Die
computergesteuerten Maschinen des Westens erledigten dieselbe Arbeit billiger
und schneller als die personalintensive Produktionsweise des Ostblocks.
Während die UdSSR der 20er und 30er Jahre vom Weltmarkt praktisch isoliert und
damit krisenunanfällig gewesen war, konnte dies von der UdSSR des Jahres 1989
nicht gesagt werden. Es war die Ironie der Geschichte, daß die Krise des
Kapitalismus der UdSSR den Todesstoß versetzte. So standen die USA als Sieger
des kalten Krieges konkurrenzlos dar – aufgepumpt mit Militärtechnologie und bis
über beide Ohren verschuldet; doch technisch war weit und breit keine Macht zu
sehen, die ihnen militärisch hätte Paroli bieten konnte. So verwunderte es auch
nicht, daß alle Kriegsparteien, die von den USA angegriffen wurden, bis auf die
Führung der Baath-Partei im Irak 1991, lieber das Weite suchten, als sich auf ein
Kräftemessen wie einst die Vietkong einzulassen.
Während die Ökonomie also weiter mit der Krise kämpfte, entwickelte sich Anfang
der 80er Jahre ein neuer Strang der Wissenschaften, der einer industriellen
Revolution gleichkam: Die Informatik. Bereits Mitte der 60er Jahre konnte man an
den entlegensten Plätzen der Welt beobachten, wie ein Indianer oder ein Tibetaner
mit einem Taschenrechner seine Preise addierte. Am Anfang des neuen
Jahrtausend zeichnen sich neue Klassenkämpfe an anderen Fronten ab: Durch
Patentrecht und Copyright ist es den Bauern der Dritten Welt nicht erlaubt, das
ergiebigere, importierte Getreide zur Saat anzupflanzen. Preiswerte Medikamente
können nicht in den Länder der Dritten Welt für die Dritte Welt produziert werden,
da es gegen das Patentrecht verstoßen würde. Das menschliche Genom, die
Software des Menschen, ist im Begriff patentiert zu werden. Noch ist nicht
abzusehen, welchen Weg der Kampf um das Patentrecht nehmen wird, doch soviel
kann mit Sicherheit prognostiziert werden: Patentrecht und Copyright werden mehr
zu Maximierung des Profits, denn im Sinne des Allgemeinwohls eingesetzt
werden.
758
Ebd.
210
Mit der Durchsetzung des Computers, vor allem aber des Internets, begann eine
technische Entwicklung, deren Ende ebenfalls noch nicht abzusehen ist, aber von
der mit Sicherheit gesagt werden kann, daß sie die Weltkommunikation
entscheidend verändert. Zwar war es durch Satelliten schon lange möglich Bilder
und Ton von einem Ort der Welt zum anderen zu übertragen, aber mit der
Erfindung des Internets war es möglich geworden einen Roboter am anderen Ende
der Welt zu Kosten eines Ortsgespräches vom heimischen PC zu steuern. Der PC
ersetzte praktisch alle technischen Kommunikations- und Unterhaltungsgeräte und
das Internet machte es möglich alle Arten von Daten überall in der Welt zu
versenden und zu empfangen. Dabei biß sich die Katze in den eigenen Schwanz:
Was einst erdacht war, um im Falle eines Atomkrieges eine sichere
Kommunikation zu gewährleisten, ist heute eben deshalb – im Guten wie im
Schlechten – nicht kontrollierbar. Von den 10% der Weltbevölkerung, die binnen
sieben Jahren Online waren, stammte der meiste Teil aus den Industrienationen.
Man könnte sagen, daß Afrika nach dem Ende des kalten Krieges in jeder
Beziehung Offline war.
Der Zusammenbruch der UdSSR sicherte all jenen Parteien, die noch ein
marxistisch-leninistisches Parteibuch hatten, – wenn sie sich nicht schon dort
befanden – den Schritt in die völlige Bedeutungslosigkeit, wenn nicht gar ihre
Auflösung. Lediglich in China und in Indien behielten sie ihre Bedeutung. Der
Marxismus war – glaubte man den vermeidlichen Siegern – so Tot wie die UdSSR,
dabei wurde meist kein Unterschied zwischen orthodoxem und anderen Spielarten
des Marxismus gemacht.
Im Zuge des Zerfalls der orthodoxen Marxisten verloren auch die Schriften Sartres
und Marcuses an Bedeutung und an Aktualität. Wer wollte schon Marcuses Buch
über den Sowjetmarxismus lesen, wenn es ihn nicht mehr gab? Wozu Sartres
„Materialismus und Revolution“ studieren, wenn der offizielle Materialismus
untergegangen war? Kurz: Mit dem Untergang des offiziellen Marxismus verloren
auch seine exponiertesten Kritiker an Bedeutung.
Das Veralten ihrer Theorien hing aber auch mit dem Verschwinden der 68er
Bewegung zusammen. Nach dem weltweiten „heißen Herbst“ fragmentierte sich
die Bewegung in Frauenbewegung, Ökologiebewegung, Hausbesetzerbewegung,
Schwulenbewegung, etc. Nach dem Zusammenbruch des Ostens brachen zumeist
auch die letzten Überbleibsel linker Gegenkulturen zusammen. Der Kapitalismus –
so schien es – hatte auf ganzer Front gesiegt. Erst in den letzten Jahren formierte
sich erneut Widerstand. In Seattle stürmten Demonstranten das Tagungsgebäude
der IWF und in Prag und Genua kam es zu einer neuen sozialen Bewegung, die als
„Globalisierungskritiker“759 bezeichnet werden.
759
Der Autor war in Genua und Prag, jedoch war für keinen der als
„Globalisierungsgegner“ bezeichneten der Internationalismus ein Problem – im Gegenteil.
Das Wort „Globalisierungskritiker“ verschweigt, was die meisten von ihnen tatsächlich
sind: Kapitalismuskritiker.
211
Sartre and Marcuse revisited
Die Übermacht der Gesellschaft
Viele Dinge an Sartres und Marcuses Schriften sind in der gegenwärtigen
Entwicklung des Kapitalismus genauso aktuell wie zur Entstehung ihrer Schriften –
andere Dinge, die Auseinandersetzung mit der UdSSR, haben ihren Zeitkern
überschritten. Gleichwohl lassen sich aus den Analysen des Sowjetmarxismus
heute Lehren ziehen, um gegen die allzu oberflächliche Gleichsetzung von
Marxismus und Realsozialismus vorzugehen, der Marx für alle Zeit diskreditieren
soll und ein Residuum des Antikommunismus darstellt – in einer Zeit in der
Kommunismus mit Ausnahme Nordkoreas und Kubas kein real existierender
Kommunismus zu finden ist. Doch um die heutige Welt als Falsche zu entlarven
genügt, ein einziger Gedanke Marcuses: Die aktuelle, historisch einzigartige
Produktivkraft würde es erlauben der Welt eine Existenz ohne Hunger und Elend
zu ermöglichen. Solange sie dies nicht ist, bleibt zu fragen wie sie es werden kann
und warum sie es noch nicht ist. Die Frage, warum Millionenmassen ihre eigene
Unterdrückung bejahen, hat sich nicht verändert. Im Gegenteil: „Eine komfortable,
reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit herrscht in der
fortgeschrittenen
industriellen
Zivilisation,
ein
Zeichen
technischen
760
Fortschritts.“
Mehr noch: Gegenwärtig befindet sich der Kapitalismus erneut in einer schweren
Krise. Clermont beurteil die aktuelle Situation wie folgt: „Was uns bevorsteht, ist
keineswegs die "sanfte Landung" oder die "Marktkorrektur", von der die Ideologen
der Finanzsphäre ausgehen. Vielmehr erleben wir die ersten Anzeichen der
schwersten Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs.“761 Nach dem
Untergang der Massenpartei sozialistischen Typs fehlen in den westlichen
Gesellschaften jene Kräfte, die noch in den 50er und 60er Jahren des letzten
Jahrhunderts in der Lage waren den neoliberalen Programmen entgegenzutreten.
Durch das „Ankommen“ der 68er Bewegung in den Institutionen haben sich
weniger die Institutionen, denn die ehemaligen 68er verrändert. Die großen
Demonstrationen der 60er und 70er Jahre schufen eine außerparlamentarische
Opposition, verbunden mit neuen kulturellen Leitbildern. Mit der Integration dieser
bis heute letzte großen Bewegung, dem letzten „Hurra der alten Weltrevolution“
(Hobsbawm), fehlt heute ein gesellschaftliche Kraft, die in großem Maßstab gegen
die verwaltete Welt vorgehen kann und eine Alternative zum herrschenden System
darstellt.
Anders gesagt: In der momentanen Phase des Kapitalismus herrscht ein Höchstmaß
an gesellschaftlicher Krise, dem ein historisches Minimum an revolutionärem
Bewußtsein gegenübersteht. Durch die Existenz eines gigantischen Subproletariats
ist es möglich geworden die Vision einer homogenen Arbeiterklasse als Träger der
Befreiung weiter ad absurdum zu führen. Wenn Marcuse schrieb, daß „der
Nationalsozialismus seinen Anhängern eingehämmert [hatte], daß die Welt eine
Kampfbahn ist, in der der mächtigste und effizienteste Konkurrent das Rennen
gewinnt“, so gilt daß bis heute. Die Konstitution der Subjekte entspricht der sie
prägenden ökonomischen Ordnung. Solange das gesellschaftliche Ganze das
760
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O. , S. 21
Clermont, Frederik F.: Das Ende des Wachstums in den USA: In der Schuldenfalle,
a.a.O.
761
212
Resultat blinder Kräfte ist, braucht es blinde Subjekte, die dagegen nicht
aufbegehren. Noch heute gilt wie zu Marcuses Zeiten: „Die innere Struktur des
menschlichen Daseins würde gerändert; das Individuum würde von den fremden
Bedürfnissen und Möglichkeiten befreit, die die Arbeitswelt ihm auferlegt. Das
Individuum wäre frei, Autonomie über ein Leben auszuüben, das sein eigenes
wäre.“762
In den letzten hundert Jahren erlebten die Medien einen gigantischen Aufstieg. In
keinem Land konnte eine Regierung dauerhaft gegen sie herrschen. Dort, wo sie
nicht gleichgeschaltet wurden, waren sie zu meist Partner der Macht. Das Mittel
der Zensur war im Westen überflüssig geworden. Der Blick in die Vergangenheit
zeigt die Möglichkeit, die eine freie Presse gehabt hätte. So waren die
Frühschriften von Marx noch zu einem großen Teil der Verteidigung der
Pressefreiheit in Preußen gewidmet. Er schrieb: “Auch die Preßfreiheit ist eine
Schönheit, [...] die man geliebt haben muß, um sie verteidigen zu können.”763
Die freie Presse ist heutzutage erreicht, das Recht auf freie Meinungsäußerung
erkämpft. Doch wofür, wenn alles gesagt werden kann und dennoch die
Veränderung hin zu einer Gesellschaft, die die Attribution “vernünftig” verdient,
weiter entfernt ist denn je? Wenn Kulturindustrie die monströse
Vermittlungsinstanz der Gegenwart ist? “Was widersteht, darf überleben nur,
indem es sich eingliedert. [...] Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke
dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat.”764 Was geschieht mit der
Freiheit auf dem Papier, wenn Kulturindustrie ein “Zirkel aus Manipulation und
rückwirkendem Bedürfnis” (Adorno) darstellt, in der die wenigen Äußerung, die
während anderer Formen totalitärer Herrschaft der Zensur einheimgefallen wären,
völlig unbedeutende Marginalien sind? Das Gros des heute Produzierten wäre nie
zensiert worden. Die neuen Technologien politischer Herrschaft765 sind auf die
Zensur gar nicht angewiesen. Es scheint, daß ein Typus von politischer Herrschaft
dominiert, in dem all jenes, das einmal als subversiv angesehen wurde, aus den
Selektionsrastern der Einzelnen im Verschwinden begriffen ist.
“Die meisten jungen Menschen am Ende dieses Jahrhunderts wachsen in einer Art
permanenter Gegenwart auf, der jegliche organische Verbindung zur
Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt.”766 Mit diesem Urteil eröffnet
Hobsbawm seinen monumentalen Band über das 20. Jahrhundert. Diese
“permanente Gegenwart” braucht sich nicht zu zensieren, da sie sich als das “Ende
der Geschichte” ansieht, als sei die beste aller möglichen Welten. Mit dem Ende
der bipolaren Weltordnung und des Stalinismus, der sich affirmativ auf Marx
bezog, und demgegenüber sich Marx nur angeekelt abgewandt hätte, muß die
Frage der Pressefreiheit anders diskutiert werden. Nicht daß dem Gestern ein
Kompliment gemacht werden könnte, doch die ökonomischen Bedingungen für
eine Welt der Freiheit sind in der Gegenwart vorhanden, “nur” das Bewußtsein zu
ihrer Durchsetzung fehlt stärker denn je. Konnte Marx zu seiner Zeit im Proletariat
noch einen kollektiven Akteur erkennen, erscheint dies heute mehr als fragwürdig.
Pressefreiheit heute muß im Kontext der Freiheit für-wen gedacht werden. Oder
mit den Worten Marcuses gesprochen: „Den kleinen und ohnmächtigen Gruppen,
762
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O. , S. 22
MEW 1, Berlin, 1956, S.33
764
Adorno, Theodor W und Horkheimer Max, Dialektik der Aufklärung, a.a.O. , S. 140
765
vgl. Foucault, Michele: Überwachen und Strafen, a.a.O.
766
Hobsbawm, a.a.O. , 1998, S. 17
763
213
die gegen das falsche Bewußtsein kämpfen, muß geholfen werden: ihr
Fortbestehen ist wichtiger als die Erhaltung mißbrauchter Rechte und Freiheiten,
die jenen verfassungsmäßige Gewalt zukommen lassen, die diese Minderheit
unterdrücken. Es sollte mittlerweile klar sein, daß die Ausübung bürgerlicher
Rechte durch die, die sie nicht haben, voraussetzt, daß die bürgerlichen Rechte
jenen entzogen werden, die ihre Ausübung verhindern, und das die Verdammten
dieser Erde nicht nur die Unterdrückung ihrer alten, sondern auch ihrer neuen
Herren voraussetzt.“767
In fast allen Ländern der Welt existiert das Recht auf die freie Wahl des Berufes,
Sklaverei oder Frondienste sind abgeschafft. An ihre Stelle ist der Vertrag getreten
und mit ihm das bürgerliche Eigentum: Eigentum an Produktionsmitteln, wie
Eigentum unveräußerlicher demokratischer Rechte. Durch die Aufrechterhaltung
dieser Eigentumsäquivokation existiert Arbeit, die das Zentrum menschlichen
Lebens und die mögliche Grundlage der Selbstverwirklichung hätte sein können, in
den kapitalistischen Ländern nur als entfremdete. Die Freiheit, einen Beruf
selbständig zu wählen, ist den meisten durch zahllose Selektionsmechanismen
versperrt. Oder mit Sartre zu argumentieren: „Die Beschäftigung, als zu besetzende
Stelle und zu spielende Rolle, bestimmt a priori die Zukunft eines abstrakten, aber
erwarteten Menschen: soundso viele Ärzte- und Lehrerstellen etc. für das Jahr 1975
implizieren für eine ganze Kategorie von Heranwachsenden einerseits eine
Strukturierung des Feldes des Möglichen, die aufzunehmenden Studien, und
andererseits ein Schicksal: tatsächlich erwartet sich häufig, noch ehe sie geboren
sind, sowohl die Stelle wie auch ihr gesellschaftliches Sein; dieses ist nämlich nichts
anderes als die Einheit aller Funktionen, die sie tagtäglich zu erfüllen haben
werden. So bestimmt die herrschende Klasse die Zahl der Techniker, des
praktischen Wissens gemäß dem Profit, ihrem eigentlichen Zweck.“768 Die
Möglichkeit der Entfaltung des Subjekts in Arbeit existiert für das Gros aller
Menschen nicht. Arbeit entspricht immer noch dem etymologischen Ursprung des
Wortes: Mühsal769. Noch immer stellt sie den Quell des Reichtums der Wenigen
und Mühsal und Pein für die Meisten dar. Sie hat sich in ihrem Charakter der
Mehrwertbeschaffung seit Marxens Zeiten nicht geändert. Noch immer ist die
Demokratisierung der Ökonomie nicht verwirklicht.
Verändert hat sich die Art und Weise der politischen Herrschaft. Der staatliche
Souverän ist der Bürokratie gewichen, an deren Spitze, wie Hannah Ahrend sagte,
immer ein bürokratischer Niemand steht. Die Techniker der Disziplinierung und
Konditionierung des Subjekts sind feiner und durchdringender geworden. Auch
hier sind Sartre und Marcuse so aktuell wie einst. Mit Sartre gesprochen: „Das
System, das ist die Ohnmacht an der Macht.“770 Oder mit Marcuse argumentiert:
„Verglichen mit ihren Vorgängerinnen, ist sie in der Tat eine »neue Gesellschaft«.
Traditionelle Unruheherde werden jetzt beseitigt oder isoliert, auflösende Elemente
gebändigt. Die Haupttendenzen sind bekannt: Konzentration der Volkswirtschaft
auf die Bedürfnisse der großen Konzerne, wobei die Regierung sich als anregende,
unterstützende und manchmal sogar kontrollierende Kraft betätigt; Verflechtung
767
Ebd., S. 121
Sartre, Jean-Paul, Plädoyer für die Intellektuellen, Reinbek bei Hamburg, 1995, S. 99
769
Kluge, Etymologisches Wörterbuch, Berlin, New York, 1999, S. 50
770
Sartre, Jean-Paul: Die Frösche, die einen König haben wollen, in: Sartre, Jean-Paul: Wir
sind alle Mörder, a.a.O., S. 83
768
214
dieser Wirtschaft mit einem weltweiten System von militärischen Bündnissen,
monetären Übereinkünften, technischer Hilfe und Entwicklungsplänen;
allmählicher Angleichung der Arbeiter- und Angestelltenbevölkerung, der
Führungstypen bei den Unternehmer- und Arbeitgeberorganisationen, der
Freizeitbeschäftigungen und Wünsche der verschiedenen sozialen Klassen;
Förderung einer prästabilen Harmonie zwischen Wissenschaft und nationalem
Anliegen; Angriff auf die Privatsphäre durch die Allgegenwart der öffentlichen
Meinung, Auslieferung des Schlafzimmers an die Kommunikation der
Massenmedien.“771 Dabei dringt der Mark immer weiter in jene Bereiche ein, die
vormals nicht marktvermittelt organisiert waren.
Das
Gros
der
Massenkultur
der
Gegenwart
reduziert
die
Klassenauseinandersetzungen meist auf die Ebene der Liebe. Hier darf
zusammenkommen, was sonst nicht zusammengehört. Die Erfassung der Körper
und des Geistes durch den Markt gleicht an, was nicht gleich ist. Mit Marcuse
gesprochen: „Die Menschen treten in dieses Stadium als langjährig präparierte
Empfänger ein; der entscheidende Unterschied besteht in der Einebnung des
Gegenstandes (oder Konflikts) zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen,
zwischen den befriedigten und den nicht befriedigten Bedürfnissen. Hier zeigt die
sogenannte Ausgleichung der Klassenunterschiede ihre ideologische Funktion.
Wenn der Arbeiter und der Chef sich am selben Fernsehprogramm vergnügen und
dieselben Erholungsort besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv
hergerichtet ist wie die Tochter des ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen
Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselben Zeitungen lesen, dann deutet diese
Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern auf das
Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen teil hat, die
der Erhaltung des Bestehenden dienen.“772
Dabei verschleiert die Kulturindustrie stärker denn je was wichtig ist und was
nicht. Durch das Fehlen eines theoretischen Selektionsrasters wird die
Wahrnehmung des Subjekts immer noch von repressiver Toleranz geleitet: „In der
Überflußgesellschaft herrscht Diskussion im Überfluß und im etablierten Rahmen
ist sie weitgehend tolerant. Alle Standpunkte lassen sich vernehmen: der
Kommunist und der Faschist, der Linke und der Rechte, der Weiße und der Neger,
die Kreuzzügler für Aufrüstung und die für Abrüstung. Ferner wird bei Debatten in
den Massenmedien die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die
intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete, und
Propaganda geht einher mit Erziehung, Wahrheit mit Falschheit.“773 Dabei hat sich
die Welt keinesfalls zum besseren gewandelt. Der Hunger ist nicht besiegt, die
Armut nicht verringert, sondern ausgeweitet, die Atomwaffen nicht vernichtet,
sondern die Arsenale ausgebaut und die Umsetzung der Menschenrechte ferner
denn je. Mit Sartre gesprochen: „[…] heute steht die sengende Sonne der Folter am
Zenit und blendet alle Länder. Unter diesem Licht gibt es kein Lachen, das nicht
falsch klänge, kein Gesicht, das sich nicht schminken müßte, um die Wut oder
Angst zu kaschieren, keine Handlung, die nicht unseren Ekel oder unsere
Komplizenschaft verriete.“774
771
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O. , S. 39
Ebd., S. 28
773
Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz, a.a.O., S. 105
774
Ebd., S. 27
772
215
Und dennoch hat der Kapitalismus westlicher Prägung eine erstaunliche
Integrationsfähigkeit und Überlebensfähigkeit bewiesen. In den Ländern der Ersten
Welt hat sich Auschwitz nicht wiederholt. Doch dies lag weit mehr an den Jahren
des allgemeinen Wirtschaftswachstums, denn an der Richtigkeit des Konzeptes, die
Ökonomie nicht zu planen. Am Anfang des neuen Jahrtausends ist noch nicht
abzusehen, wie stark die gegenwärtige Krise des Kapitalismus sein wird. Wird sie
wieder, wie in den 20er Jahren, die Arbeiter durch die Welt ziehen lassen um
dorthin zu gelangen wo Arbeit ist? Welche Früchte des Zorns werden sie
produzieren? Der Antisemitismus ist immer noch vorhanden und der Haß auf
Fremdes ist nicht geringer geworden. Müssen die Worte Rosa Luxemburgs und
Friedrich Engels wieder ins Bewußtsein gerückt werden? „Die bürgerliche
Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder
Rückfall in die Barbarei. Was bedeutet ein »Rückfall in die Barbarei« auf unserer
Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte [von Engels,
S.O.C.] bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst
zu ahnen.“775 Doch heute ist es nicht mehr allein die europäische Zivilisation, die
es von ihren technischen Möglichkeiten vermag das ganze Menschheitsgeschlecht
auszurotten. Die kantische Frage bleibt: Kann die Menschheit der
selbstverschuldeten Unmündigkeit entrinnen?
Marcuse und die kritische Theorie verorteten den Nährboden für die
Machtübernahme der Nationalsozialisten lange bevor diese tatsächlich an die
Macht kamen. Über die damalige Situation schrieb er: „Je mehr sich die deutsche
Arbeiterbewegung in die Arbeiteraristokratie und -bürokratie einerseits und die
Masse der Arbeitslosen oder nur befristet Beschäftigten andererseits aufspaltete,
desto mehr schwand der Glaube an die Verwirklichung des höchsten Ziels und
wich dem Geist desillusionierter Sachlichkeit. In einer Volkswirtschaft mit zehn
Millionen Arbeitslosen wurde Arbeit von einem Recht zur Vergünstigung, die
effizientes und willfähriges Verhalten erforderte. Zudem hatten die Führer der
Arbeiterbürokratie durch ihr Handeln den Desillusionierungsprozeß schon lange
vor der Machtübernahme durch die Nazis eingeleitet. So war der Grund und Boden
für die Eroberung durch den Nationalsozialismus bereitet: Die Aussicht auf
Vollbeschäftigung und wirksame Kontrolle der Wirtschaftsprozesse wog schwerer
als die Überreste sozialistischen Glaubens”776 Das Recht auf entfremdete Arbeit
geht wieder einmal auf die Vergünstigung über. Welchen Nährboden bereiten die
gegenwärtigen real existierenden Demokratien?
Nach dem Anschlag auf das World Trade Center hat sich in fast allen westlichen
Ländern das Verhältnis zwischen Regierung und Volk verschärft. Neben dem
ökonomischen „Klassenkampf von oben“ werden in so gut wie allen Ländern neue
Techniken der Überwachung eingeführt und legalisiert. Fußballstadien und
öffentliche Plätze werden mit Kameras ausgerüstet, die in der Lage sind, die
Gesichtsphysiognomie der Gefilmten mit einer Datenbank abzugleichen. Im
Übereinstimmungsfall wird Alarm ausgelöst. Anhand moderner Funktechnologie
775
Luxemburg, Rosa: Die Krise der Sozialdemokratie, in: Gesammelte Werke 4,
Berlin/Ost, 1987, S.62. In einem Gespräch sagte Marcuse, daß er bei der „letzten
Massenveranstaltung, auf der Rosa Luxemburg teilgenommen hat“, anwesend war. Die
Salecina-Gespräche, in: Habermas, Jürgen / Bovenschen, Silvia, u.a.: Gespräche mit
Herbert Marcuse, Frankfurt /M, 1978, S.98
776
Marcuse, Herbert: Feindanalysen. Über die Deutschen, a.a.O. , S. 45
216
kann jedes Handy geortet werden, eine Geldabhebung am Automaten kann sofort
nachverfolgt werden, und Tausende von Kilometern entfernte Satteliten sind in der
Lage, die Schlagzeile einer Zeitung zu entziffern.
Nicht die Technik war für die kritische Theorie das Problem: Sie könnte im Guten
wie zum Schlechten angewendet werden. Problematischer erschien – wie auch für
Sartre – der technische Logos, der die Subjekte selber zu Maschinen degradierte.
Die zentrale Frage war also, wer die Herrschaft über die Technik ausübt: Die
Nationalsozialisten identifizierten die Juden einst anhand der Unterlagen einer
Volkszählung. Was hätten sie mit den neuen technischen Möglichkeiten anrichten
können? Die Totenkopf-SS mit Nachtsichtgeräten, Wärmesensoren und
computergesteuerter Ausrüstung?
Werden all diese Überwachungsmechanismen nur installiert, um die Gesellschaften
gegen den Terror zu schützen? Oder verlieren die Herrschenden ihre Legitimation
und sorgen vor? Existieren all diese Instrumentarien nur zum Wohle der Menschen,
oder stehen sie für den Moment parat, wenn sich die Massen doch noch einmal
erheben, um für eine bessere Zukunft zu kämpfen? Auch Marcuse und Sartre
wurde vorgeworfen, den Nährboden für den Terrorismus bereitet zu haben. Wann
ist jemand Terrorist und wann Freiheitskämpfer? Wer bestimmt das? Was bedeutet
ein »Rückfall in die Barbarei« auf unserer Höhe der Zivilisation?
Freiheitliches, Gemeinsames
Die Grundmotivation Marcuses und Sartres in ihrer Zeit als Existentialisten
bestand darin dem Subjekt „zu Hilfe zu eilen“. Dieses Moment durchzog auch ihre
späteren Philosophien wie ein roter Fader. Immer wieder kamen beide auf das
Subjekt zu sprechen und immer wieder betonten sie die Notwendigkeit der
Veränderung des Objekts zur Verwirklichung der Subjektivität. Beide sahen ihre
Aufgabe als Intellektuelle in der Verwirklichung „des praktischen Subjekts und die
Freilegung der Prinzipien einer Gesellschaft, die dieses hervorbringen und stützen
würde.“777
Marcuse und Sartre ging es darum die Schnittstellen zwischen Individuum und
Gesellschaft zu verstehen, um sie der Veränderung zugänglich zu machen. An
diesem Relais zwischen Subjekt und Objekt, am Moment der gesellschaftlichen
Vermittlung plazierten sich sowohl die kritische Theorie Herbert Marcuses, wie die
existentialistische Jean-Paul Sartres. Sowohl Sartres „Marxismus und
Existentialismus“, bzw. die „Kritik der dialektischen Vernunft“ wie Marcuses
„Eros and Civilisation“ und „Der eindimensionale Mensch“ suchten nach einer
Erweiterung des Marxismus im Verstehen um das menschliche Geworden-Sein.
Permanent rangen sie um eine Konzeption des Subjekts zwischen Möglichem und
Versperrtem.
Dabei konzipierten sie zwei Subjekte: Zum einen waren ihre Schriften durchzogen
von einem Subjekt, das entfremdet, verdinglicht und mit falschem Bewußtsein
ausgestattet seinen Platz in einer falschen Welt einnahm. Dagegen stand ein
Subjekt, das die beiden Intellektuellen eindrucksvoll vorlebten: Ein tätiges,
denkendes, kritisches und sich einmischendes Subjekt, dem die
Verdinglichungsmechanismen klar und bewußt waren und das gegen sie
ankämpfte.
777
Sartre, Jean-Paul, Plädoyer für die Intellektuellen, a.a.O. , S. 112
217
Beide lebten nach dem Subjektbegriff von „Das Sein und das Nichts“. Es schien als
galten für die beiden Philosophen zwei Theorien: Die eine für das Gros der
Gesellschaft und eine andere für ihre eigene Praxis. Sie waren sich einig darüber,
daß die übergroße Mehrheit der Menschheit in Knechtschaft und Entfremdung
lebte; sie selbst aber verkörperten nahezu perfekt das Bild des vernunftgeprägten,
freien Subjekts aus „Das Sein und das Nichts“. Man könnte sagen, daß ihr
politisches Leben eine Gegensubjektivität zur präformierten Subjektivität
darstellte.
Die Theorie schützte sie des starken Subjekts vor so manchem Irrtum. Auch wenn
die kritische Theorie und der französische Existentialismus bisher von der Prüfung
der Macht verschont blieben, deutet doch vieles darauf hin, daß die Theorien
Marcuses und Sartres ein Schutz gegen die Vereinnahmung der Einzelnen
darstellen. Beide täuschten sich mehrfach: Marcuse über Cuba, China und Vietnam
und Sartre darüber hinaus noch kurz über die UdSSR. Doch diese Täuschungen
waren immer von kurzer Dauer: Sobald sie sahen, daß die Regime ihrem Ideal der
mündigen Subjektivität widersprachen, zögerten sie nicht, ihre Zustimmung in
radikale Kritik umzuformen. Der von Marx vorgegebene, kategorische Imperativ
alle Verhältnisse umzuwerfen, in dem der Mensch ein erniedrigtes, ein
geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, war Maßstab ihrer
Theorien und ihrer politischen Praxis. Jeder neuerliche Versuch einer Revolution
wird wieder scheitern, wenn dieser Maßstab Sartres und Marcuses nicht
berücksichtigt wird.
Dabei nahm die Geschichte von Marcuse und Sartre einen seltsamen Anfang: Die
Person Martin Heideggers war bestimmt nicht prädestiniert für das Unterfangen
eine Subjekttheorie des Marxismus zu liefern. Daß Marcuse und Sartre sich –
unabhängig voneinander – in ein solches Projekt begaben, zeugte mehr von der
Hilflosigkeit der bürgerlichen Theorien die Welt zu erklären, denn von der Größe
Heideggers. Ebenso zeigte es den Grad der Deformation der marxschen Theorie,
daß der Versuch einer Erneuerung mit Heidegger gemacht werden sollte. 1947
schrieb Marcuse an Heidegger: „Wenn man an einen Weltgeist glaubt, möchte man
ihn in der schreienden Ironie am Spiele sehen, die aus ihnen einen Vorläufer
Sartres macht. Sollten Sie wirklich so in die Geistesgeschichte eingehen?“778
Während Marcuse als Schüler Heideggers schneller als Sartre von dem Plan
abwich, Heidegger mit Marx zu verbinden, war Sartres Heideggerlektüre ein
Widerstandsakt in deutscher Kriegsgefangenschaft. Zu dieser Zeit ließen sich
höchst gegensätzliche Bewegungen beobachten: Sartre ging nach Berlin, aus dem
Marcuse emigrieren mußte. Er laß Heidegger in einem deutschen
Kriegesgefangenenlager, während Marcuse seine Theorie auf gänzlich andere Füße
stellte. Marcuse analysierte das präformierte Subjekt, während Sartre die totale
Freiheit des Menschen verkündete. Man könnte sagen, daß Marcuses Theorie der
Sartreschen immer ein Stück voraus war, bis es galt in einer realen Bewegung
leibhaftige Subjekte zu unterstützen. Hier rekurrierte Marcuse dann auf Sartre, was
sie in große Nähe zueinander brachte.
778
Marcuse, Herbert / Heidegger, Martin: Briefwechsel, 28.August 1947, in: Jensen, PeterErwin, a.a.O., S. 135
218
Die Berichte über gemeinsame Treffen und Aktionen sind spärlich: Beide
unterzeichneten einen Appell gegen die sowjetische Besatzung der
Tschechoslowakei. 6 Jahre später ein Treffen – mehr nicht. Im Jahr 1974 nahmen
sie in Paris gemeinsam an einer Diskussionsveranstaltung mit Gavi und Lévy teil –
keine Protokolle, keine Aufzeichnungen. Danach trafen Sie sich in der Wohnung
von Simone de Beauvoir. Sartres Gesundheitszustand war zu jener Zeit nicht gut –
er verlor gerade sein Augenlicht. Marcuse soll zu ihm gesagt haben: „Sartre ist
schon immer mein Über-Ich gewesen. Er will vielleicht nicht das Gewissen der
Welt sein, aber genau das ist er.“779 Ob Marcuse wirklich von Sartre als „Über-Ich“
gesprochen hat mag, kann nicht mehr geklärt werden. Sicher ist, daß er für Sartre
immer sehr nahe Worte gefunden hat, seine schönsten in seinem 6. Kapitel, das er
der Neuauflage seiner alten Rezension über „Das Sein und das Nichts“ hinzugefügt
hatte. Marcuse schrieb: „Wenn er, wie er fürchtet, eine »Institution« geworden ist,
so wäre es eine Institution in der das Gewissen und die Wahrheit Zuflucht
gefunden haben.“780 Marcuse stand Sartre in jenen Jahren so nah, daß er sogar mit
ihm gegen Adorno argumentierte. Gegenüber Habermaß bestätigte Marcuse, daß
Sartre der einzige gewesen sei, der ihn außerhalb des Frankfurter Einzugsbereiches
zur intellektuellen Auseinandersetzung gereizt habe.
Beiden war gemeinsam, daß sie die Subjektivität als Antipode zur Nation oder der
Rasse konzipierten. Mit der Unterordnung des Einzelnen unter reale soziale
Bewegungen konnten beide nur insofern etwas anfangen, da sie sich davon
Befreiung versprachen: Befreiung von Rassismus, Ausbeutung, Entfremdung,
Religion und Sexismus.
Dabei kann es – sollte sich die Zivilisation einmal nicht mehr gegen das Traumbild
einer Welt verteidigen müssen, die frei sein könnte – zu einem interessanten
Paradoxon kommen. Der Subjektbegriff war bei Marcuse und Sartre immer als
Verhältnisbegriff gedacht. Ihm gegenüber brauchte es das Objekt. Getreu Hegel
hielten beide Subjekt und Objekt für gespalten und in einer besseren Welt zu
versöhnen. Dabei könnte es passieren, daß der Subjektbegriff beider eine
historische Schranke in dem Moment findet wird, wenn sich das Verhältnis von
Subjekt und Objekt tatsächlich verändert. Beide konzipierten ein Subjekt, daß
voller Ich-Stärke sein sollte, um dem erdrückenden Objekt Paroli bieten zu können.
Die starke Betonung des Subjekts war in hohem Maße den erdrückenden Zeiten
geschuldet. Der Begriff des Subjekts gewann als Verhältnisbegriff genau das, was
an ihm Verhältnis war.
Doch ein Verhältnis ohne Antipoden ist nicht denkbar. Die Versöhnung liegt also
in der Aufhebung all dessen, was die Antipoden konstruiert. Mit der Aufhebung
des übermächtigen Objekts hätte der Subjektbegriff seine Aufhebung in der
bisherigen Form gefunden.
Was dann das „Subjekt“ wäre, ließe sich nur sehr grob umreißen. Wahrscheinlich
müßte „Das Sein und das Nichts“ neu gelesen werden. Dann könnte überprüft
werden, ob es sich tatsächlich um ein anthropologisches Subjekt gehandelt hatte.
Was wären die subjektiven Eigenschaften in einer befreiten Welt? Was wäre dann
Kunst? Was wäre dann Protestation? Wird die Selbstverwirklichung dann genauso
779
Hayman spricht von einer Bemerkung gegenüber Contat, er gibt als Quelle an: Sartre,
Jean-Paul: Ouvres romanesque, S. XLVIII, in Hayman, Ronald; Sartre, a.a.O., S. 655
780
Marcuse, Herbert: Existentialismus, a.a.O., S. 84
219
wichtig sein, wie in der gegenwärtigen Gesellschaft, wo man sie nie erreichen
kann, solange man den „Anderen“ nicht ausblenden kann – denn der Arme hat
keine Selbstverwirklichung.
Braucht es in einer freien Welt das starke Subjekt noch in dem Maße wie Sartre
und Marcuse es sich dachten? Wäre es nicht paradox, wenn der Kampf für das
abstrakte Subjekt genau dort seine historische Schranke erfahren würde, wo er sich
des Sieges gewiß wähnte?
Doch sich solcher Fragen zu stellen, ist ein erstrebenswerter Luxus einer
zukünftigen Welt. Das Tanzen kommt nach dem Essen. Was hätte Marcuse dazu
gesagt? Vielleicht folgendes: „Die einzig richtige Fragestellung ist die, ob
vernünftigerweise ein Kulturstand vorstellbar ist, in dem menschliche Bedürfnisse
in einer Weise und in einem Maße befriedigt werden, die die Abschaffung
zusätzlicher Unterdrückung erlauben.“781 Und wie hätte Sartre geantwortet?
Wahrscheinlich so: „Die Wahrheit ist aber die, daß die Subjektivität weder alles
noch nichts ist; sie bildet nur einen Moment des objektiven Prozesses, und zwar ein
Moment, das sich unaufhörlich aufhebt, um ebenso unaufhörlich immer wieder ins
Spiel zu treten.”782
Die momentane Organisation der Welt läßt wenig erhoffen. Die technischen
Möglichkeiten sind auf einem Stand, der eine Welt ohne Hunger garantieren
könnte, die aber auch neue Formen der Barbarei ermöglichen. Doch vor dem
dunkler werdenden Himmel zeichnen sich die hellen und schönen Momente
deutlicher ab. Gegenwärtig scheint sich das Widersprechende leidenschaftlich im
erzwungenen Kuß zu befinden. Erst wenn die sich scheinbar Liebenden aus der
innigen Umarmung bürgerlicher Kälte lösen, kann der Blick frei werden und mit
ihm ein Bewußtsein der Freiheit. Jene für die Marcuse und Sartre so
leidenschaftlich stritten. In dem Grad in dem es schlimmer geworden ist, ist es
auch möglicher geworden.
781
782
Ebd., S. 151
Ebd., S. 31
220
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