Nicht-Spezifische Behandlungseffekte. Bedeutung in der Reisemedizin Dr. Helmut Jäger: FTR, 2010 17(2):76-79, Volltext auf Anfrage, Überarbeitung 08.12.2016. Zusammenfassung Unspezifische therapeutische Effekte wirken bei jeder medizinischen Intervention, unabhängig davon ob ein plausibler spezifischer Wirkzusammenhang nachgewiesen wurde oder nicht. Placeboeffekte betreffen daher nicht nur die Kontrollsondern ebenso die Verum-Gruppe einer Studienpopulation. Das Ausmaß dieser unspezifischen Reaktionen ist von großer Bedeutung für den therapeutischen Erfolg. In allen medizinischen Bereichen, so auch in der Reisemedizin, ist es daher notwendig, unspezifische Effekte besser zu verstehen, und zu überprüfen, welche Konsequenzen sich aus dem heutigen Kenntnisstand für eine rationale, Evidenz basierte Beratung und Behandlung im Interesse des Patienten ergeben. Summary Non specific therapeutic effects walk along with any medical intervention, independently whether a plausible specific effect was proven or not. In placebo controlled studies unspecific therapeutic reactions affect both the intervention and the control group. The extent of these non specific reactions is of great importance for the therapeutic success. Therefore in any medical field, including travel medicine, a better understanding of non specific effects and drawing of consequences for evidence based consultations and counselling is important in the best interest of the patients. Artikel Medizinische Interventionen beeinflussen einen Krankheitsverlauf auch dann, wenn die angewandte Maßnahme selbst nicht wirksam ist. Der Effekt dieses meist „Placebo“ genannten Phänomens wird je nach Untersuchung angegeben mit 30-60% der Verbesserung des Befindens gegenüber einer Nichtbehandlung. Das liegt daran, dass Behandlungen und kommunikative Interaktionen mitunter starke unspezifische Effekte auslösen, wobei Manipulationen offenbar besser wirken als Tabletten, auch dann, wenn beide inhaltsleer sind wie eine Akupunktur außerhalb von Akupunkturpunkten oder gepresstes Milchpulver (Kaptchuk 2006). Das erklärt warum jahrhundertelang sinnlose und gefährliche Methoden angewandt wurden, wie der Aderlass, durch den u.a. George Washington zu Tode kam. Offenbar wurde diese drastische Intervention von vielen Patienten mit Heilung assoziiert und wirkte daher vertrauenserweckend, ablenkend und sicherheitsvermittelnd. Und Beruhigung wirkt sich im Allgemeinen positiv auf den Genesungsprozess aus. Homöopathie und Akupunktur sind Methoden, die ebenfalls mit starken unspezifischen Effekten assoziiert sind, aber bei sachgerechter Anwendung keine Nebenwirkungen mit sich bringen. Es ist nicht Gegenstand dieser Überlegungen zu diskutieren, ob beide genannten Methoden darüber hinaus spezifische Wirkungen entfalten. Es soll hier nur angedeutet werden, wie unspezifische Begleitumstände eine Wirkung entfalten könnten. Bei der Homöopathie ist die Zuwendung zum Patienten sehr wichtig, die differenzierte, zeitaufwendige Anamnese, eine vertrauensvolle Zuwendung und die Sicht des Patienten im Zusammenhang seiner Lebenssituation. Bei der Akupunktur stehen diese Faktoren ggf. weniger im Vordergrund, dafür wird der Patient körperlich intensiv betrachtet, abgetastet und berührt, und es wird durch eine ritualisierte, „punktgenaue“ Intervention eine leichte charakteristische und einprägsame Schmerzreaktion ausgelöst („de qi“), eine Sensation, die der ähnelt, die bei einer Impfung auftritt. Zur Überprüfung der Wirksamkeit der Akupunktur, wurde in Deutschland ein erheblicher methodischer Aufwand betrieben (Melchart 2005). Akupunktur erwies sich im Rahmen dieser Studie bei Kopfschmerzpatienten signifikant wirksamer als Nicht-Behandlung (bei Patienten, die ohne weitere Maßnahme einer Warteliste zugeordnet wurden) schnitt aber in dieser Studie nicht wesentlich besser ab als eine Schein-Akupunktur, die den Patienten wie eine echte Akupunktur erschien. Im Rahmen dieser Studie konnte für die untersuchte Indikation eine spezifische Wirkung nicht sicher bewiesen aber auch nicht ausgeschlossen werden. Andererseits wurde der starke unspezifische Effekt gesichert, der sich ohne störende unerwünschte Wirkungen für viele Patienten als nutzbringend erwies. Auch ökonomische Faktoren scheinen unspezifische Wirkungen auszulösen, was den Erfolg mancher privat vergüteten ärztlichen Zusatzleistung verständlich werden lässt: Eine kürzlich publizierte Studie berichtet über die Rate der Schmerzlinderungen bei bezahlten Versuchspersonen durch kontrollierte Elektroschockstimulationen der Haut nach einer Placebo-Tablette, die als „neues und wirksames Schmerzmittel“ angepriesen wurde. Einer Gruppe wurde mitgeteilt, der Preis des Medikamentes läge bei 2,50 US-Dollar pro Tablette und der Kontrollgruppe, der Preis pro Tablette sei gerade ohne Angabe von Gründen auf 10 Cent gesenkt worden. Nach Tabletteneinnahme verspürte 85,4% der Versuchspersonen der „Hochpreis“-Gruppe eine Schmerzlinderung gegenüber 61% in der „Billig-Preisgruppe“ (Waber 2008). Generika könnten sich also als weniger wirksam als Markenpräparate erweisen, wenn der Arzt diesem Effekt nicht überzeugend entgegenwirkt. 1 Im British Medical Journal wurde 2006 über eine weitere interessante Beobachtung berichtet (Scot 2006): Menschen, die ihre Arzneimittel korrekt einnehmen (ob "echt" oder Placebo) leben gesünder als solche, die es nicht tun. Eine gute Einnahmedisziplin war in dieser Meta-Analyse von 21 Studien mit über 46.000 Patienten assoziiert mit einer um die Hälfte erniedrigten Sterblichkeit, unabhängig davon ob „Placebos“ oder wirksame Medikamente eingenommen wurden. Umgekehrt erhöhte sich die Mortalität auf das etwa doppelte bei disziplinierter Einnahme von Medikamenten, die sich später als schädlich herausstellten und dann nicht mehr verwandt wurden. Compliance könnte also ein Surrogatmarker für gesundes Verhalten sein. So lange der Arzt Mittel auswählt, die dem Patienten nicht schaden, scheint dieses Verhalten auch vernünftig zu sein. Faktoren, die zu einem Placeboeffekt führen, können differenziert beschrieben werden (Kaptchuk 2008): In einer dreiarmigen randomisierten Studie wurden Patienten mit Reizdarm entweder auf eine Warteliste ohne weitere therapeutische Intervention gesetzt, oder einer technischen Behandlung unterzogen; mit einer Scheinakupunktur mit technisch aufwendig konstruierter Scheinnadel an Nicht-Akupunkturpunkten ohne therapeutisches Gespräch, oder sie erhielten neben den „wirkungsleeren Maßnahmen“ (wie in Gruppe zwei) zusätzlich ein 45-minütiges, verständnisvolles Gespräch. 20% der behandelten Patienten berichteten über Nebenwirkungen nach Entfernung der Scheinnadeln (Nozeboeffekte). Bei allen drei Gruppen wurde innerhalb von sechs Wochen bei etwa 30-60% der Patienten eine deutliche allgemeine Besserung, auch hinsichtlich Symptomlinderung und Lebensqualität, beobachtet. Mit Abstand am effektivsten, insbesondere hinsichtlich der Lebensqualitätsverbesserung zeigte sich die Auswirkungen der intensiven Kommunikation zwischen Patient und Therapeut in der dritten Gruppe (p <0.001). Auch in der Gruppe der Patienten, denen eine spätere Behandlung in Aussicht gestellt wurde, fand sich ein, allerdings deutlich schwächerer Effekt. Placebos scheinen sich also durch die Wiedererlangung eines Sicherheitsgefühls und den Glauben an eine bevorstehende Genesung heilsam auszuwirken. Möglicherweise werden Neurotransmitter ausgeschüttet, deren Konzentrationsanstieg ein körperlich empfundenes Problem dann tatsächlich lindern. Personengruppen, bei denen die Konzentrationen bestimmter Neurotransmitter vermindert sind, z.B. bei Patienten mit einer Parkinsonerkrankung (Fuente 2002, 2004) sprechen besonders gut auf eine Behandlung mit einem Placebo an. Alle Begleitumstände einer Behandlung können für den Placeboeffekt eine Rolle spielen: die Art der verbalen und nonverbalen Arzt-Patientenkommunikation und -interaktion, das Ambiente einer Praxis, die Freundlichkeit der Arzthelferin u.v.a. Das Gefühl der Beruhigung und die Vermittlung von Sicherheit und Hoffnung durch kulturell verständliche Rituale und Kommunikationsformen verstärken die Aktivität von Zwischen- und Stammhirnzentren (insbesondere des ventralen Parasympathikuskerns, des Nucleus ambiguus), die Herz- und Atemrhythmus dämpfen, das Immunsystem anregen und Stressund Angstreaktionen unterdrücken (Porges 2007, Bootzin 2005). Es ist nicht verwunderlich, dass sicherheitsvermittelnde Vorstellungen wie Glaube an Religion oder Spiritualität auch bei Schwerkranken mit einer deutlichen Verbesserung des Lebensgefühls einhergehen (Szaflarski 2006). Die Vermutung, religiöse Vorstellung hätten einen „enormen Publik Health Impact“ (Koenig 2002) ist umstritten (Saunders 2002). Aber Verständnis für eine Situation, das Gefühl der Handhabbarkeit und das Erkennen von Sinn wurden mehrfach als wesentliche Einstellungen bei Personen beschrieben, die trotz widriger Umstände gesund blieben (Bengel 1998). Das Gefühl eines Sinns scheint eine besonders starke Auswirkung zu haben (Frankl 1984, Fegg 2007). Sinn (engl. Meaning) wird dabei verstanden als Einbringen des Selbst oder der persönlichen Situation in einen größeren positiven Zusammenhang. Mit diesem Wissen eröffnet sich Ärzten eventuell die Chance durch eine offene Kommunikation mit Patienten über die Vermittelung eines Sinns ähnlich hohe Nutzwirkungen zu erzielen, wie durch einen Placebo, bei dem der Wirkzusammenhang für den Patienten verborgen bleibt. Es kann mittlerweile als gesichert angenommen werden, dass es keine bewusst wahrgenommene Behandlung ohne unspezifische Begleiteffekte geben kann, und dass deshalb eine rationale, an Evidenz und Wissenschaftlichkeit orientierte Medizin mit diesen Effekten kontrolliert und sinnvoll umgehen sollte. Es wurde deshalb vorgeschlagen, den missverständlichen Begriff „Placebo“ ganz zu vermeiden und auch z.B. keine „Placebo-kontrollierten Studien“ mehr durchzuführen (Windeler 2007), sondern statt dessen gezielt Wirkmechanismen mit Maßnahmen zu vergleichen, die diesen spezifischen Wirkmechanismus nicht enthalten, aber in anderer Hinsicht der zu untersuchenden Maßnahme ähneln. Dabei könnten in beiden Vergleichsgruppen möglichst ähnliche Begleiteffekte angestrebt werden. Allerdings bringt alles, was wirkt, auch Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen mit sich. Nozebos (s.o.), die Nebenwirkungen von Placebos oder vermeindlichen Placebos können sehr ausgeprägt sein. Wenn der Placeboeffekt dem Patienten gegenüber verborgen wird („weil er nur dann seine Wirkung entfaltet“) besteht die Gefahr der Manipulation, der Täuschung, der Schaffung von Abhängigkeiten und der ökonomischen Ausnutzung. Häufig ist auch die Annahme falsch, ein alternatives Mittel schade zumindest nicht, z.B. wenn bei mangelhafter Qualitätskontrolle bei einem Kuraufenthalten in Entwicklungsländern, die verabreichten Substanzen mit Schadstoffen verunreinigt sind. Was bedeuten diese Ergebnisse für die Reisemedizin? 2 Placeboeffekte wurden in der Prävention bisher nicht systematisch untersucht. Es fällt jedoch auf, dass Reisende, die Mittel für Gesundheitsmaßnahmen aufwenden, unabhängig von dem was sie kaufen, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit gesund bleiben als andere, die das nicht tun (Fleck 2006). Es stellt sich also weniger die Frage, ob Reise- und Impfberatung mit Placeboeffekten verbunden sein könnte, sondern wie solche in unbekanntem Maß vorhandenen Effekte zum Wohl der Patienten möglichst nutzbringend gehandhabt werden können. Die Wirksamkeit einiger Maßnahmen der Reiseberatung sind nicht durch Studien bei Reisenden im Sinne eines statistisch signifikanten Benefits gesichert: z.B. die Impfungen gegen Typhus oder Cholera. Hier könnte geprüft werden, ob, neben der gewünschten spezifischen Schutzwirkung gegenüber einem sehr kleinen Risiko, das Ritual der Anwendung eine positive Auswirkung auf die allgemeine Gesundheit Reisender hat. Ein anderer Grund Placebowirkungen in der Reisemedizin zu untersuchen, ergibt sich aus dem Ergebnis der erwähnten Studie von Kaptchuk (2008), die zeigt, dass die Kommunikation mit dem Patienten eine deutlich positivere Auswirkung mit sich bringt, als eine rein technische Anwendung, die das Gespräch mit dem Patienten auf Begrüßungsformeln und wenige Handgriffe beschränkt. Wenn dies auch für die Reiseberatung zutreffen sollte, könnten sich daraus Konsequenzen für die Art des ArztPatienten-Kontaktes in der Reiseberatung ergeben. Literatur: o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o Barsky AJ: Y et.al.: non specific medication side effects and the nocebo phenomenon JAMA 2002, 287: 622-7 Bengel J: Was hält den Menschen gesund? 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