Minsk, im Februar 2005 Projektbericht von Evelyn Funk Zeitraum des Freiwilligendienstes: September 2004 – August 2005 Projekte: - Novinki Djetskij-Dom Internat Staatliches Behindertenheim für Kinder und Jugendliche - Dolja Klub Offene Altenbetreuung in Minsk mit ehemaligen Zwangsarbeitern Anschrift in Minsk Ul. Janki Mavra 17/55 220015 Minsk Email: [email protected] Anschrift in Deutschland Telefon (BY): 00375 – 17 – 2 51 51 76 Doernekampstr. 41 Telefon (D): 0049 – 23 62 – 4 18 22 46282 Dorsten Internet (Bildergalerie): http://jan.prima.de/eve Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. Auguststraße 80 10117 Berlin Telefon: + 49 – 30 – 28 395 184 Telefax: + 49 – 30 – 28 395 135 Email: [email protected] Internet: www.asf-ev.de Spendenkonto ASF: Bank für Sozialwirtschaft Berlin, Konto 31137-00, BLZ 100 205 00 Inhaltsverzeichnis DECKBLATT ..............................................................................................1 EINLEITUNG...............................................................................................3 VORBEREITUNGSSEMINAR UND ORIENTIERUNGSTAGE IN BERLIN .......3 ZUGFAHRT NACH MINSK ..........................................................................4 ANKUNFT IN MINSK ..................................................................................5 BEKANNTSCHAFT MIT DEN BELARUSSEN ...............................................6 DIE POLITISCHE SITUATION .....................................................................7 LEBEN IN MINSK .......................................................................................8 RUSSISCH LERNEN ...................................................................................8 NOVINKI .....................................................................................................9 DAS KINDERHEIM .....................................................................................9 MEINE STATION ......................................................................................10 DAS PERSONAL ......................................................................................11 MEINE ARBEIT IM KINDERHEIM ..............................................................11 ARBEIT IM VERBAND EHEMALIGER ZWANGSARBEITER „DOLJA“.......13 ANNA STEPANOWNA ..............................................................................13 ...WAS JETZT NOCH KOMMT ................................................................ 145 Minsk, den 17.02.2005 Liebe Förderer, Freunde, Verwandte und Interessierte, nun haltet ihr also meinen ersten Projektbericht in den Händen. Er ist längst überfällig, schließlich ist die erste Hälfte meines Freiwilligendienstes in Minsk schon fast um. Eigentlich wollte ich mich möglichst kurz fassen und niemanden mit überflüssigen Details langweilen – leider ist mir das nicht so richtig gelungen. Für die bessere Übersicht habe ich allerdings ein kleines Inhaltsverzeichnis erstellt und meinen Bericht in einzelne Kapitel unterteilt. So kann jeder Leser das, was ihn vielleicht nicht interessiert, einfach überspringen. An dieser Stelle möchte ich mich auch noch einmal bei allen Förderern für die finanzielle Unterstützung meines Freiwilligendienstes bedanken. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance bekommen habe, hier in Minsk ein Jahr lang eine besondere Aufgabe zu übernehmen. Im Voraus habe ich so oft gehört, dass mich das Jahr besonders prägen würde, dass ich wertvolle Erfahrungen sammeln könnte, die ich nie wieder vergessen würde – alle, die das gesagt haben, hatten wohl Recht. Schon die ersten sechs Monate in Belarus waren für mich sehr spannend und ich hab schon jetzt das Gefühl, dass es sich gelohnt hat, hierher zu kommen. Wie gut, dass mir noch einmal sechs Monate Zeit bleiben, die Zeit vergeht viel zu schnell... Ich würde mich sehr freuen, wenn ich von den Lesern meines Projektberichtes Rückmeldungen bekommen würde, wie er euch gefallen und auf euch gewirkt hat. Vielleicht habt ihr auch noch einige Fragen, dann meldet euch doch bitte bei mir! Meine Adresse steht ja auf dem Deckblatt dieses Berichtes. Viel Spaß beim Lesen! Evelyn Vorbereitungsseminar und Orientierungstage in Berlin Offiziell hat mein Dienst bei der Aktion Sühnezeichen am 25. August 2004 begonnen. An jenem Mittwoch habe ich mich in Essen schwer bepackt mit Koffern und Taschen in den ICE nach Berlin gesetzt. Einerseits war ich natürlich ziemlich traurig, weil ich meine Familie, Freunde etc. nun sehr lange nicht mehr sehen würde – doch mindestens ein Jahr lang! Andererseits hätte ich keinen Tag mehr länger warten können. Ich wollte unbedingt aufbrechen und losfahren, herausfinden, was mich in Belarus erwartet... Der erste Abschnitt meiner Reise endete allerdings erst einmal in einem kleinen Dorf in der Nähe von Berlin, in welchem das Vorbereitungsseminar für 155 neue ASF-Freiwillige stattfand. Eine Woche lang volles Programm! Am interessantesten war für mich der Besuch im Haus der Wannsee-Konferenz, in dem die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde. Wir waren einen ganzen Morgen lang im Museum und hatten am Nachmittag ein spannendes Zeitzeugen-Gespräch. Am vorletzten Abend des Vorbereitungsseminars hatten wir bei einem „Länderabend“ endlich Gelegenheit, uns mit ehemaligen Freiwilligen aus unseren Projektländern zu unterhalten. Ein Ehemaliger hatte sogar seine belarussische Frau mitgebracht. So gab es jede Menge interessante, spannende und teilweise sehr abenteuerliche Geschichtchen aus der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) zu hören, dazu viele Fotos und, wie sich das für eine GUS-Gruppe gehört, Wodka. Am 02. September fuhren/flogen die meisten Freiwilligen in ihre Projektländer, wir GUSler blieben noch ein bisschen in Berlin. Die sogenannten Orientierungstage finden normalerweise im Projektland selbst statt, aber da die Freiwilligenstellen in der GUS sehr weit verstreut liegen (nämlich in Russland, Belarus und der Ukraine), war die Organisation der O-Tage in Berlin natürlich um ein Vielfaches einfacher. Drei Tage lang hatten wir Gelegenheit, mit unserer Länderbeauftragten Barbara ganz dringende Fragen zu besprechen und uns weiter über unsere Projektländer zu informieren. Natürlich war inzwischen aber kaum noch jemand wirklich bei der Sache – wir wollten einfach endlich ausreisen! Ein Highlight der O-Tage muss ich aber noch erwähnen – unser Zeitzeugengespräch mit einer Frau, die eine sehr ungewöhnliche Geschichte zu erzählen hatte. Sie war als junge Frau zusammen mit ihren in Deutschland verfolgten Eltern nach Russland geflüchtet und machte dann dort an der Front als Soldatin Karriere. Ihre Aufgabe war es unter anderem, über Lautsprecher-Durchsagen die deutschen Soldaten zum Überlaufen auf die Russische Seite zu motivieren. Noch heute ist sie überzeugt, dass Fahnenflucht für die Deutschen die beste Lösung war. Von Straflagern in Sibirien, in denen auch deutsche Soldaten gefangen waren, weiß die Zeitzeugin nichts – und will nichts davon wissen! Als sie am Ende unseres Gespräches noch ganz ernst erklären wollte, warum die Mauer durch Deutschland gut und sinnvoll war, hatten wir aber alle genug von diesem Zeitzeugengespräch... Irgendwie haben wir die 3 Orientierungstage durchgehalten, ohne vor Spannung und Erwartung zu platzen, und dann am 06.September ging die Reise endlich richtig los... Zugfahrt nach Minsk Von Berlin aus fährt ein Zug bis direkt nach Minsk, man ist nur 20 Stunden unterwegs. Den wahrscheinlich schönsten Teil der Fahrt durch den Osten Polens, durch die Seenlandschaft von Masuren, kann man leider vom Zugfenster aus nicht mehr verfolgen, weil es schon beim Halt in Warschau dämmert. Die Grenze nach Belarus in der Stadt Brest erreicht der Zug mitten in der Nacht gegen ein Uhr. Die Profis unter den Zugfahrern bleiben, unbeeindruckt von der Passkontrolle im Zug, einfach im Bett liegen und reichen ihre Pässe heraus. Dafür hatte ich natürlich keine Nerven. So bin ich viel zu früh aus meinem Bett gefallen und hab mich mit meinem Pass und meiner Zollerklärung vor unserem Abteil aufgestellt. Als die Milizionäre dann nur einen flüchtigen Blick auf mein Gepäck warfen, war ich schon etwas enttäuscht – nach all den Gruselgeschichten, die wir von ehemaligen Freiwilligen gehört hatten, hatte ich mich doch mindestens auf eine Reihe unangenehmer Frage und vielleicht sogar auf eine Gepäckdurchsuchung eingestellt. Aber nichts dergleichen, alle Papiere waren in Ordnung und die Passkontrolle war innerhalb von nur einer Stunde erledigt. In Brest werden die Züge dann mitten in der Nacht auf das Schienensystem der GUS umgestellt. Bis unser Zug geliftet und umgehievt wurde, waren mir schon längst die Augen zugefallen und ich bin wieder in mein Bett im dritten Stock geklettert, um noch ein paar Stunden zu schlafen. Ankunft in Minsk Als unser Zug endlich in Minsk einfuhr, war ich heilfroh, am Bahnsteig schon die „alten“ Minsker Freiwilligen zu sehen, mit denen ich vorher einige emails ausgetauscht hatte. Sie begrüßten mich und den zweiten neuen Freiwilligen Sebastian etwas unausgeschlafen – aber es war ja auch erst 9 Uhr morgens... Irgendwie haben wir es geschafft, unsere Unmengen an Gepäck in ein Auto zu quetschen. Als erstes fuhren wir zu meiner Wohnung, in der ich bis jetzt immer noch wohne. Auf der Fahrt dahin hab ich die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut. Minsk gilt als ein „Freilichtmuseum des sozialistischen Realismus“, ich weiß gar nicht mehr, wo ich das gelesen habe... Da die Stadt im zweiten Weltkrieg von den Deutschen zu mehr als 80% zerstört wurde, hat man sie ab 1945 komplett neu aufgebaut. Nach dem Vorbild St. Petersburg sind die Straßen breit und die Häuser niedrig. Im Zentrum liegen viele besondere Gebäude, Parks und Statuen, an denen man sich orientieren kann. Etwas weiter außerhalb sieht für Ausländer erst einmal alles gleich aus. Gesichtslose Plattenbauten, einer wie der andere. An einem Plattenbau hielten wir an, hier sollte ich nun die nächste Zeit unterkommen. Heute, fast ein halbes Jahr später, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, kaum ein Wort Russisch zu sprechen. Ich stand bei meiner Gastfamilie im Flur und konnte gerade einmal sagen, wie ich heiße... Glück für mich, dass meine Vermieterin ein wenig Deutsch spricht und wir uns so anfangs verständigen konnten. Mich mit ihr auf Russisch zu unterhalten – das erschien mir doch ziemlich unmöglich, oder sogar utopisch... Mein Eindruck von meiner neuen Bleibe war sehr gut – und hat sich als richtig herausgestellt, sonst würde ich heute schließlich nicht mehr hier wohnen. Die Familie – ein Ehepaar mit zwei Töchtern, 18 und 22 Jahre alt, und ein Pudel/Terrier-Mischling – ist sehr hilfsbereit und nett zu mir. Die 3-Zimmer-Wohnung ist sehr gemütlich und sauber und wir haben hier so einigen Luxus, zum Beispiel eine Mikrowelle und eine Waschmaschine. Am ersten Abend war ich direkt zu Gast bei einem der „alten“ Freiwilligen. Weil ich von der langen Reise und von den vielen neuen Eindrücken sehr müde war, bin ich schon früh wieder mit der Metro zu meinem neuen Zuhause zurückgefahren. Von der Metrostation aus sind es nur noch zwei Bushaltestellen; ich bin in irgendeinen Bus gestiegen. Dass es ein Expressbus war und ich viel, viel zu weit gefahren bin, ist mir leider erst aufgefallen, als er das erste Mal nach 10 Minuten Fahrt hielt. Zwei Jungs haben mich auf Russisch angesprochen, weil ich wohl ziemlich orientierungslos aussah. Als ich ihnen meine Straße nannte, wollten sie mich dorthin führen – aber sie schlugen eine völlig falsche Richtung ein. Ich bin auf die andere Straßenseite gelaufen, wäre fast in einen Kanalschacht gefallen, der nicht abgedeckt war. Die Jungs hatten angefangen, auf Deutsche zu schimpfen, soviel verstand ich, und wollten mich nicht fahren lassen, aber ich bin in den erstbesten Bus gesprungen. Irgendwie hatte ich noch in Erinnerung, dass der Bus einmal abgebogen war, so musste ich nur einmal umsteigen und hab – ich weiß nicht wie – meinen Weg zurück nach Hause gefunden... Wohnsiedlung in Minsk „Belarus“ Traktorenwerk Bekanntschaft mit den Belarussen Als ich im September nach Belarus kam, hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, wie die Belarussen wohl sind. Um ehrlich zu sein – diese Frage hat sich mir überhaupt nicht gestellt. Ich habe wohl erwartet, dass die Menschen hier so sein müssen wie in Deutschland, warum sollte es einen Unterschied geben? Inzwischen habe ich festgestellt, dass es ganz große Unterschiede gibt. Nichtsdestotrotz haben Belarus und Deutschland eines gemeinsam: Sowohl hier als auch dort gibt es gute und schlechte Menschen. Woran ich mich anfangs nur schwer gewöhnen konnte, ist die scheinbare Unfreundlichkeit der Menschen auf der Straße, in den Bussen und in der Metro. Niemand lächelt oder lacht in der Öffentlichkeit. Mir kam es immer so vor, als würden mich die Leute fast schon böse anschauen, als würden sie alle in meinen Augen lesen können, dass ich Ausländerin bin. Einmal hatte ich auch ein sehr unangenehmes Erlebnis in einem Bus – ein junger Mann, vielleicht 30 Jahre alt, pöbelte mich und andere deutsche Freiwillige an. Was uns denn einfallen würde, so laut Deutsch zu sprechen. „Schweigt, meine Ohren tun mir weh von eurer Sprache!“ Wir haben ihn ignoriert und uns weiter unterhalten, aber im Bus war eine Totenstille und alle Mitfahrer haben ganz genau mitgekriegt, wie der Mann uns beschimpfte. Eingemischt hat sich natürlich niemand. Andererseits ist es mir auch schon einige Male passiert, dass ich zum Beispiel im Bus mit Menschen ins Gespräch kam, die mich direkt zum Tee oder auf ihre Datscha (WochenendHaus) eingeladen haben. Die meisten Belarussen haben in der Schule ein wenig Deutsch gelernt und sind sehr stolz, wenn sie sich noch an ein paar Worte erinnern können. Was hier jeder kennt und versteht, sind vor allem Phrasen aus Kriegsfilmen wie „Hände hoch, sprechen sie Deutsch?“ und natürlich „Schnaps trinken“. Um die Belarussen besser verstehen zu können, muss man wissen, dass sie ganz streng unterteilen in zwei Gruppen: „wir“ und „ihr“. Solange man ihnen fremd ist, solange man nicht zu ihrem „wir“ dazugehört, solange sind sie unfreundlich und abweisend. Wenn man es aber einmal geschafft hat, zu ihrem „wir“ gezählt zu werden (und das geht manchmal sogar sehr schnell), dann taut das Eis plötzlich auf und man lernt sie von einer ganz anderen, herzlichen und offenen Seite kennen. Ein ganz besonders herzlicher Mensch ist meine Bekannte Olga Iwanowna. Sie ist an die 70 Jahre alt und verkauft jeden Abend bis spät in die Nacht am Ausgang meiner Metrostation Blumen. Obwohl sie wirklich sehr arm ist, schenkt sie mir regelmäßig Bonbons und Schokolade. Wenn ich also spät abends nach Hause komme, unterhalten wir uns immer noch ein wenig. Manchmal möchte sie ganz viel von mir wissen, erkundigt sich nach meiner Familie oder danach, wie es mir hier auf der Arbeit geht. Manchmal erzählt sie auch sehr viel von sich, von ihrer Jugend, schwärmt von ihren Lieblingspoeten, Lieblingskünstlern und Lieblingskomponisten. Wir haben viel gemeinsam – uns beiden gefallen Bach und Tschaikowski besonders gut und bestimmte Gedichte von Lermontov. Die Treffen mit Olga Iwanowna machen mir manchmal richtig gute Laune, manchmal beginne ich danach zu grübeln – warum sind ausgerechnet die Leute, die am wenigsten haben, so großzügig und freundlich? Die politische Situation Bei meinen Reisevorbereitungen in Deutschland war das Thema Politik unumgänglich. Ich habe viel gelesen über die Geschichte von Belarus als Teil der Sowjetunion, über den hoffnungsvollen Start in die Unabhängigkeit 1994 und natürlich über den Präsidenten Lukaschenko, der jetzt schon seit 11 Jahren an der Macht ist. Er wird im Westen als „letzter Diktator Europas“ bezeichnet, darunter konnte ich mir anfangs wenig vorstellen. Aktion Sühnzeichen hat uns Freiwilligen dringend empfohlen, uns von jeglicher Politik fernzuhalten, das heißt Demonstrationen zu meiden und unsere vielleicht nicht konforme Meinung und Einstellung nicht öffentlich zu verbreiten. Das wird nicht schwierig, dachte ich, ich werde bestimmt genug andere Probleme haben... Inzwischen weiß ich es besser. Zwar bin ich „nur“ ein Jahr in diesem Land, aber selbst in einer so vergleichsweise kurzen Zeitspanne ist es doch unmöglich, der Politik auszuweichen. Dafür sehe, höre und erlebe ich einfach zu viel. Ich sehe, dass es in Minsk von Milizionären wimmelt. Belarus steht im Guinness Buch der Rekorde, weil es das Land mit der größten Polizei im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist: Beinahe jeder vierte Belarusse arbeitet für die Miliz. Ich habe gehört, wie andere Freiwillige in ihren Wohnungen von der Miliz besucht wurden – Passkontrolle. Und das nicht nur einmal! Ein Freiwilliger hatte sich unwissentlich nicht ordnungsgemäß registriert und wurde deswegen zum Kommissar seines Stadtteils vorgeladen. Der Kommissar wusste erschreckend viel über ihn, Dinge, die er eigentlich absolut nicht wissen konnte. Daher sind wir überzeugt, dass unsere Telefone abgehört werden. Ich habe erlebt, wie die Miliz mit Demonstranten umgeht. Am 18.11.2004 veranstaltete die Opposition im Zentrum von Minsk eine Demonstration gegen die Ergebnisse des Referendums, das einen Tag zuvor durchgeführt worden war. Darin ist beschlossen worden, dass Lukaschenko die Verfassung so ändern darf, dass er auch ein drittes Mal zum Präsidenten gewählt werden kann. Insgesamt versammelten sich nur 2000 Menschen, um dagegen zu demonstrieren. Mir haben sehr viele Menschen erzählt, dass sie aus Angst nicht zur Demo gegangen sind – wer von der Miliz auf einer solchen Veranstaltung gefasst wird, kann seinen Studienplatz oder seinen Arbeitsplatz verlieren. Nun sind also doch immerhin 2000 Menschen auf dem Prospekt (der Hauptstrasse) auf und abmarschiert und wollten schließlich zum Regierungspalast. Aufgehalten wurden sie von ganzen Busladungen von Milizionären, die die Anführer der Demonstration auch recht schnell festgenommen haben. Obwohl alle friedlich waren, wurden Schlagstöcke eingesetzt. Die nächsten paar Tage gingen die Demonstrationen in kleinerem Stil weiter. Als ich einmal gegen halb 10 von meinem Unterricht nach Hause fuhr, konnte ich gerade noch sehen, wie eine Gruppe von ca. 10 Milizionäre auf zwei junge Männer einprügelte, die bereits auf dem Boden lagen. Sie hatten sich vor dem Palast der Republik aufgestellt und die Parole der Opposition gerufen: „Es lebe Belarus!“. Das reicht schon, um auf eine solche Art und Weise verhaftet zu werden... Aber die Opposition ist trotz all dieser Ungerechtigkeiten klein. Die große Mehrheit der Belarussen ist zufrieden mit ihrem Präsidenten, zufrieden mit seiner Politik. Besonders alte Menschen fühlen sich hier wohl, denn im Vergleich zu anderen ehemaligen Sowjetrepubliken garantiert Belarus beispielsweise eine regelmäßige Rente. Wahrscheinlich ist das überall auf der Welt so; wenn man alt ist, möchte man nur noch eines: Sicherheit. Von einer revolutionären Bewegung wie der in der Ukraine kann man in Belarus nur träumen. Einerseits liegt das an der Anpassungs-Mentalität der Belarussen. Andererseits sind die Bedingungen für eine Veränderung auch denkbar schlecht. Der KGB und die Miliz arbeiten Hand in Hand und unterdrücken jegliche oppositionelle Bewegung. Briefe und Pakete werden geöffnet, Telefone abgehört. Über Kabel empfängt man ausschließlich staatliche Programme und nicht-staatliche Zeitungen kann man nur unter der Hand kaufen – wenn man Glück hat. Selbst das Internet steht einem nicht immer als Informationsquelle zur Verfügung – so konnte man am Tag der Wahlen und des Referendums im Oktober 2004 auf bestimmte ausländische Nachrichtenseiten nicht zugreifen. Im Sommer letzten Jahres wurde die einzige, die letzte unabhängige Universität (Belarussische Humanistische Universität) geschlossen. Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der belarussische Stundenten an Deutsche Universitäten vermittelte, wurde Menschenhandel vorgeworfen. Und wisst ihr, was mich am meisten ärgert? Lukaschenko hat den Radiostationen verboten, Rock zu spielen... Für alle, die die aktuelle politische Situation in Belarus interessiert, kann ich die Internet-Seite www.belarusnews.de empfehlen! Leben in Minsk Mit über zwei Millionen Einwohnern ist Minsk eine hübsche kleine Großstadt. Hier findet man die besten und berühmtesten Galerien und Museen des Landes, hier werden erstklassige Lesungen veranstaltet, hier stehen die Staatsoper und viele Theater. Und für unsere Verhältnisse ist das Kulturangebot in Minsk auch noch sehr günstig: Tickets für beste Plätze in der Oper zum Beispiel kosten umgerechnet nur etwas mehr als zwei Euro. Ähnlich viel kosten hier Konzerte in kleinen Clubs. Es werden viele Mini-Festivals veranstaltet, auf denen dann eine handvoll Bands an einem Abend live auftreten. Leider wurden in der letzten Zeit immer mehr Clubs geschlossen, in denen alternative Musik gespielt wurde. So finden viele Konzerte nun im Untergrund statt und man hört oft erst zu spät von solchen Veranstaltungen. An meinem ersten Wochenende in Minsk fand zum ersten Mal ein alternatives Festival in einem größeren Rahmen statt. Dafür war in einem Randbezirk der Stadt das EishockeyStadion angemietet worden. Im Vergleich zu Festivals in Westeuropa ist mir vor allem die Präsenz der Miliz unangenehm aufgefallen. Milizionäre haben den Jugendlichen am Eingang der Halle Nietengürtel und vermeintlich gefährlichen Schmuck abgenommen und mischten sich unter das Publikum vor der Bühne. Zigaretten und Alkohol waren verboten und wer zu heftig tanzte, wurde der Halle verwiesen. Neben all den Konzerten und anderen Veranstaltungen gibt es in Minsk auch noch viele andere Möglichkeiten, „spazieren zu gehen“ und „sich zu erholen“, wie die Weißrussen sagen würden. Überall in der Stadt sind schöne grüne Parks, zum Beispiel der Maxim-Gorki-Park, in dem man mit einem Riesenrad fahren kann. Auch wer Cafes mag, kommt hier auf seine Kosten: Vor allem im Zentrum gibt es einige gute Cafes mit einer enormen Auswahl an süßen Spezialitäten: Torten, Kekse, Milch-Cremes, Quark, Pudding, Eis... Russisch lernen „Russisch ist die allerschwerste und die allerschönste Sprache“, sagt die ehemalige Zwangsarbeiterin Anna Stepanowna oft. Vor allem mit dem ersten Teil ihrer Aussage trifft sie den Nagel auf den Kopf... In Deutschland hatte ich ja schon so einige Russisch-Stunden genommen, hatte gelernt, kyrillisch zu lesen und zu schreiben. Aber bis ich mich hier einigermaßen verständigen konnte, ist doch so einige Zeit vergangen. Mit meiner Russisch-Lehrerin Galina, bei der ich zwei Abende die Woche Einzelunterricht nehme, habe ich schon von Anfang an nur Russisch gesprochen. Dadurch habe ich vor allem gelernt, intuitiv Worte zu verstehen, die ich noch nicht kenne. Viele Belarussen wollen mit mir nur Deutsch oder Englisch sprechen – sie denken, es sei für mich leichter und möchten natürlich die Chance nutzen, mal ihre Fremdsprachen anzuwenden. Inzwischen bestehe ich aber darauf, Russisch zu sprechen, es klappt auch schon ganz gut. Im Unterricht habe ich mit Galina jetzt die ersten russischen Gedichte gelesen und nun begonnen, mein erstes russisches Buch zu lesen: „Weiß auf Schwarz“. In ganz einfacher Sprache erzählt ein körperlich Behinderter von seiner Kindheit in unterschiedlichen Kinderheimen. Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich das, was dort zu lesen ist, mit meinen eigenen Erfahrungen im Behindertenheim Novinki deckt. Novinki Novinki ist ein Stadtteil von Minsk, der vom Zentrum aus nur mit Bussen zu erreichen ist. Von meiner Wohnung aus bin ich nie weniger als 45 Minuten unterwegs, je nachdem, wie häufig die Busse fahren. Von der Bushaltestelle aus läuft man noch einmal ca. 10 Minuten bis zum Behindertenheim für Kinder und dem Heim für behinderte Erwachsene, das direkt nebenan liegt. Der Weg ist ein ganz besonderer. Die Straße ist nicht asphaltiert und voller Schlaglöcher. Morgens kommt mir oft ein Pferdekarren entgegen, der das Essen für die Kinder anliefert. Links und rechts der Straße stehen kleine Holzhäuser, viele mit einem Dach aus Wellblech. Manchmal begleiten mich Straßenhunde ein kleines Stück, um herauszufinden, ob ich ihnen nicht etwas zu essen geben würde. Im Kontrast dazu stehen die neu gebaute Kirche und das Kloster nebenan. Mir erscheint es völlig absurd, dass so viel Prunk und Reichtum neben so viel Armut existieren kann. Die meisten Belarussen sehen das anders – sie sind sehr gläubig und so manche alte Babuschka (russ. Oma) spendet ihre letzten hundert Rubel an die Kirche. Was ich als Ungerechtigkeit sehe, macht sie stolz. Kirche in Novinki Das Kinderheim Das Kinderheim Im Kinderheim Novinki sind ungefähr 200 Kinder auf 5 Stationen untergebracht. Es gibt eine Station für schwerst mehrfach (d.h. geistig und körperlich) Behinderte, jeweils eine Station für ältere Mädchen und Jungen mit leichten geistigen Behinderungen, eine Abteilung für schwerst geistig Behinderte (unter Angestellten „Idiotenabteilung“ genannt) und eine für Kleinkinder – in letzterer arbeite ich. Von außen macht das Heim einen sehr freundlichen Eindruck. Das Gebäude ist sowohl innen als auch außen bunt angestrichen. Die Vielzahl an Spielgeräten wirkt beinahe übertrieben, die Gärten sind gepflegt und ordentlich. Alle Renovierungsarbeiten im und am Haus wurden in den letzten Jahren durch eine Irische Initiative finanziert. Auch die vielen unterschiedlichen Therapieräume, teilweise mit Unmengen vonSpielzeug ausgestattet, sind „den Iren“ zu verdanken. In der Eingangshalle fällt den meisten Besuchern als erstes der spezielle Novinki-Geruch auf. Im Winter ist es besonders schlimm; es wird wenig gelüftet und so riecht es besonders stark nach Urin, nach Krankheit und Muff. Zur Betreuung der Kinder und Jugendlichen sind zum größten Teil unausgebildete Sanitarki (russ. Pflegerinnen) und Erzieherinnen beschäftigt. Seit einiger Zeit bezahlt die Irische Initiative belarussische Projektarbeiterinnen, die sich besonders um die Kinder kümmern sollen und für die Verteilung von Zwischenmahlzeiten verantwortlich sind. Meine Station Wie ich schon vorhin erwähnt habe, arbeite ich den größten Teil meiner Zeit in Novinki in der Kleinkinderabteilung. Im „vorderen Posten“ sind wirklich Kleinkinder untergebracht, von denen viele alleine laufen, essen etc können. Morgens findet in zwei Klassenräumen Unterricht statt, der mit dem Unterricht in Kindergärten vergleichbar ist. Die Kinder basteln, malen, hören von ihren Erzieherinnen Geschichten, dürfen auch in einer Kuschelecke spielen. Im „hinteren Posten“ ist der jüngste Bewohner vier, der älteste 23 Jahre alt. Aufgrund ihrer Behinderungen sieht man den älteren aber ihr Alter nicht an. Vor einigen Wochen wurde ein Junge, Andrej, von Ärzten gemustert, weil er 18 Jahre alt geworden war. Ich war ziemlich überrascht über die Musterung, da ich ihn auf höchstens 12 geschätzt hatte... Andrej ist fast blind, kann nicht sprechen und nur schlecht laufen. Er wurde ausgemustert. Für 22 Kinder gibt es zwei Schlafsäle und ein mit Matten, Bällchenbad, Fernseher und Musikanlage bestens ausgestattetes Spielzimmer. Leider haben die Leute, die dieses Zimmer eingerichtet haben, eine wichtige Überlegung außer Acht gelassen: Aufgrund ihrer teils schweren geistigen und körperlichen Behinderungen sind nur die wenigsten Kinder auf meiner Station überhaupt in der Lage, sich selbst zu beschäftigen und alleine zu spielen. Sie bräuchten eigentlich alle Einzelbetreuung. Daran ist auf meiner Station aber gar nicht zu denken. Für 22 Kinder gibt es neben den vielen Sanitarki nur eine Projektarbeiterin der Irischen Initiative und mich. So wird im Spielzimmer morgens der Fernseher oder wahlweise das Radio angemacht, ein paar Kinder werden auf dem Boden verteilt. Eine handvoll Kinder wird gar nicht erst aus dem Bett geholt, die anderen Kinder kommen auf den Flur auf ihre Toilettenstühlchen – und bleiben dort den ganzen Tag sitzen. Mit blankem Hintern. So ersparen sich die Sanitarki das lästige Windelwechseln. Manchmal halte ich es auf meiner Station nicht aus, wenn es auf dem Flur besonders schlimm riecht, die Kinder vor sich hin lallen und monotone Geräusche machen. Manchmal erreicht mich die Realität; manchmal wird mir klar, dass diese Kinder jeden Tag stundenlang auf ihren Toilettenstühlen sitzen, Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis sie eines Tages ins Erwachsenenheim kommen. Dort geht es genauso weiter, dort ist es sogar noch schlimmer. Ich weiß, dass ein ganz großer Teil der Behinderungen auf das Heim zurückzuführen ist. Wenn ein Kind niemals Gymnastik macht, niemals laufen lernt, dann verkrüppeln seine Füße irgendwann zwangsläufig. Wenn ein Kind schon mit vier Jahren niemanden mehr hat, der es in den Arm nimmt, mit ihm redet und spielt, wird es immer auf dem Stand eines Vierjährigen bleiben. Wenn ein Kind jeden Tag alleine in seinem Zimmer gelassen wird, weil es sich oft übergibt und auf dem Flur nur alles dreckig machen würde, wird es natürlich verhaltensauffällig, wippt hin und her, schlägt sich, verschließt sich komplett vor der Außenwelt. Auf anderen Stationen geht es anders zu; teilweise besser, teilweise schlechter. Ich möchte nicht verallgemeinern und beschreibe hier ganz ausdrücklich nur die Situation auf meiner Station. Das Personal Auf meiner Station arbeiten zum größten Teil nur Sanitarki. Niemand wird freiwillig Sanitarka, dafür ist die Arbeit zu hart und der Lohn zu gering. Nur wer keine andere Arbeit finden kann und gar keine andere Möglichkeit hat, nimmt eine solche Stelle in einem Behindertenheim an. Gearbeitet wird in 24-Stunden-Schichten, auf die dann jeweils 2 freie Tage folgen. Nachts sind oft sehr wenige Kräfte für sehr viele Kinder zuständig und daher sind sie natürlich total überfordert, frustriert, unmotiviert. Zu den Aufgaben der Sanitarki zählen putzen, Kinder an- und ausziehen, Kinder vom Bett in den Flur und vom Flur ins Bett bringen. Auch für das Windelwechseln sind sie zuständig, aber die meisten Kinder werden sowieso auf Toilettenstühlchen aufbewahrt, und in anderen Fällen werden nasse Hosen einfach ignoriert. Mittags verteilen sie das Essen, meist Kartoffelbrei, Fleischbrei, Brot und Suppe – alles in einer Schüssel. Alle füttern viel zu schnell, aber manche haben ein derart wahnsinniges Tempo drauf, in dem sie den Kindern ihr Mittagessen in den Mund stopfen, dass mir allein vom Zusehen wirklich schlecht wird. Auch kommt es vor, dass Kinder geschlagen werden, ich hab es bei mir erst zweimal gesehen. Die eigentliche Hauptbeschäftigung der Sanitarki meiner Station ist es aber, lange und ausgiebig Tee zu trinken. Meistens gibt es Brot und Butter dazu, Eier oder Obst, das eigentlich für die Kinder gekauft wird. Ein paar mal schon wurde ich eingeladen, mit ihnen Tee zu trinken – bis jetzt habe ich die Einladung auch jedesmal angenommen. Obwohl mir die meisten Angestellten meiner Station wirklich zuwider sind, ist ein gewisses Maß an Kontakt doch unbedingt erforderlich, um gute Arbeit leisten zu können. Meine Arbeit im Kinderheim Den Anspruch, allen 22 Kindern in meinem Arbeitsbereich gerecht zu werden, habe ich ziemlich schnell wieder abgelegt. Zwar habe ich mich schon mit allen wenigstens einmal ausführlicher beschäftigt, aber hauptsächlich konzentriere ich mich auf ein paar wenige Kinder. ...zum Beispiel Andrej. Vor wenigen Wochen ist er 18 Jahre alt geworden, ist aber für sein Alter sehr klein. Er hat das Down-Syndrom und auf beiden Augen grauen Star. Da man ihn nicht behandelt hat, ist Andrej jetzt so gut wie blind und erkennt nur noch Licht und Schatten. Besonders gut ausgeprägt ist sein Gehör, er scheint immer schon an den Schritten zu erkennen, wer kommt. Leider spricht er überhaupt nicht und versteht nicht die Worte, die man sagt, sondern orientiert sich am Ton. Werde ich laut, bedeutet das für ihn, dass er gehen soll. Spreche ich ihn gut gelaunt an, weiß er, dass wir zusammen spazieren gehen werden. Das ist nämlich unsere Hauptbeschäftigung. Normalerweise rutscht er auf seinem Po über den Boden, das gibt ihm Sicherheit. Aufrecht geht er nur, wenn ihn jemand an die Hand nimmt. So ziehen wir dann Hand in Hand zusammen los über die Flure des Heims, steigen Treppen rauf und runter, besuchen andere Stationen. Dabei bestimmt meistens Andrej, wohin wir gehen, ich folge ihm... ...Ähnlich ist es mit Oksana. Oksana ist 16 Jahre alt. Sie kann nur laufen, wenn man sie an die Hand nimmt. Durch eine Fehlstellung ihrer Hüfte bereitet ihr das Laufen große Probleme, man muss sie viel stützen. Aber es macht ihr Spaß, mit mir Laufen zu üben. Wenn ich morgens die Station betrete, spricht sie mich immer direkt an: „Evelyn, möchtest du spazieren gehen...“. Sie versteht so einiges und spricht viel – vornehmlich fordert sie von mir oder den Sanitarki Wurst, Brot, Quark, Joghurt, Äpfel, Pralinen, Schokolade... „Evelyn, gib mir eine Torte!“ ...Ganz hinten im letzten Zimmer der Station, dem Mädchen-Schlafraum wohnt Natascha. Sie verlässt dieses Zimmer nur einmal in der Woche zum Baden. Aus irgendeinem Grund übergibt sie sich sehr häufig, deswegen haben die Sanitarki mir verboten, Natascha mit ins Spielzimmer zu nehmen. So sitzt oder liegt Natascha also rund um die Uhr in ihrem Bett. Sie ist 11 Jahre alt und geistig behindert. Ihr Körper scheint mir soweit gesund zu sein, vielleicht könnte sie sogar laufen, wenn es jemand mit ihr üben würde. Natascha ist sehr verhaltensauffällig, das bedeutet, dass sie sich selbst schlägt oder ihren Kopf gegen die Wand schlägt, dass sie ihren Oberkörper ständig hin und her wiegt und auf ihre Umwelt kaum reagiert. Seit ich in Novinki arbeite, setze ich mich regelmäßig zu ihr ans Bett und singe ihr etwas vor, massiere ihren Rücken oder halte einfach nur ihre Hand und erzähle ihr etwas. Sie erkennt mich schon und greift immer nach meiner Hand, wenn ich zu ihr komme. Oft kehre ich aber auch direkt auf der Türschwelle um. Wenn Natascha sich übergeben hat, wird sie oft stundenlang in ihrem Erbrochenem liegengelassen. Manchmal halten die Sanitarki es nicht für nötig, ihr eine Hose anzuziehen, und sie zittert vor Kälte. Und ich habe oft einfach nicht die Energie, in diesem Zimmer zu bleiben, um mich um Natascha zu kümmern. Oft möchte ich einfach nur weg. ...ganz im Gegensatz zu Natascha, die niemals lacht, steht der kleine Sergej, Serjoscha genannt. Diejenigen, die ihn schon lachen gehört haben, werden mir dies bestätigen: Er lacht wie eine 60jährige Frau, die seit 40 Jahren geraucht hat. Einfach einmalig. Und es ist so schön einfach, ihn zum Lachen zu bringen. Wenn man ihn zum Beispiel am Füßen und Händen kitzelt, kriegt er sich gar nicht mehr ein. Serjoscha ist 8 Jahre alt. Auffällig an ihm ist sein sogenannter Wasserkopf. In Deutschland wird eine solche Behinderung schon bei Neugeborenen so behandelt, dass ihr Kopf niemals größer als der anderer Kinder wird. In Belarus werden solche Operationen bis jetzt nicht durchgeführt. Serjoscha hat außerdem Hepatitis C, weswegen ich beim Spielen mit ihm ganz besonders aufpassen muss, dass er mich nicht kratzt oder beißt. Wegen seines großen Kopfes wurde Serjoscha nicht zugetraut, dass er überhaupt sitzen kann – mit meiner Hilfe hat er jetzt allen das Gegenteil bewiesen. Wir haben fleißig wochenlang geübt, und nun kann er schon einige Stunden lang alleine in einem Stühlchen sitzen. Für ihn bringt das sehr viele Vorteile: Er kann das Geschehen um ihn herum besser beobachten, kann im Sitzen gefüttert werden. Beim Spielen mit Serjoscha Vielleicht lernt er es eines Tages sogar, selber zu essen. Leider hat er keinen ordentlichen Buggy oder Rollstuhl, weswegen es sehr schwer ist, zum Beispiel mit ihm spazieren zu fahren. Ich möchte zusehen, ob ich ihm nicht mit finanzieller Unterstützung der Irischen Initiative einen kleinen Rollstuhl besorgen kann. ...Als letztes Kind stelle ich hier noch den großen Sergej vor. Er ist so alt wie ich und ein sehr aufgeweckter Junge. Wegen seiner Spastiken (d.h. Muskelverkrampfungen) im ganzen Körper kann er nicht laufen und liegt tagsüber immer im Spielzimmer auf einer Matte. Zwar spricht er wenig (nur die Worte „ja“ und „nein“), aber er versteht fast alles, was ich ihm so erzähle. Mit ihm kann man super malen, Türme bauen, Ballspielen und Puzzles legen. Für ihn ist letzten Sommer von „den Iren“ ein Spezialrollstuhl angefertigt worden, in welchem man ihn so festschnallen kann, dass er nicht herausrutscht. Außerdem hat der Rollstuhl eine besondere Vorrichtung, mit welcher sich Sergej selber fortbewegen könnte. Dieser Rollstuhl ist für ihn genial. Der traurige Teil der Geschichte ist, dass Sergej vom Personal niemals in den Rollstuhl gesetzt wurde. Ihn dort hineinzuhieven, ist sehr anstrengend, daher hat man den neuen Rollstuhl direkt in der hintersten Ecke des Gartenschuppens verscharrt. Zusammen mit einem anderen Freiwilligen habe ich ihn dort gefunden, sauber gemacht und repariert. Jetzt fehlt nur noch der Bauchgurt, in den ich einen neuen Reißverschluss einnähen lassen möchte, dann kann Sergej seinen eigenen Rollstuhl endlich benutzen. Zitat aus dem Minskreader für Freiwillige: „Durch das Irische Projekt sind der bauliche Zustand des Heims und seine Ausstattung in den letzten Jahren deutlich verbessert worden. Jedoch ändert sich grundsätzlich für die Kinder erst dann etwas, wenn nicht nur in die Ausstattung, sondern auch mehr in die Betreuung investiert wird.“ Arbeit im Verband ehemaliger Zwangsarbeiter „Dolja“ Die Dolja ist ein Verband ehemaliger Zwangsarbeiter des Nationalsozialismus, der im Januar 1996 gegründet wurde. In ganz Minsk sind über 10000 ehemalige Zwangsarbeiter registriert, im Zuständigkeitsbereich der Dolja sind es 650. Organisiert und geleitet wird die Dolja hauptsächlich durch eine einzige Person: Regina Alexandrowna. Sie wurde selbst als Kind nach Deutschland verschleppt und hat es sich heute zur Aufgabe gemacht, allen denen zu helfen, die ein ähnliches Schicksal hatten. Die „Zentrale“ der Dolja ist ein angemieteter Kellerraum. Einmal wöchentlich können sich die ehemaligen Zwangsarbeiter hier Kleider aus Spenden aussuchen, ihre Probleme mit Regina Alexandrowna besprechen oder einfach nur alte Bekannte treffen und sich unterhalten. Für mich gibt es dort nicht wirklich Arbeit. Übersetzungen erledigt ein anderer Freiwilliger, der schon seit 18 Monaten in Minsk arbeitet, und dementsprechend natürlich viel besser Russisch spricht. Daher rede ich normalerweise nur ein bisschen mit den alten Leuten und bringe manchmal Lebensmittelpakete zu ehemaligen Zwangsarbeitern nach Hause, die ihre Wohnung aufgrund ihres Alters nicht mehr verlassen können. Anna Stepanowna Seit November 2004 betreue ich zusammen mit einer anderen Freiwilligen eine ehemalige Zwangsarbeiterin zu Hause: Anna Stepanowna. Sie ist über 80 und lebt alleine. Mit ihr haben wir schon so einiges erlebt, genug, um ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Jeder Besuch bei ihr ein neues Kapitel. Hier in meinem Projektbericht versuche ich aber, mich angemessen kurz zu fassen... Unsere Anna Stepanowna ist, ihrem Alter entsprechend, etwas verwirrt. Zwischenzeitlich vergisst sie alles um sich herum und wird wieder 18 Jahre alt, ist wieder in Deutschland und möchte mit uns mal auf Stalin, mal auf Hitler anstoßen. Anfangs haben wir ihr noch immer erklärt, dass sich die Zeiten geändert haben, dass Hitler und Stalin längst tot sind – inzwischen haben wir das aber aufgegeben, weil Anna Stepanowna uns bei solchen Themen sowieso nicht ernst nimmt und nur vor sich hin kichert. Von ihrer Zeit in Deutschland erzählt sie nur Gutes. Sie arbeitete damals bei einer Familie in der Nähe von München und hatte zu ihnen ein vergleichsweise gutes Verhältnis. Manchmal ärgert sie sich, dass sie nach Kriegsende nach Belarus zurückgekehrt und nicht in Deutschland geblieben ist. „Die Deutschen haben mich geliebt“, sagt sie oft, „und ich die Deutschen!“. Bei Anna Stepanowna sind wir den größten Teil der Zeit mit putzen beschäftigt. Sie kann das nicht mehr und hat leider keine Verwandten, die ihr helfen könnten. In ihrer Küche beispielsweise hat vor uns jahrelang niemand mehr geputzt, auch ihr Bad ist in einem sehr schlechten Zustand. Sie weiß ganz genau, wie es bei ihr aussieht, und ist daher für unsere Hilfe sehr dankbar. Im Herbst haben wir ihre Fenster mit Watte abgeklebt, wie es in Belarus zumindest bei älteren Fenstern üblich ist. Nur ein kleines Lüftungsfenster wird nicht zugeklebt und kann immer noch geöffnet werden. Seit zwei Monaten lebt Anna Stepanowna nun schon ohne Wasser und Gas. Anfangs waren wir empört – wie kann man einer alten Frau nur für eine so lange Zeit das Wasser abstellen? Dann haben wir aber herausgefunden, dass es einen Grund dafür gibt. Bereits drei mal hat sie im Badezimmer den Hahn voll aufgedreht und ihren Boden geflutet. In der Wohnung unter ihr gab es natürlich immense Wasserschäden, die sie gar nicht bezahlen konnte. Als sie daraufhin dem Wasserwerk drohte, sie würde das Haus in die Luft sprengen, wenn man ihr das Wasser nicht wieder anstellen würde, hat man ihr auch das Gas abgestellt. Bestimmt ist es so für sie selbst und alle Beteiligten sicherer. In Deutschland wäre schon längst ein Pflegedienst eingesetzt worden – in Belarus gibt es so etwas nicht. Es steht fest, dass Anna Stepanowna so nicht weiter leben kann, ohne Wasser und ohne Gas. Also muss sie in ein Altenheim. Der Beschluss wurde bereits vor Wochen gefällt, passiert ist bisher nichts. Zwischenzeitlich waren wir bis zu dreimal in einer Woche bei ihr, um nach ihr zu schauen, als sie zum Beispiel krank war. Bekocht wird sie von Nachbarinnen, ihre Wäsche hat sie seit Wochen nicht mehr ordentlich gewaschen... Leider wird sie nicht in ein Altenheim kommen, so wie wir das in Deutschland kennen. Weißrussische Altenheime nehmen nur geistig ganz fitte alte Menschen auf. Alle, die verwirrt sind und mehr Hilfe brauchen, kommen in ein Behindertenheim für Erwachsene. Anna Stepanowna soll nach Novinki kommen, also in das Heim, das neben dem Kinderheim liegt. Die Frage ist jetzt nur, wie lange es noch dauern wird, bis sie dort hin eingewiesen wird. Eigentlich sollte sie längst schon dort sein, sie ist in einem ganz schlechten Zustand und braucht unbedingt viel mehr Hilfe, als wir Freiwillige ihr geben können. Beim Fensterabkleben im Herbst ...was jetzt noch kommt Anna Stepanowna mit einer anderen Freiwilligen Ich glaube, die zweite Hälfte meines Freiwilligendienstes wird noch viel schneller vergehen als die erste. Im März werde ich zusammen mit einer anderen Freiwilligen und zwei weiteren Freunden nach Russland reisen; wir möchten uns Moskau, Sankt Petersburg und Perm anschauen – und je nachdem, wieviel Zeit wir dann noch haben, weiter Richtung Sibirien reisen. Im April wird mein Freund Thomas aus Köln nach Minsk kommen. Er hat mich bereits über Weihnachten besucht und dann zurück in Deutschland den Entschluss gefasst, in seinem Sonderpädagogik-Studium ein Urlaubssemester einzulegen, um einige Monate im Behindertenheim Novinki arbeiten zu können. Seinen Freiwilligendienst organisiert er ohne eine Organisation und kommt auch für alle Kosten (Visa etc.) selbst auf. Im Juni steht schon meine zweite große Reise an: Auf der Krim in der Ukraine wird unser zweites Zwischenauswertungs-Seminar stattfinden. Im Anschluss daran werde ich auf jeden Fall noch ein paar Tage Urlaub am Meer machen und mir auf der Rückfahrt nach Minsk noch Kiev anschauen. Für Ende Juli organisieren wir Freiwillige zwei Sommerlager – eines für behinderte Kinder, eines für erwachsene Behinderte. Wir werden ein Haus am Minsker Meer (einem See in der Nähe von Minsk) mieten und dort jeweils eine Woche lang zusammen mit den Behinderten wohnen. Als Fachkräfte kommen zwei Sanitarki aus Novinki und eine Ärztin mit, die wir dafür natürlich auch bezahlen. Die Sommerlager sind Tradition, aber leider kann uns ASF dieses Jahr dabei nicht finanziell unterstützen. Um ca. 15 Kindern und 15 Erwachsenen diese Lager trotzdem ermöglichen zu können, benötigen wir noch über 2000 Euro. In der nächsten Zeit werde ich versuchen, Spendenaufrufe in deutschen Zeitungen zu veröffentlichen und vielleicht größere Firmen und Vereine zum Spenden zu bewegen. Ende August endet mein Freiwilligendienst offiziell. In Deutschland findet dann ein Nachbereitungsseminar statt, das nur einige Tage dauern wird. Von dort aus möchte ich dann aber nicht direkt zurück nach Dorsten, sondern fahre noch einmal für ein oder zwei Wochen nach Minsk, um die nächsten Freiwilligen in die Arbeit einzuweisen. Mir ist es sehr wichtig, dass nach mir ein neuer Freiwilliger auf meiner Station arbeiten wird und ich weiß nur zu gut, wie es ist, ohne eine Einweisung dort anzufangen... Viele liebe Grüße aus Minsk! Evelyn