Die Macht des Placebo-Effektes Grammatikalisch handelt es sich beim Wort Placebo um die erste Person Futurum des lateinischen Zeitwortes Placebo, gefallen, gefällig sein. Placebo heisst also, ich werde gefällig sein. Damit bezeichnet man Scheinmedikamente, die gar keine Wirkung haben können, geschweige denn eine therapeutische. Es handelt sich um chemisch völlig indifferente Substanzen. Trotzdem helfen sie in ganz erheblichem Ausmass. Diese nicht geklärte Wirkung, zu der es eigentlich gar nicht kommen dürfte, wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Welche Einstellung, welcher Glaube ist Voraussetzung für diese erstaunliche und bemerkenswerte Wirkung? Ist es die Überzeugung, die nur deshalb etwas als wahr erachtet, weil eine Autorität, eine Majorität es behauptet? Worauf kommt es bei diesem Glauben an? Auf den Glaubensinhalt oder auf etwas, das schon im alten Testament mit dem Begriff Glaube umschrieben wird? Dass Glaube heilen kann, steht schon in der Bibel geschrieben. Während sich unsere Medizin lieber auf streng wissenschaftlich erprobte Substanzen und Techniken verlässt, haben andere Kulturen jenen Gedanken bis heute aufrecht erhalten und genutzt. Die Medizingeschichte ist voll von Methoden, deren Wirkung ausschliesslich eine physiologische ist. Die Palette reicht vom pulverisierten, haremgehängten Verbrecher bis zu Bereichen der Homöopathie. Doch beide Verfahren haben etwas gemeinsam. Sie wirken nicht spezifisch, d.h. sie können zum Beispiel nicht auf Grund von stofflich zusammengesetzten Substanzen gezielt bestimmte Krankheitssymptome heilen. Der New Yorker Psychiater Arthur Schapirow hat an die 2000 Placebos gesammelt. Unter anderem dienten seltsam geformte Messer noch im 19. Jahrhundert dazu, Krankheiten per Aderlass aus dem Körper zu vertreiben. Weniger brutal ist ein Placebo, welches seit 3000 Jahren gegen unzählige Beschwerden Anwendung findet: Die Ginseng Wurzel. Diese Magie ist längst besserem Wissen zum Opfer gefallen, aber die Empfänglichkeit für die vielfältige Wirkung der Placebos ging nicht verloren. Die Kraft der Einbildung kann so stark sein, dass sie die Wirkung der Therapie vollständig verändert oder aufhebt. Der französische Arzt Armand Trusseaud, der im 19. Jahrhundert lebte, sagte einmal, neue Medikamente sollte man schnell nutzen, bevor sie die Wirkung verlieren würden. Als Beispiel kann die Angina pectoris dienen. Die Patienten haben starke Schmerzen in der Brustgegend, die durch Erkrankung der Blutgefässe am Herzen hervorgerufen werden. Jedes neue Medikament war anfangs äusserst wirksam. Dieses war nichts anderes als ein Placebo-Effekt mit einer Wirksamkeit von 70-90%. Diese Substanzen hatten keine pharmakologischen Eigenschaften, welche gegen die Krankheit hätten wirken können. Sobald ein neues Medikament auf den Markt kam, verloren die Patienten den Glauben an das alte, dessen Wirkung in gleichem Masse schwand. Dieses Phänomen hat man sogar bei Herzoperationen zur Behandlung der Angina pectoris. Wenn Patienten an einen Effekt glaubten, stellte sich dieser auch ein. Wenn nicht, blieben sie aus. Ärzte haben vor vielen Jahren ein Experiment gemacht, das mit der modernen medizinischen Ethik nicht mehr zu vereinbaren wäre. Sie teilten Patienten, die für die Angina pectoris Operation vorgesehen waren, in zwei Gruppen ein. Die einen operierten sie wirklich, bei den anderen schnitten sie nur die Brust auf, ohne wirklich etwas zu tun. Hierher stellte sich bei beiden Gruppen der gewünschte Effekt ein. Bei der Gruppe, die nur zum Schein operiert worden war, die aber an die Methode glaubte, war der Erfolg sogar noch grösser. Nicht nur, dass die Schmerzen nachliessen, es wurden auch messbare körperliche Veränderungen festgestellt. Ob ein Placebo seine Wirkung entfalten kann, hängt nicht etwa vom Intelligenzgrad, vom Bildungsgrad oder von der Fähigkeit zu rationalem Denken ab. Anfällig ist praktisch jeder. Es ist ein Instinkt, ein eingebautes Verhalten, welches sich im Verlauf der Evolution entwickelt hat, sagt Arthur Schapirow. Die Menschen, welche die Fähigkeit hatten, sich an Symbolen zu orientieren, entwickelten Religionen, Erklärungen. In Harvard wurden transzendentale Meditationen, Sem-Meditationen und Yoga auf ihre körperlichen Wirkungen hin untersucht. Das Ergebnis: Bei allen Methoden kann mit einiger Erfahrung der Sauerstoffverbrauch um fast 20% herabgesetzt werden. Der Stoffwechsel verlangsamt sich, die Herzfrequenz wird ebenso gesenkt wie der Blutdruck. Das Ziel der Meditation ist die höchst mögliche Kontrolle über den Geist zu erreichen und damit auch den Körper zu beeinflussen. Vielleicht haben die Ärzte hierzulande Angst, verspottet zu werden und Patienten zu verlieren, wenn sie statt Medikamente Meditation verschreiben oder anwenden. Wer nun wissen will, wie eine Substanz tatsächlich auf den Körper wirkt, muss alle seelischen und psychologischen Faktoren ausschalten. Man nimmt z.B. 200 Patienten und teilt sie in zwei, nach Alter und Geschlecht möglichst gleiche Gruppen ein. Die eine Gruppe erhält die echte, wirksame Substanz, die andere Placebos. Meist sind das Zuckerpillen, äusserlich nicht unterscheidbar von den echten. Die Patienten und Ärzte wissen nicht, wer welche Substanz einnimmt. Diese Daten, verwaltet von einem Computer, können nach einer definierten Zeitspanne abgerufen werden. Nur wenn die echte Substanz in ihrer Wirkung tatsächlich dem Placebo überlegen ist, kann sie als medizinisch wirksam gelten. Als erstaunliches Phänomen zeigte sich, dass auch Patienten, welche mit dem Placebo behandelt wurden, über Nebenwirkungen der echten Substanz berichteten: die ungeheure Macht des Placebo-Effektes. Praktisch alle modernen Medikamente sind heute nach dem oben besagten Doppelblindverfahren getestet. Es wurde eine Studie durchgeführt, in der speziell der Wirkstoff Diazepam (ein Minortranquilizer) in einem Doppelblindversuch mit Placebo zur Behandlung von leichten Angstneurosen verglichen wurde. Dabei fand man in der ersten Woche eine leichte Überlegenheit des Diazepam heraus, welche in den folgenden fünf Wochen nicht mehr feststellbar war. Die meisten Tranquilizier können zu 95% als Placebos bezeichnet werden, sagt die Wissenschaftler-Gruppe von Schapriow. Die Psychodrogen sind zum grossen Placebo unseres Jahrhunderts geworden. Der Harvard-Professor Herbert Benson ruft zum Nachdenken auf: „Ich meine, die Medizin glaubt heute zu sehr an die Technologie und die Pillen. Wir werfen einen der wichtigsten Aspekte der Medizin über Bord, der jahrtausendelang eine Säule der Medizin war, den richtig verstandenen Placebo-Effekt. Damit meine ich jetzt nicht das Verabreichen der Zuckerpillen, sondern die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Wir sollten sie nicht aus dem Auge verlieren, sondern nutzen.“ „Das ist genau das, was wir unseren Medizinstudenten beibringen sollten, und wir müssen den Patienten wieder ein Bewusstsein für die Beziehung zu ihrem Arzt geben. Dann erreichen wir bessere Ergebnisse. Aber die Ausbildung der Ärzte, wende ich ein, zielt heute genau in die andere Richtung. Das ist eine sehr unheilvolle Entwicklung. Unsere Wissenschaft zeigt wunderbare Resultate, und sie hat Heilverfahren gebracht, die vor hundert Jahren undenkbar waren. Aber das reicht nicht. Wir kommen ohne die menschliche Beziehung Arzt-Patient nicht weiter. Sie ist ein sinnvoll eingesetzter Placebo-Effekt.“ Das Rätsel Placebo Es gibt Medikamente, die nachweisbar nichts nützen. Trotzdem fühlt sich ein beträchtlicher Teil der Patienten besser nach der Verabreichung solcher “Placebos“. Es ist das abendliche Spitalritual: Die Krankenschwester verteilt die Medikamente. Herr Müller bekommt seine gewohnte Pille, mit der er mühelos einschlafen kann. Anders ergeht es seinem Bettnachbarn, Herrn Meyer: Er leidet unter einer besonders hartnäckigen Schlaflosigkeit. Doch heute bekommt er ein neues Medikament. Man habe mit ihm gute Erfahrung gemacht, erklärt ihm die Schwester. Und in der Tat: Endlich findet Herr Meyer den Schlaf und erwacht erst wieder am anderen Morgen. Was Patient Meyer nicht weiss: Er wurde weder mit einem neuen Präparat behandelt, noch war er Versuchsperson eines wissenschaftlichen Experimentes. Die geschluckte “Wunderpille“ bestand aus Milchzucker und nennt sich fachsprachlich Placebo. Dreissig bis achtzig Prozent In den medizinischen Lexika finden sich unter dem Stichwort Placebo Angaben wie “Leerpille“, “indifferente unwirksame Substanz“ oder “Scheinmedikament ohne Wirkstoff“: Paradox ist, dass die wirkstofflose Substanz eine Wirkung zeigen kann. Diese illustrieren ungezählte Placebo-Behandlungen: In dreissig bis gegen achtzig Prozent (je nach Studie) helfen Placebos bei Schlafproblemen, Schmerzzuständen, Migräne, Ängsten, hohem Blutdruck, Magengeschwüren oder Erkältungen. Die Wirkung wird als Placebo-Effekt bezeichnet. Es gibt kaum eine Krankheit, bei der das Placebo nicht hilft. Der modernen Schulmedizin, die sich weitgehend den Biowissenschaften verschrieben hat, Seele Geist und Bewusstsein auf Gehirnfunktionen und messbare Substrate reduziert, ist dies suspekt und läuft ihr zuwider. Placeboerfolge werden als Kurpfuscherei, Wunderheilung oder als unseriös abgetan. Der Zürcher Pharmazeut Gerold Schönbächler nennt die Gründe: Das Phänomen werde “negativ“ definiert, um es wegerklären zu können. Keine Medizin ohne Placebo Vergessen geht dabei, dass die Medizin von allem Anfang an eine Placebomedizin war, wie der amerikanische Placeboforscher Arthur Shapiro festhält: “Das bis vor kurzem so gut wie alle anderen Medikamente Placebos waren, lässt sich die Geschichte der medizinischen Behandlung weitgehend als Geschichte des Placebo-Effektes beschreiben.“ Bereits Paracelsus setzte auf Form und Farbe der Pflanzenheilmittel. Dass das Design, darunter die Farbe einer Tablette, tatsächlich mitentscheidend ist, ob das Medikament wirkt (oder nicht), war im renomierten “British Medical Journal“ zu lesen: Blaue und grüne Tabletten machten müde, rote, gelbe und orange regten an. Placebopillen werden erst seit zweihundert Jahren mit dem Aufkommen der modernen Medizin abgegeben. Verabreicht werden Pillen oder Spritzen aus gepresstem Milchzucker, einem Wasser-Alkoholgemisch oder einer Kochsalzlösung. Sie bekommen einen Eindruck machenden lateinischen Namen. Das Erstaunliche dabei ist: Placebopräparate können auch Nebenwirkungen haben! Über Blutbildveränderungen, lebensbedrohliche Allergien bis hin zur Abhängigkeit wird praktisch alles beschrieben, was den Placebo-Effekt eigentlich nur bestätigt. Der Doppelblindversuch Heutiges Haupteinsatzgebiet für Placebo ist die Arzneimittelprüfung: Im sogenannten Doppelblindversuch, auch Placebokontrolle genannt, werden neue, das heisst “richtige“ Medikamente gegen Placebos geprüft. Erzielt das neue Präparat die bessere Heilkraft als das Placebo, gilt es fortan als wirksam. Der Placeboeffekt wird als vernachlässigbar betrachtet. Hier hakt die Kritik ein: Für den Einsiedler Arzt und Epidemiologen Johannes G. Schmidt war es klar: “Placebowirkungen sind echte Wirkungen, für welche die Medizin aber heute noch keine spezifischen Erklärungen hat.“ Und laut Donald F. Klein, Professor am Departement of Psychiatry an der Columbia University New York, “ist es trotz grossem Aufwand nicht möglich, die Wirkung von Arzneimitteln von derjenigen von Placebos klar zu unterscheiden.“ Wie wirkt Placebo? Placebo: Ein Wirkstoff, der keiner ist und doch wirkt? Wie geht das vor sich? Allgemein werden bei einer Besserung Spontanheilung, suggestive Einflüsse oder eine Erwartung des Arztes oder der Ärztin dafür verantwortlich gemacht. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist für die Wirkung mitverantwortlich. Der Psychoanalytiker Michael Balint schreibt über die “Droge Arzt“ folgendes: Nicht das Medikament sei ausschlaggebend, sondern die Art und Weise, wie der Arzt es verschreibe, die ganze Atmosphäre, in welcher die Medizin verabreicht und eingenommen werde.