xxxxx cand. med. vet. xx.Semester Gießen, den xx.xx.2002 Krankenbericht Der Bericht erfolgt über einen Patienten der Chirurgischen Veterinärklinik der Justus-Liebig-Universität in Gießen im Rahmen des Dritten Abschnitts des Tierärztlichen Staatsexamens. Das Tier, ein Hund, wurde am xx.xx.2002 in die Klinik eingeliefert, Besitzer ist Herr xy aus z. Die zugewiesene Kliniksnummer lautet xxxxxx. Die Röntgennummer ist xxxxx. Die Untersuchung findet am xx.xx.2002 in der Zeit von 9:00 – 11:00 Uhr statt. Vorbericht Der Hund wurde vor acht Wochen, also ungefähr Mitte September 2002, aus einem Tierheim übernommen. Den Besitzern fiel ein „komisches Laufen“ des Tieres auf. Signalement Bei dem zu untersuchenden Tier handelt es sich um den männlichen Colliemix „xxx“. Percy wurde im Januar 2002 geboren. Er wiegt etwa 10 kg. Er hat kurzes, rehbraunes Fell. Allgemeinuntersuchung (erfolgt einen Tag nach der Operation) Beim Betreten des Stalles ist Percy sehr lebhaft. Er steht auf drei Beinen, das linke, operierte, in einen Verband gepackte Bein wird nicht belastet. Der Hund ist sehr lebhaft und nimmt aufmerksam an seiner Umgebung teil. Pflege- und Ernährungszustand des Tieres sind gut. Die Herzfrequenz beträgt 108 Schläge pro Minute, die Körperinnentemperatur liegt bei 38,2°C. Die Atemfrequenz kann aufgrund des ständigen interessierten Schnüffelns nicht ermittelt werden. Spezielle Untersuchung (erfolgt einen Tag nach der Operation) Haare, Haut, Unterhaut, sichtbare Schleimhäute Das Haarkleid ist dicht und geschlossen und nicht vermehrt ausziehbar. Ektoparasiten sind nicht sichtbar. An der linken Hintergliedmaße befindet sich ein Verband, der bis unter das Hüftgelenk reicht. Bei Abnahme des Verbandes fällt die fast vollständige Ausrasur des cranialen und lateralen Oberschenkels auf, sowie eine Naht, die etwa zehn Zentimeter lang ist und von dorsal nach ventral über das Kniegelenk reicht. Die Naht ist trocken, nicht vermehrt warm und riecht nicht. In der Nahtumgebung ist das Gewebe etwas geschwollen. Das Wundgebiet ist leicht schmerzend. Der Hautturgor ist erhalten, die unpigmentierten Anteile der Schleimhäute sind blaßrosa, feucht, glatt, glänzend und ohne Auflagerungen. Es besteht eine kapilläre Rückfüllungszeit von weniger als 2 Sekunden, die Episkleralgefäße sind mäßig gefüllt und abgrenzbar. Kreislauf Der Herzspitzenstoß ist deutlich fühlbar. Die Auskultation des Herzens ergibt eine Frequenz von 108 Schlägen pro Minute. Der Herzschlag ist kräftig und regelmäßig. Es liegt eine gute Abgesetztheit der Herztöne vor, Nebengeräusche sind nicht zu hören. Eine Palpation des Pulses erfolgt gleichzeitig an beiden Art. femorales. Er ist regelmäßig, gleichmäßig und schwach. Die Frequenz ist 108 pro Minute. Die Arterien sind gut gefüllt und gespannt. Atmungsapparat Seite 1 Weil Percy bei der Untersuchung so lebhaft ist, kann die Atmung nicht gezählt werden. Auch eine Beurteilung des Atemtyps ist nicht möglich. Bei der Auskultation der Lunge sind keine unphysiologischen Atemgeräusche zu hören. Verdauungsapparat Während der Untersuchung kann keine Futter- oder Wasseraufnahme beobachtet werden. Bei der Palpation des Abdomens sind keine Veränderungen feststellbar, der Kotabsatz ist nicht kontrolliert worden. Harn- und Geschlechtsapparat Die Untersuchung des Harn- und Geschlechtsapparat erbringt keine pathologischen Befunde. Über den Zeitraum der Untersuchung erfolgt kein Harnabsatz. Bewegungsapparat Das linke Hinterbein wird nicht belastet. Beim Laufen wird das rechte Tarsalgelenk nach medial gedreht, wobei die Pfote nach lateral ausgedreht wird. Der Bewegungsablauf des rechten Hinterbeins erscheint etwas steif, da das Kniegelenk nicht deutlich abduziert wird. Das Beugen des rechten Knies ist unangenehm für den Hund. Bei Palpation der Patellarsehne und gleichzeitiger Beugung und Streckung ist eine abnorme Ruckbewegung der Kniescheibe fühlbar. Eine manuelle Luxation ist nicht möglich. Ein Schubladenphänomen ist nicht auslösbar. Ansonsten sind die anderen Gelenke sowohl adspektorisch als auch palpatorisch unauffällig, es finden sich keine vermehrte Füllung, vermehrte Wärme, Schmerzhaftigkeit oder Verletzungen. Die Untersuchung von Knochen, Muskeln und Sehnen außerhalb des Wundbereiches ergibt keine pathologischen Befunde im Sinne von abnormer Beweglichkeit oder Geräusche, Verhärtungen, Zubildungen, vermehrter Wärme, Schmerzhaftigkeit und Verletzungen. Nervensystem Der Hund nimmt seine Umgebung sehr aufmerksam wahr. An den Gliedmaßen sind alle Reflexe normal ausgeprägt. Sowohl der Pannikulusreflex als auch der Analreflex sind auslösbar. Die Prüfung der Haltungs- und Stellreaktionen ergibt keine pathologischen Ergebnisse. Sinnesorgane Der Hund reagiert auf visuelle und akustische Reize. Ziliar-, Corneal- und Pupillarreflex sind vorhanden. Eine Untersuchung der Augen und Ohren erfolgt ohne besondere Ergebnisse. Weiterführende Untersuchungen Röntgen Auf der dorsoventralen Aufnahme beider Hüftgelenke bis zur distalen Hälfte der Tibia sieht man am Becken links eine geringgradige Divergenz und Sklerose. Das linke Knie weist eine Luxation der Patella nach medial auf. Insgesamt betrachtet sitzen die Femurköpfe so in der Pfanne, daß die Achse der beiden Femurknochen eine s- förmige Form haben. Sonographie Es zeigt sich beim Ultraschall, daß die Trochlea wahrscheinlich tief genug für die Patella ist, eine genaue Abklärung erfolgt in der Operation. Diagnose Patellaluxation nach medial dritten Grades (nach Singleton) links, Patellaluxation nach medial zweiten Grades (nach Singleton) rechts Differentialdiagnosen Kreuzbandruptur, aseptische Femurkopfnekrose Prognose Für Percy ist die Prognose vorsichtig zu stellen, weil die Operation zwar früh im Verhältnis zum Lebensalter durchgeführt wurde, die Knochen aber schon ihre ursprüngliche Form verändert haben. Seite 2 Therapie Die Therapie muß chirurgisch erfolgen, da es sich um eine Patellaluxation dritten Grades handelt. Der Hund bekommt 2 ml Polamivet und 1 ml Ketamin/Rompun i.v. Nach der Intubation bekommt er eine Isofluorannarkose. Percy wird auf dem Rücken liegend ausgebunden Der OP-Bereich ist zu scheren, zu waschen, zu rasieren und zu desinfizieren. Anschließend wird das Tier mit sterilen Tüchern abgedeckt. Der chirurgische Zugang ist craniolateral auf Höhe des Kniegelenks. Der Schnitt verläuft parapatellar und seitlich der Tuberositas tibiae. Er wird über das Knie bis jeweils zu einem Drittel von Femur und Tibia geführt. Hat man Haut und Unterhaut durchtrennt, ist die oberflächliche Faszie zu durchschneiden, zu mobilisieren und zu spreizen. Um die Tuberositas tibiae darzustellen, muß der Musculus tibialis cranialis subperiostal abgelöst werden. Dann wird die Tuberositas tibiae mit einem Sägeblatt oder einem Meißel abgesetzt. Nun kann das Ligamentum patellae mit der Tuberositas tibiae nach lateral an die korrekte Stelle gebracht werden und die Patella reponiert werden. Quadrizepssehnenansatz, Patella und Tuberositas tibiae müssen auf einer Linie liegen. Die Tuberositas tibiae wird an ihrem neuen Platz mit einem oder zwei Kirschnerdrähten fixiert. Die Sulcustiefe der Trochlea ist bei diesem Patienten ausreichend und deshalb kann es bei der Transposition der Tuberositas tibiae belassen werden. Die Gelenkkapsel wird nun mit absorbierbarem Nahtmaterial fortlaufend geschlossen. Ebenso die Unterhaut. Für die äußere Haut kann nicht-resorbierbarer Faden verwendet werden. Die Einzelhefte werden nach ca. zehn Tagen gezogen. Weiterer Verlauf der Behandlung Postoperativ muß das Tier am Springen gehindert werden. Für fünf bis sieben Tage bekommt er einen leichten Polsterverband. Er sollte für drei bis vier Wochen keine unkontrollierten Bewegungen machen, also nicht frei laufen, nicht mit anderen Hunden spielen etc. Percy sollte langsam an der Leine geführt werden, was mit der Zeit immer weiter gesteigert wird. Eine Physiotherapie (vorsichtiges Strecken und Beugen der Gelenke) kann gemacht werden, wenn der Hund das Bein belastet, sollte aber unbedingt durchgeführt werden, wenn das Bein nicht beim Laufen benutzt wird um eine Muskelatrophie oder eine Umstrukturierung der Knochen zu verhindern. Es ist darauf zu achten, daß der Hund alle vier Gliedmaßen belastet. Die Naht muß täglich kontrolliert werden, ein Lecken muß verhindert werden. Nach zehn Tagen können die Fäden gezogen werden. Die Kirschner-Drähte können nach ca. zehn Wochen entfernt werden. Da auf der rechten Seite eine Patellaluxation zweiten Grades vorliegt, wird geraten, bei dieser Narkose auch die gegenüberliegende Seite zu operieren. Epikrise Eine Patellaluxation ist eine Verlagerung der Kniescheibe aus der Trochlea patellaris nach medial oder lateral. Meist tritt sie einseitig auf. Bei einem Fünftel der Fälle jedoch auf beiden Seiten. Die meisten Patellaluxationen gehen nach medial. Hier sind die vererblichen Faktoren besonders bedeutend. Hauptsächlich sind kleine Hunderassen betroffen, wie Chihuahuas, Pudel, Pekinesen, Yorkshire Terrier und viele andere. Bei größeren Hunderassen luxiert die Patella meistens nach lateral, oft ist dies traumatisch bedingt. Oft tritt sie bei großen Hunden auch zusammen mit Hüftgelenksdysplasie auf. Hier wird nun auf die Patellaluxation nach medial eingegangen. Bei den meisten Patellaluxationen finden sich Deformationen des Femurs und der Tibia. Da bei hereditären Ursachen die Krankheit schon sehr früh besteht, wirkt sich die Fehlstellung der Patella auf die gesamte Gliedmaße aus. Andererseits kann auch ein angeborener falscher Winkel zwischen den Knochen selber eine Patellaluxation auslösen. Wie schwerwiegend die Veränderungen sind hängt davon ab, wie schwerwiegend und lange die Luxation ist. Je länger die Luxation schon besteht und je schneller das Tier wächst, desto ausgeprägter sind die Knochenveränderungen. Die Luxation nach medial führt zu einer Verschiebung des Musculus quadrizeps femoris, wodurch die mediale Epiphysenfuge des distalen Femurs erhöhtem Druck ausgesetzt ist. Dies führt zu unterschiedlich starkem Wachstum des Femurs. Die laterale Seite kann sich normal entwickeln während die mediale Seite gestaucht wird. Dadurch ändert sich die vorher gerade Achse des Femurs, es kommt zu einer Varusstellung. Auch die Tibia verändert ihre Form durch die unterschiedlichen Druckverhältnisse auf die Epiphysenfugen. Dadurch wird die Tuberositas tibia nach medial verlagert. Ist das Tier zu dem Zeitpunkt, an dem die Veränderungen auftreten, nicht mehr im Wachstum, rotiert die gesamte Tibia nach medial. Da sich die Trochlea patellaris auf Druck der Kniescheibe entwickelt, ist sie bei angeborener Patellaluxation oft unterentwickelt oder fehlt. Durch die Überbelastung des ganzen Kniegelenks kann es im Alter aufgrund der Patellaluxation auch zu einem Kreuzbandriß kommen. Seite 3 Die Krankheit wird aufgrund der klinischen Untersuchung und der weiterführenden Untersuchungen in unterschiedliche Schweregrade eingeteilt. Diese Einteilung erfolgt hier nach Singleton. Grad 1 entspricht einer habituellen Luxation. Die Kniescheibe kann bei gestrecktem Kniegelenk leicht luxiert werden, geht aber selbst wieder in ihre ursprüngliche Position zurück. Manchmal luxiert sie in Bewegung spontan, was dazu führt, daß die Tiere das Bein kurzfristig nicht belasten. Bei einer Luxation 2. Grades luxiert die Patella von selbst bei Beugung des Gelenks. Bei Streckung rastet sie wieder ein. Es sind auf dem Röntgenbild geringgradige Deformationen des Femurs und eine leichte Verschiebung der Tuberositas tibiae nach medial möglich. Die Tibia läßt sich nach innen rotieren. Die Tiere zeigen sowohl mittelgradige Lahmheit als auch lahmheitsfreie Phasen. Bei Grad 3 ist die Patella permanent nach medial luxiert. Sie ist manuell noch reponierbar, luxiert aber bei Beugung des Gelenks sofort wieder. Der Quadrizeps und die Tuberositas tibiae sind nach medial verschoben, die Trochlea ist flach und es kann eine Pseudotrochlea ausgebildet sein. Bei Grad 4 ist keine manuelle Reposition mehr möglich. Das betroffene Bein wird nicht belastet und in Beugestellung getragen. Eine Streckung des Gelenks ist nicht möglich. Die Muskeln dieser Seite atrophieren. Röntgenologisch finden sich hochgradige Veränderungen der Knochenstellungen. Eine operative Behandlung sollte ab einer Schwere von Grad 2 erfolgen, da diese unbehandelt bereits zu Veränderungen von Tibia und Femur führen kann. Je früher die Operation gemacht wird und je geringer die Veränderungen sind, desto besser ist die Prognose für den Patienten. Es gibt verschiedene Operationstechniken, die sowohl einzeln als auch kombiniert angewendet werden können. Die Operationstechnik wird bestimmt durch die Art und Schwere der Veränderungen. Eine Möglichkeit ist die laterale Fasziendopplung. Dabei wird die Spannung der um das Kniegelenk liegenden Fascia lata erhöht und somit eine größere Stabilität im Gelenk erreicht. Desweiteren kann die Tuberositas tibiae nach lateral versetzt werden, was die Zugrichtung des Quadrizeps korrigiert. Die Trochlea patellaris kann vertieft werden, damit die Patella nicht mehr aus ihrer Gleitrinne rutscht. Bei einer Patellaluxation 4. Grades kann eine Arthrodese, also eine Versteifung des Gelenks, angeraten werden. Für einen Kreuzbandriß oder eine aseptische Femurkopfnekrose konnten weder bei der klinischen Untersuchung noch auf dem Röntgenbild irgendwelche Hinweise gefunden werden. Literatur: Operationen an Hund und Katze, Schebitz u. Brass Orthopädische Chirurgie und Traumatologie, Bonath, Prieur Vorlesungsmitschriften Seite 4