Der Existentialismus als Humanismus Idee und Rezension des apologetischen Textes "L'existentialisme est un humanisme" von Jean-Paul Sartre. INHALT 1. 2. 3. 4. 5. 6. Einleitung.................................................................................................. 1 Einführung in den Existentialismus .............................................................. 3 2.1 Allgemeine Erläuterung .......................................................................... 3 2.2 Der SARTRE'sche Existentialismus............................................................. 3 "L'existentialisme est un humanisme" ....................................................... 10 3.1 Der Begriff des existentialistischen Humanismus ...................................... 10 3.2 Anklage und Rechtfertigung.................................................................. 11 3.3 Rezensionen....................................................................................... 15 Schlußwort .............................................................................................. 18 Nachgereichte Ergänzung zur Hausarbeit..................................................... 19 Literatur.................................................................................................. 23 Der Existentialismus als Humanismus ... Einleitung, Seite 1 1. Einleitung Die Beschäftigung mit dem Text L'Existentialisme est un humanisme fällt trotz dessen eher geringen Umfangs aus unterschiedlichen Gründen nicht leicht. Zunächst handelt es sich um die meistgelesene philosophische Schrift SARTREs und ist daher unbedingt auf ihre Bedeutung für SARTREs Philosophie zu überprüfen. Handelt es sich lediglich um eine Popularisie-rung seiner existentialistischen Auffassungen und ist daher im Blick auf die substantiellen philosophischen Arbeiten (vor allem auf L'Etre et le Néant) eher zweitrangig? Oder ist der Text gerade aufgrund seiner Diffe-renzen zu diesen anderen Schriften bezüglich seiner Form, aber auch der Inhaltsgewichtung von besonderer Bedeutung? Und zwingen nicht die Umstände, unter denen er erstmals zu hören war , sowie die anhaltende Diskussion und Rezension, gerade diesen Text ernst zu nehmen? In die-ser apologetischen Rede im Jahr 1945 setzt sich SARTRE mit aktuellen Strömungen, vor allem Anklagen gegen den Existentialismus, auseinan-der und rechtfertigt sich und seine Philosophie. Die Historizität des Textes ist von großer Bedeutung, aber erschwert sein Verstehen als rein philo-sophische Schrift. Kurze Zeit vorher sah SARTRE seine Philosophie nicht einmal durch das Wort 'Existentialismus' ettikiert, nun allerdings hatte er diese philosophische Richtung als die seine begriffen und suchte sie ge-gen verschiedene Vorwürfe zu verteidigen. Es ist zu überprüfen, inwie-fern der Text einen Wendepunkt in SATREs philosophischen Denken, vor allem im Umgang mit den Marxisten, wiederspiegelt, sagt er selbst doch über die Zeit des Krieges: "Dort [..] bin ich vom Individualismus und vom reinen Individuum der Vorkriegszeit zum Sozialen, zum Sozialismus ge-langt. Das war der eigentliche Wendepunkt in meinem Leben". Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Tatsache, daß SARTRE seine Philosophie nicht auf wenigen schon bekannten Denkansätzen anderer Philosophen begründet, sondern auf einer Vielzahl von Teilaspekten an-derer Lehren. So wäre es von Nutzen (gewesen), sich mit der Phänome-nologie HUSSERLs, der HEGEL'schen Dialektik und dem Begriff des Selbst-bewußtseins, mit HEIDEGGERs Theorie der Seinszustände, KIERKEGAARDs Konzept der Angst, SCHOPENHAUERs Begriff der Freiheit, dem kategori-schen Imperativ KANTs, sowie dem cartesianischen Cogito nach DÉSCARTES auseinderzusetzen, um SARTRE zu verstehen. Dies bedeutet allerdings nicht, daß ein Verständnis seiner Philosophie ohne dieses Vorwissen unmöglich sei, vor allem des vorliegenden Textes, ist er doch in sich recht geschlossen und durch zahlreiche Beispiele und bildhafte Erklärungen illustriert. In dieser Arbeit möchte ich mich, um die zentrale These, der Existentia-lismus sei ein Humanismus, erläutern zu können, auf die Grundzüge des SARTRE’schen Existentialismus Der Existentialismus als Humanismus ... Einleitung, Seite 2 konzentrieren. In diesem eher einführen-den Umriß des Existentialismus sollen die spezifischen Begriffe und Auf-fassungen deutlicher gemacht werden, so daß der primär untersuchte Text nicht isoliert steht. Anschließend werde ich mich mit den von SARTRE aufgegriffenen Beschuldigungen gegen den Existentialismus beschäftigen und SARTREs Rechtfertigungen erläutern. Um die Idee des Existentialis-mus' als Humanismus verdeutlichen zu können, sowie die verschiedenen Positionen, auf die dieser Text stieß, ist ein Umriß der Begriffe Existentia-lismus und Humanismus in ihren verschiedenen Bedeutungen unumgäng-lich. Trotz des generellen Versuchs, biographische Aspekte weitgehend zu vernachlässigen, scheinen mir teilweise Bezüge auf das Leben des Philosophen gerechtfertigt, da er stets um eine Vereinung von Philoso-phie und Leben bemüht und meiner Meinung nach diesbezüglich auch recht erfolgreich war. Begrifflich habe ich versucht, mich weitgehend an die französischen Ori-ginaltermini zu halten und in einheitlicher Art und Weise die nahelie-gendsten und genauesten Übersetzungen zu verwenden. Seitenangeaben im Fließtext beziehen sich stets auf die französische Originalversion von L’Existentialisme est un humanisme. Der Existentialismus als Humanismus ... Einführung in den Existentialismus, Seite 3 2. Einführung in den Existentialismus 2.1 ALLGEMEINE ERLÄUTERUNG Der Existentialismus ist eine "auf alle Lebensbereiche zielende, funda-mental ausgerichtete europäische Protestbewegung" , sowie eine philo-sophische Strömung, deren Anfänge vor dem zweiten Weltkrieg liegen. Es ist kein Protest gegen den Werteverfall, wie es ihn schon zuvor gab, sondern ein Protest gegen die Annahme, es gäbe überhaupt ewige Werte. Dieselben Fragestellungen über den Sinn des Daseins wurden zuvor stets religiös oder humanistisch beantwortet. Der Existentialismus zeichnet kein Idealbild des Menschen, vielmehr stellt er ihn als vollkom-men orientierungslos dar und thematisiert die Absurdität des Daseins, sowie die Kontingenz des Lebens, verneint Konzepte der göttlichen Be-stimmung oder der Gesetzlichkeit des menschlichen Fortschritts . Er ist also eine Absage an jedwede Sinnstiftungsphilosophie. Der Existentialis-mus weist keine eigenständigen literarischen Formen auf, bedient sich aber eher publizistischer Formen, wie die des Romans, des Films, des Essays und des Liedtextes, die aber eigentlich nur als Popularisierungen eines komplexen philosophischtheoretischen Gedankengebäudes be-trachtet werden können. Die Grunderfahrungen des Menschen sind nach existentialistischer Auf-fassung Angst und Tod. Sowohl RAINER MARIA RILKE als auch MARTIN HEIDEGGER fassen die Angst als Resultat des 'Geworfenseins' in die Welt, als Grundverfassung des Daseins überhaupt auf. Für HEIDEGGER ist die Angst vor dem Tod dasselbe wie die Angst vor dem Eigensten, Unbezüg-lichen, unüberholbaren Seinkönnen , wie sie auch später von SARTRE aufgefaßt wird. Weiterhin werden die Grunderfahrungen Ekel (bei JEAN-PAUL SARTRE), Entwurzelung (u.a. bei ANTOINE DE SAINT-EXUPÉRY) und das Absurde (v.A. bei ALBERT CAMUS) thematisiert. Allgemein läßt sich sagen, daß der Existentialist "von der wesentlichen Einsamkeit des Men-schen, seinem Ausgesetztsein in einer Welt ohne erkennbaren Sinn, sei-ner Angst vor dem Tod, die ihn vor das Nichts führt und der Möglichkeit einer humanen Eigentlichkeit auf dem Weg einer radikalen Umkehr" überzeugt ist. 2.2 DER SARTRE'SCHE EXISTENTIALISMUS Der SARTRE'sche Existentialismus basiert auf der Idee der verschiedenen Seinszustände, wie sie bei HEIDEGGER, und vorher auch bei HEGEL (allerdings in abweichender Bedeutung), vor allem aber in SARTREs L'Etre et le Neant beschrieben werden. Unterschieden wird hier das Etre-en-soi (An-sich-Sein) vom Etre-pour-soi (Für-sich-Sein). Der Existentialismus als Humanismus ... Einführung in den Existentialismus, Seite 4 Das en-soi cha-rakte-risiert die konkrete, unveränderliche Seinsform, die Identität, beispiels-weise die eines materiellen Objekts. Über dieses Seiende können keine Aussagen gemacht werden. Dem gegenübergestellt ist das pour-soi, die Seinsweise des Selbstbewußtseins (teilweise auch als réalité humaine bezeichnet). Dieses Selbstbewußtsein ist fließend, d.h. es drängt stets zur Zukunft, zu dem, was es sein wird, ohne irgendwelche Sicherheiten bezüglich seines Seins in der Zukunft oder in der Gegenwart zu haben, ist also immer in Zweifel. Dieses Fließen des Bewußtseins drückt sich vor allem in dem Satz "Ich bin nicht, was ich bin und ich bin, was ich nicht bin" aus. Die Idee der ‘Flüssigkeit’ des Bewußtseins geht bis ins 17.Jahrhundert zu-rück. Bei FÉNELON heißt es zum Beispiel: "Je ne suis pas, [...] ce qui est [..] je suis presque ce qui n'est pas. Je me vois comme un milieu incompréhensible entre le néant et l'être: je suis celui qui a été; je suis celui qui sera; je suis celui qui n'est plus qu'il a été; je suis celui qui n'est pas encore ce qu'il sera: et dans cet entre-deux que je suis? [...] Ainsi ma durée n'est qu'un défaillance perpétuelle." Auch HEIDEGGER schließt sich diesem Gedanken an, indem er feststellt: "Zu sein heißt gewesen zu sein" . Diesem Fließen des Bewußtseins ist wohl am besten durch die Konzepte der Transzendenz und der Faktizität beizukommen. Die Transzendenz des Menschen meint das Über-die-Ge-genwart-Hinaussein, der Satz "ich bin, was ich nicht bin" erklärt den Men-schen als Wesen der Möglichkeit, als Seiendes, das schon immer über das gegenwärtig Gegebene hinaus ist. Die Transzendenz übersteigt die Faktizität des Seins, sie ist der Überstieg vom Verwirklichten zum Mögli-chen und äußert sich im Wählenkönnen des Menschen, d.h. der Satz "ich bin nicht, was ich bin" meint eigentlich, ich bin nicht nur das, was ich bin, nicht nur Faktizität, d.h. Verwirklichung und Festgelegtes. Das pour-soi ist dadurch charakterisiert, daß es stets den Zustand des en-soi anstrebt. Dieses Streben ist aber vergebens, da der Mensch nur im Tod das en-soi und somit wirkliche Bedeutung annehmen kann, nicht aber, solange er wählt (also pour-soi ist). Im Tod erstarrt man "zu den bestimmten Möglichkeiten, die man verwirklicht hat, und hat kein Recht mehr, sich auf die anderen Möglichkeiten zu berufen, die man noch hätte verwirklichen können [...] Der Mensch hat keine Transzendenz mehr [...]" . Kurz: Das ensoi ist tot und ohne Bewußtsein, während das Pour-Soi lebendig und bewußt ist, eine Synthese der beiden Seinszustände kann also nicht erreicht werden. Das heißt: Das ensoi bedarf des Be-wußtseins nicht, das Bewußtsein aber braucht das en-soi. "Die Unbedürf-tigkeit des An-sich-Seins ist für das nie 'Seiende', immer in Bewegung befindliche Selbstverhältnis ebenso der Repräsentant eines Idealzu-stands wie der Grund Der Existentialismus als Humanismus ... Einführung in den Existentialismus, Seite 5 dafür, daß es nicht - wie etwa bei Hegel - eine Ver-söhnung im An-und-für-sich-Sein geben kann" . In L'Existentialisme est un humanisme werden die philosophisch viel komplexeren Konzepte der verschiedenen Seinsformen, des pour-soi und des en-soi zugunsten einer anderen Basisdifferenz verdrängt: Hier ist das menschliche Dasein dadurch beschrieben, daß die Existenz der Essenz (Wesen, Sinn, Zweck) vorausgeht, während der Sachverhalt bei Objekten umgekehrt ist. "In philosophischen Begriffen gesprochen hat jeder Gegenstand ein Wesen und eine Existenz. Ein Wesen, das heißt eine kon-stante Gesamtheit von Eigenschaften; eine Existenz, das heißt eine ge-wisse affektive Anwesenheit in der Welt. Viele glauben, erst komme das Wesen und dann die Existenz [...] Diese Idee entspringt dem religiösen Denken [...]" Diesen Gedankengang wollen wir etwas näher betrachten: “L’existence précède l’essence” “Lorsqu’on considère un objet fabriqué, [...] cet objet a été fabriqué par un artisan qui s’est inspiré d’un concept;[...] Nous dirons donc que [...] l’essence - c’est-à-dire l’ensemble des recettes et des qualités qui permettent de le produire et de le définir précède l’existence [...]. (S.17ff) Ist ein Objekt nach einer bestimmten Idee geschaffen, so geht die Essenz der Existenz voraus; dasselbe ließe sich für den Menschen sagen, wenn man von dem Konzept eines Schöpfer-Gottes ausgeht: “Lorsque nous concevons un Dieu créateur, ce dieu est assimilé la plupart du temps à un artisan supérieur [...] Dieu produit l’homme suivant des techniques et une conception [...] L’homme est possesseur d’une nature humaine; cette nature humaine, qui est le concept humaine, se retrouve chez tous les hommes, ce qui signifie que chaque homme est un exemple particulier d’un concept universel, l’homme [...]” (S.19ff) "Il n'y a pas une nature humaine" Hier setzt die grundlegende Differenz Sartres gegenüber vorangegange-nen Philosophien an. Die Idee, daß Gott die Menschen schuf, impliziert, daß er dies nach einer bestimmten Idee getan haben muß. Somit besäßen alle Menschen eine universale menschliche Natur. Sartre aber negiert die Existenz Gottes und betrachtet den Menschen als nicht definierbar, als etwas Werdendes, sich selbst Schaffendes, das durch keine universale menschliche Natur festgelegt ist. Insofern geht beim Menschen die Existenz dem Wesen voraus. “L’existentialisme [...] déclare que si Dieu n’existe pas, il y a au moins un être qui existe avant de pouvoir être défini par aucun concept et que cet être c’est l’homme [...] Qu’est-ce que signifie ici que l’existence précède l’essence? Cela signifie que l’homme existe Der Existentialismus als Humanismus ... Einführung in den Existentialismus, Seite 6 d’abord, se recontre, surgit dans le monde, et qu'ìl se définit après.” (S.21) "L'homme est ce qu'il se fait" Da der Mensch durch keine universale Natur gekennzeichnet ist, und er nichts ist, bevor er sich sein Wesen schafft, steht (vor allem in L'Existentialisme est un humanisme) das kreative Moment und das menschliche Handeln im Vordergrund. "In Wirklichkeit kann der Mensch nur handeln; seine Gedanken sind Entwürfe und Verpflichtungen, seine Gefühle Unternehmungen; er ist nichts anderes als sein Leben, und sein Leben ist die Einheit seiner Verhaltensweisen" . Die Art und Weise des Sich-Schaffens des Menschen soll im Folgenden erläutert werden. Das pour-soi , oder anders gesagt das menschliche Dasein, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, wird umschrieben durch die Konzepte der Freiheit (liberté), bzw. Angst (angoisse), durch Verlassenheit (délaissement) und Hoffnungslosigkeit / Verzweiflung (désespoire). In Kürze: Das pour-soi ist vollkommen frei, und zwar frei in bezug auf seine Wahl (choix), es ist immer mit Entscheidungen konfrontiert. Um diese zu treffen projeziert der Mensch sich (ohne jegliche Orientierungen und Si-cherheiten) in die Zukunft, entwirft sich (projet), wählt sich (choix) und bindet sich dadurch im Leben (engagement). Diese (Entscheidungs-) Freiheit impliziert eine totale Verantwortlichkeit (résponsibilité), d.h. durch die Bindung erreicht der Mensch Authentizität und ist voll und ganz verantwortlich. Dies führt unweigerlich zu Angst, die wiederum Vorausset-zung für jedwede Handlung (action) ist. SARTREs Philosophie der Hand-lung steht seit L’Existentialisme est un humanisme immer mehr im Vor-dergrund. Seine späteren Aussagen über die liberté engagée machen deutlich, inwiefern er sich vom Individualen zum Sozialen verändert hat (s.o.). Wir wollen die ver-wendeten Begriffe zunächst näher betrachten, um den Gedankengang zu verstehen. Die Basisempfindungen des Menschen sind Verlassenheit, Hoffnungslo-sigkeit und Angst. Verlassenheit meint den Umstand, daß der Mensch in eine gottlose, werte- und moralfreie Welt geworfen ist und durch seine Wahl seine Werte selbst erfinden muß und insofern voll und ganz verant-wortlich ist (sowohl für sich, als auch für alle Menschen). Sowie das pour-soi vergeblich zum en-soi strebt, so ist auch der Mensch bemüht sich als Objekt, bei dem die Essenz der Existenz vorausgeht, zu sehen und sein Wesen durch eine von ihm unabhängige Transzendenz zu legitimieren. Da dieses Streben vergeblich ist, drückt es sich in Verzweiflung aus. Die Angst als Basisempfindung (vgl. KIERKEGAARD) resultiert aus dieser vollen Verantwortlichkeit, der Velassenheit und Hoffnungslosigkeit. Der Existentialismus als Humanismus ... Einführung in den Existentialismus, Seite 7 Sie ist Aus-druck von Freiheit (des Wählens) und wird durch das Wissen um die Absurdität des Lebens vergrößert. "Die sich selbst reflektierende Freiheit wird zur Angst." Im gesamten Werk SARTREs tritt die Freiheit als Grundbestimmung des Menschen auf . Der Begriff der Freiheit des pour-soi wird zu-nächst ne-gativ betrachtet. Schon SCHOPENHAUER statuiert: "Was heißt Freiheit? Dieser Begriff ist, genau betrachtet, ein negativer. Wir denken durch ihn nur die Abwesenheit alles Hindernden und Hemmenden.[...]" . Dem ent-gegen steht die als "reine Positivität und Identität" gekenn-zeichnete Seinsweise des en-soi. Die Freiheit ist Freiheit der Wahl. Die Idee der Grundwahl besteht darin, "daß unser Leben nicht wie ein über uns verhängtes Geschick verläuft, sondern davon abhängt, wie wir uns selbst wählen" . Die Freiheit ist nur dadurch beschränkt, daß die Wahl notwendig ist, da Nicht-Wählen nur eine negative Variante von Wählen ist. "Die Wahl meiner selbst ist aber keineswegs ein Phänomen, das auf meine Subjektivität beschränkt bleibt; in dieser Wahl entdecke ich zugleich die Welt. Wir wählen die Welt - nicht in ihrem An-SichBestand, sondern in ihrer Bedeutung - indem wir uns selbst wählen" . Indem wir also uns selbst wählen, wählen wir alle Men-schen. Die Grundwahl bestimmt das Verhalten des Menschen zu seinen Mitmenschen, sowie das zu seiner Umwelt und zu sich selbst. Die Wahl wird in einem Selbst- und Welt-Entwurf (projet) offenbar. "L'homme est d'abord un projet qui se vit subjectivement, [...] rien n'existe préablement à ce projet; rien n'est au ciel intelligible, et l'homme sera d'abord ce qu'il aura projeté d'être. Non pas ce qu'il voudra être. Je peux vouloir adhérer à un parti, écrire un livre, me marrier, tout cela n'est qu'une manifestation d'un choix plus originel, plus spontané que ce qu'on appelle volonté" (S.23f) Diese Grundwahl bzgl. meines projets ist also eine ‘tiefere Wahl’, nicht unbedingt bewußt und überlegt, sondern instinktiv. Vor allem aber ist sie durch nichts determiniert, es gibt keine Orientierungen, keine festste-hende Moral. Moralische Urteile sind immer nur Ausdruck von Wahl. Selbst wenn es Zeichen gibt, die meine Wahl beeinflussen, so ist die Ent-schlüsselung dieser Zeichen stets subjektiv und nicht zwin-gend. Das heißt: das Individuum trägt Verantwortung für die Entzifferung der Zei-chen. In meiner Wahl bin ich nur auf mich selbst beschränkt, d.h. die Ba-sis ist die Subjektivität des Individuums. Es gibt keine andere Wahrheit, als die des Cogito, ich kann mich auf nichts außerhalb meiner selbst ver-lassen. Gefühle determinieren nicht meine Entscheidungen und Handlun-gen, sondern bauen sich erst aus Handlungen auf, der Gradwert eines Gefühls ist erst nach Vollzug einer Handlung bestimmbar. In mei-nem projet wähle ich Werte, die ich für alle gültig mache, ich entwerfe ein be-stimmtes Bild des Menschen, insofern Der Existentialismus als Humanismus ... Einführung in den Existentialismus, Seite 8 binden ich nicht nur mich, son-dern die gesamte Menschheit. Dieses zwingt uns in eine übergroße Ver-ant-wortlichkeit für uns selbst, unsere Individualität, aber vor allem für alle Menschen. Diese Verantwortlichkeit führt unweigerlich zu Angst. Der Mensch reagiert auf diese Angst auf eine bestimmte Art: "L'homme [...] ne saurait échapper au sentiment de sa totale et profonde responsabilité [...] on doit toujour se demander: qu'arriverait-il si tout le monde en faisait autant? et on n'échappe à cette pensée inquiétante que par une sorte de mauvaise foi" (S.28f) Die mauvaise foi beschreibt den "Versuch, sich vor der Eigenverant-wortlichkeit des ungesichert Schaffenden dadurch zu begreifen, daß man sich dem Glauben an eine objektiv bestehende Welt menschlicher Tatsa-chen und Werte in die Arme wirft" . Sie ist das Leugnen der eigenen Wahl und insofern Unaufrichtigkeit. Die mauvaise foi bezeichnet also die Flucht vor der Angst, wobei die Angst allerdings anerkannt wird. Sie er-kennt den Unterschied zwischen Faktizität und Transzendenz des Men-schen nicht an, beschränkt den Menschen also entweder auf das, was er ist, und daß er es notwendigerweise ist, oder sieht ihn nur in bezug auf seine Möglichkeiten. Somit versucht der Mensch durch die mauvaise foi, sich aus der Verantwortung für das, was er ist, zu ziehen. Sie kann vom Menschen nicht überwunden werden. Allerdingst steht dem Konzept der mauvaise foi die Idee entgegen, daß unsere Wahl zwingend positiv ist. In Anlehnung an Kant formuliert Sartre: "Quand nous disons que l'homme se choisit, nous entondons que chacun d'entre nous se choisit, mais par là nous voulons dire aussi qu'en se choisissant il choisit tous les hommes. [...] Choisir d'être ceci ou cela, s'est affirmer en même temps la valeur de ce que nous choisissons, car nous ne pouvons jamais choisir le mal; ce que nous choisissons, c'est toujour le bien, et rien ne peut être bon por nous sans l'être por tous." (S.25f) Hier verweist SARTRE wie an einigen anderen Stellen auf den kategori-schen Imperativ und stellt seine Wirksamkeit nicht in frage, sondern setzt sie voraus. Die Freiheit liegt in der Möglichkeit der Umsetzung oder der Nicht-Umset-zung des projets, seiner Beibehaltung oder seiner Veränderung. "Jeder Mensch hat das Leben, das er sich wählt, aber er darf nicht bloß nach der Wahl beurteilt werden, sondern nach der Erfüllung des gewähl-ten Le-bens. Solange man lebt, darf man dem Menschen die Möglichkeit der Än-derung nicht aberkennen, darf man ihn nicht auf eine bestimmte Möglich-keit festnageln, denn dann mißachtet man seine Freiheit." . Der Tod aber kann die Ausführung / Umsetzung der Wahl, des Projets verhin-dern. Das vergrößert das Gefühl der Angst. Diese Angst ist das Bewußt-sein, seine eigene Zukunft zu sein, in der Weise, Der Existentialismus als Humanismus ... Einführung in den Existentialismus, Seite 9 sie nicht zu sein, bzw. das projet nicht zu realisieren (s.o.). Das heißt Freiheit und Angst ent-sprechen ein-ander: Die selbst reflektierende Freiheit wird zur Angst. Die Beziehung zum Anderen soll im folgenden noch erläutert werden, um die SARTRE’sche Ethik fassen zu können. Obwohl es nur die absolute Wahrheit des ‘Ich denke, also bin ich’ gibt, umschließt das Cogito auch die Fähigkeit, die anderen zu erfassen. Das heißt, daß es sich nicht um eine streng individuelle Ichheit handelt, da die anderen immer Bedingung meiner eigenen Existenz sind. Zur Erläuterung: Wie oben schon erwähnt, wähle ich, indem ich mich selbst wähle, auch den Anderen. Durch meine Bindung binde ich die ganze Menschheit. SARTRE sieht die Beziehung zum anderen durch Konflikt, nicht durch Ge-meinschaft geprägt. Der andere sieht mich als ensoi, als Objekt. Dieses Objektwerden , "diese entfremdende Objektivierung meiner Situation" . ist die eigentliche Grenze meiner Freiheit. Die Reduzierung meiner selbst auf die Ebene des en-soi empfinde ich als Scham. Die Scham aber macht mir die Existenz des anderen deutlich, da Scham für eine vollkommen isolierte Person nicht möglich ist. Der Konflikt zwischen dem pour-soi-Sein meines Bewußtseins und dem en-soi-Sein in den Augen des Ande-ren wird überwunden, indem ich ebenfalls den Anderen als Objekt betrachte und ihn meiner Achtung entziehe, oder aber daß ich die Freiheit des An-deren erobere, während ich sie achte und sie zwinge, die meinige eben-falls zu achten. Ersteres wäre eine Handlung der mauvaise foi, letzteres hingegen beschreibt die Seinsform des Für-Andere-Seins: wenn ich den Anderen anerkenne, bin ich freiwillig für ihn, erfahre seine Trans-zen-denz. "Die Begrenzung der Freiheit durch den Anderen hebt die Frei-heit jedoch nicht auf; ich muß allerdings in meinem Selbstentwurf als freie Existenz mitsetzen, daß die anderen auch frei sind" . Die Anerkennung der Transzendenz des Anderen ist notwendig, um nicht selber zum Objekt zu werden. Dieses Phänomen beschreibt eine psychologische Interaktion, die die Bemühung, „auf solche Weise zu handeln, daß die Menschheit sich meine Taten zur Regel nimmt“ motiviert. Auf der kognitiven Ebene bedeutet die Anerkennung des Anderen auch Selbsterkenntnis: Einerseits ist der Bezug zum Mitmenschen immer zunächst ein Machtkampf, bei dem der Eine den Anderen zu dominieren versucht. Andererseits bedürfen wir des Anderen, sowie der Andere uns braucht, da die "Konstitution meines Selbst durch den Anderen jeder von meinem Ich ausgehenden Konstituie-rung zugrundeliegt" . "Wir beurteilen uns mit den Mitteln, die die andern [...] uns zu unserer Beurteilung gegeben haben ...Wenn meine Beziehun-gen schlecht sind, begebe ich mich in die totale Abhängigkeit vom ande-ren. Und dann bin ich tatsächlich in der Hölle." Der Existentialismus als Humanismus ... "L'existentialisme est un humanisme", Seite 10 3. "L'existentialisme est un humanisme" 3.1 DER BEGRIFF DES EXISTENTIALISTISCHEN HUMANISMUS Um den Begriff des existentialistischen Humanismus’ zu erläutern, möchte ich zunächst noch einmal eine zusammenfassende Definition des Existentialismus’ durch Sartre selbst zitieren: "[...] (ich) werde ... nur vom Existentialismus sprechen: Haben Sie ihn wenigstens Ihren Lesern erklärt? Dabei ist das ganz einfach:[...]In phi-losophischen Begriffen gesprochen hat jeder Gegenstand ein Wesen und eine Existenz. Ein Wesen, das heißt eine konstante Gesamtheit von Eigenschaften; eine Existenz, das heißt eine gewisse affektive Anwesenheit in der Welt. Viele glauben, erst komme das Wesen und dann die Existenz [...] Diese Idee entspringt dem religiösen Denken[...], das Wesen geht hier also der Existenz voraus; und für alle, die glauben, daß Gott die Menschen schuf, muß er es entsprechend der Idee getan haben, die er von ihnen hatte [...] und das ganze 18.Jahrhundert hat gedacht, daß es ein allen Menschen gemeinsames Wesen gäbe, das man Menschennatur nannte. Der Existentialismus dagegen hält daran fest, daß beim Menschen - und nur beim Menschen - die Existenz dem Wesen vorausgeht. [...] Mit einem Wort, der Mensch muß sich sein ei-genes Wesen schaffen; indem er sich in die Welt wirft, in ihr leidet, in ihr kämpft, definiert er sich allmählich; und die Definition bleibt immer offen [...] Die Angst ist keineswegs ein Hindernis für das Handeln, son-dern vielmehr dessen Voraussetzung [...] Der Mensch kann nichts wol-len, wenn er nicht zunächst begriffen hat, daß er auf nichts anderes als auf sich selber zählen kann, daß er allein ist, verlassen auf der Erde inmitten seiner unendlichen Verantwortlichkeiten, ohne Hilfe noch Bei-stand, ohne ein anderes Schicksal als das, das er sich auf dieser Erde schmieden wird." SARTRE definiert den existentialistischen Humanismus zunächst ex nega-tivo, d.h. in Abgrenzung und Unterschiedung vom klassischen Humanis-mus. Der klassische Humanismus betrachte, so SARTRE, den Menschen als Endzweck und höheren Wert. Das bedeutet, daß dem Menschen auf-grund ‘höchster Taten von gewissen Menschen’ (vgl.: S.90) ein bestimm-ter Wert zu-geteilt. „Par humanisme on peut entendre une théorie qui prend l’homme comme fin et comme valeur supérieur. [...] Cela signifie que [...] je pourais personnellement, en tant qu’homme, me considérer comme responsable et honoré par des actes particuliers à quelques hommes. Cela supposerait que nous pourrions donner une valeur à l’homme d’après les actes les plus hauts de certains hommes.“ (S.90f) Der Existentialismus als Humanismus ... "L'existentialisme est un humanisme", Seite 11 Für SARTRE ist aber eine solche Auffassung, der Mensch sei großartig, falsch, da für den Menschen ein Allgemeinurteil über den Menschen un-möglich ist (aufgrund der Subjektivität, die sich aus dem Cogito ergibt). Vielmehr ist der Mensch nicht Zweck, sondern immer neu zu schaffen. „Ein Existentialist wird den Menschen nie als das Endgültige sehen, da der Mensch noch immer zu bestimmen ist.“ Durch sein projet ist der Mensch immer außerhalb seiner selbst, er verfolgt selbsterfundene trans-zendente Ziele, ist insofern selber Überschreitung. In diesem Sinne ist der Existentialismus ein Humanismus, „parce que nous rappelons à l’homme qu’il n’y a d’autre législateur que lui-même, et que c’est dans le délaissement qu’il décidera de lui-même; et parce que nous montrons que ça n’est pas en se retournant vers lui, mais toujours en cherchant hors de lui un but qui est telle libération, telle réalisation particulière, que l’homme se réalisera précisément comme humain“. (S.93f) SARTREs Humanismus ist der Glaube, daß der Mensch ein spirituelles Wesen sei, das seine Humanität nur dadurch realisiert, daß er seine nor-malen Grenzen überschreitet. Im Existentialismus wird der Humanismus radikalisiert. Er ist absolut und abstrakt, er zeichnet kein Idealbild des Menschen und das alltägliche Zu-sammenleben wird absolut gesetzt. Handlungen stehen im Vordergrund. Das soll im folgenden Kapitel noch verdeutlicht werden. 3.2 ANKLAGE UND RECHTFERTIGUNG Prinzipiell sieht sich Sartre vor allem vier Anklagen gegen seine Philoso-phie gegenübergestellt, die er in L’Existentialisme est un Humanisme zu widerlegen versucht. Zunächst wird ihm vorgeworfen, der Existentialismus propagiere einen Quietismus der Angst (I.). Außerdem handele es sich um eine vollkommen pessimistische Philosophie, die lediglich menschli-che Niedertracht und Bosheit zeige (II.). Ein weiterer Angriffspunkt ist die Idee der Subjektivität (III.), die hinter Sartres Philosophie steht: sowohl epistomologisch, als auch moralisch betrachtet wird diese Subjektivität stark kritisiert. Auch formuliert Sartre vermutete Gründe für diese Anklagen, die nicht unerwähnt bleiben sollen: Er glaubt, seine Philosophie stöße auf so viel Kritik, da sie radikal und beängstigend ist. Die Philosophie der Wahl stoße auf Angst, da es dem Menschen Verantwortlichkeit auflegt für sein Leben, auch wenn es ‘verpfuscht’ sein sollte. I. Die erste Anschuldigung besagt, der Existentialismus propagiere einen Quietismus der Angst, kultiviere Hoffnungslosigkeit und Handlungsunfä-higkeit, und vertrete Der Existentialismus als Humanismus ... "L'existentialisme est un humanisme", Seite 12 jugenschädigende nihilistische Lehren. Nun definiert der Existentialismus den Menschen aber durch sein Handeln, kann also keinen Quietismus propagieren. Diese Theorie des Handelns soll zu-nächst dargestellt werden, da in dieser der Optimismus des Existentialis-mus’ am deutlichsten wird. Wie schon bereits erläutert resultiert aus der Verantwortlichkeit des Men-schen für sein eigenes Leben Angst: "Wenn der Mensch nicht ist, sondern sich schafft, und wenn er, indem er sich schafft, die Verantwortlichkeit für die ganze Gattung Mensch übernimmt, wenn es weder einen Wert noch eine Moral gibt, die a priori gegeben sind, sondern wenn wir in jedem Fall allein entscheiden müssen, ohne Stütze, ohne Führung und dennoch für alle, wie sollten wir da nicht Angst haben, wenn wir handeln müssen" . Diese Angst ist Voraussetzung für jedwedes Handeln, sowie auch die Hoffnungslosigkeit (désespoire) not-wendig ist. "Es ist wahr, daß der Mensch unrecht hätte zu hoffen. Aber was heißt das anderes, als daß die Hoffnung das schlimmste Hemmnis für das Handeln ist" . Die Hoffnungs-losigkeit entspringt dem Willen und dem Cogito: "Der Mensch kann nicht wollen, wenn er nicht zunächst begriffen hat, daß er auf nichts anderes als auf sich selbst zählen kann, daß er allein ist, verlassen auf der Erde inmitten seiner unendlichen Verant-wortlichkeiten, ohne Hilfe noch Bei-stand, ohne ein anderes Ziel als das, was er sich selbst geben wird" .Die Hoffnungslosigkeit ist "das nüchterne und klare Bewußtsein von der Lage des Menschen" . "So wie die Angst sich nicht vom Sinn für die Verant-wortlichkeit unterscheidet, ist die Hoff-nungslosigkeit eins mit dem Willen; mit der Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Optimismus: der Optimismus dessen, der nicht erwartet, der weiß, daß er keinerlei Recht hat [...], der sich freut, auf sich allein zu zählen und allein zum Wohl aller zu han-deln" Als Maxime gilt, ohne Hoffnung zu han-deln, illusionslos zu sein und zu tun, was man kann: „D’abord je dois m’engager, ensuite agir selon la vieille formule ‘il ne pas besoin d’espérer pour entreprendre. Ca [..] veut [..] dire [...] que je serai sans illusion et que je ferait ce que je peux.“ (S.54) Werte, Würde und Moral hängen nur vom Handeln ab, Taten manifestie-ren, was wir sind oder sein werden , d.h. der Mensch ist nicht durch seine Möglichkeiten definiert, sondern durch seine Handlungen. Somit ist er verantwortlich für das, was er ist (z.B. mutig oder feige), hat aber immer die Möglichkeit zur Veränderung seiner selbst. Insofern ist der Existentia-lismus weder Quietismus noch eine pessimistische Beschreibung des Menschen, sondern eine optimistische Lehre, da das Schicksal des Men-schen hier in ihm selber ruht. Schicksal ist keine äußere Größe, auch keine un-veränderliche, in uns vorhandene Form, mit der wir leben müs-sen. Der Existentialismus ersetzt einen Glauben an ein freundliches Uni-versum, an ewige Wahrheiten, an transzendente Werte, die wir Der Existentialismus als Humanismus ... "L'existentialisme est un humanisme", Seite 13 nicht er-blicken kön-nen . Der Existentialismus nimmt also nicht den Mut zum Handeln, son-dern drängt den Menschen zu Handlungen, da es nur im Handeln Hoff-nung geben kann. Prinzipien, moralische Vorstellungen und auch so et-was wie der kategorische Imperativ reichen nicht aus im Le-ben, wenn sie nicht im Handeln aktualisiert werden. II. Den Vorwurf, die Existentialisten zeigten lediglich Bosheit und Nieder-tracht des Menschen, nicht aber seine guten Seiten, sie wälzten sich im Unrat, entgegnet Sartre wie folgt: "[Manche] wollen uns das weismachen: Es ist ja so angenehm, mit sich selbst zufrieden zu sein. Aber das ist pure Lüge. Heldentum, Größe, Hingabe, Selbstverleugnung, zugegeben, daß es nichts Schöneres gibt und daß das letztlich der Sinn des menschlichen Handelns ist. Wenn Sie jedoch behaupten, um ein Held zu sein, brauche man nur [...] einer politischen Partei anzugehören [...]Refrains zu singen und [..] aufs Land zu fahren, entwerten Sie die Tugenden, die Sie zu ver-teidigen behaupten, und verhöhnen die Welt". SARTRE sieht seinen Begriff der Freiheit (der Wahl) falsch verstanden. "Wenn wir sagen, daß ein Arbeitsloser frei ist, so wollen wir wir nicht damit sagen, daß er tun und lassen kann, was er will, und sich augen-blicklich in einen reichen und freidlichen Bürger verwandelt. Er ist frei, weil er immer wählen kann, ob er sein Los in Resignation hinnimmt oder sich dagegen auflehnt [...] mitten in diesem Elend, an dem er klebt, kann er wählen, in seinem Namen und im Namen aller anderen gegen alle Formen des Elends zu kämpfen." Insofern gibt der Existentialismus dem Menschen Würde. Er baut das Menschenreich als eine Gesamtheit von Werten auf, die vom Reivh des Stofflichen unterschieden sind (Vgl.: S.65). Die kreativen Fähigkeiten des Menschen transformieren die Kontingenzen des Lebens zu einer würde-volleren menschlichen Existenz. Zwar gibt es keine zwingenden Gründe für unser Handeln, keine Garantien bzgl. des Erfolgs, keine Sicherheiten bzgl. des Ausgangs unserer Handlungen, aber würde man über solch zweifelhafte Möglichkeiten reflektieren, so endetet man in Fatalismus, Quietismus und Pessimismus. Der Existentialismus stellt sich dem entge-gen. Würde erreicht der Mensch, da er nicht als Instrument eines uni-versalen Plans, nicht als geschffenes, begrenztes Objekt betrachtet wird, welches a priori festgelegt ist. Der Wert eines je-den Individuums wird zudem noch erhöht durch die Idee der Intersubjek-tivität, da diese die Existenz anderer als Vorbedingung für unsere eigene Existenz betont. Zwar sind Angst, Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit die Grundaffekte unseres Daseins, dochführen sie alle zu dem motivierenden Leitsatz ‘Handeln ohne Hoffnung’. Die Angst ist unser Gefühl von Verantwortlich- Der Existentialismus als Humanismus ... "L'existentialisme est un humanisme", Seite 14 keit gegenüber der Menschheit; sie wird aber durch eine absolute Hand-lung, für die diese Verantwortlichkeit angenommen wird, überwunden. Verlassenheit resultiert aus der Erkenntnis der Nichtexistenz transzenden-ter Werte; sie wird aber durch die menschliche Kraft, Werte zu schaffen, überwunden. Die Hoffnungslosigkeit ergibt sich aus unserem Verstehen der Kontingenzen des Lebens, sie wird aber durch das ‘illusionslose Handeln ohne Hoffnung’ überwunden. Dieses Handeln kann nur ohne Hoffnung sein, da wir wissen, daß unser Dasein nicht notwendig ist, es keinen Zweck und keine Sicherheiten gibt. Für Sartre liegt die dau-ernde Lösung „in unserer sozialen konstruktibven Fähigkeit. Zusammen-sein, zusammen arbeiten, unsere Fähigkeiten zu einem gemeinsamen Zweck zusammentun - dies sind die Wege, Angst, Trostlosigkeit und Ver-zweiflung zu überwinden. Danach strebt unsere Wahl, nach dem Prinzip: ‘nichts kann gut für uns sein, wenn es nicht gut für alle ist.’“ III. Ein weiterer Kritikpunkt ist der der Subjektivität. Zwar ist es richtig, daß die Existentialisten daran festhalten, daß das, wofür sie stehen, ein radi-kaler Subjektivismus ist, der gegen jeden Versuch, das freie Selbstbe-wußtsein aufgrund seiner Vergangenheit zu disziplinieren oder zu syste-matisieren, protestiert. Allerdings mauert der Existentialismus den Men-schen nicht in seiner individuellen Ichheit ein (Vgl. S.63), sondern betont, daß das Cogito die Intersubjektivität mit einschließt (s.o.). Die Subjektivi-tät ist Voraussetzung für den existentialistischen Humanismus, da es nur durch sie und die menschliche Transzendenz (im Sinne der Überschrei-tung seiner Grenzen) möglich ist, „que l’homme réalisera précisement comme humain“ (S.94) . (IV.) Außerdem wird ihm vorgehalten, er habe sich durch den Nazi-Kollabora-teur Heidegger inspirieren lassen. Eine Überprüfung des Heidegger'schen Verhältnisses zu den Nationalsozialisten möchte ich verzichten, da Sartres Rechtfertigung ebensowenig darauf abzielt. Heidegger selbst pro-pagierte eine strikte Trennung zwischen Philosophie und Politik, bzw. Mo-ral. Politische Meinungen hielt er für eine Privatsache,[...] die Philosophie aber hatte nach seiner Auffassung politisch und moralisch neutral zu sein . Sartre argumentiert: "Seine [Heideggers] Zustimmung zum Hitle-rismus erklärt sich durch Angst, vielleicht durch Karrierismus, sicher durch Konformismus [...] 'Heidegger', sagen Sie,'ist Mitglied der national-sozia-listischen Partei, also muß seine Philosophie eine Nazi-Philosophie sein.' Das stimmt nicht: Heidegger hat keinen Charakter, das ist die Wahrheit [...] Wissen Sie denn nicht, daß die Menschen manchmal nicht auf der Höhe ihrer Werke sind?" . Sartre entzieht den Existentialismus selbst dieser politischen Ebene: Der Existentialismus als Humanismus ... "L'existentialisme est un humanisme", Seite 15 So sei der Existentialismus nicht faschistisch, demokratisch oder kommunistisch, sondern "eine bestimmte Betrach-tungsweise der menschlichen Fragen" . Eine Ähnlichkeit zu Marx'scher Philosophie räumt er jedoch ein, er teile die Devise des Men-schen: schaffen und schaffend sich schaffen und nichts anderes sein als das, zu dem man sich geschaffen hat. Aus all dem folgt, "daß der Existentialismus nicht ein grämlicher Genuß, son-dewrn eine humanistische Philosophie des Handelns, der Anstren-gung, des Kampfes der Solidarität ist" . 3.3 REZENSIONEN Der Text L’Existentialisme est un humanisme ist sehr unterschiedlich auf-genommen worden. SARTREs Konzept des existentialistischen Humanis-mus blieb stark kritisiert, obwohl sein Stil, seine anschauliche Popularisie-rung seiner Philosophie oft als gelungen betrachtet wird. Im Mittelpunkt der Kritik steht der Begriff des existentialistischen Huma-nismus’. Hardré steht hier in krassester Opposition. Er formuliert, der Hu-manismus habe trotz unterschiedli-cher Interpretationen eine definitive Bedeutung und sei nicht beliebig ausdehnbar auf sämtliche Lehren, die sich mit dem Menschen befassen. Zu dieser definitiven Bedeutung gehört zunächst die Grundannahme, eine universale und permanente Natur sei vorhanden. Damit meint Hardré, daß sich die menschlichen Bedingungen zwar ständig ändern, die Träume und Erwartungen, die Reaktionen auf die immer gleichen Ängste, Hoff-nungen etc. aber stets gleich und wie-dererkennbar sind. Er umschreibt den Humanismus als Wunsch, nichts zu ignorieren und nichts, was menschlich ist, zu verschmähen. Diese Totali-tät des Interesses am Men-schen impliziert die Annahme, es gäbe Gut und Böse im Menschen. Weiterhin sei der Humanismus ein Idealismus, ein Glaube an den Men-schen, d.h. Humanität gilt als Ideal, das dem Menschen hochgehalten wird. Dieser ist durch den Gebrauch seiner Ver-nunft gekennzeichnet, er erkennt eine Werteskala an und strebt stets da-nach, die höchsten Werte zu erreichen. Das bedeutet, daß der Mensch sich ständig verbessert, daß das Ideal Lebenssinn stiftet. Als letzte Grundannahme des Humanismus statuiert Hardré, daß der Mensch das Glück zum Ziel habe, welches aber nur erreichbar sei, wenn ein Lebens-sinn und eine Gemeinschaft mit den Mitmenschen vorhanden sei. Diese drei Grundannahmen machen es un-möglich, so Hardré, den existentia-listischen Humanismus-Begriff SARTREs zu akzeptieren. Seine Haupt-gründe für die Aussage, der Existentialismus sei kein Humanismus, sollen kurz aufgeführt werden: Der Existentialismus als Humanismus ... "L'existentialisme est un humanisme", Seite 16 1.) Der Mensch ist nicht in die Welt geworfen, also nicht verlassen, da er Sohn von jemand, sowie in bestimmten Verhältnissen aufgewachsen, durch bestimmte Gegebenheiten bezüglich seiner Gedanken, Wünsche und Erwartungen bestimmt, ist. 2.) Der Mensch wählt sich nicht selbst, sondern nur seine Reaktion auf sein Wesen (der Kranke wählt nicht seine Krankheit, sondern nur seinen Umgang mit ihr). Auch Todd lehnt diese absolute Verantwortlichkeit des Menschen für das, was er ist, ab. Sogar Hart, der der Philosophie SARTREs eher mit Begeisterung gegenüber steht, bemängelt, daß SARTRE die äuße-ren Einflüsse und sozialen Bedingtheiten unseres Handelns vernachlässigt. Auch Thompson zweifelt an dieser völlig freien Wahl. Allerdings tut er das von der Fragestellung aus, wie die Menschheit herausragende, geniale Menschen hervorbringen konnte. Er hält daran fest, daß diese sich nicht ausschließlich selbst gewählt haben, sondern daß das Individuum seine höchsten Möglichkeiten zu realisiern versucht, indem er das meiste aus seinem Leben macht, welches aber durch Verer-bung und Umwelt schon determiniert ist. 3.) Die Beziehung zum anderen basiert nicht auf Konflikt, sondern auf Gemeinschaft zwischen zwei Geisten oder zwei Seelen. Genau das macht den Humanismus aus. 4.) Humanismus basiert auf einer Tradition von Idealen, die der Existen-tialismus nicht akzeptiert. Der klassische Humanismus postuliert immer eine gewisse Disziplin, statuiert Regeln des Zusammenlebens, Werte, Moral, ohne die es nur Freiheit im Chaos gäbe. Hardré faßt zusammen: Der Humanismus sei am ganzen Menschen interessiert, der Existentialismus nur an einer (nämlich der schlechtesten) Dimension des Menschen. Der Humanismus basiere auf alter Tradition und tendiere zum Idealismus, während der Existentialismus auf dem Ge-genwärtigen basiert und zum Materialismus tendiere. Der Humanismus versuche, dem Leben einen Sinn zu geben, dem Menschen Glück zu ermöglichen, während der Existentialismus nur zu Angst und zu Verzweif-lung führe. Eine vielmehr den Text in seinen Einzelheiten betrachtende Rezension nimmt Terry Keefe vor. Er stellt das Problem der menschlichen Natur in den Vordergrund. Allerdings ist er nicht wie Hardré bemüht, an der Existenz der menschlichen Natur allgemein festzuhalten, sondern stellt die Logik des Statuts der Nichtexistenz einer menschlichen Natur im Zusammenhang mit SARTREs übrigen Aussasgen über den Menschen in frage. Wenn SARTRE diese negiert, während er „beim Men-schen - und nur beim Menschen“ die Existenz der Essenz vorausstellt, so wird die Aussage logisch zweifelhaft. Das Problem liegt in der Annahme einer universalen menschlichen Bedingung und der Ablehnung einer menschlichen Natur. Weiterhin ist das Statut von der Nichtexistenz Gottes pro-blematisch, in Der Existentialismus als Humanismus ... "L'existentialisme est un humanisme", Seite 17 SARTREs Darstellung steht der Glaube an Gott dem Glau-ben, der Mensch sei, wozu er sich mache, gegenüber. Dies aber ist kein Widerspruch, wie auch die chrétiens unter den Existentialisten be-weisen. Wie schon im Vorangegangenen erwähnt, ist zudem zum Verständnis für einige wenige Stellen des Textes die Kenntnis von L’Etre et le Néant notwendig: zum Beispiel bliebe der Begriff des dépassement ohne eine ge-nauere Kenntnis des Konzepts des pour-soi unverständlich. Allerdings sind besonders die formellen Aspekte des Textes (vor allem von Keefe) gelobt worden: SARTRE habe eine kurze Formel gefunden, die die Fundamente des Existentialismus’ summiert, schwere und komplexe philosophische Themen seien klar und selbstgeschlossen erklärt und ei-ner Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die moralischen und ethischen Aspekte werden sehr deutlich, Konzepte wie das der Bindung, der konsequenten Verantwortlichkeit, die Idee, daß Nicht-Wählen-Wollen Wählen ist und die Wichtigkeit der Schöpfung und Erfindung von Moralität wer-den betont. Zudem ist der Text nicht trocken formuliert, sondern durch zahlreiche Referenzen, Analogien, Beispiele und Illustrationen aufgelockert. Todd allerdings beanstandet, daß SARTRE Sätze lose verbin-det, notwendige Begründungen für Analogien einfach ausläßt. In die-sem Sinne versuche SARTRE, auf der Basis von phänomenologischer Philoso-phie (die in sich rechtzufertigen ist) einen Moral-Kodex abzulei-ten. Dies sei allerdings nicht zulässig, da die Verbindung zu lose, d.h. die Folge-rung nicht notwendig, sondern kontingent sei. Der Existentialismus als Humanismus ... Schlußwort, Seite 18 4. Schlußwort Während der Beschäftigung mit Sartres Text L’Existentialisme est un hu-manisme ist meine nahezu überschwengliche Begeisterung, sowohl vom Inhalt, als auch von der Form des Textes, umgeschlagen in eine kriti-schere Betrachtung. Das Problem lag vor allem in der Annäherung an ein doch sehr komplexes philosophisches Konzept über eine vereinfachende, populäre Quelle. Zwar meine ich die von SARTRE formulierten, humanistischen Implikationen verstanden zu haben, dennoch erscheint mir eine solche individualistische Philosophie durchaus elitär. Der Umstand, das SARTRE sich in seinem weiteren Werk nicht weiter mit dem Humanismus auseinandergestzt hat - Francis Jeanson behauptet sogar, SARTRE selbst habe diese Rede bereut und später als ‘Fehler’ angesehen - erschwert das Verständnis, inwiefern er sich und seine Philosophie vom Individua-len zum Sozialen verändert habe (s.o.). Vor allem das Konzept der mauvaise foi war im Zusammenhang mit der notwendig positiven Wahl schwer zu begreifen. Gerade hier kann ich mich der Kritik Todds an-schließen, die Sätze seien unzureichend miteinander verbunden. Trotz der Probleme, die der Text (erst nach und nach) mit sich brachte, halte ich ihn für besonders wertvoll und interessant, da er mehrere Dimensionen hat, die zusammenspielen: die philosophische Dimension der Lehre SARTREs, die historische Dimension des Textes, sowie die biographische Dimension, die SARTRE als Menschen erscheinen läßt, der seine Philoso-phie zu leben versucht hat. Die Biographie meint an vielen Stellen von dem Erfolg dieses Veruchs zeugen zu können: „Sartre hat sich selbst ge-macht: er machte sich stark, er machte einen Schriftsteller aus sich.“ „Man sieht mit welcher Strenge, mit welcher Genauigkeit er sich selbst beobachtet, an sich arbeitet, sich zerstört und neu entwirft.“ Als Popularisierung SARTREscher Philosophie erscheint mir der Text außerordentlich gelungen, das Argument, er sei wenig wertvoll gerade wegen dieser Intention, empfinde ich als elitär und absurd, wo doch Phi-losophie und Leben wirklich eins sein sollten. Der Existentialismus als Humanismus ... Nachgereichte Ergänzung zur Hausarbeit, Seite 19 5. Nachgereichte Ergänzung zur Hausarbeit Der Begriff des existentialistischen Humanismus definiert sich zunächst ex negativo, d.h. in Opposition zum klassischen Humanismus. Während dieser den Menschen durch eine universale Natur festlegt und auch das Humanum, also den Inhalt des Humanismus, als Katalog von Werten und Idealen beschreibt, ist der existentialistische Humanismus inhaltlich nicht fixiert. Bei SARTRE geht es nicht um eine kultisch zu verehrende 'humanité', um eine zum bürgerlichen Kulturgut verweste Größe, sondern um eine individuell ermöglichte Selbst- und Menschwerdung. Der klassische Humanismus betrachte, so SARTRE, den Menschen als Endzweck und höheren Wert, als Ziel und Ende einer Entwicklung und teile dem Menschen aufgrund von Einzelhandlungen herausragender Individuen einen bestimmten Wert zu. Im existentialistischen Denken aber ist für den Menschen ein Allgemeinurteil über den Menschen unmöglich (aufgrund der Subjektivität, die sich aus dem Cogito ergibt). Eine universale Natur des Menschen, eine wesensmäßige Fixierung sittlicher Qualitäten und Zwecke ist abzulehnen, da der Mensch frei und immer neu zu schaffen ist. Insofern sind bei SARTRE sowohl das Wesen des Menschen als auch das Humanum Leerstellen, die das Individuum durch sein projet füllen muß. Das heißt: Während die menschliche Natur des klassischen Humanismus den Menschen bindet und stark normierende Funktionen für sein Handeln hat, ist der Mensch aus existentialistischer Sicht vollkommen frei, und nur seine Freiheit initiiert seine Wahl und sein projet, durch welches er sich immer neu schafft und durch welches er eine selbstverantwortete private Moral erzeugen, individuell über das Humanum bestimmen und seine Humanität realisieren kann. Der Mensch entscheidet nicht, indem er sich nur auf sich selbst rückbezieht, sondern indem er außerhalb seiner selbst Ziele sucht, die er verwirklichen möchte. Insofern ist das Individuum durch sein projet immer außerhalb seiner selbst, er verfolgt selbsterfundene transzendente Ziele, ist insofern selber Überschreitung. Es gibt keinen anderen Gesetzgeber des Menschen als ihn selbst. SARTREs Humanismus ist der Glaube, daß der Mensch ein spirituelles Wesen sei, das seine Humanität eben dadurch realisiert, daß es seine normalen Grenzen überschreitet. Auch ist der existentialistische Humanismus geschichtsphilosophisch nicht fixiert auf ein eschaton, d.h.: Zwar ist er stets prospektiv auf eine jeweils mögliche Verwirklichung von Humanitas gerichtet, Humanitas meint aber nicht einen durch geschichtliche Veränderungen herzustellender gesamtgesellschaftlichen Heilszustand. Der geschichtliche Prozeß der Humanisierung ist nie in seiner sittlichen Qualität und in seinen Resultaten Der Existentialismus als Humanismus ... Nachgereichte Ergänzung zur Hausarbeit, Seite 20 gesichert, Humanisierung ist immer 'nur' das riskante Unternehmen des Einzelnen oder der Gesellschaft, welches durch Freiheit (zu der er/sie verurteilt ist) initiiert, möglicherweise durch Revolution vorangetrieben, nie aber durch geschichtlichen Fortschritt garantiert ist. Das Leben hat a priori keinen Sinn; die aus der Freiheit entstehende Wahl, das Engagement, die eigene Sinnstiftung des Individuums ist die einzige Möglichkeit angesichts der Kontingenzen und Sinnlosigkeit des Lebens. Die Subjektivität und Sponaneität des Einzelnen ist verantwortlich für die Humanisierung. Humanismus muß daher progressiv und emphatisch sein. Er ist auf die Zukunft gerichtet, da das Humanum als Inhalt des Humanismus als ein 'Entworfenes', ein zeitlich und geschichtlich zu erfüllendes projet zu verstehen ist. Er muß emphatisch sein, da der Entwurf als noch ausstehender Sinn von Geschichte auf die Wesensmöglichkeit des Menschen rekurriert. Humanismus ist also keine angebbare philosophische Richtung, keine kulturgeschichtliche Strömung, sondern Herausforderung an jegliches Denken, das Humanum zu definieren und zur Zielgestalt menschlicher Praxis zu machen. Genau hierin liegt die Würde des Menschen: Er hat die kreativen Fähigkeiten und die Kraft, die Kontingenzen des Lebens zu einer würdevolleren menschlichen Existenz zu transformieren, Werte zu schaffen und Sinn eigenverantwortlich zu stiften in seinem Leben, welches a priori keien Sinn hat. Genau hierin liegt die Radikalität des SARTREschen Existentialismus: Er verlangt dem Menschen mehr ab, als das bloße Streben nach Idealen, nämlich das Schaffen jener. Der Existentialismus zeichnet kein Idealbild des Menschen, das Individuum wird auch nicht als Instrument eines universalen Plans betrachtet, sondern vielmehr zur eigenverantwortlichen Handlung und Sinnstiftung genötigt. Voraussetzung für diese Sinnstiftung ist die Subjektivität des Menschen, bzw. die Intersubjektivität und die Abhängigkeit von anderen (s.o.). Als Theorie des Handelns wird das alltägliche Zusammenleben absolut gesetzt. Werte, Würde und Moral hängen nur vom Handeln ab, Taten manifestie-ren, was wir sind oder sein werden, d.h. der Mensch ist nicht durch seine Möglichkeiten definiert, sondern durch seine Handlungen. Somit ist er verantwortlich für das, was er ist, hat aber immer die Möglichkeit zur Veränderung seiner selbst. Der Existentialismus nimmt also nicht den Mut zum Handeln, son-dern drängt den Menschen zu Handlungen, da es nur im Handeln Hoff-nung geben kann. Prinzipien, moralische Vorstellungen und auch so et-was wie der kategorische Imperativ reichen nicht aus im Le-ben, wenn sie nicht im Handeln aktualisiert werden. Die Konzeption des SARTREschen Humanismus erscheint mir in seinem philosophischen Kontext durchaus einleuchtend. Die Grundidee liegt in der absoluten Freiheit und der Würde des Menschen, der vollkommen eigenverantwortlich für sein Wesen und sein Handeln ist. Allerdings bleiben einige Prämissen des SARTREschen Humanismus’ Der Existentialismus als Humanismus ... Nachgereichte Ergänzung zur Hausarbeit, Seite 21 letztendlich nur durch Setzungen begründet, die das Ablehnen einer menschlichen Natur verbietet. Wenn SARTRE statuiert, daß nur beim Menschen die Existenz der Essenz vorausgeht, so bestätigt er ein allen Menschen gleiches Wesen und widerspricht sich insofern. Auch unterstellt er dem Menschen eine dem Denken des klassischen Humanismus’ ähnliche Determiniertheit durch Vernunft: Der Mensch komme durch seine Intersubjektivität zwangsläufig zu einer Wahl, die für alle Menschen gut sei. Weiterhin vernachlässigt Sartre die äußeren Einflüsse, das Konzept der Geworfenheit verhindert eine Analyse der familiären und gesellschaftlichen Einwirkungen auf den Menschen, die ihn in seiner Wahl, in seinem projet stark determinieren können. Dennoch bleibt die Idee der vollkommenen Eigenverantwortlichkeit schlüssig: Selbst wenn das Individuum nur seine Reaktionen auf bestimmte Situationen wählt, so können diese Lebenssituationen nie seine (möglicherweise 'moralisch falschen') Entscheidungen rechtfertigen. Die mauvaise foi kann nie mit Sicherheit verhindert werden, es besteht aber immer die Möglichkeit, sein eigenes projet zu verändern, sich neu zu wählen. In Abgrenzung zum klassischen Humanismus erscheint mir das existentialistische Konzept sinnvoller und zeitgemäßer: Idealismus ist nicht unbedingt notwendig, um sich als humanes Wesen zu realisieren, die sog. humanistische Tradition, statische Verhaltensregeln, eine festgelegte Moral verringern Verantwortlichkeit und Freiheit des Menschen, nehmen ihm leztendlich seine Würde. Seine Basis hat der existentialistische Humanismus im Gegenwärtigen, er verweist nicht auf überalterte Traditionen oder auf ein eschaton, sondern befähigt den Menschen zur Handlung, läßt ihm die Möglichkeit zur Sinnstiftung und führt daher nicht, wie oft kritisiert wird, zu Angst und Verzweiflung. Auf seine Funktionalität aber ist der existentialistische Humanismus meiner Meinung nach kritisch zu prüfen. Die Realisierung des Individuums als humanes Wesen ist als Ziel angegeben, nicht als Ideal, sondern als notwendige Konsequenz angesichts der Kontingenzen und der Sinnlosigkeit des Lebens. Diese Notwendigkeit, das Konzept der zwangsläufig positiven Wahl, wird meiner Meinung nach nicht ausreichend belegt, erscheint als eben solche Setzung, die die Ablehnung der universalen menschlichen Natur verbietet. Sowohl der klassische Humanismus, als auch der existentielle wollen nicht nur den Menschen als humanes Wesen beschreiben, sondern auch die Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Humanisierung aufzeigen. Während der klassische Humanismus das Streben nach den gesetzten Idealen motiviert, indem er normierende Konzepte einsetzt, um den Menschen dazu anzuhalten, 'hilfreich, edel und gut' zu sein, liegt bei Sartre die Motivation lediglich in der absoluten Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber sich selbst und den anderen. Fraglich bleibt, ob der Mensch sich denn überhaupt in diesem Der Existentialismus als Humanismus ... Nachgereichte Ergänzung zur Hausarbeit, Seite 22 Sinne verantwortet, sich selbst, seine Handlungen, sein gesamtes projet immer wieder auf seine Verantwortbarkeit überprüft. Inwiefern ist es gesichert, daß das Individuum sich dementsprechend entwirft, daß es 'gut' für alle Menschen ist? Ja, inwiefern können Handlungen und Haltungen überhaupt noch als 'gut' oder 'schlecht' gekennzeichnet werden, wenn es keine verbindliche Moral gibt? Zwar ist auch im klassischen Humanismus nicht gesichert, daß der Mensch, in dem 'Gut' und 'Böse' vereint sind, die hochgehaltenen Werte überhaupt anstrebt, aber die soziale Kontrolle gewährleistet eine gewisse Einhaltung der Normen. Man kann weder davon ausgehen, daß der Prozeß der Humanisierung unmotiviert, quasi automatisch, einsetzt, noch davon, daß er zwangsläufig geschieht (nichts bewahrt den Menschen vor der mauvaise foi), aber das SARTREsche Konzept macht die Möglichkeit und die Chance einer Humanisierung im gegenwärtigen Alltag deutlich und ist somit ein optimistisches, progressives, und rechtfertigt sich als Humanismus. Der Existentialismus als Humanismus ... Literatur, Seite 23 6. Literatur Primärliteratur: Sartre; Jean-Paul: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Reinbek 1990. Sartre, Jean Paul: Gesammelte Dramen. Reinbek 1969. Sartre, Jean-Paul: Ist der Existentialismus ein Humanismus? In: ders.: Drei Essays. Berlin 1977. Sartre, Jean-Paul: L’Existentialisme est un humanisme. Suhr, Martin: Sartre zur Einführung. Hamburg 1987. Sekundärliteratur: Baldwin, Thomas: Sartre: Existentialism and Humanism. In: Versey / Godfrey (Hrsg.): Philosophers ancient and modern. Cambridge 1986. Biemel, Walter: J.-P. 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