Der Humanismus des Absurden Über Jean-Paul

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Der Humanismus des Absurden
Über Jean-Paul Sartre
Roger Behrens
Zu den eigenwilligsten, umstrittensten und zugleich mit einem
regelrechten Starkult verehrten Theoretikern des bürgerlichen
Zeitalters gehört der vor einhundert Jahren, am 21. Juni in Paris
geborene Jean-Paul Sartre. Er starb am 15. April 1980, bei seiner
Beerdigung vier Tage später sollen über 50.000 Menschen den
Trauerzug begleitet haben. Heute, ein Vierteljahrhundert nach
seinem Tod, ist die mit Sartres Namen verbundene marxistische
Fassung des Existenzialismus weitestgehend aus den linken
Theoriedebatten verschwunden, ersetzt durch allerhand
Modephilosophie.
Bekannt wurde Sartre bereits durch sein Engagement in der
französischen Résistance. Sartre tritt 1956 aus Protest aus der KP
aus, 1960 besucht er Fidel Castro in Kuba. Aufsehen erregte seine
Ablehnung des Literaturnobelpreises 1964. Er unterstützt die
außerparlamentarischen Oppositionsbewegungen der Siebziger,
besucht etwa die Gefangenen der RAF im Gefängnis. Seine Liebe zu
Simone de Beauvoir ist legendär. Und wenn man über Sartre
spricht, muss man eigentlich auch über Albert Camus, Jean Genet,
Maurice Merleau-Ponty, Henri Lefèbvre, ja auch von Guy Debord
und den Situationisten, oder über die Maoisten vom Mai 68 reden.
Sartres geradezu monumentales Gesamtwerk ist kaum
überschaubar. Aktuell bleibt mindestens Sartres kritische Theorie
des Subjekts. Sie soll jedenfalls Anknüpfungspunkt für eine
Aktualisierung des Sartreschen Existenzialismus sein.
»Das es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe«, notierte Walter Benjamin
1940, kurz bevor die Nazis ihn in den Selbstmord trieben. Ein halbes
Jahr später wird in Deutschland die systematische Ermordung der
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europäischen Juden beschlossen; zu spät befreit die Rote Armee 1945
wenige Überlebende in Auschwitz. In den Lagern wurde mit den
Millionen Menschen schließlich die Idee des Menschen selbst vernichtet,
indem das Individuum zum Exemplar wurde, ausgelöscht in der totalen
Verwertung. Hatte der Stalinismus bereits die Arbeiterklasse als
revolutionäres Subjekt historisch annulliert, so bedeutet nunmehr der
nazideutsche Terror, der die Welt überschattete, eine Zäsur für die Idee
des Subjekts an sich, ja für die Idee des Menschen überhaupt. Standen
die großen Leitkonzepte der Philosophie, schließlich die Philosophie
selber, ohnehin schon durch die ›Krisis der europäischen
Wissenschaften‹ (Edmund Husserl) infrage, so ist es nun nachgerade
absurd, im Sinne einer reinen Vernunft oder einer idealistischen
Erkenntnistheorie, im Sinne klassischer Metaphysik oder eines
wissenschaftlichen Positivismus am philosophischen Ideal des Subjekts
festzuhalten. Absurd ist indes auch die Grunderfahrung jeder kritischen
Bestimmung möglicher Praxis, wie sich überhaupt nach Auschwitz noch
leben lasse: Was geschieht mit dem Denken ebenso wie mit dem Handeln,
in einer Zeit, die jedes Denken und Handeln unmöglich scheinen lässt,
die aber dennoch in jedem Augenblick kritische Theorie und Praxis
unbedingt notwendig macht? Die Frage nach dem Menschen selbst wird
absurd, wenn Denken und Handeln nicht mehr als verbindliche
Menschlichkeit bestimmbar sind, weil die menschliche Geschichte in der
totalen Unmenschlichkeit kulminierte. Wie kann das menschliche Dasein
überhaupt begründet werden, wo die bisherigen philosophischen
Großentwürfe historisch in der Katastrophe mündeten? Hier setzt die
Philosophie Sartres an: Gerade im Beiläufigen wird der Mensch sich
seiner Existenz gewahr – im ›Ekel‹, wie Sartres erster, 1938
veröffentlichter Roman heißt. Nicht unwichtig scheint indes der Hinweis
darauf, dass der Roman ursprünglich, nach dem Stich von Albrecht
Dürer, ›Melancholia‹ heißen sollte; wenn die Psychoanalyse die
Melancholie als Unvermögen beschreibt, den Verlust eines (geliebten)
Objekts nicht überwinden zu können, so ist das ein zentrales Motiv des
Ekels. Angesichts der Katastrophe überfällt solche existenzielle
Erfahrung des Ekels, nämlich die Verlustangst um ein längst Verlorenes,
den Menschen:
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»Das also ist der Ekel: diese die Augen blendende Evidenz? Was habe ich
mir den Kopf zerbrochen! Was habe ich darüber geschrieben! Jetzt weiß
ich: Ich existiere – die Welt existiert –, und ich weiß, dass die Welt
existiert. Das ist alles. Das ist alles. Aber das ist mir egal. Merkwürdig,
dass mir alles so egal ist: das erschreckt mich. Seit jenem berühmten Tag,
als ich die Steine übers Wasser hüpfen lassen wollte. Ich wollte gerade
diesen Kiesel schleudern, ich habe ihn angesehen, und da hat alles
angefangen: ich habe gefühlt, dass er existierte. Und danach kamen dann
weitere Ekelanfälle; von Zeit zu Zeit beginnen die Gegenstände einem in
der Hand zu existieren.«1
Im ›Ekel‹ verweist Sartre bereits auf die kategoriale beziehungsweise
eben existenzielle Grunderfahrung des Menschen: die Absurdität des
Daseins – die Grundlosigkeit und Sinnlosigkeit der Existenz.
»Ohne etwas deutlich zu formulieren, begriff ich, dass ich den Schlüssel
der Existenz, den Schlüssel meines Ekels, meines eigenen Lebens
gefunden hatte. Tatsächlich geht alles, was ich anschließend erfassen
konnte, auf diese fundamentale Absurdität zurück … Ich habe vorhin
die Erfahrung des Absoluten gemacht: des Absoluten oder des
Absurden.«2
Wichtig ist festzuhalten, dass das Absurde eben das Absolute ist. Weder
bedeutet diese Erfahrung Schicksalsergebenheit, noch meint sie die
insbesondere von der deutschen Existenzphilosophie verteidigte Flucht
in die Innerlichkeit und Eigentlichkeit. Für Sartre begründet die
Absolutheit des Absurden die existenzielle Paradoxie: dass der Mensch
in der Ausweglosigkeit gezwungen ist, sich für einen Ausweg zu
entscheiden. Freiheit, Verantwortung, Entwurf sind die Kernbegriffe
dieser Philosophie der Praxis.
1
Jean-Paul Sartre, ›Der Ekel‹ (übers. von Uli Aumüller), Reinbek bei Hamburg
1990, S. 140.
2
Sartre, ›Der Ekel‹, a.a.O., S. 147.
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***
Kurz nach Veröffentlichung von ›Der Ekel‹, im Juni 1940 gerät Sartre in
deutsche Kriegsgefangenschaft; während der Gefangenschaft schreibt er
sein philosophisches Hauptwerk ›Das Sein und das Nichts‹ (es erscheint
1943). Nach seiner Freilassung kehrt Sartre 1941 nach Paris zurück,
schließt sich der französischen Widerstandbewegung gegen die deutsche
Besatzung an. Den Kriegsdienst – er war ab September 1939
Sanitätssoldat – und die Kriegsgefangenschaft hat Sartre später als den
wichtigsten Einschnitt in sein Leben beschrieben:
»Vor dem Krieg verstand ich mich einfach als Individuum, ich sah
keinerlei Verbindung zwischen meiner individuellen Existenz und der
Gesellschaft, in der ich lebte. Ich war ›nichts als ein Mensch‹, das heißt
der Mensch, der sich kraft der Unabhängigkeit seines Denkens der
Gesellschaft entgegenstellt, der der Gesellschaft nichts schuldet und über
den die Gesellschaft nichts vermag, weil er frei ist.«3
»Das alles zerbrach mit einem Schlag, als ich im September 1939 den
Einberufungsbefehl bekam und gezwungen war, nach Nancy in die
Kaserne zu fahren, zusammen mit anderen jungen Männern, die ich nicht
kannte und die wie ich einberufen worden waren. Das war es, was mir
die gesellschaftliche Bedingtheit ins Bewusstsein brachte: Plötzlich
begriff ich, dass ich ein gesellschaftliches Wesen war, als ich von meinem
Aufenthaltsort und von den Menschen, die mir nahe standen,
fortgerissen wurde und der Zug mich irgendwohin brachte, wo ich gar
nicht hinwollte, zusammen mit Leuten, die ebenso wenig dorthin wollten
wie ich, die ebenso wie ich noch in Zivil waren und sich ebenso wie ich
fragten, wie das alles gekommen war. Als mir diese Leute dann in der
Kaserne begegneten, wo ich ziellos umherwanderte, weil ich nicht
wusste, was ich dort anfangen sollte, erkannte ich in ihnen, trotz aller
Unterschiede, eine gemeinsame Dimension, die auch die meine war … Der
Krieg hat mein Leben regelrecht in zwei Teile geteilt. Er brach aus, als ich
3
Sartre, ›Selbstporträt mit siebzig Jahren‹ (1975), Interview mit Michel Contat,
in: ›Sartre über Sartre, Autobiographische Schriften Bd. 2‹, übers. von Peter Aschner,
Leonhard Alfes, Hans-Heinz Holz et al., Reinbek bei Hamburg 1988, S. 236.
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vierunddreißig Jahre alt war, und endete, als ich vierzig war – das war
für mich die Zeit des Übergangs von der Jugend zur Reife. Zugleich
zeigte mir der Krieg gewisse Aspekte meiner selbst und der Welt. Zum
Beispiel lernte ich damals die tiefe Entfremdung der Gefangenschaft
kennen und auch die Beziehung zu Menschen, den Feind, den
wirklichen Feind, nicht den Gegner, der in derselben Gesellschaft lebt
wie man selbst und einen mit Worten angreift, sondern den Feind, der
einen verhaften und einsperren lassen kann, indem er einfach
bewaffneten Männern ein Zeichen gibt.«4
Im Krieg, in dieser Kaserne, fährt Sartre fort, sei er »vom Individualismus
und vom reinen Individuum der Vorkriegszeit zum Sozialen, zum
Sozialismus gelangt. Das war der eigentliche Wendepunkt in meinem
leben: vor dem Krieg, nach dem Krieg.«5
Sartre unternimmt den Versuch, das Soziale und den Sozialismus
philosophisch zu retten, gegen das praktische Scheitern der
sozialistischen Idee, aber auch gegen den bürgerlichen Individualismus
der rücksichtslosen Konkurrenz. Es kommt nicht von ungefähr, dass
der philosophische Weg zu Marx hier über Hegel verläuft, der in Sartres
Hauptwerk ›Das Sein und das Nichts‹ eine exponierte Stellung
bekommt; auch Herbert Marcuse schreibt zu dieser Zeit ein Hegelbuch,
nämlich ›Vernunft und Revolution‹, veröffentlicht 1941. Interessant
auch die zahlreichen Berührungspunkte zu Ernst Bloch, der ebenfalls an
einem Hegelbuch arbeitet (›Subjekt – Objekt‹, veröffentlicht 1951), vor
allem aber in den dreißiger und vierziger Jahren in seinem Hauptwerk
›Das Prinzip Hoffnung‹ eine Sartres »phänomenologischer Ontologie«
nicht unähnliche Sozialphilosophie der konkreten Utopie, der
Möglichkeit des Menschen entwirft: eine Ontologie des Noch-Nicht.
Zentral bei diesen Marx-Hegel-Bezügen ist, was schließlich auch Theodor
W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Gemeinschaftsarbeit
›Dialektik der Aufklärung‹ (1944/47) explizieren: Die bürgerliche Welt,
die in der Katastrophe kulminierte, ist nicht mehr als geschlossenes
4
Sartre, ›Selbstporträt mit siebzig Jahren‹, a.a.O., S. 239.
5
Jean-Paul Sartre, ›Selbstporträt mit siebzig Jahren‹, a.a.O., S. 240.
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System des geschichtlichen Fortschritts darstellbar. Vielmehr muss
geschichtsphilosophisch das offene System bestimmt werden: Ein
Multiversum statt Universum, wie es Bloch später formuliert. Und Sartre
liefert dazu eine Theorie des Subjekts, des menschlichen Daseins.
***
Zu den Grundmotiven der existenzialistischen Philosophie gehört seit
Søren Kierkegaard die Befürchtung, dass es keinen positiven Sinn im
Leben gibt. Allein die richtige Frage nach dem Sinn des Lebens vermag
einen Hinweis auf die Bedeutung menschlicher Existenz zu geben.
Bereits hier, in der nachhegelschen Philosophie, findet die Krise des
Subjekts, des bürgerlichen Subjekts, ihren Ausdruck: indem nämlich
Subjekt und Sein gegeneinander ausgespielt oder in eins gesetzt werden.
Das Subjekt erfährt sich selbst in der Krise insofern, als dass es keinen
unmittelbaren Zugang zu sich selber zu finden vermag – die
Selbstentfremdung gerinnt zur Signatur dieser Zeit. Gleichwohl versucht
etwa die Phänomenologie den Zugang zum Subjekt – wie schon Hegel in
seiner ›Phänomenologie des Geistes‹ – im Subjekt selbst zu finden: als
Subjektives, oder eben als dem Subjektiven vorhergehendes Wesen. Für
die Phänomenologie Edmund Husserls heißt das: »Zu den Sachen
selbst!«, die Wesensschau – Zugang zum Subjekt, indem in sein
Innerestes eingebrochen wird, indem die Subjektivität selbst für die
Wesensschau mobilisiert wird. Husserls Schüler Martin Heidegger
allerdings wendete diese Mobilisierung für das Subjekt zum Angriff
gegen das Subjekt. Gerade durch die neuzeitliche Philosophie des
Subjekts sei, so Heidegger, das Sein vergessen worden – Heidegger
sprach von der »Seinsvergessenheit« und forderte die »Entbergung des
Seins«; Heidegger ging es mitnichten um die kritische Frage nach dem
Zugang zum Subjekt. Stattdessen sollte überhaupt die Frage nach dem
Sinn des Seins gestellt werden: Heidegger nennt das
Fundamentalontologie. Und am Vorabend des nazideutschen Terrors war
Heidegger schnell mit einer Antwort zur Hand, entdeckte nämlich das
Sein in der faschistischen Bewegung, im Führer Adolf Hitler selbst.
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Gleichwohl erweckte Heideggers Fundamentalontologie den Anschein,
eine konkrete, praktische Philosophie zu sein – neben Günther Anders,
Hannah Arendt und Herbert Marcuse war auch Jean-Paul Sartre von
Heidegger fasziniert. Sartre ging nach Berlin, um auch Heidegger zu
studieren – paradoxerweise lehnte Heidegger zur selben Zeit zweimal den
Ruf an die Berliner Universität ab, zog es vor, in der Provinz, nämlich im
Schwarzwald, zu bleiben.
Sartre bleibt bei dem Begriff des Subjekts: ein produktives
Missverständnis, weil Heidegger die Subjektfrage entschieden verwirft.
Wenn Sartres Hauptwerk ›Das Sein und das Nichts‹ im Untertitel heißt:
›Versuch einer phänomenologischen Ontologie‹, dann ist das Subjekt
gewissermaßen der Schnittpunkt, an dem Husserlsche Phänomenologie
und Heideggersche Fundamentalontologie zusammengezogen werden.
Damit geht Sartre sowohl über Husserl wie auch über Heidegger hinaus:
Er konfrontiert die Existenz mit der subjektiven Erfahrung, dass es
keinen Sinn gibt, dass die Existenz selbst absurd und grundlos ist.
Wenn man so will, ist das als negative Phänomenologie ebenso wie als
negative Ontologie zu verstehen. Diese existenzielle Gewissheit des
Ungewissen begründet Sartres Variante existenzialistische Philosophie,
mit der die Frage nach dem Subjekt, dem Subjektiven, dem Bewusstsein
zentral und kritisch bleibt. Sowohl Sartre wie auch Heidegger verstehen
ihre Theorien als Ontologien. Der Unterschied zwischen Heidegger und
Sartre liegt aber im Bezug auf das Subjekt, auf das Bewusstsein. Wenn
Descartes die neuzeitliche Philosophie mit dem berühmten Satz
begründet ›Cogito ergo sum‹, ›Ich denke also bin ich‹, so fragt Heidegger
nach dem ›Bin‹, dem ›Sum‹, während Sartre nach dem ›Cogito‹, dem ›Ich
denke‹ fragt; sein Begriff des Seins ist ontologisch im Sinne einer Kopula
abgeschwächt und allegmein (im Sinne von ›Etwas ist so und so‹).
Anders als Husserl und Heidegger geht Sartre auf das Bewusstsein im
Sinne Hegels zurück und spezifiziert einen kritischen Begriff des
Bewusstseins eben in existenzialistischer Weise: Er spricht von einem
prä-reflexiven Bewusstsein, ein Bewusstsein, das jeder Reflexion
vorausgeht. Bereits in seiner ›Skizze einer Theorie der Emotionen‹ von
1939 hatte Sartre die Wirklichkeit des Menschen philosophisch als
»réalité humaine« bestimmt: Nun spaltet sich die »réalité humaine« in
zwei Bereiche: einmal die Faktizität des Daseins – »Ich bin, was ich bin.«
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–, zum anderen die ›Transzendenz des Ego‹ (so der Titel einer frühen
philosophischen Arbeit von 1936), das fortwährende Überschreiten der
Bewusstseinssphäre. Dies entfaltet sich in der dialektischen Grundfigur:
»Ich bin, was ich nicht bin«, oder prozessualer gefasst: »Ich bin, was ich
noch nicht bin.«
Ausschlag gebend bleibt die existenzielle Erfahrung der Absurdität des
Daseins. Kritiker sahen darin die Begründung einer
menschenverachtenden, bürgerlichen Philosophie: Mitte der vierziger
Jahre löst Sartres Existenzialismus des Absurden eine heftige Kontoverse
aus; das faschistische Europa war noch nicht besiegt, als Sartres Roman
der ›Ekel‹ von Marxisten und Christen gleichermaßen als
antihumanistisch angegriffen wurde. Dem entgegen verteidigt Sartre
seinen Existenzialismus als einzig möglichen Humanismus, und entwarf
damit zugleich eine, für seinen weiteren Lebensweg bestimmende
Position des antibürgerlichen Philosophie, eine radikale Negation der
bürgerlichen Gesellschaft. In einem – letztendlich die Epoche des
Existenzialismus, die so genannten Sartre-Jahre begründenden – Vortrag
mit dem programmatischen Titel ›Der Existenzialismus ist ein
Humanismus‹ von 1946 verteidigt Sartre sich sowohl gegen den
Antihumanismus, wie auch gegen einen Humanismus, der der
Menschheit »nach Art von Auguste Comte« einen Kult weiht. »Der Kult
der Menschheit führt zum in sich geschlossenen Humanismus von
Comte und, muss man sagen, zum Faschismus. Diesen Humanismus
wollen wir nicht. Es gibt aber einen anderen Humanismus, der im
Grunde folgendes meint: der Mensch ist ständig außerhalb seiner selbst;
indem er sich entwirft und verliert außerhalb seiner selbst, bringt er den
Menschen zur Existenz, und andererseits kann er existieren, indem er
transzendente Ziele verfolgt; indem der Mensch diese Überschreitung ist
und er die Objekte nur im Verhältnis zu dieser Überschreitung erfasst,
befindet er sich im Herzen, im Mittelpunkt dieser Überschreitung. Es
gibt kein anderes Universum als ein menschliches, das Universum der
menschlichen Subjektivität.«6
6
Sartre, ›Der Existenzialismus ist ein Humanismus. Philosophische Schriften
4‹, (übers. von Vincent von Wroblewsky) Reinbek bei Hamburg 1994, S. 141.
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Genau diese menschliche Subjektivität bestimmt aber den Menschen als
frei. Mehr noch: »Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.«7 Hier tritt
also erstmals das Motiv zutage, dass der Mensch zur Freiheit verdammt
ist – er muss sich entscheiden. Philosophisch ausgedrückt: im Vorrang
der Existenz liegt die menschliche Freiheit begründet. In seinem
Hauptwerk ›Das Sein und das Nichts‹ erläutert Sartre dies: »Die
menschliche Freiheit geht dem Wesen des Menschen voraus und macht
dieses möglich, das Wesen des menschlichen Seins steht in seiner Freiheit
aus. Was wir Freiheit nennen, ist also unmöglich vom Sein der
›menschlichen Realität‹ zu unterscheiden. Der Mensch ist keineswegs
zunächst, um dann frei zu sein, sondern es gibt keinen Unterschied
zwischen dem Sein des Menschen und seinem ›Frei-sein‹.«8
Freiheit ist keine Fähigkeit, kein Vermögen und keine Eigenschaft,
sondern eine ontologische, nämlich das menschliche Sein ausdrückende
Kategorie. Der Mensch hat nicht die Freiheit, sondern er ist frei. Freiheit
bedeutet also: man muss sich entscheiden; Entscheidung bedeutet aber
auch das Dilemma der existenziellen Situation: man macht sich schuldig –
weil man für sein eigenes Tun verantwortlich ist. Damit begründet Sartre
allerdings den Humanismus des Existenzialismus als sozialistische
Position, sofern die Freiheit eben nicht nur Schuldigkeit des Einzelnen
bedeutet, sondern auch Verantwortlichkeit für das Kollektiv, die
Solidarität: »So bin ich für mich selbst und für alle verantwortlich, und
ich schaffe ein bestimmtes Bild vom Menschen, den ich wähle; mich
wählend wähle ich den Menschen.«9 Dieser Existenzialismus als
Humanismus ist die Doktrin, die menschliches Leben überhaupt möglich
macht. Der Mensch muss sich also entscheiden. Das heißt nicht nur im
existenziellen Sinne, dass er verurteilt ist, sich einen Entwurf zu machen,
sondern heißt auch, dass er handeln muss, nämlich dass er seinen
Entwurf in die Tat umsetzen muss. Insofern bestimmt Sartre den
7
Sartre, ›Der Existenzialismus ist ein Humanismus‹, a.a.O., S. 125.
8
Sartre, ›Das Sein und das Nichts. Philosophische Schriften 3‹, (übers. von
Hans Schöneberg und Traugott König) Reinbek bei Hamburg 1993, S. 84.
9
Sartre, ›Der Existenzialismus ist ein Humanismus‹, a.a.O., S. 122.
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Existenzialismus als »eine Lehre der Tat«,10 als eine Philosophie der
Praxis.
Die politische Dimension dieser Denkfigur ist in der existenziellen
Situation, in der sich der Mensch findet, fundiert. Sartre schreibt in ›Das
Sein und das Nichts‹ über das »Paradox der Freiheit: es gibt Freiheit nur
in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. Die
menschliche-Realität begegnet überall Widerständen und Hindernissen,
die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse
haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die
menschliche-Realität ist.«11
Sartre beruft sich in seiner Begründung des Existenzialismus nicht nur,
wie für die Existenzphilosophie und Ontologie üblich, auf Kierkegaard,
sondern vor allem auf Marx. Damit bekommt Sartres Existenzialismus
nicht nur eine materialistische Fundierung, sondern auch eine praktischethische – im Sinne des kategorischen Imperativs, den Marx neu
bestimmt, nämlich »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch
ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches
Wesen ist …«12 – Die Verlassenheit des Menschen nimmt Sartre zum
Ausgangspunkt: sie bezeichnet die Situation der Existenz. Hier erfährt
der Mensch, »dass es keinen anderen Gesetzgeber als ihn selbst gibt,
und dass er in der Verlassenheit über sich selbst entscheidet.«13 Wenn
der Mensch verlassen ist, heißt das: er ist außerhalb seiner selbst. Er
muss sich auf seine Möglichkeiten hin entwerfen, um überhaupt Mensch
zu werden. Existenzerfahrung heißt Selbsterfindung, heißt: Praxis.
10
Sartre, ›Der Existenzialismus ist ein Humanismus‹, a.a.O., S. 142.
11
Sartre, ›Das Sein und das Nichts‹, a.a.O., S. 845 f.
12
Karl Marx, ›Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung‹, MEW
Bd. 1, S. 385.
13
Sartre, ›Der Existenzialismus ist ein Humanismus‹, a.a.O., S. 141.
Seite 11
Bloch hat dies mit einem berühmten Satz ganz ähnlich ausgedrückt: »Ich
bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.«14
***
Mit dem Existenzialismus versucht Sartre nicht nur eine allgemeine
Antwort auf die Frage nach dem Menschen zu finden, sondern auf die
Negation des Menschen zu reagieren. Sartre stellt seine ontologische
Grundfrage in die geschichtliche Situation, also inmitten des
nazideutschen Terrors hinein, versucht sogar aus dem Existenzialismus
heraus eine Analyse der Motivationen des Antisemiten. Der Antisemit ist
nicht nur derjenige, der den Menschen verneint, sondern der sich im
Antisemitismus selbst als Mensch negiert, indem er sich zum Ding macht
(auch Adorno und Horkheimer sprechen hier von der Verdinglichung).
Sartre bietet damit nicht nur eine zeitgemäße politische Philosophie, die
etwa auch den Rassismus und den Kolonialismus thematisiert (Sartre
engagiert sich im Algerienkrieg, schreibt ein kämpferisches Vorwort für
Franz Fanons ›Die Verdammten dieser Erde‹), sondern entwirft einen
radikalen, sozialistischen Humanismus und richtet sich damit sowohl
gegen den pseudoradikalen Antihumanismus, wie er später von Foucault
proklamiert wird, als auch gegen den bürgerlichen, abstrakten
Humanismus, der den Menschen festlegen will. Damit aktualisiert Sartre
schließlich Marxens frühe Bestimmung des Kommunismus, die mit der
Formel »Humanismus = Naturalismus« begriffen war – als »wahre
Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen …«15
Der Grundsatz lautet: »Der Existenzialist wird den Menschen niemals
zum Endzweck erklären, da er stets zu schaffen ist.«16 In einem späteren
Interview erklärt Sartre: »Das einzige Ziel, das jeder haben muss, ist der
Mensch selbst, was nichts anderes heißt als: der Mensch ist noch nicht
Mensch, wir müssen uns ganz langsam in Menschen verwandeln. Der
14
Ernst Bloch, ›Spuren‹, Motto.
15
vgl. ›Ökonomisch-philosophische Manuskripte‹, MEW Bd. 40, S. 536 f.
16
Sartre, ›Der Existenzialismus ist ein Humanismus‹, a.a.O., S. 141.
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Mensch ist für den Menschen ein absolutes Ziel.«17 Das heißt aber nichts
anderes, als den Menschen geschichtlich zu begreifen; dass der Mensch
Geschichte macht und die Geschichte menschlich werden kann, hat
Sartre während der Maiunruhen gegen den Strukturalismus zum
Argument gemacht. Vor allem Foucault kritisierte er dafür, dem
bürgerlichen Angriff gegen die revolutionäre Bewegung zuzuspielen,
weil er den Menschen verleugnet und die Geschichte verdrängt. Den
Existenzialismus als Humanismus zu begreifen, heißt eben, sich der
existenziellen Situation gewahr zu werden, die Situation selbst zu
erfinden: die Freiheit in die Absurdität zu setzen. Sartre insistiert auf die
Praxis des Menschen, auf das, was Marx die »sinnlich-kritische«, also
die »revolutionäre Tätigkeit« nannte.18 Die Umstände sind unmenschlich,
weil sie nicht vom Menschen gemacht sind; sie können auch nicht vom
Menschen gemacht sein, weil die unmenschlichen Verhältnisse den
Menschen nicht zulassen. Sobald aber die Umstände vom Menschen
gemacht sind, sind es auch menschliche Umstände. Die kritische Theorie
kann den Entwurf des Menschen nicht aufgeben. Wenn die
gesellschaftlichen Verhältnisse den Menschen infrage stellen, ist die
reaktionäre Antwort, den Menschen zu denunzieren. Gleichwohl ist
diese Antwort auch innerhalb der Linken zur Mode avanciert. Sartres
Existenzialismus behält seine Aktualität darin, den Humanismus gegen
die Mode des Inhumanen zu behaupten. Und das im Bewusstsein, dass
die Verteidigung des Menschen absurd bleibt, solange die Verhältnisse
nicht vom Menschen gemacht sind.
Ist der Existenzialismus eine kritische Theorie?
Sartre verteidigte seinen Existenzialismus als Humanismus im Sinne einer
kritischen Theorie der Gesellschaft. Gleichwohl bleiben seine Kategorien
ontologische. Dies ist insbesondere für den Begriff der Freiheit
problematisch, insofern Freiheit ontologisiert und eben nicht situativ
17
Zit. n. Kampits, S. 145.
18
Vgl. Marx, ›Thesen über Feuerbach‹, in: MEW Bd. 3, S. 5
Seite 13
wird. Sartre hat in späteren Jahren diese ontologische Beschränkung
seines Konzeptes revidiert; die existenzielle Situation des Menschen im
20. Jahrhundert verlangt statt einer Ontologie der Freiheit eben eine
Dialektik der Freiheit – dass der Mensch zur Freiheit verurteilt ist, muss
in Widerspruch begriffen werden zu einem Zustand absoluter
Unfreiheit. Herbert Marcuse, der ebenfalls von Heideggers
Fundamentalontologie nicht unbeeinflusst geblieben ist, schreibt 1948
über Sartres Hauptwerk ›Das Sein und das Nichts‹: »Die Entwicklung
des Existenzialismus von Sartre umspannt die Perioden des Krieges, der
Befreiung und des Wiederaufbaus.«19 Und Marcuse kritisiert: »Weder
Triumph noch Zusammenbruch des Faschismus haben irgendeine
grundsätzliche Veränderung in der existenzialistischen Konzeption
hervorgerufen. Im Wechsel der politischen Systeme, in Krieg und
Frieden, vor und nach dem totalitären Terror bleibt für diese
Philosophie die Struktur der ›Wirklichkeit des Menschen‹ im
wesentlichen die gleiche … Die geschichtliche Absurdität, die in der
Tatsache liegt, dass die Welt nach der Niederlage des Faschismus nicht
zusammenbrach, sondern in ihrer früheren Formen zurückfiel, dass sie
nicht den Sprung ins Reich der Freiheit unternahm, sondern die alte
Einrichtung in Ehren wiederherstellte – diese Absurdität lebt in der
existenzialistischen Konzeption. Aber sie lebt in ihr als ein
metaphysischer, nicht als ein geschichtlicher Tatbestand.«20
Marcuse kritisiert vor allem die Ontologisierung der Freiheit, die
Gleichsetzung von Sein und Freiheit als positive Kategorien. Auch bei
Sartre ist der Mensch, ebenso wie bei Heidegger, ›in die Welt geworfen‹;
Marcuse setzt dagegen – wie es im Übrigen Günther Anders präzise
formuliert hat, dass der Mensch heute ›ohne Welt ist‹, ›aus der Welt
geworfen‹ … Ein Zustand totaler Entfremdung. Gleichwohl teilt Marcuse
Sartres existenzial-ontologischen Impuls, »die Bestimmung des
19
Herbert Marcuse, ›Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant‹, in:
Schriften Bd. 8, Springe 2004, S. 9.
20
Marcuse, ›Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant‹, a.a.O., S. 9.
Seite 14
menschlichen Seins als Scheitern«.21 Nach Marcuse gewinnt Sartres
Existenzialismus seine Stärke im Humanismus, in der Analyse der
grundlegenden zwischenmenschlichen Beziehungen – der »Wirklichkeit
des Menschen«,22 des »Für-sich«-Seins. Dennoch gelingt es Sartre nicht,
so Marcuse, eine »Philosophie der konkreten menschlichen Existenz zu
entwickeln«.23 – »Hier geschieht die trügerische Gleichsetzung von
ontologischem und historischem Subjekt.«24
Marcuse erläutert: »Die Kluft zwischen den Begriffen der Ontologie und
denen der Existenz ist durch den äquivoken Gebrauch des ›ist‹ verhüllt.
Sartres ›ist‹ fungiert unterschiedslos und ohne Vermittlung als die
Kopula in der Definition des menschlichen Wesens wie in der Aussage
über seine wirkliche Lage. In dieser zweifachen Bedeutung kommt das
›ist‹ in Sätzen vor wie: ›Der Mensch ist frei‹, ›ist sein eigener Entwurf‹
usw. Die Tatsache, dass in der empirischen Realität der Mensch nicht
frei, nicht sein eigener Entwurf ist, ist durch die Einbeziehung der
Negation in die Definition von ›frei‹, ›Entwurf‹ usw. verwischt. Aber
Sartres Begriffe sind trotz seines dialektischen Stils und der
beherrschenden Rolle der Negation entschieden undialektisch. In seiner
Philosophie ist die Negation keine eigene Kraft, sondern a priori in der
Affirmation aufgegangen. In Sartres Analyse erscheint zwar die
Entwicklung des Subjekts durch die Negation zur selbstbewussten
Verwirklichung seines Entwurfs als ein Prozess, aber der
Prozesscharakter ist illusorisch: das Subjekt bewegt sich in einem
Zirkel.«25
21
Marcuse, ›Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant‹, a.a.O., S. 15.
22
Vgl. Marcuse, ›Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant‹, a.a.O.,
S. 19 f.
23
Marcuse, ›Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant‹, a.a.O., S. 25.
24
Marcuse, ›Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant‹, a.a.O., S. 25.
25
Marcuse, ›Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant‹, a.a.O., S. 26.
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Dennoch sieht Marcuse gerade hier die Möglichkeit, den
Existenzialismus Sartres als kritische Theorie der Gesellschaft und nicht
als Ontologie weiter zu entwickeln. Denn »an entscheidender Stelle
durchbricht Sartres Analyse die Reinheit der ontologischen Begriffswelt:
Obgleich die Freiheit, die als das eigentliche Sein des ›Für-sich‹ wirksam
ist, den Menschen in allen Situationen begleitet, variieren Umfang und
Grad seiner Freiheit in seinen verschiedenen Situationen: sie ist am
geringsten und trübsten dort, wo der Mensch am gründlichsten
›verdinglicht‹ ist, wo er am wenigsten ›Für-sich‹ ist. In Situationen zum
Beispiel, wo er auf den Stand eines Dinges, eines Instrumentes
heruntergebracht ist, wo er fast ausschließlich als Körper existiert, ist
sein ›Für-sich‹ fast völlig verschwunden. Aber genau hier, wo die
ontologische Idee der Freiheit zusammen mit dem ›Für-sich‹ zu
verdunsten scheint, wo dieses fast völlig in die Sphäre der Dinge fällt –
an dieser Stelle entsteht ein neues Bild menschlicher Freiheit und
Erfüllung.«26
Es ist die Aufgabe einer kritischen Theorie, zu deren Kategorien der
Begriff der Verdinglichung gehört, hier Sartres Existenzialismus weiter
zu denken – und zwar in Bezug auf die konkrete Situation des, wie
Marcuse es dann nennt, ›Eindimensionalen Menschen‹ in der
fortgeschrittenen bürgerlichen Gesellschaft: Sartre gelingt es nicht, die
konkreten Bedingungen der Produktion der sozialen Verhältnisse, der
konkreten menschlichen Praxis im Spätkapitalismus in seine
Existenzialanalyse einzubeziehen, obwohl er dafür das kategoriale Gerüst
zur Verfügung hat. Marcuse resümiert: »Die Erfahrung der totaöitären
Organisation der menschlichen Existenz verbietet es, Freiheit in
irgendeiner anderen Form als in einer freien Gesellschaft zu verstehen.«27
Schließlich: »Reine Ontologie und Phänomenologie rezedieren vor dem
Einbruch der wirklichen Geschichte in Sartres Begriffe, der
Auseinandersetzung mit dem Marxismus, der Aufnahme der Dialektik.
Philosophie wird Politik, weil kein philosophischer Begriff mehr gedacht
26
Marcuse, ›Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant‹, a.a.O., S. 26.
27
Marcuse, ›Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant‹, a.a.O., S. 39.
Seite 16
und entfaltet werden kann, ohne dass er die Unmenschlichkeit in sich
aufnimmt, die heute von den Regierenden organisiert und von den
Regierten akzeptiert wird. In der politisch gewordenen Philosophie wird
die existentialistische Grundkonzeption gerettet durch das Bewusstsein,
das dieser Realität den Kampf ansagt – in dem Wissen, dass die Realität
Sieger bleibt. Wie lange? Die Frage, auf die es keine Antwort gibt, ändert
nichts an der Gültigkeit der Position, die für den Denkenden heute die
einzig mögliche ist.«28
Sartre zur Einführung – Buchtipps
Das Gesamtwerk des vor einhundert Jahren geborenen Jean-Paul Sartre
ist kaum überschaubar. Martin Suhr erwähnt, dass seit Sartres Tod im
Jahr 1980 »mehr Bücher von ihm erschienen sind als von anderen
Autoren zu ihren Lebzeiten«.29 Sartres Werk umfasst weit mehr als 4.000
Seiten philosophische Schriften, über 4.000 Seiten Biografien, über 2.000
Seiten Romane, Bühnenstücke, Erzählungen sowie unzählige Essays,
Vorworte, Zeitungsartikel, Briefe. Allein seine Flaubert-Biografie soll 1,25
Millionen Wörter haben. Man habe ausgerechnet, dass Sartre jeden Tag
seines Lebens durchschnittlich dreißig Seiten geschrieben haben müsste.
Hinzu kommt: Sartre war ein unermüdlicher Leser und
Diskussionspartner – ein Schriftsteller, der die Straße und das Café als
seinen intellektuellen Ort wählte, nicht die Akademie, nicht den
Wissenschaftsbetrieb, sondern den konkreten Ort sinnlich-menschlicher
Praxis. Nicht unwichtig ist das für die spätere, vor allem
poststrukturalistische Kritik an Sartre, die perfider Weise ihre feste
Position im französischen – und das heißt elitär-bürgerlichen –
Universitätssystem hatte, und von dort aus Sartres intellektuelles
Engagement als Standpunkt des vermeintlichen universellen
Meisterdenkers monierte (eine Berufsideologie, auf die Pierre Bourdieu
in seinem ›Homo Academicus‹ verwiesen hat: Die radikale französische
28
Marcuse, ›Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant‹, a.a.O., S. 40.
29
Suhr, S. 12.
Seite 17
Philosophie der Macht und Dekonstruktion, zu der etwa Foucault,
Derrida oder Deleuze gehören, hat bei aller gesellschaftlich
weitreichenden dekonstruktiven Kritik der Macht nie die eigene
machtvolle Stellung innerhalb des akademischen Institutionen
hinterfragt). – Wenn Sartre seine Essays unter dem Titel ›Situations‹
(insgesamt zehn Folgen, 1947 bis 1976) veröffentlicht, dann ist dieses
Grundwort der Situationisten programmatisch für seinen Begriff von
intellektuellem Engagement. Dass allerdings Sartres Begriff des
Engagements, wo er praktisch wird, intellektuelle Handlungsanweisung,
insbesondere in Sartres eigener literarischen Arbeit, nicht frei von
Widersprüchen bleiben kann, hat Theodor W. Adorno in seinen ›Noten
zur Literatur‹ diskutiert.30
In seiner enormen Produktivität hat Sartre kein systematisches, gar
hermetisches Gesamtwerk hinterlassen. Der rote Faden ist das kritische
Denken selbst, kein einzelner Gedanke, kein Schlagwort. Seine frühe,
den Existenzialismus begründende These, dass der Mensch zur Freiheit
verurteilt sei, hat er mehr als einmal revidiert; das Etikett des
Existenzialismus ist hierbei als Reflexionsbegriff zu nehmen:
Existenzialismus markiert somit eine nach wie vor offene Frage, und kein
hermetisches Konstrukt, mit dem ein provinziell-regressives oder
konservativ-reaktionäres Denken abgeriegelt wird – wie es die
existenzialphilosophische Variante deutscher Provenienz nahe legt (Karl
Jaspers, Otto Friedrich Bollnow). Sartres Frage ist die nach dem
Menschen, nach dem seine Geschichte und sich selbst bestimmenden
Subjekt: Wie ist Humanismus im 20. Jahrhundert, angesichts der
permanenten Katastrophe überhaupt noch denk-möglich? Diese Frage
unterscheidet Sartres kritische Theorie ebenfalls grundsätzlich von der
Fundamentalontologie eines Martin Heideggers: Dank eines
»Missverständnisses« führen die frühen Einflüsse der Philosophie
Heideggers – Sartre beschäftigt sich 1933/34 während seines Studiums
am Berliner Institut Français mit Heideggers ›Sein und Zeit‹ – zu einem
kritischen Konzept der Existenz; schon Sartres erste größere
philosophische Studie ›Skizze einer Theorie der Emotionen‹ (1938)
30
Adorno, ›Engagement‹, in: GS Bd. 11, S. 409 ff.
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belegen dies: Für Heideggers Vorstellung einer »ontologischen
Differenz« (der in der Moderne angeblich missachtete Unterschied
zwischen dem Seienden und dem Sein) sind Psychologie und Philosophie
der Gefühle lediglich die Symptome einer weiteren Stufe der
»Seinsvergessenheit«. Sartre glaubte genauso wie übrigens Herbert
Marcuse oder Günther Anders in Heideggers Explikation der Frage nach
dem Sinn des Seins eine Philosophie des Konkreten zu finden – aber
genauso wie Marcuse und Anders enttarnt auch Sartre dies als »PseudoKonkretheit« (Anders), schließlich – wie es Hassan Givsan vor einigen
Jahren in einer einzigartigen Studie darlegte – als ein »Denken der
Inhumanität«. Im Sinne Sartres konnte man bei Heidegger von einer
Subjektvergessenheit sprechen.
Bei Heidegger heißt Existenz das Ausstehen des Seins in seiner Offenheit
(Ek-sistenz). Formuliert vor dem Hintergrund der nazideutschen
Massenvernichtung der Existenz ist das entweder naiv oder – für einen
Denker, der den »Führer« Adolf Hitler als die »Regel des Seins«, das
»Gesetz« bezeichnete – abgrundtiefer Zynismus. Bei Sartre indes ist
Existenz immer die Erfahrung der Absurdität, der Grundlosigkeit des
menschlichen Daseins. Existenz »bedeutet, dass der Mensch erst
existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert.
Der Mensch, wie ihn der Existenzialist versteht, ist nicht definierbar,
weil er zunächst nichts ist … Der Mensch ist nichts anderes als das,
wozu er sich macht. Das ist das erste Prinzip des Existenzialismus.«31
So heißt der rote Faden der Philosophie Sartres die »Leidenschaft, den
Menschen zu verstehen«, wie Sartre in späteren Jahren sagte.32
Gewissermaßen jeweils von einem Ende dieses Fadens nähern sich die
beiden Einführungen dem Denken Sartres an, die zum einhundertsten
Geburtstag erschienen sind. Peter Kampits’ Einführung33 ergänzt dabei
31
Sartre, ›Der Existenzialismus ist ein Humanismus‹, a.a.O., S. 120 f.)
32
Vgl. Jean-Paul Sartre, ›Saint Genet. Komödiant und Märtyrer. Schriften zur
Literatur 5‹, übers. von Ursula Dörrenbächer, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 219.
33
Peter Kampits, ›Jean-Paul Sartre‹, München 2004.
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die bereits in zweiter Auflage vorliegende Einführung von Martin
Suhr34. Beide Bände verweigern sich dem Versuch, Sartres Gesamtwerk
in eine systematische Denkarchitektur zu zwängen. Vielmehr
konzentrieren sich Kampits und Suhr auf die philosophische Kernfrage
nach einem existenzialistischen Humanismus, womit schließlich die
Aktualität der kritischen Philosophie Sartres im Zentrum steht. Man darf
sich von den derzeitigen theoretischen Moden nicht dumm machen
lassen: Der Faden ist noch nicht gerissen, wir müssen ihn nur
aufnehmen und die Frage auch dahingehend aktualisieren, was nämlich
der Existenzialismus für die radikale Linke heute bringt – angesichts der
Leerstelle Subjekt.
Beide Bände konzentrieren sich vor allem auf ›Das Sein und das Nichts‹
(1943). Ausgangspunkt ist bei Kampits wie bei Suhr ›Der Ekel‹ (1938) –
und die Zeit der Résistance, Sartres Engagement gegen die deutsche
Besatzung. Das ist ebenfalls nicht unwichtig vor dem Hintergrund der
späteren Kritik an Sartre, die sich im Klima des revolutionären
Frankreichs des Mai 68 entwickelt. Interessant sind insofern die Enden
der beiden Einführungsbände. Kampits betont die noch offene
Forschung über Sartre, dabei insbesondere Sartres »Mobilisierung gegen
die Toterklärung des Individuums und des Subjekts im postmodernen
Kontext«.35 Vielleicht, so Kampits, sind es schließlich mehr die
politischen Stellungnahmen gegen »die Verdinglichung oder
Instrumentalisierung des Menschen«, die Sartres Schriften ihre
Aktualität verleihen.36 Und Suhr zitiert passend zum Schluss aus einem
Streitgespräch zwischen Pierre Victor und Sartre; Sartre wendet sich hier
gegen den Vorwurf, »keine Texte von unmittelbarem Nutzen für die aus
dem Mai [68] hervorgegangene Bewegung mehr« zu schreiben: Doch
Sartre verteidigt sich, es ginge um einen »Fortschritt im Verstehen der
34
Martin Suhr, ›Jean-Paul Sartre zur Einführung‹, Hamburg 2004 (2. Aufl.).
35
Kampits, S. 154.
36
Vgl. Kampits, S. 155.
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Menschen in sozialistischer Sicht … So gesehen meine ich, dass ich für
später, für die sozialistische Gesellschaft arbeite.«37
37
Sartre, ›Der Intellektuelle als Revolutionär. Streitgespräche‹, übers. von
Annette Lallemand, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 56.
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