Drehbuch zum Spielfilm Kaltsüchtig ein Film über die Liebe 90 Minuten / 119 Seiten Rainer Weidlinger Matthias Schönerer Gasse 3/1 A-1140 Wien 0043 1 94 21 557 [email protected] www.filmautor.com 1. Fassung, 2009 © Copyright Rainer Weidlinger, A-Wien 1 1 KRANKENHAUS / ARZTZIMMER – NACHMITTAG INNEN black screen. Wir hören das papierene RASCHELN von Unterlagen. ARZT (off, sanfte Stimme) Die Befunde sind heute Vormittag gekommen. Und sie bestätigen leider unsere Befürchtungen! EINER (off, gefasst) Ich verstehe! ARZT (off) Es tut mir leid, Herr Einer, aber ich denke, wir können nichts mehr für sie tun. AUFBLENDE Herr EINER, kein Vorname, sitzt vor uns auf einem einfachen Holzsessel. Hinter ihm sehen wir einen Garderobenständer mit zwei Arztkitteln darauf. An den Brusttaschen sind ID´s mit Portraitfotos und Strichcodes geheftet. [Einer ist 48 Jahre alt, untersetzt, hat auffällig kurze Beine, einen Kugelbauch, im Gegensatz dazu ein auffällig hageres Gesicht, braune Augen, Brillen, Jeanshose, breiten Ledergürtel mit auffälliger Schnalle (Westernmotiv), Rollkragenpullover, darüber offenes, kariertes Hemd, abgelatschte Stiefeletten, über der Sessellehne hängt ein schwarzer Kurzmantel. Um seinen Hals baumelt ein Halskettchen mit einem goldenen Kreuz.] Einer spricht in die Kamera und versetzt uns so in die Position des Arztes. EINER (gefasst) Wie lange habe ich noch? ARZT (off) Schwer zu sagen - ein paar Wochen vielleicht! Herr Einer nickt. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 2 EINER Ab wann wird es… unerträglich? ARZT (off) Schon bald! Einer senkt seinen Kopf, greift kurz an das Kreuz an seinem Halskettchen, atmet tief durch. Er richtet sich wieder auf, lässt sich etwas nach vor. EINER Hören Sie, Herr Doktor! Ich habe niemanden mehr, ich lebe alleine. Können wir da… ´was tun? ARZT (off) Ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, woran Sie dabei denken, Herr Einer? EINER Ich bitte Sie um ihre Hilfe. Nicht jetzt, aber… schon bald! Einer blickt fordernd, Sekunden vergehen. ARZT (off) Wir könnten Sie ja dann noch einmal operieren, Herr Einer. Einer blickt erleichtert, nickt zustimmend, lehnt sich wieder zurück. EINER Gut! 2 VORSTADTSTRASSEN – FRÜHER ABEND AUSSEN Ein heißer Sommerabend, noble Vorstadtgegend, Villen, Herrschaftshäuser, prächtige Vorgärten, luxuriöse Autos. Wir befinden uns in den späten 70er Jahren. Zwei zehnjährige Burschen, ADRIAN und MAX, düsen auf ihren Fahrrädern den Gehsteig entlang. Adrian ist gelenkig, drahtig, Max dicklich, ungeschickt und Brillenträger. Seine rechte Hand ist mit einem blutgetränkten Stofffetzen behelfsweise umwickelt. Den beiden steht die Lebensfreude und der Schalk ins Gesicht geschrieben. Sie tragen kurze, zerrissene Hosen und T-shirts, die gras- und erdbefleckt sind. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 3 Eine zerbrechliche, an einem Krückstock gehende DAME, 80 Jahre alt, kommt ihnen entgegen. Die Fahrradglocken BIMMELN. Die alte Dame erschrickt. ADRIAN (schreit) Aus dem Weg, du alte Schachtel! Sonst bist du fällig! Max und Adraian springen mit ihren Rädern kurz vorm Zusammenprall vom Gehsteig auf die Straße und radeln davon. DAME (schreiend, den Stock schwingend) Ihr verdammten Rowdys, ich erwisch´ euch schon noch mal und dann zieh ich euch das Fell über die Ohren. Sie dreht sich wieder zurück und setzt ihren Weg fort. DAME (zu sich) Und wenn es das letzte ist, was ich tue. 3 VILLA AUSSEN Die beiden besten Freunde bremsen sich mit blockierenden, auf dem heißen Asfalt QUIETSCHEN Rädern vor einer noblen, mit Efeu bewachsenen Villa und einer riesigen Gartenanlage mit großen Kastanienbäumen ein. Adrian sieht die offene Garage, in der ein schwerer Mercedes geparkt steht. Sein Blick verfinstert sich. MAX (off) Mach´s gut, bis morgen! Adrian dreht sich zurück zu Max. ADRIAN Bis morgen, Max! Max tritt in die Pedale, hält dann noch mal inne. MAX (schreiend) Adrian! Adrian steht schon im Vorgarten der Nobelvilla. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 4 ADRIAN Ja? MAX (schreiend) Und vergiss nicht die … Max blickt misstrauisch auf die offene Garage. MAX (unterdrückt schreiend) … du weißt schon? Max macht die Handbewegung für eine Steinschleuder. Adrian nickt. Die beiden grinsen sich schelmisch an. Max radelt davon, Adrian schiebt sein Rad langsam zum Haustor. 4 VILLA INNEN Adrian schleicht sich über den Vorraum in das Wohnzimmer. Von dort blickt er durch den Flur in die Küche, wo seine MUTTER, 52(!)Jahre alt, den Teig für einen Kuchen zubereitet. Sie trägt eine blumengemusterte Schürze. Als sie Adrian erblickt, gibt sie ihm ein Handzeichen, dass er sich ruhig verhalten und schnell nach oben gehen soll. Adrian nickt und eilt auf leisen Sohlen über die Stiege nach oben in sein Zimmer. Kaum ist der Junge aus dem Wohnzimmer, betritt der VATER, ebenfalls 52 Jahre alt, den Raum. Er trägt einen grauen Anzug und bindet sich mit flinken Fingern seine Krawatte. Seine grau melierten Haare sind nass und streng nach hinten gekämmt. Der Vater ist ein groß gewachsener, bulliger Mann. Die Mutter erblickt ihren Ehemann. MUTTER Wann kommst du wieder? VATER (mürrisch) Spät! Die Mutter nickt, sie weiß, dass ihr Ehemann fremd geht. Sie wendet sich wieder ihrer Teigmasse zu. Das Telefon im Wohnzimmer LÄUTET. Die Mutter blickt besorgt auf, der Vater hebt den Hörer energisch ab. VATER Doktor Weihsmann! Wer spricht? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 5 5 IM HAUS DER NACHBARIN INNEN Eine sehr dicke Frau steht in ihrem Wohnzimmer am Telefon. Hinter ihr an der Blumen-Tapetenwand hängt ein großformatiges Familienfoto. Das Familienportrait zeigt die Frau, ihren zehnjährigen Sohn ALEXANDER, die zwölfjährige Tochter und ihren Ehemann. Alle Mitglieder der Familie sind extrem übergewichtig und auffällig rothaarig. Die Frau spricht sehr aufgeregt. FRAU Guten Abend, Herr Doktor! Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber… SZENE 4/5 TELEFONAT Doktor Weihsmann verdreht die Augen. VATER Was gibt es denn schon wieder, Frau Seidl? Die Mutter in der Küche spitzt die Ohren, sie blickt besorgt. FRAU Hören Sie! MEIN Sohn Alexander hat mir mitgeteilt, dass IHR Adrian, gemeinsam mit diesem Max da, heute Nachmittag … Der Vater hört sich die für uns nur als Gebrabbel wahrnehmbare Mitteilung nicht lange an. Er unterbricht jäh den Redeschwall. VATER Hören Sie, Frau Seidl, sagen Sie einfach, wie hoch der Schaden ist und ich begleiche die Summe. Der Vater hört aufmerksam hinein, seine Miene wird grimmig. VATER Wenn das gar nicht IHR Auto war, was rufen Sie mich dann überhaupt an? Verdammt noch einmal! Der Vater knallt den Hörer auf die Gabel. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 6 FRAU Aber wollen Sie nicht… Hallo? Frau Seidl blickt verwundert auf den Hörer. Der Vater wirft einen kurzen Blick in die Küche. VATER (brüllend in die Küche) Wir hätten diesen verdammten Bastard nie nehmen sollen! Die Mutter senkt ihren Blick. Adrian kniet bei seiner Zimmertür, die einen kleinen Spalt geöffnet ist. Er lauscht hinunter. VATER (off, brüllend) Jetzt werde ich diesem gottlosen Jungen zeigen, was es heißt, undankbar zu sein. Wir hören im off die schweren Schritte des Vaters. Adrian weicht schnell zurück. Er greift zu der am Bett liegenden Steinschleuder und versteckt diese in seinem Kleiderschrank unter den Unterhosen. Adrian richtet sich wieder auf, blickt gebannt auf die Zimmertür. Der Vater geht über die Stiege nach oben. Dabei zieht er sich den Ledergürtel aus der Hose. Er betritt das Zimmer des Jungen. Die Mutter leert schnell und mit zittrigen Händen den Teig in die Küchenmaschine und schaltet die höchste Stufe ein. Das Gerät nimmt mit einem sehr lauten RATTERN die Arbeit auf. Ein sporadisches POLTERN von oben dringt bis nach unten in die Küche. Die Mutter blickt hoch und erkennt, wie der Lampenschirm leicht hin und her wackelt. Ihre Augen sind todtraurig. 6 STRASSE - MITTAG AUSSEN Hitze flimmert. Max lehnt an seinem Fahrrad an einer Straßenecke und wartet. Wir hören aus dem off das Pfeifen von den Speichen eines Fahrrades. Max lächelt. Adrian bremst sich mit dem Rad knapp vor Max ein. ADRIAN Hallo! MAX Hallo! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 7 Adrian greift nach hinten an seinen Hosenbund, holt eine Steinschleuder hervor und überreicht sie Max. ADRIAN Hier hast du! Max bekommt glänzende Augen. MAX Wow! Danke! ADRIAN Bekomm´ ich aber wieder! MAX Klar doch! ADRIAN Hat bei euch auch die fette Seidl angerufen? Max nickt, senkt dabei den Kopf. ADRIAN Und? Wo hat´s dich diesmal erwischt? MAX Du zuerst! Adrian nickt, dreht den Rücken zu Max und hebt sein Hemd. Wir sehen tiefrote Striemen, blaue und grünliche Flecken. Daneben sehen wir aber auch ältere und mittlerweile verheilte Wunden. Max verzieht bei diesem Anblick sein Gesicht. Adrian senkt sein Hemd. ADRIAN Jetzt du! Max blickt kurz verstohlen umher, er nimmt die Steinschleuder zwischen die Zähne, zieht dann mit Anstrengung seine Hose über den dicken Hintern etwas nach unten. Sein Gesäß ist blutunterlaufen, wir sehen ein tiefes Striemenmuster, das auf einen Rohrstock schließen lässt. ADRIAN Nicht schlecht! Max nickt irgendwie ein bisschen stolz. Max zieht die Hose wieder hoch, nimmt die Steinschleuder aus dem Mund. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 8 MAX Das nächste Mal prügelt sie mich halbtot und steckt mich dann ins Heim, hat sie gesagt. Adrian kramt etwas aus seiner Hosentasche, das in eine Serviette eingewickelt ist, und reicht es Max rüber. ADRIAN Da! Hast du dir verdient. Max nimmt die Serviette entgegen und wickelt diese aus. Es ist ein großes Stück eines zerbröselten Kuchens drinnen. Max beißt in den staubtrockenen Kuchen. MAX (mampfend) Und? Was tun wir? Adrian grinst breit, klopft sich mit seinem Zeigefinger auf seine Schläfe. Max grinst breit zurück. ADRIAN Mir nach! Adrian schwingt sich auf sein Rad und fährt los. Max steckt die Steinschleuder in den Hosenbund, will auch auf sein Rad steigen, das Stück Kuchen in der Hand macht es ihm schwer. MAX Warte, nicht so schnell, ich habe den Kuchen. ADRIAN Dann wirf ihn weg! Schmeckt sowieso nicht. Adrian tritt in die Pedale. MAX Das geht nicht, ist doch ein Kuchen! Max stopft sich das ganze Stück Kuchen in den Mund, schwingt sich unbeholfen auf sein Rad, fährt los, setzt sich auf den Sattel. In diesem Moment schnellt sein Hintern wieder hoch. MAX (aufschreiend, mit vollem Mund) Au! Aua! Er hebt den Hintern vom Sattel, greift sich auf die Backen. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 9 ADRIAN (zurückblickend) Was ist jetzt schon wieder? Max fährt so langsam, dass das Rad hin- und herwackelt. MAX (mit vollem Mund) Mir tut mein Arsch so weh! Adrian lacht laut auf. ADRIAN Komm jetzt! MAX (zu sich) Ja! Komm ja schon! Die beiden radeln los, Max sitzt dabei nicht auf dem Sattel. 7 VOR DER TURNHALLE AUSSEN Wir befinden uns vor einer großen, aus roten Backsteinziegeln errichteten Turnhalle, die sich inmitten der locker verbauten, noblen Vorstadtsiedlung befindet, nicht weit vom Elternhaus der beiden Burschen entfernt. Aus der Halle dringt lautes GESCHREI UND GEJOHLE von jugendlichen Mädchen zu uns nach draußen. Adrian kniet vor einem großen Fahrrad, hinter ihm sehen wir sein eigenes und das Rad von Max an einer Mauer angelehnt stehen. Adrian blickt gespannt auf Max. Wir sehen Max am anderen Ende einer 20 Meter langen Reihen von nebeneinander abgestellten Fahrrädern ebenfalls an einem Hinterrad knien. Adrian checkt noch einmal kurz die Lage, dann nickt er Max zu, Max nickt zurück. In dem Moment beginnen beide, die Ventile von den Reifen herauszuziehen. Die Luft entweicht mit einem kurzen PFFFFF, schon ist der Reifen platt. Die beiden Burschen huschen in gebückter Haltung von Rad zu Rad und ziehen an den Vorder- und Hinterräder die Ventile raus und sammeln diese in der Hand. Hier findet ein wahres Konzert an PFFFFFs statt! Hinter einem Strauch lugt der rothaarige ALEXANDER, der Junge von Frau Seidl, hervor. Wir kennen den Jungen vom Familienfoto, das hinter der telefonierenden Frau Seidl an der Wand gehangen hat. Er beobachtet aufgeregt die Szenerie. Hinter ihm steht sein Fahrrad auf dem Ständer. Max und Adrian nähern sich von beiden Seiten der Mitte der langen Reihe von Rädern, die Intervalle an PFFFFs werden immer kürzer. Die beiden knien jetzt vor dem selben Fahrrad und greifen zum selben Ventil. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 10 ADRIAN Das gehört noch mir. Adrian zieht das Ventil raus: PFFFF! Jetzt haben sie alle Räder geschafft. MAX (trotzig) Von mir aus. Ich hab´ schon genug. ADRIAN Zeig her! Max öffnet seine Handfläche und wir sehen an die 40 Ventile. Adrian nickt. MAX Und wie viele hast du? Adrian öffnet seine Hand. Er hat ungefähr gleich viel Ventile. ADRIAN Wir zählen sie später. Jetzt los! Weg hier! MAX Das sagst du doch nur, weil ich mehr habe als du. Als sich die beiden Jungen aufrichten, schrickt Alexander zurück. Dabei stößt er gegen sein Fahrrad, das mit einem lauten, metallernen GERÄUSCH hinter den Busch hervor auf den Gehsteig fällt. Adrian und Max blicken auf. Sie sehen das Rad und wie sich in diesem Moment der rothaarige Alexander konsterniert erhebt und hinter dem Gebüsch zum Vorschein kommt. ADRIAN Die Karottenbirne! Max greift sich an seinen schmerzenden Hintern. MAX Nicht gut! Alexander verharrt noch für eine Schrecksekunde, dann schwingt er sich auf sein Fahrrad. ADRIAN Den holen wir uns! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 11 Max nickt zustimmend, greift nach hinten zu seinem Hosenbund und holt die Steinschleuder hervor, ein Ventil legt er in die Schleuder, die restlichen steckt er in die Hosentasche. MAX Klar doch! Die beiden laufen los. Alexander blickt angsterfüllt auf die beiden sich nähernden Burschen. Er schafft es nicht mehr loszuradeln. Er springt vom Rad, lässt dieses umfallen und läuft weg. Adrian und Max rennen Alexander hinterher. 8 STRASSE – GEHSTEIG / VERFOLGUNG AUSSEN Alexander flüchtet sich den Gehsteig entlang und biegt in eine kleine Gasse ein. ZENG! Ein Ventil fetzt knapp an seinem Kopf vorbei und schlägt wuchtig in einen Holzzaun ein, Holzsplitter fliegen und fetzen. MAX (auf die Schleuder blickend) Wow! Max erhebt sich, lädt die Schleuder nach und läuft wieder los. Adrian läuft vor ihm und ist jetzt nur noch ein paar Meter hinter Alexander, der sich immer wieder angsterfüllt nach hinten umdreht. Alexander biegt noch einmal ab und flüchtet sich in einen schmalen, mit faustgroßen Steinen bedeckten Schlurf zwischen zwei Garagen, am Ende ein hoher, unüberwindbarer Zaun: Sackgasse! Alexander atmet schwer, dreht sich um und erblickt Adrian, der jetzt siegessicher den Weg versperrt. ADRIAN Hier kommst du nicht mehr raus! Hinter Adrian taucht jetzt Max auf, er atmet tief ein und aus. ADRIAN Da ist er! War ein Kinderspiel! Ist langsam wie eine Schnecke! Max nickt, dann zieht er seine Schleuder auf. MAX Das Schwein verpfeift uns diesmal sicher nicht! Alexander blickt auf die Schleuder. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 12 ALEXANDER Das… das ist meine Schleuder. DU hast sie also gestohlen. Die gehört mir. Max blickt auf Adrian. ADRIAN (zu Alexander) DIE gehört jetzt uns! Adrian weicht seitlich aus, grinst höhnisch grinsend. Alexander blickt ängstlich auf Max, der sich ihm langsam mit gespannter Schleuder zwei Schritte nähert. Alexander geht in die Knie und hält sich die Hände schützend vors Gesicht. ALEXANDER Bitte nicht! Ich verrate euch auch nicht. MAX Sicher nicht? Er zieht die Schleuder ganz zurück. ALEXANDER Ich sag´ nichts, ehrlich! Gebt mir nur mein Fahrrad zurück und ich bin weg. Ich verspreche es! Hoch und heilig! Max nimmt Spannung aus der Schleuder. ADRIAN (betont ruhig) Ich glaub´ ihm kein Wort. Max blickt von Alexander auf Adrian. Der blickt fordernd. Max zieht die Schleuder wieder auf, zielt auf: ZENG. Ein Ventil fetzt los und trifft Alexander am Unterarm. Das Geschoß schlägt eine tiefe, stark blutende Wunde. Alexander schreit laut auf, hält sich den Arm und beginnt bitterlich zu weinen. Max sieht das Blut, ist über die Wirkung des Geschoßes verblüfft, bekommt jetzt ein mulmiges Gefühl. Adrian blickt ebenfalls verwundert über die Wirkung der Schleuder auf Max, allerdings hegt er nicht reuige, sondern böse Gedanken. Gierig greift er nach der Schleuder. ADRIAN (euphorisch) Lass mich auch mal! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 13 MAX Warte mal, ich… Adrian reißt Max die Schleuder aus der Hand, kniet sich zu Boden und legt vor sich die in der Hand gesammelten, über 40 Stück Ventile ab. Er häuft sie auf einen Haufen. Er nimmt ein Ventil auf, lädt, zielt auf: ZENG! Adrian schießt das Ventil auf Alexander. Es trifft ihn am Unterschenkel. Eine tief klaffende Wunde tut sich auf. Alexander brüllt wie am Spieß. ALEXANDER (weinerlich) Bitte nicht! Mama! ADRIAN Deine Mama ist jetzt nicht da. Adrian nimmt das nächste Vetil auf, lädt erneut nach, spannt die Schleuder. Max kann gar nicht hinsehen, schließt die Augen. Adrian zielt: ZENG! Das Geschoß schlägt knapp neben Alexanders Kopf in der Mauer ein. Staub wirbelt. Max ist erleichtert. ADRIAN Verdammt noch einmal! ALEXANDER (flehend) Hört bitte auf! Ich habe euch doch gar nichts getan! Adrian nimmt das nächste Vetil auf, lädt nach. Max steht tatenlos neben dem knieenden Adrian, will schon etwas dagegen sagen, kann aber irgendwie nicht. Adrian spannt die Schleuder extrem zurück. In diesem Moment kommt ihm die Schleuder aus, das Ventil schießt seitlich weg gegen die Mauer, von dort auf die Regenrinne, von dort zurück und Max durch das berstende Brillenglas genau in das rechte Auge. Max brüllt auf, hält sich das Auge zu und geht vor Schmerz in die Knie. Adrian kniet sich vor ihn, lässt die Schleuder zu Boden fallen. ADRIAN Nimm die Brille runter, nimm die Brille runter. Adrian hilft Max, die demolierte Brille von der Nase zu nehmen. Er zerrt Max die blutige Hand vom Auge weg. ADRIAN Lass mal sehen! Das Auge sieht schlimm aus, es blutet stark, zähe, milchig-rote Flüssigkeit tritt aus. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 14 ALEXANDER (off) Das habt ihr nun davon, ihr Idioten! Adrian dreht sich langsam zu Alexander zurück. ALEXANDER (trotzig, schadenfroh) Ich sag´ alles meiner Mama und dann bekommt ihr Prügel wie noch nie. Das schwöre ich euch. Max weint erneut auf, es fließen Tränen des Schmerzes und der Angst vor der angedrohten Strafe. Adrian wendet sich Max zu. ADRIAN Ganz ruhig, Max, das wird schon wieder! Adrian richtet sich auf, streift mit seinem Fuß über den Haufen Ventile. Die verstreuen sich über den ganzen Boden, sind jetzt nicht mehr wichtig. Adrian nähert sich mit festem Schritt Alexander, nimmt auf dem Weg einen großen Stein auf, kniet sich über Alexander und schlägt mit voller Wucht auf dessen Kopf: BUMM! Alexander sackt bewusstlos in sich zusammen, Blut rinnt über die Steine. Max hört auf zu weinen, beobachtet die Szenerie. Adrian holt erneut aus: BUMM! Er schlägt ein zweites Mal auf den Kopf von Alexander. Alexander rührt sich nicht mehr. Adrian erhebt sich, wirft den blutigen Stein neben Alexander. Er geht zurück zu Max, der ihn schockiert ansieht, und führt ihn in den engen, nicht einsehbaren Schlurf. ADRIAN Du setzt dich jetzt da her und wartest auf mich! Ich bin gleich wieder da! Max ist wie paralysiert, er sitzt jetzt keine zwei Meter neben dem toten Alexander. Adrian macht sich auf. MAX Adrian! Adrian hält inne, blickt zurück. ADRIAN Ja? MAX Kommst du wieder? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 15 Adrian lächelt ein wenig. Er genießt das wohlige Gefühl, gebraucht zu werden. Es macht ihn stolz. ADRIAN Du wartest einfach hier! Max nickt, Adrian läuft los. Max senkt seinen Blick, eine Hand hält er schützend vor sein Auge. Dann schwenkt er seinen Blick auf Alexander, der tot neben ihm liegt. Die Steine bei Alexanders Kopf sind blutgetränkt. Max blickt wieder weg. Dabei sieht er die Steinschleuder am Boden liegen. Er lässt sich rüber, hebt diese auf und steckt sie in den Hosenbund weg. In diesem Moment taucht Adrian mit dem Fahrrad von Alexander auf. ADRIAN Komm raus da, schnell! Max erhebt sich und geht aus dem Schlurf. Adrian hebt das Rad an und wirft es fest zu Boden: BOING! Max beobachtet ihn aufmerksam. Das Rad hat große Schäden abbekommen. Adrian hebt das Rad noch einmal an, geht so unter größter Anstrengung in den Schlurf hinein. ADRIAN Hilf mir doch! Max hilft Adrian mit einer Hand, die andere schützend vorm Auge, das Fahrrad in die Höhe zu stemmen. Die beiden schlängeln sich in den engen Schlurf. ADRIAN Auf drei, dann werfen wir das Rad da (Kopfnicken in Richtung Mauer) rüber, verstanden? MAX (zittrige Stimme) Klar doch! ADRIAN Eins – zwei ADRIAN UND MAX drei! Das Fahrrad prallt gegen die Wand und fällt von dort runter auf den Körper von Alexander. Das Hinterrad dreht sich langsam, dazu pfeifen die Speichen, die Achse quietscht im Takt. Max und Adrian beobachten das laufende Rad aufmerksam. Das Rad wird langsamer, stoppt. Es ist jetzt absolut ruhig, nur der Wind RAUSCHT durch die Blätter, die Vögel ZWITSCHERN: Vorstadtidylle! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 16 MAX Jetzt hat er wenigstens sein Fahrrad wieder! Max sagt und meint das nicht zynisch, sondern kindlich naiv, ehrlich. Adrian blickt eindringlich auf Max, dieser Satz wird ihm in Erinnerung bleiben. ADRIAN Zurück zu unseren Rädern! MAX Ja! Die beiden laufen los, Adrian voraus, Max hinterher, eine Hand vorm Auge, die andere am schmerzenden Hintern. MAX Warte, nicht so schnell! ABBLENDE AUFBLENDE 9 ZAHNKLINIK – SPÄTER VORMITTAG INNEN Wir bewegen uns durch eine großen, fensterlosen Saal. Die Wände sind weiß verputzt, der Boden aus grünem Linoleum. Links und rechts sind unzählige, nur durch weite, weiße Stofflaken sichtgeschützte Behandlungsstühle. Laute BOHRGERÄUSCHE und vereinzelte SCHREIE erfüllen den Raum. Eine ARZTASSISTENTIN mit weißem Kittel schlendert mit laut KLAPPERNDEN Holzschuhen von einer Kabine zur nächsten. Wir sehen, wie eine 45-jährige FRAU mit ihrem zehnjährigen SOHN gerade eine Kabine verlässt und auf uns zu in Richtung Ausgang geht. Beide tragen abgetragene Lumpen und alte Schuhe. Die Mutter nuschelt ihrem Jungen tröstende Worte in einer slawischen Sprache zu. Der Junge hält sich mit einem blutigen Papiertaschentuch die Backe, mit der anderen zieht er einen stark gebrauchten GAMEBOY aus seiner Hosentasche und beginnt darauf zu spielen. Wir kommen vor einer Kabine zum Stehen. 10 KABINE INNEN Ein 60-jähriger MANN, ungepflegt, strubbeliger Vollbart und Schnapsnase, hält seinen Mund weit offen. Wir blicken auf die wenig verbliebenen, verfaulten Zähne. Der ARZT führt mit einem Spiegel im Rachenraum eine Untersuchung durch. Er trägt dabei Einweghandschuhe, Mundschutz und eine Kopfbedeckung. Wir können nur seine stechend blauen Augen erkennen. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 17 Der Arzt legt den Spiegel auf die Ablage zum anderen Werkzeug und greift zu einem löffelähnlichen Instrument. Er wirft einen Blick auf den alten, sabbernden, sichtlich betrunkenen Obdachlosen. Er legt den Löffel wieder zurück und greift stattdessen zu einem grimmig spitzen Stechinstrument. Seine Augen werden ein Schlitz. In diesem Moment öffnet sich mit einem RATSCH der Sichtschutz. Der junge Arzt schrickt auf, blickt zurück, legt dabei das Stechinstrument wieder unauffällig zurück. Ein alter Herr, 65 Jahre, weiße Haare, Brille auf der Nasenspitze, Namenschild mit „Univ. Prof. Dr. Franck“, die Hände im weißen Arztkittel, blickt herein. PROFESSOR (routiniert) Wie läuft´s, Herr Kollege? ARZT (im Sinne von `gut´) Mh-mh! Der Professor blickt kurz auf den Patienten. Dieser grinst gequält und ängstlich zurück. PROFESSOR Schön! Er zieht den Vorhang zu, ein Spalt bleibt offen, und geht ab. Der Arzt steht auf uns schließt den Vorhang blickdicht. Der Arzt setzt sich wieder, wendet sich dem Patienten zu. Er greift erneut zu dem Stechinstrument. Er setzt dieses vorsichtig an. Der Mann zuckt kurz auf. Der Arzt setzt wieder an, der Mann wimmert. ARZT (flüsternd, Befehlston) Halten Sie sich ruhig, ich könnte Sie sonst verletzen. Der Mann murmelt Unverständliches. Der Arzt bohrt mit diesem Stecher tief in das Zahnfleisch und in die verfaulten Zahnfragmente des Mannes. Wir erkennen jetzt das Namensschild auf dem Arztkittel: „Dr. Adrian Weihsmann“. Aus dem Knaben Adrian wurde Doktor Weihsmann. Er ist 37 Jahre alt. Der alte Mann stöhnt immer wieder laut auf, windet sich vor Schmerz. Adrian richtet sich auf. ADRIAN (flüsternd, bestimmt) Wenn Sie sich weigern zu kooperieren, breche ich die Behandlung ab. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 18 Der alte Mann will sich vom Stuhl aufrichten, als Adrian ihn mit einer Hand zurück gegen den Stuhl presst. Der alte Mann blickt gebannt und starr vor Schreck. ADRIAN (flüsternd, aggressiv) Du hättest noch mehr saufen sollen, dann würdest du jetzt nicht jammern wie ein altes Weib. In diesem Moment öffnet sich mit einem RATSCH der Sichtschutz und die Arztassistentin mit den klappernden Schuhen betritt die Kabine. Adrian lässt schnell von seinem Patienten ab und richtet sich auf. Die Arztassistentin weiß, was sich hier abgespielt hat, lässt sich aber nichts anmerken. ARZTASSISTENTIN Hier sind die Bilder, Herr DOKTOR. Adrian räuspert sich. ADRIAN Ja, danke! Er nimmt die Röntgenaufnahmen entgegen und studiert diese. Die Arztassistentin wirft einen kurzen Blick auf den alten Mann, der aus dem Mund Blut und Speichel in den Abfluss lässt, dann geht sie ab und zieht die Laken wieder vor. ADRIAN (ohne von den Bildern aufzublicken) Sie sind fertig für heute. Der alte Mann wischt sich den Mund mit dem Ärmel seines vergammelten Mantels und erhebt sich mühsam aus dem Stuhl. ALTER MANN (schwer verständlich, weinerlich) Du alte Drecksau, du! Ich kann doch nichts dafür! Ich kann doch nichts dafür, Herr Doktor! Adrian blickt von seinen Bildern nicht auf. Der Mann geht ab. Adrian legt die Bilder auf einen Beistelltisch, reißt sich den Mundschutz vom Gesicht. Jetzt können wir sein Gesicht erkennen: Adrians Gesicht hat feine, weiche Züge, glattrasiert, Kurzhaarschnitt mit grauen Ansätzen, auffallend schöne Zähne, stechend blaue Augen. Adrian wirkt nachdenklich, entäuscht. Er beißt sich vor Zorn so fest in die Unterlippe, dass sie zu bluten beginnt. Er wischt sich mit dem Daumen das Blut weg. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 19 11 ZAHNKLINIK AUSSEN Der alte, hinkende Mann quält sich über eine breite Betonstiege nach unten, hinter ihm ein schäbiger Betonblock aus den 70er Jahren. Es öffnet sich die schwere Eingangstür und Adrian kommt mit wehendem Arztkittel heraus. ADRIAN (schreiend) He! Der alte Mann bleibt stehen, dreht sich um. Adrian nähert sich und drückt ihm einen Hundert-Euro-Schein in die Hand. ADRIAN Da! Adrian dreht sich um und geht zurück ins Gebäude. Der alte Mann blickt überrascht und sprachlos von Adrian auf den Geldschein und wieder zurück auf Adrian. ALTER MANN (nachrufend) Bis zum nächsten Mal! Adrian reagiert nicht, er betritt wieder das Gebäude. Der alte Mann steckt lächelnd den Geldschein weg, dreht sich um und geht. 12 TANZLOKAL – NACHT INNEN Wir befinden uns in einem kleinen, schickimicki Schwulenlokal, das selbstredend hauptsächlich von topgestylten Männern von 20 aufwärts besucht wird. Das Lokal ist gesteckt voll, 80er-Jahre Musik WUMMERT, die Tanzfläche brodelt. Die mit silbernen Anzügen bekleideten, auffallend adretten Kellner, alle um die Mitte 20, wuseln geschäftig hinter der wuchtigen Bar, Geldscheine flattern. Am Ende der Bar lehnt ein untersetzter, dickbauchiger, stiernackiger, glatzköpfiger Anzugträger, Pockennarben im Gesicht, braungebrannt, ´Camel`- Kettenraucher, mit schwarzer Augenklappe Marke Piratenlook: Max! Er steht vor einem Kübel mit Champagner und unterhält sich mit zwei honorigen, ungefähr 50 Jahre alten Managertypen. Durch die laute Musik können wir das Gespräch nicht wahrnehmen. Sie lachen laut auf, stoßen an und trinken aus den voll gefüllten Gläsern. Die beiden Männer nippen, Max trinkt in einem Zug aus. Max stellt das Glas ab und gibt den Männern ein Handzeichen, dass er für Nachschub sorgt. Die zwei Männer nicken, lachen. Max macht drei Schritte hinter die Bar. Er bewegt sich trotz seines starken Übergewichts geschmeidig, weich, fast ein bisschen demonstrativ tuntig. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 20 Max winkt einen Kellner zu sich. KLAUS kommt herbei geeilt, er wirkt aufgedreht, nervös, sein erster Arbeitstag. Die beiden sprechen sich aufgrund der Lautstärke direkt ins Ohr. MAX Bring´ noch eine Flasche „DOM“ zu mir! Max deutet mit einem schnellen, unauffälligen Handzeichen auf seinen Platz an der Bar. MAX … und setz´ es den Arschlöchern auf die Rechnung. Die sind so zugekokst, die wollen mit ihrem Geld ein bisschen angeben. KLAUS Okay, Chef! Klaus will schon hektisch abdampfen, Max hält ihn am Arm zurück. KLAUS Ja? MAX Ganz ruhig, Klaus, nicht hektisch sein, alles läuft, und du bist gut! Klar? Klaus nickt, lächelt schüchtern. MAX Und sorg´ dafür, dass dieser Typ da… Er zeigt unauffällig auf einen Mann um die 35, der an der Bar steht und auf eine Bestellung wartet. Er tippselt dabei nervös mit den Fingern auf der Bar, einen `Hunderter´ zwischen den Fingern. MAX … schnell was zu trinken bekommt. Er sieht durstig aus. Klaus nickt, will gehen. Max hält ihn noch einmal zurück. MAX Und wisch dir den Schweiß von der Stirn, du siehst schrecklich aus. Klaus will sich an die Stirn greifen, Max hält dessen Hand zurück. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 21 MAX NICHT hier vor den Leuten! Die wollen das nicht sehen. Mach das hinten. KLAUS Okay, Chef! MAX (euphorisch) Und jetzt mach! Und hab´ Spaß! Das hier ist dein neuer Job! Max klatscht Klaus sanft auf den Hintern. Klaus blickt überrascht auf Max, der lächelt und zwinkert mit seinem (noch verbliebenen) Auge. Klaus lächelt zurück und rauscht davon. Max gibt den beiden Männern am Ende der Bar ein Zeichen, dass das Getränk unterwegs ist. Die beiden lächeln zufrieden. Max deutet, dass er gleich wieder bei ihnen sein wird. Die beiden nicken. Max geht nach hinten weg in Richtung eines Durchgangs. Er hält kurz inne, richtet zwei Flaschen Wodka in den Spendern mit dem Etikett exakt nach vorne aus. Dabei erblickt er sein Gesicht im Barspiegel. Er hält kurz inne, dann geht er durch den Durchgang, der mit schwerem, roten Samt verhangen ist. 13 GETRÄNKELAGER INNEN Max kommt ins Getränkelager. Hier stapeln sich meterhoch Kisten und Kartons. Die Musik dringt gedämpft und leise von draußen nach hierher. Max atmet ein paar Mal tief durch, er wirkt völlig überdreht, unruhig. Er greift in die Innentasche seines Sakkos, holt ein kleines, silbernes Fläschchen raus und staubt sich damit Kokain in die Nase. Er zieht das Zeug wie verrückt hoch, atmet tief durch, schließt kurz die Augen, öffnet diese wieder. Ein routinierter Kellner, Zigarette im Mundwinkel, kommt in diesem Moment mit zwei leeren Bierkisten in Händen in das Lager und steht vor Max. Er spricht mit der Zigarette im Mund. KELLNER Entschuldige Chef, darf ich kurz durch? MAX Klar doch! Max macht sich, das Fläschchen mit gespreizten Fingern hoch haltend, schmal, der Kellner passiert. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 22 MAX Meine Wampe steht doch immer im Weg. Wenn ich so weiter mache, kann ich schon bald beim Pinkeln meinen Schwanz nicht mehr sehen. KELLNER (beim Vorbeigehen) Hauptsache, ER sieht ´was. Soll ja nicht daneben gehen, oder? Max lacht laut, überdreht. MAX (auf seine Augenklappe zeigend) Und dabei hat er auch nur EIN Auge. Allerdings immer schon gehabt. Wie würde denn das sonst aussehen? Max lacht erneut laut auf, der Kellner lacht mit rauchiger Stimme mit und geht weiter nach hinten ins Lager, verschwindet hinter Kistenstapeln. Max´ Lachen entfließt, er wirkt ernst, nachdenklich. Er richtet sich die Augenklappe, blickt für ein paar Sekunden zu Boden: Durch seine eigene Wortmeldung daran erinnert, holt Max die schreckliche Vergangenheit ein. Sein Blick fällt auf einen hohen Stapel übereinander geschlichteter Kisten. Er sieht, dass zwei Kisten nicht korrekt ineinander greifen. Er tritt mit seinem Fuß fest gegen den Stapel, so dass die Kisten mit einem RUMMS ineinander rutschen. MAX (nach hinten zum Kellner brüllend) Und richtet die Kisten ordentlich aus, verdammte Scheiße noch einmal, oder wollt ihr mich hier zu einem ganzen Krüppel schlagen? Keine Antwort. Max atmet tief durch. Er zieht Koks, kräftiger und intensiver als vorher. Er putzt sich die Nase, steckt das Fläschchen wieder weg, atmet noch einmal tief durch, klatscht sich mit beiden Händen auf die Wangen. Jetzt kann es wieder losgehen. Kurz vorm Rausgehen wischt er noch einmal kurz über die Nase. Er zieht die schweren Vorhänge zur Seite, Musik und Partylärm schlagen uns mit voller Wucht entgegen. Draußen im Lokal tobt die Hölle. Und Max geht hinein, streckt die Arme hoch, die Welt fordernd: MAX (schreiend) Was ist hier los, ihr Schwuchteln? Party!!! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 23 14 SANATORIUM / FLUR – FRÜHER MORGEN INNEN Wir blicken in einen mit edlem Holz ausgelegten Flur. Da und dort liegen Perserteppiche. An den Wänden hängen große Ölgemälde, eingefasst in goldene Rahmen, die historische Persönlichkeiten und Schlachten zeigen. Eine große, barocke Uhr verrät uns die Zeit: „Fünf vor Fünf“. MARIA schiebt einen Rollwagen, beladen mit Bettzeug, vor sich her. Maria ist Ende Zwanzig, schlank, klein gewachsen. Ihr pechschwarzes Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr feines, ungeschminktes Gesicht zeigt makellose, auffällig weiße Haut, kohlbraune Augen. Maria geht routiniert von Tür zu Tür und legt Bettzeug auf die dort stehenden Tischchen ab. Jede Tür erhält sein individuelles Bettzeug, ein an jedes Bettzeug geheftetes Zettelchen hilft bei der Zuordnung. Maria kommt beim Schwesternraum vorbei, der durch große Glasscheiben einsichtig ist. Eine schwer übergewichtige Schwester, ihr Namensschild sagt SABINE MENKEN, sitzt mit verschränkten Armen auf einem Rollsessel und schläft. Vor ihr auf der Tischplatte steht ein Teller mit einem kleinen Reststück einer Bratwurst, der Rest von einem Senf und einem angebissenen Stück Brot, daneben eine Dose Cola Light. Hinter der Frau, im Eck des Zimmers, steht der Arzneimittelschrank. Maria wirft einen kurzen Blick darauf. Maria schiebt den Wagen weiter den Flur entlang. Sie greift zu weißen Bettlaken, die mit kleinen, roten Rosen verziert sind. Sie nimmt das Zettelchen mit dem Namen und der Türnummer ab und steckt es in den grünen Arbeitsmantel weg. Maria will das Bettzeug gerade auf dem Tischchen ablegen, als sich in diesem Moment die Tür öffnet und eine alte, gebrechliche, sehr schnell sprechende Dame herausblickt. DAME Guten Morgen, Fräulein Maria! MARIA Guten Morgen, Frau Doktor! Auch schon so früh auf? DAME Natürlich! Ich habe heute viel vor. Die Dame ist frisch geduscht und trägt einen giftgrünen, samtenen Bademantel mit aufgestickten, goldenen Initialen: „I.S.“ Sie greift nach dem Bettzeug, Maria überreicht es. MARIA Bitte sehr! Was steht denn heute an, Frau Doktor? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 24 Die Dame nimmt das Bettzeug entgegen. DAME (bitterernst) Heute kommt mein Tod! Marias Blick wird ernst. MARIA So dürfen Sie doch nicht…. DAME Papperlapapp! War doch nur eine Lustigkeit, Fräulein! Oder sehe ich etwa so aus, als wollte ich sterben? Und sagen Sie jetzt bloß nichts Falsches! Maria schüttelt den Kopf, lächelt erleichtert. DAME Heute holen mich meine drei Söhne ab, wir machen eine große Ausfahrt. MARIA Sehr schön. Wo soll es denn hingehen? DAME Sind Drillinge, alle drei erfolgreiche Anwälte. Mit denen müssen Sie mal streiten, sag´ich Ihnen. Da kommt nie ´was dabei raus. MARIA Das kann ich mir gut vorstellen. Und wo soll es jetzt hingehen? Die Dame blickt ernst auf Maria. Sekunden vergehen. DAME Hören Sie mal, wollen Sie den ganzen Tag verquatschen oder auch noch ein Stück ´was schaffen heute? Maria nickt. MARIA Sie haben wohl recht, ich muss weiter. Schönen Ausflug wünsche ich Ihnen. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 25 DAME Danke schön! Maria dreht sich weg. DAME (off) Ach, übrigens! Maria dreht sich zurück. Die Dame greift in ihre Tasche und streckt Maria einen Fünf-Euro-Schein entgegen. DAME Für ihre Dienste! Maria zögert, dann ergreift sie den Schein. MARIA Ich danke Ihnen, Frau Doktor. Die Frau nickt betont und schließt die Tür. Maria steckt den Schein weg und schiebt den Rollwagen weiter. Wir sind im Schwesternraum bei der schlafenden Sabine Menken. Ein nervender, sich stets wiederholender PIEPSTON erklingt. Sabine schrickt hoch, sie blickt seitlich auf eine Schaltfläche, wo ein Signallämpchen blinkt. Sabine quittiert routiniert den Alarm. Der Piepston und das Blinken erlischen. Sabine blickt auf die Digitaluhr am Tisch: „05.35“. SABINE (gähnend, zu sich) Ist gut! Sie reibt sich den Schlaf aus den Augen und pullt ihren schweren Körper aus dem Sessel. Sie bewegt sich langsam aus dem Schwesternraum und blickt den Flur entlang. Am Ende des Flurs blinkt über der Toilettentür ein weißes Signallicht, von Maria keine Spur. Die Schwester geht los. Wir blicken aus einem dunklen Raum durch einen sehr engen Türspalt nach draußen auf den Flur. Schwester Sabine geht vorbei. Nach ein paar Sekunden öffnet sich langsam die Tür. Maria schleicht aus dem kleinen Abstellraum für Reiningungsutensilien heraus, wirft einen vorsichtigen Blick ums Eck und sieht, wie Schwester Sabine auf dem Weg zur Toilette ist. Jetzt muss alles schnell gehen: Maria tritt heraus und huscht auf leisen Sohlen über den Flur in den Schwesternraum. Sie zieht einen Schlüssel und eine kleine, weiße Plastiktüte aus ihrer Jeanshose und geht zum Arzneimittelschrank. Sie sperrt mit nervöser, aber bestimmter Hand den Schrank auf. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 26 Schwester Sabine betritt den Behinderten gerechten Toilettenraum und quittiert durch einen Schlag auf einen Knopf neben der Tür das Signallicht von draußen. SABINE (umherblickend, routiniert) Schwester Sabine hier, kann ich Ihnen helfen? Keine Antwort. Sabine geht zwei Schritte weiter vor. SABINE (skeptisch umherblickend) Hallo? Ist hier jemand? Sabine bemerkt, dass die hintere der drei Kabinen geschlossen ist. Marias Finger gleiten flink durch die Schachtelreihen, sie geht geistig eine Bestellliste durch. Dabei spricht sie flüsternd mit sich selbst, wohl auch, um sich ein bisschen die Angst zu nehmen. MARIA Paracetamol … Ihre Finger wandern ziellos herum. MARIA (nervös, hastig) Scheiße, müssen die hier alle zwei Wochen alles umstellen. Gefunden. Sie steckt zwei Schachteln in die Tüte weg. Die Lücke wird mit den Schachteln der hinteren Reihe aufgefüllt. MARIA Opipramol… Die Finger wandern: Gefunden. Zwei Schachteln davon gehen ab in die Tüte. Schwester Sabine kommt vor der Toilettentür zum Stehen und bemerkt, dass diese von innen verschlossen ist. Sie KLOPFT. SABINE Kann ich Ihnen helfen? Sie wartet ab, KLOPFT wieder. SABINE Geht es Ihnen gut? Können Sie mich hören? Sabine lauscht an der Tür. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 27 Auf Marias Stirn stehen Schweißtropfen. MARIA Scopolamin… Vier Schachteln. MARIA Zu viel, zu viel, das ist zuviel! Sie stellt zwei Schachteln wieder zurück. MARIA Und da noch … Wieder drei Schachteln. Schwester Sabine greift hastig in ihre Manteltasche und fischt eine Münze heraus. Sie legt die Münze außen ans Türschloss. SABINE (hineinsprechend) Ich öffne jetzt die Tür. Sabine wartet noch kurz, dann dreht sie die Münze um, das Schloss springt auf. Langsam drückt sie die Tür auf, die Kabine ist menschenleer. Sabine grübelt kurz, macht kehrt und geht ab. Marias Bewegungen werden immer hastiger. MARIA (zu sich, flüsternd) Das da und das da … Die Tüte ist mittlerweile mit Schachteln randvoll. Sabine verlässt die Toilette und geht den Flur entlang. Sie betritt das Schwesternzimmer, keine Spur von Maria. Der Arzneimittelschrank ist verschlossen. Die Schwester lässt sich wieder breit auf ihren Sessel nieder, beißt von der kalten Bratwurst ab und lässt sich zurück. Dabei fällt ihr Blick zu Boden, sie sieht eine Medikamentenschachtel liegen. Ihr Blick wird grüblerisch, sie hebt die Schachtel auf, denkt nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Sie greift nach einem Schlüssel in ihrem Schwesternkittel und sperrt die Schachtel zurück in den Arzneimittelschrank. Sie bemerkt dabei nicht, dass viele Schachteln entnommen wurden. Sabine setzt sich wieder. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 28 15 SANATORIUM / PARK – FRÜHER MORGEN AUSSEN Ein prächtiger Sonnenaufgang. Maria, sie trägt ein leichtes, knielanges, geblümtes H&M-Sommerkleid, geht über einen geschotterten Fußweg durch das weitläufige, luxuriös angelegte Areal. Hinter ihr erhebt sich das schlossähnliche Sanatorium. Ihre Hand liegt schützend über ihrer Handtasche, aus der die weiße Plastiktüte blitzt. Im off hören wir das charakteristische PFEIFEN, wie es nur sehr schönen Frauen gelten kann. Maria wendet ihren Blick. Sie erkennt den sehr alten Herrn STROMBOWSKI, der breit lächelnd mit Krückstock und gestrickter Weste auf einer Parkbank sitzt und ihr grüßend zuwinkt. MARIA (rufend, beim Gehen) Noch sehr früh für solche Gedanken, Herr Strombowski! Der alte Strombowski winkt ab. STROMBOWSKI (rufend, lächelnd) Für mich leider zu spät, viel zu spät! Maria lächelt zurück, winkt zum Abschied. Der alte Herr hebt zum Abschied die stramm gestreckte Hand zum Hitlergruß und blickt betont grimmig. Man weiß nicht: Ist das Spaß oder Ernst. Maria hebt den mahnenden Zeigefinger, lächelt. Der alte Mann lächelt zurück, senkt den Arm. Maria geht weiter. Maria verlässt durch ein großes Steintor das Gelände. Sie erblickt die alte Dame von vorhin, die sich nur mit „Frau Doktor“ ansprechen lässt, wie sie gerade von einem Taxi abgeholt wird. Maria hält kurz inne, beobachtet die alte Dame beim Einsteigen und geht dann ab. 16 AUF DER STRASSE / DACHRINNE - MORGEN AUSSEN Maria geht einer schier endlosen, monotonen, bleigeschwärzten, fensterlosen Häuserschlucht entlang. An ihr zieht der schnelle, sehr starke Durchzugsverkehr einer dreispurigen Einfallsstraße vorbei. Maria bleibt an einer Dachrinne, die von oben kommend in den Gehsteig führt, stehen. Sie kniet sich nieder, schiebt den direkt neben der Dachrinne angebrachten Kanaldeckel seitlich weg und gibt so den Blick in die Nische frei. Wir sehen einen kleinen, transparenten Plastikbeutel, nicht größer als eine Zigarettenschachtel, in dem sich zwei aus Silberpapier gefaltete Briefchen befinden. Maria steckt den Beutel in ihre Handtasche weg. Im Gegenzug zieht sie die verklebte Plastiktüte heraus und deponiert diese in der Nische. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 29 Sie schiebt den Deckel zurück, erhebt sich und geht weg. Sie bleibt stehen, grübelt und fasst einen Entschluss: Sie geht zur Dachrinne, kramt dabei aus ihrer Handtasche einen zerknitterten Rechungsbeleg und einen Kugelschreiber. Gegen die Hausmauer stützend schreibt sie auf die Rückseite des Beleges mit krakeliger Schrift: “Dein Opa fragt oft nach dir!“ Maria faltet den Zettel. Sie grübelt, hält inne, entfaltet den Zettel und fügt dem Text noch hinzu: “Wegen Erbe“ Maria grinst, faltet den Zettel und heftet ihn auf die in der Nische liegenden Plastiktüte. Maria erhebt sich, geht ab. 17 PENTHOUSE / SCHLAFZIMMER - MITTAG INNEN Der Radiowecker am Nachttisch zeigt in digitalem Rot: „13.25“. Daneben stehen zwei halbleere Tulpengläser und eine leere Flasche Champagner in einem Kübel, ein gefüllter Aschenbecher, verstreute, in eingetrocknetem Schampusschaum klebende Asche und eine Schachtel Marlboro mit Feuerzeug daneben. Wir blicken Adrian ins Gesicht, er schläft tief und fest, er liegt seitlich in Fötusstellung, zugedeckt bis zum Hals mit feinstem, weißen Seidenbezug. Die Wunde an der Unterlippe ist fast verheilt. Von hinten umarmt ihn eine Frauenhand. Eine hübsche, langhaarige FRAU, Mitte 20, beugt sich zärtlich über ihn und küsst ihn zart auf die Wange. Adrian erwacht, blinzelt, schielt umher. FRAU (zärtlich gehaucht) Guten Morgen, Adrian. Die Frau lächelt, küsst ihn noch einmal auf die Wange. FRAU Und? Wie geht´s meinem ´Lover´? Adrians Miene bleibt kalt, er schließt die Augen. ADRIAN (sehr leise und betont langsam) Wenn ich die Augen wieder öffne, bist du verschwunden, okay? Die Frau stutzt. FRAU (ungläubig, empört) Was? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 30 ADRIAN Wenn ich die Augen wieder öffne, … Die Frau springt aus dem Bett. FRAU Hab´ verstanden! Danke! Die Frau sucht wortlos und hektisch ihre am Boden vertreuten Kleider zusammen und bekleidet sich. Adrian bleibt regungslos liegen. Sie greift nach ihrer Handtasche und checkt, ob sie alles dabei hat. Sie blickt in den Raum: Die Wände sind waschbetongrau, über dem Bett ein feuerrotes, abstraktes Gemälde, verspiegelter Wäscheschrank, durch die silbernen Jalousien glänzt die Sonne. Die Frau geht zum Nachttisch und nimmt die Schachtel Marlboro mit Feuerzeug auf. Sie steht jetzt direkt vor Adrian, sie blickt ihn für ein paar Sekunden eindringlich an. Adrian hält seine Augen geschlossen. Die Frau lächelt überlegen, geht zur Tür, macht halt und dreht sich zurück. FRAU Ach, übrigens… Adrian zieht eine Miene, die sagt: `Ich weiß, welcher Spruch jetzt kommt!´ FRAU Ich weiß nicht, was du für ein Problem hast, aber vom Ficken hast du echt eine Ahnung. Die Frau geht ab, die Tür lässt sie offen stehen. Man hört ihre Schritte über eine Holzstiege nach unten aus dem off. Adrian öffnet seine Augen, er wirkt nachdenklich. Im off hört man, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt. Adrians Blick ist starr. 18 WOHNZIMMER Adrian geht über die Holztreppe nach unten. Er trägt eine Unterhose und ein schwarzes T-shirt. Wir gewinnen einen Eindruck von der Wohnung, die mit viel Beton, Glas und Chrom eine sehr ansprechende, aber kalte Atmosphäre verströmt. Alles steht millimetergenau auf seinem Platz. Der Blick durch die Panoramafenster zeigt eine prächtige Aussicht auf die darunterliegende Stadt. 19 KÜCHE Eine wuchtige Espressomaschine lässt LÄRMEND Kaffee. Max (!) steht, frisch geduscht und mit Bermudas und einem weiten, weißen Hemd bekleidet, in der chromblauen, glatten, kalten, penibelst aufgeräumten Küche. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 31 Er leert ofenfrische Brötchen aus einem Papiersack in einen Brotkorb. Der Sack wird sofort im Müll versorgt. Max stellt den Korb auf den äußerst elegant und ausladend gedeckten Tisch, der vor einem Panoramafenster steht. Max geht zu der Espressomaschine. ADRIAN (off) Morgen! Max wendet sich Adrian zu, der noch ungewaschen und zersaust die Küche betritt. MAX Guten Morgen! Espresso ist schon fertig. ADRIAN Danke! Adrian setzt sich an den Tisch. MAX (zur Tür nickend) Und? Wie war SIE? Adrian nickt. ADRIAN (im Sinne von `okay´) Mh-mh! MAX Sie hatte es eilig, wie? Max stellt Adrian den Kaffee an den Tisch. Adrian nickt. MAX So sind die Frauen eben! Kurzer Spaß, nur einmal kräftig die Nudel auswinden… und weg sind sie! Und darum … Adrian nickt wissend: Er weiß, wie der Satz weitergeht. MAX UND ADRIAN … bin ich auch eine alte Schwuchtel geworden! Max lacht laut auf, zeigt auf Adrian: MAX Genau! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 32 Max holt ein großes Cocktailglas aus dem Schrank. MAX Willst du auch einen? Adrian schüttelt den Kopf, nippt am Espresso. MAX Auch gut! - Und? Wie geht´s deiner Lippe? Wieder schöne Träume gehabt? Adrian tupft vorsichtig mit dem Daumen auf die verheilte Wunde. ADRIAN Ist verheilt! MAX Möchte mir die Sauereien gar nicht vorstellen, die du da so träumst. Sich dabei in die Lippen beißen. Ist ja unglaublich! Adrian grinst gekünstelt. Max öffnet den Kühlschrank und holt eine Box Tomatensaft raus. Sekunden des Schweigens, nur das PLÄTSCHERNDE Befüllen des Glases ist zu hören. MAX Und? Trifft du sie noch einmal? Max greift nach einer Wodkaflasche und füllt ordentlich das Glas auf. ADRIAN Eher nicht. Max nickt. Er stellt die Flasche zurück, noch einen kräftigen Schuss Tabasko dazu, zurück in den Kühlschrank, Tür zu. Max setzt sich gegenüber von Adrian an den Tisch. Er setzt das Glas an und trinkt es in einem Zug aus. Adrian nippt an seinem Kaffee und beobachtet Max über den Glasrand. Max stellt das Glas ab, atmet tief aus, unterdrückt einen Rülpser, klopft sich gegen die Brust. Er nimmt den Korb und bietet ihn Adrian an. MAX Brötchen? Adrian schüttelt den Kopf. ADRIAN (im Sinne von `nein´) Mh-mh! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 33 MAX Auch gut! (zu sich) Ich werde mir eines genehmigen! Ein ordentliches Frühstück muss sein! (zu Adrian) Und du solltest auch ´was frühstücken, ist die wichtigste Mahlzeit am Tag. Neben dem Mittagessen und Abendessen, versteht sich. Max lacht laut auf, legt sich ein Brötchen auf sein Teller und stellt den Korb ab. MAX (zu sich) So, was haben wir hier? Sehr gut! Er legt reichlich Wurst und Käse darauf und beißt herzhaft hinein, mampft vor sich hin. Adrian blickt aus dem Fenster. 20 WOHNUNG MARIA / WOHNKÜCHE - NACHMITTAG INNEN Eine Feuerzeugflamme kocht eine weiße Flüssigkeit in einem Teelöffel auf. Maria sitzt auf einer alten, durchgesessenen Wohnzimmercouch. Hinter ihr liegt das Bettzeug, sie schläft also auch auf dieser Couch. Das winzige, dunkle Wohnzimmer mit angeschlossener Küche ist mit alten Möbeln vollgeräumt, billig, aber liebevoll eingerichtet: viele Fotos in Bilderrahmen, die Maria mit ihrer Oma zeigen, gesammelte Steine in allen Größen, ein alter Kaugummiautomat, eine Malstaffel mit einem halbfertigen, handwerklich und künstlerisch dilletantisch und naiv abstrakten Bild in bunten Farben. Die Wohnung verströmt Hippie-Atmosphäre. Vor Maria liegen auf dem klapprigen Holztisch ein ausgestreiftes Briefchen Silberpapier, eine Einwegspritze und eine halbe Zitrone, in der Mitte steht eine Vase mit frischen Wiesenblumen. Maria legt den Löffel vorsichtig ab, tropft etwas Zitronensaft hinein und zieht die Spritze mit der gekochten Flüssigkeit auf: Heroin. Maria checkt die Spritze gegen das Licht, klopft sanft dagegen. Sie erhebt sich mit der Spritze und dem Feuerzeug und geht durch die Tür ins angrenzenden Nachbarzimmer ab. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 34 21 STRANDBAR – SPÄTER ABEND AUSSEN Großstadtlichter, ein Fluss, aufgeschütterter Sand, bunte Lichterketten. Eine kleine Karaoke-Bühne, im Eck kauert ein kettenrauchender, gelangweilter DJ, steht inmitten von spärlich belegten Liegestühlen, Tischen und Sitzgelegenheiten, wo junges, urbanes Publikum Entspannung und Gesellschaft sucht. Heute Abend ist nicht viel los. Karaoke ist ziemlich out in dieser Stadt. Ein junger, offensichtlich stark betrunkener MANN, er trägt ein Donald Duck-Kostüm, steht auf der Bühne und versucht sich an U2´s „bloody sunday“. Eine kleine Schar seiner engsten und ebenfalls stark betrunkener Freunde steht davor und feuert ihn JOHLEND lautstark an. Junggesellenparty. Der zukünftige Bräutigam gröhlt beschissen und laut und vom zarten Rest der Besucher unbeachtet. Die weite, kreisrunde Bar ist im Freien und gleicht einem Pavillon. Ein großes, auf einem hölzernen Stützpfeiler angebrachtes, mit bunten Farben beschriebenes Schild sagt: „Heute: Karaoke“. Ein Lautsprecher über der Theke überträgt die Musik von der Bühne draußen in die Bar hinein. Ein BARKEEPER mischt zwei Cocktails, ein anderer trocknet mit einem Tuch in aller Ruhe Gläser. Auch vor der Theke herrscht Gelassenheit. Max, kurzärmeliges Hawaihemd mit Krawatte, und Adrian, Jeans und T-shirt, sitzen verlassen hinter der Theke auf zwei Barhockern. Adrian liest aus einer Zeitung, Max hört zu. ADRIAN Widder! An Neumond-Tagen sollten Sie kurz inne halten und… Der Barkeeper stellt die zwei ´Manhattans´ an der Theke ab und nimmt im Gegenzug zwei leere Gläser auf. Adrian stoppt mit dem Lesen. BARKEEPER Bitte schööööön! MAX Dank´ dir, Rudi! Der Kellner nickt und geht ab. Max nimmt ein Glas auf und stellt sie Adrian vor die Nase. MAX Und? Weiter? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 35 ADRIAN Also, an Neumond-Tagen sollten Sie kurz innehalten und über Ihre Ziele nachdenken. Stellen Sie geistig ambitionierte Weichen für Ihre Zukunft. MAX Das war´s? ADRIAN (im Sinne von `ja´) Mh-mh! MAX (gen Himmel blickend) Diese Idioten, heute ist Vollmond. Und diesen Scheiß glaubt´s du? Unglaublich! Max hebt sein Glas hoch, jetzt auch Adrian. ADRIAN Ich lese es ja nur. MAX (zynisch) Genau! KLING! Die beiden stoßen an, trinken ex und stellen die Gläser wieder ab. Im off: U2´s „bloody sunday“ verstummt, KLATSCHEN und JOHLEN. Adrian wirft einen kurzen Blick auf die Bühne, wo gerade Donald Duck besoffen von der Bühne kippt und von seiner Gesellschaft aufgefangen wird. Der Barkeeper kommt wieder anmarschiert und stellt neuerlich gefüllte Gläser ab, die leeren nimmt er wieder mit. BARKEEPER Bitte schööööön! MAX Dank´ dir, Rudi! Der Barkeeper geht ab. Gerade als Max und Adrian zu den Gläsern greifen, werden die beiden überfallsartig von hinten von einem 28jähriger MANN umfasst: groß gewachsen, auffällig dürr, braun gebrannt, Drei-Tages-Bart, „Ray Ban“-Sonnenbrillen, offenes, weißes Hemd, glatte Brust, Brustwarzenpiercing, schrille Stimme, Zigarette in der einen, Drink in der anderen Hand, völlig überdreht. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 36 MANN Ja, wenn das nicht mein kleiner Max ist? Auch wieder hier heute, wie ich sehe. Max und Adrian drehen sich nach hinten, Max ist routiniert erfreut. MAX Hi, Robbie! MANN = ROBBIE ROBBIE Wie schön! Wie schön dich zu sehen! Robbie und Max küssen sich auf beide Wangen. Noch bevor Max Adrian vostellen kann: ROBBIE (zu Max) Und das hier muss DEIN unbekannte Schönling sein. (zu Adrian) Man hört ja so viel von dir. ADRIAN Tatsächlich? Adrian sieht Max bestimmt an, dieser blickt verlegen. ROBBIE Was glaubst DU denn? Aber man hört nur Gutes, nur Gutes! Robbie lacht laut auf. MAX Adrian, das ist Robbie - Robbie das ist… Robbie nimmt Adrian an den Schultern. ROBBIE (zu Adrian) Ja! Lass´ dich mal begrüßen! Robbie küsst Adrian links und rechts auf die Wangen. Adrian ist überrascht, lässt es aber über sich ergehen. MAX … Adrian! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 37 ROBBIE Adrian! Adrian! Jetzt fällt´s mir wieder ein. Sehr nett, sehr nett, gefällt mir! MAX (auf Robbie zeigend) Ist mein Freitags-DJ! ROBBIE Das bin ich! Und ohne mich könnte er seinen Laden glatt zudrehen. Max grinst gekünstelt. ADRIAN (im Sinne von `verstehe´) Mh-mh! Sekunden des Schweigens. Robbie ist etwas erstaunt über die Einsilbrigkeit von Adrian, gibt aber nicht auf: ROBBIE (zu Adrian) Nicht viel los hier heute, wie? MAX Nein! ROBBIE Diese verdammte Hitze vertreibt mir doch die coolsten Typen, echt! Und dann dieser Mittwochs-Karaoke-Scheiß dazu, das ist zuviel, das ist zuviel. Max und Adrian nicken, weitere Sekunden des betretenen Schweigens. ROBBIE Also, ich muss dann weiter. Wir sehen uns. (zu Adrian) Und wenn du IHN (zeigt auf Max) nicht mehr willst, ruf´ mich an! Er… (zeigt auf Max) … hat ja meine Nummer! Robbie zwinkert Adrian zu, lacht überdreht laut auf, stößt Max im Spaß mit dem Ellbogen an. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 38 ROBBIE Also, ihr Schwanzlutscher, viel Spaß noch heute! Adrian verdreht bei ´Schwanzlutscher´ die Augen. Robbie klopft den beiden auf die Schultern, geht nach hinten weg, erkennt jemanden im off, hebt seinen Arm zum Gruß. ROBBIE (winkend) Ja, wenn das nicht der kleine Steven ist? Huhu, Steven! Robbie geht ab. Max und Adrian sitzen schweigsam nebeneinander. Max zündet sich eine ´Camel´ an. Im off hebt die Musik an: „If i can dream“, eine alte Elvis Presley-Nummer. Sekunden vergehen, das Unausgesprochene hängt über ihnen. Max spricht jetzt das Problem an, redet in sein Glas hinein. MAX Du… hast doch nichts dagegen, dass ich… dass du mein Lover… Max nippt an seinem Glas. Adrian grübelt, schüttelt dann verneinend den Kopf. ADRIAN Wie könnte ich! Max nickt, lächelt. Adrian erwidert das Lächeln. Sie stoßen an und trinken ex aus. MAX Aber eines muss man diesem Idioten lassen: Seit er da ist, ist der Freitag voll. Echt unglaublich! War vorher auf Ibiza, in Mailand und blablabla. Ist viel in London unterwegs, kramt in so kleinen Plattenläden herum … Während Max redet und redet, hebt sich im off eine weibliche STIMME ab, die den Text zu „If i can dream“ zu singen beginnt: © Rainer Weidlinger, Wien 2009 39 STIMME (off) There must be lights burning brighter somewhere Got to be birds flying higher in a sky more blue. (und so weiter) Adrian spitzt die Ohren, er wirft einen kurzen Blick auf den Lautsprecher über der Bar, dann wieder zu Max. MAX … der findet Sachen, da geht echt die Post ab. Und die Leute fangen an zu saufen, das ist unglaublich. Der Typ nimmt zwar einen Haufen Kohle, ist aber jeden verdammten Cent wert. Adrian wirft neuerlich einen Blick auf den Lautsprecher, dann zur Karaoke-Bühne, aber die Sicht auf die Sängerin ist durch andere Gäste versperrt. Adrian wendet sich wieder Max zu, aber die engelsgleiche Singstimme hat Adrian gefangen. ZEITLUPE ANFANG. Max artikuliert stark, bewegt seine Lippen, aber man hört ihn nicht. Auch alle Umgebungsgeräusche sind weg, wir lauschen nur dieser göttlichen Stimme: STIMME (off) If I can dream of a better land Where all my brothers walk hand in hand Tell me why, oh why, oh why can´t my dream come true. (und so weiter) Adrian blickt durch Max hindurch, seine Gedanken sind weg, weit weg. Und Max gestikuliert und schwafelt. Fast scheint es so, als würde Max singen. ZEITLUPE ENDE. Die Umgebungsgeräusche sind wieder da. Adrian fasst einen Entschluss. Er erhebt sich. MAX (off) Die Abende am Dienstag und … © Rainer Weidlinger, Wien 2009 40 ADRIAN Bin gleich wieder da. Adrian geht ab. Max erstarrt, blickt verwundert auf Adrian. Seine starre Haltung löst sich auf. MAX Auch gut! Max gibt dem Kellner ein Handzeichen für weitere zwei Getränke. Adrian stapft wie in Trance durch den Sand in Richtung der Bühne, die Stimme zieht ihn magisch an. Adrian kommt bei zwei Mittzwanzigern vorbei, die mit einer Flasche Bier in der Hand in Liegestühlen lümmeln und fasziniert auf die Bühne blicken. KERL#1 Mann, die ist sau-gut! KERL#2 Und geil! Kerl#2 nimmt einen kräftigen Schluck aus seinem Bier. Adrian nähert sich der Bühne und bleibt zehn Schritte davor im Halbschatten stehen. Wir blicken auf die Bühne: Maria, sie trägt ein blaues Sommerkleid mit weißem Blumenmuster, steht dort oben im zarten, orange-rötlichen Discolicht dreier Scheinwerfer, umklammert fest das Mikrofon und stirbt für dieses Lied. STIMME = MARIA MARIA Deep in my heart there´s a trembling question Still I am sure that the answer gonna come somehow Out there in the dark, there´s a beckoning candle And while I can think, while I can talk While I can stand, while I can walk While I can dream, please let my dream come true, right now Let it come true right now Oh yeah! Adrian ist überwältigt. Noch nie zuvor hat er so etwas Schönes, Anmutiges und Unschuldiges gesehen. Das Lied ist aus. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 41 Maria verbeugt sich, da und dort ein sachtes KLATSCHEN. Nur die zwei Kerle erheben sich und spenden JOHLEND frenetischen Beifall. Maria lächelt dankbar. Sie geht von der Bühne und macht ein paar Schritte weg. Dann bleibt sie stehen, umherblickend. Adrian beobachtet aufmerksam, ob sie in Begleitung da ist. Maria geht weiter. Adrian zögert, dreht sich nach hinten weg und macht zwei Schritte. Er stoppt und verdreht sich den Kopf nach ihr. Maria stapft durch den Sand. ADRIAN (off) Entschuldigung! Maria bleibt stehen, dreht sich zurück. Adrian kommt angelaufen und hält vor ihr inne. Ihre Gesicher sind sanft erhellt durch eine über ihnen hängende, bunte Lichterkette. MARIA Ja? ADRIAN (verlegen lächelnd) Hallo! MARIA Hi! Die beiden blicken sich lächelnd an, Sekunden vergehen. ADRIAN Ich heiße Adrian. Adrian reicht seine Hand zum Gruß. MARIA Und ich heiße Maria. Maria erwidert den Handschlag. Schweigen. ADRIAN (Kopfnicken in Richtung Bühne) Du… singst sehr schön. MARIA Danke! Singst du auch? ADRIAN (überrascht) Ich? Nein, um Gottes Willen, nein! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 42 MARIA Schon mal probiert? ADRIAN Das Singen? Nein! Ich meine,… nicht wirklich! MARIA Du hast aber eine schöne Stimme! ADRIAN (im Sinne von `nein´) Mh-mh! MARIA Ja! Doch! ADRIAN (ernst) Glaube ich nicht! Sekunden vergehen, betretenes Schweigen, dann: ADRIAN (Kopfnicken in Richtung Bar) Darf ich dich auf ein Getränk einladen? MARIA (kopfschüttelnd) Ich muss dringend nach Hause. ADRIAN (im Sinne von `verstehe´) Mh-mh! Maria streckt die Hand zur Verabschiedung. MARIA Schönen Abend noch! Adrian erwidert wie im Reflex den Handschlag. ADRIAN (konsterniert) Ja, dir auch! Ihre Augen trffen sich noch einmal. Maria dreht sich um und geht ab. Adrian blickt ihr hinterher, wendet sich dann ab. Er beißt sich vor Zorn in die Unterlippe. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 43 MARIA (off) Adrian! Adrians Augen funkeln, seine Zähne lösen sich abrupt aus seiner Lippe. Er dreht sich zurück. ADRIAN Ja? MARIA Hast du eigentlich ein Auto? Adrians Knie beginnen zu zittern. ADRIAN Habe ich, ja! MARIA Kannst du mich nach Hause bringen? Adrians Gedanken schwirren wild durch seinen Kopf. ADRIAN (im Sinne von `ja´) Mh-mh! MARIA Ich befürchte, ich erwisch´ die letzte „U“ nicht mehr, und da dachte ich… . ADRIAN Das kann passieren! MARIA Das kann passieren! Adrian und Maria blicken sich an. Maria blickt jetzt fordernd. ADRIAN Es steht hinten am Parkplatz. Maria nickt und geht los. Die beiden stapfen nebeneinander gehend durch den Sand in Richtung Pavillon. Sie kommen bei den beiden Kerlen vorbei, die schweigsam, mit großen Augen und zerplatzend vor Eifersucht auf Maria und Adrian starren. Kaum sind die beiden an den Kerlen vorbei, nehmen beide gleichzeitig einen kräftigen Schluck aus ihren Bierflaschen. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 44 Adrian und Maria nähern sich dem Pavillon. Adrian stoppt. ADRIAN Warte hier, ich muss nur… schnell ´was klären, okay? MARIA Okay! Adrian geht ein paar Schritte, hält an, dreht sich zurück. Maria lächelt, Adrian lächelt. Er geht weiter. Maria blickt ihm nach, verliert ihn aber aus den Augen. Max befindet sich gerade im Gespräch mit dem Barkeeper. MAX Bring mir noch zwei und schreib´ dann alles auf mich, klar? Der Barkeeper nickt und geht ab. ADRIAN (off) Max! Max dreht sich um, er ist offensichtlich betrunken. Adrian kommt an die Bar. MAX Gerade rechtzeitig. Hab´ eben noch zwei kleine Drinks für uns bestellt. ADRIAN Hör zu, kannst du mir deinen Wagen borgen? Max blickt Adrian tief in die Augen, dann wirft er einen Blick über Adrians Schulter und sieht Maria dort im Sand zwischen den Liegestühlen stehen. Maria sieht Max nicht. MAX Du bist ja ein richtiger… Nimmersatt. Aber weißt du ´was? Max lässt sich ganz nah vor das Gesicht von Adrian, erhebt mahnend seinen Zeigefinger. MAX Wenn man NIE genug kriegen kann, KANN man nie genug kriegen. Hast du das kapiert, du kleiner Hosenscheißer? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 45 Max tupft Adrian mit dem Zeigefinger gegen die Brust. Adrian nickt. ADRIAN Und was ist jetzt mit dem Wagen? Max nickt, kramt in seiner Hosentasche. MAX Alles klar! ADRIAN Danke dir! Max legt den Schlüssel mit goldenem (!) Mercedesanhänger auf die Theke. Adrian greift schnell danach und steckt ihn weg. ADRIAN Bis später, ich melde mich! Adrian macht kehrt und geht ab. MAX (zu sich) Ja-ja! Du mich auch! Max wendet sich wieder der Bar zu, dann noch einmal kurz zurück. MAX (nachschreiend) Was willst denn mir der überhaupt reden? Du bist doch noch gar nicht besoffen. Adrian reagiert nicht mehr, er geht ins Dunkel ab. Zwei Getränke werden auf die Bar gestellt. Wir sehen dabei nur die Hände des Barkeepers. BARKEEPER (off) Bitte schööööön! Die Hände des Barkeepers sind schon wieder weg. Max lehnt sich wieder an die Theke, greift zu einem der Gläser. MAX (leise, zu sich) Dank´ dir, Rudi! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 46 22 STRASSEN DER STADT / AUTOFAHRT – NACHT AUSSEN / INNEN Der in Gold (!) glänzende Mercedes-Benz R 107, Coupé, Baujahr 1971, bewegt sich geschmeidig über eine schwach befahrene Ausfallsstraße, links und rechts Wohnsilos, da und dort erhellte Wohnungen. Die orangene Straßenbeleuchtung lässt weiches Licht in den Wagen fallen. Schweigen. Maria blickt nach draußen, Adrian blickt geradeaus auf die Straße. Maria umfasst ihre Oberarme, friert. MARIA Kannst du bitte die Heizung anmachen? Mir ist kalt. ADRIAN Ja, sicher! Adrian dreht die Heizung auf. Maria blickt auf das edle Interior des Wagens. MARIA Ein schöner Wagen. Adrian nickt. Er erwähnt mit keinem Wort, dass dieser Wagen gar nicht ihm gehört. MARIA Was machst du eigentlich beruflich? ADRIAN Ich bin Zahnarzt. Maria blickt überrascht auf Adrian. MARIA Echt? Zahnarzt? Adrian nickt. Ein paar Sekunden schweigen, dann: MARIA (seitlich rausschauend) Komisch! Einen Arzt hatte ich noch nie. Adrian blickt das erste Mal von der Straße weg auf Maria. ADRIAN (überrascht) Was? Maria blickt auf Adrian, lächelt. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 47 MARIA Ich sagte, mit einem Arzt hatte ich noch nie etwas. Adrian ist völlig erschlagen von der direkten Art von Maria. ADRIAN (im Sinne von `verstehe´) Mh-mh! Adrian blickt wieder geradeaus auf die Straße, die Antwort hallt in seinem Gehirn nach. MARIA (scherzend) Ich hoffe, du auch nicht. Adrian fängt sich, lächelt. ADRIAN Mit einem Arzt? Nein! Die beiden lächeln sich an, dann blicken sie wieder geradeaus. Schweigen. MARIA Du redest nicht so viel, oder? ADRIAN Nein! MARIA Ich nur manchmal! ADRIAN (im Sinne von `verstehe´) Mh-mh! Sekunden vergehen. Maria blickt wieder seitlich beim Fenster raus. ADRIAN Und? Maria wendet sich Adrian zu. ADRIAN Was machst du beruflich so? MARIA Ich arbeite in einem Pflegeheim. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 48 ADRIAN Bist du auch Ärztin? MARIA Nein, ich bin in der Wäscherei. Ich mache dort… die Wäsche eben! Maria lächelt. ADRIAN (im Sinne von `verstehe´) Mh-mh! Sekunden vergehen. ADRIAN Ich hatte noch nie etwas mit jemanden von der Wäscherei! Adrian lächelt Maria an, Maria lächelt zurück. ADRIAN Du schon, oder? MARIA Aber sicher! Beide lachen. MARIA Sogar IN der Wäscherei! ADRIAN Darauf hätte ich gewettet! Beide lachen lauthals auf. Das ist das erste Mal, dass wir Adrian lachen sehen. Der Wagen fährt in die Nacht, am Horizont die hellen Lichter einer Satellitenstadt. 23 WOHNBLOCK / WAGEN AUSSEN / INNEN Der Mercedes kommt auf einem Parkplatz vor einem wuchtigen, grauen Wohnsilo inmitten einer Betonsiedlung zum Stehen. Adrian stellt den Motor ab, blickt auf Maria. Maria blickt auf Adrian. Sekunden vergehen. MARIA Es ist nicht weit, ich wohne im Erdgeschoß. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 49 Maria steigt aus dem Wagen, wirft die Tür zu. ADRIAN (zu sich) Okay! Adrian steigt aus dem Wagen. 24 WOHNUNG MARIA INNEN Maria tritt in die Wohnung ein, dreht das Licht auf. Adrian folgt nach. Wir erkennen die Türnummer 3. Adrian schließt die Tür hinter sich. Auf der Tür klebt eine große, topographische Karte von Kanada. Die Karte ist alt, zerfleddert, ausgebleicht. Der Vorraum ist eng verbaut, vollgeräumt mit Kleidung, Schuhen, befüllten Plastiksäcken. Maria zieht ihre Sommerschuhe aus. MARIA (auf den Boden zeigend) Die Schuhe kannst du hier abstellen. Maria geht barfuß in die Wohnküche vor. Adrian hat zwar keine Sekunde daran gedacht, seine Schuhe auszuziehen, aber er handelt wie aufgetragen. Er geht dann nach, blickt mit kritischem Blick herum, sieht die Staffelei mit dem Ölbild: ADRIAN (im Sinne von `interessant´) Mh-mh! Maria geht zur Couch und wirft das dort liegende Bettzeug mit einem Ruck über die Lehne nach hinten auf den Boden. Sie richtet sich wieder auf. MARIA Ich habe heute Abend nicht mit dir gerechnet Adrian lächelt. ADRIAN Ich mit dir auch nicht. Maria geht zur Küchenzeile. MARIA Willst du ´was trinken? Kaffee vielleicht? ADRIAN Ja! - Bitte! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 50 Maria füllt Wasser in den elektrischen Wasserkocher und stellt diesen zu. MARIA Setz´ dich doch, fühl´ dich wie zu Hause. Für Adrian wohl ein Ding der Unmöglichkeit. ADRIAN Okay! Adrian weiß nicht recht, wo genau er sich hinsetzen soll. Er entscheidet sich für die breite Couch, mit einer karierten Decke als Überwurf. Er sinkt dabei ungewöhnlich tief ein. Maria nimmt zwei, am Rand abgeschlagene Kaffeetassen aus dem QUIETSCHENDEN Regal und füllt lösliches Kaffeepulver ein. Adrian wirft währenddessen einen seitlichen Blick auf das am Beistelltisch aufgeschlagene Stadtmagazin, wo die Karaoke-Termine für diese Woche mit einem roten Marker eingekreist sind. Daneben liegen Reiseprospekte und Touristenmagazine von Québec und Ontario. ADRIAN (herumblickend) Gemütlich hier! MARIA Find´ ich auch! MARIA Milch? Zucker? ADRIAN Nur Kaffee! Der Wasserkocher dampft und SPRUDELT. Maria füllt das heiße Wasser in die Tassen. ADRIAN Wohnst du schon lange hier? MARIA Schon immer! Maria lässt kaltes Wasser aus der Leitung in die Tassen rinnen. Adrian beäugt kritisch die Zubereitung des Kaffees. Maria setzt sich mit den Tassen an den Tisch. MARIA Bitte! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 51 ADRIAN Danke! Adrian kämpft sich aus seiner tiefen Sitzhaltung und greift zur Tasse. Er nimmt einen Schluck, lässt sich den schrecklichen Geschmack nicht ankennen. Maria entzündet drei Kerzen, dreht das Licht ab. Sie kommt zurück zum Tisch. Dabei zieht sie mit einer flinken Bewegung ihr Kleid nach oben über die Schultern streifend aus. Sie trägt jetzt nur ihren Slip, ihr Körper ist wohlgeformt, erotisch. Adrian bekommt große Augen. Maria taucht Adrian zurück in die Couch. Er kann gerade noch seine Tasse am Tisch abstellen. Maria setzt sich rittlings auf seinen Schoß, ihre schönen Brüste vor seinem Gesicht. Maria nimmt sein Gesicht in ihre Hände. MARIA Komm her, du schöner Mann! Maria küsst Adrian zart auf die Lippen, öffnet sanft ihre vollen Lippen. Adrian erwidert den Kuss. Die beiden lassen sich langsam seitlich auf die Couch kippen. Wir blicken auf die Kerze, die am Tisch vor ihnen steht. ÜBERBLENDE Die Kerze ist weit abgebrannt. Maria und Adrian liegen auf der Couch, nackt eingewickelt in die karierte Decke, schlafend. Wir nehmen die beiden nur schemenhaft wahr. Leises WIMMERN, Marias Schlaf wird unruhig. Sie öffnet ihre Augen, erhebt sich. Adrian erwacht, richtet sich ein wenig auf. ADRIAN (schlaftrunken) Alles in Ordnung? Maria setzt sich auf die Kante der Couch und kramt nach einer Oberbekleidung. MARIA Schlaf weiter! Bin gleich wieder da. ADRIAN (im Sinne von ´okay´) Mh-mh! Adrian legt sich wieder hin. Maria steht auf und zieht sich das Hemd von Adrian über. Sie geht in das Nachbarzimmer ab. Wir erwarten das Vorhersehbare, aber die Dinge liegen ganz anders: Maria betritt den dunklen Raum. Schwaches Licht der Straßenbeleuchtung fällt durch das mit dicken, grünen Gardinen verhangene Fenster nach hier drinnen. Maria greift nach einem Feuerzeug, sie entzündet eine fast schon abgebrannte Kerze, dann eine zweite, dann eine dritte und noch drei andere. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 52 Die Kerzenlichter geben uns nach und nach ein vollständiges Bild eines prächtig geschmückten Weihnachtsbaumes. Maria entzündet drei Sternspritzer. Sie schaltet einen alten Kassettenrekorder ein, es ERTÖNT ein lieblicher Kinderchor: „Stille Nacht, heilige Nacht“. Die Musik klingt schon abgenudelt und ausgeleiert. Adrian öffnet seine Augen, im off hört er das Lied. Er richtet sich auf, horcht neugierig in das Nachbarzimmer. Maria wendet sich und geht zum Bett. Sie setzt sich an die Bettkante. Dort liegt ihre alte, gebrechliche, mit einer karierten Zudecke bis zum Hals eingewickelte OMA. Maria streichelt ihrer Oma zart über das zerfurchte, tief eingefallene, fast skelettierte Gesicht. MARIA (ganz leise, einfühlsam) Bin ja schon bei dir, bin ja schon bei dir! Ihre Oma wimmert leise. Adrian blickt erstaunt in Richtung Nachbarzimmer. Er kann sich nicht erklären, was hier läuft. Er setzt sich auf. Maria tritt aus dem Nachbarzimmer heraus und geht zur Küchenzeile. ADRIAN (nickt in Richtung Weihnachtsmusik) Haben wir sooo lange geschlafen? Maria lächelt. MARIA Meine Oma liebt Weihnachten. ADRIAN Was? MARIA Achtung, Licht! Maria dreht das grelle Licht in der Küche auf. Adrian hält sich schützend die Hand vors Gesicht, er kneift seine Augen zusammen. ADRIAN Deine Oma? Deine Oma liegt da drüben? Die ganze Zeit? MARIA Keine Sorge, sie ist fast taub. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 53 ADRIAN (im Sinne von ´Gott sei Dank!`) Mh-mh! MARIA Und so laut warst du ja nicht. Und das klingt so, als hätte er ruhig lauter, sprich besser, sein dürfen. Adrian blickt etwas trotzig auf Maria. Maria nimmt die Utensilien für die Aufbereitung der Spritze aus der Lade und legt sie auf der Küchenzeile vor sich ab. ADRIAN Und…? Wie…? Seit wann lebt deine Oma bei dir? MARIA Immer schon. Aber eigentlich… lebe ICH bei meiner Oma. Maria beginnt, das weiße Pulver aus einem Silberpapier auf den Löffel zu kratzen. Adrian beobachtet sie aufmerksam. Im off hört man ein wieder das leise WIMMERN. MARIA (eher zu sich) Ja, ist gut, bin ja gleich da! ADRIAN Was ist mit deiner Oma? Ist sie krank? Maria nickt, erhitzt mit einem Feuerzeug den bereits rußgeschwärzten Löffel. Adrian blickt mit ungläubigen Augen auf Maria. ADRIAN Ist das etwa… ? MARIA Ja! ADRIAN Und das gibst du ihr? Oder ist das jetzt für dich? Maria steht gebeugt über der Küchenzeile. Sie packt die Einwegspritze aus der Verpackung und zieht konzentriert die Spritze auf. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 54 MARIA Die wollten uns nicht mehr so viel Morphium geben. ADRIAN (im Sinne von `verstehe`) Mh-Mh! Die Spritze ist fertig aufgezogen. Maria richtet sich wieder auf, checkt die Spritze gegen das Licht der grellen Küchenlampe. MARIA Und überhaupt macht Heroin schöne Träume. Adrian blickt gebannt auf Maria. MARIA Die hat sie sich verdient. Maria dreht wieder das Licht ab und geht mit der Spritze im Schein der Kerze ins Nachbarzimmer ab. Wir bleiben noch kurz bei Adrian, der völlig verblüfft, überrascht, erschlagen wirkt von diesem Geschehen. Maria setzt sich wieder an die Bettkante. MARIA So, hier bin, Oma. Maria greift nach dem Arm ihrer Oma und legt den Unterarm frei. Sie setzt die Spritze in eine Kanüle am Unterarm ein. Die Oma stöhnt leise auf. MARIA Alles wird gut, Oma, alles wird gut! Maria zieht die Spritze etwas auf, es kommt Blut. Sie drückt die Spritze durch. Ihre Oma schnauft kurz auf, atmet dann entspannt aus und öffnet schwach ihre leeren Augen, in denen sich die sanften Lichter des Weihnachtsbaumes spiegeln. Sie lächelt ganz schwach, sie schließt ihre Augen. Sie wirkt glücklich. MARIA So! Jetzt fühlst du dich besser! Adrian, er trägt eine Unterhose, beobachtet durch die angelehnte Tür das Geschehen. Er hört aufmerksam die weich gesprochenen Wörter von Maria. Diese unendliche, fürsorgliche, wärmende Liebe, die in dieser miesen Plattenbauwohnung zu Hause ist, ergreift sein Herz. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 55 Maria gibt ihrer Oma einen Kuss auf die Wange und streichelt ihr zart übers Gesicht. Die Oma genießt die Berührung, ihre Lippen formen das Wort „Danke“. Maria zieht die Spritze raus und legt diese am Nachtkästchen ab. Sie deckt ihre Oma wieder zu und streichelt ihr sanft über den Rücken, bis sie eingeschlafen ist. Ein schönes, in Kerzenlicht getränktes Bild. MARIA Schlaf gut! Maria erhebt sich, dreht den Kassettenrekorder ab und geht zur Tür. Adrian steht wie angewurzelt da. Maria nimmt ihn am Arm und führt ihn hinaus. MARIA Legen wir uns wieder nieder. Adrian nickt. Die beiden legen sich wieder auf die Couch. Adrian streicht die Decke über sich und Maria. Beide blicken in das schon fast abgebrannte, flackernde Kerzenlicht. MARIA War ein bisschen viel für den Anfang, oder? Adrian nickt. ADRIAN (im Sinne von `ja!´) Mh-mh! MARIA Du kannst gehen, wenn du willst. Es macht mir nichts. Langes Schweigen, keiner bewegt sich, besinnliche Ruhe. MARIA Ich hoffe, sie sieht noch einmal den Schnee. ADRIAN Bestimmt! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 56 25 TANZLOKAL – FRÜHER MORGEN INNEN Sperrstunde! Das Lokal ist leer. Weißes, nüchternes Neonlicht raubt dem Lokal die schwülstige, stimmungsgeladene Atmosphäre. Rauchschwaden hängen noch in der Luft. Max steht an der Bar und macht die Abrechung, neben ihm steht ein fast leeres Glas Whiskey. Max knickt immer wieder ein, er ist schwer betrunken. Er schreibt an einer unendlichen Zahlenkolonne, daneben liegen mächtige, mit Gummiringe umfasste Geldstapel. Klaus, der neue Kellner, leert die letzten Aschenbecher in einen großen Kübel aus und stapelt sie zu einem hohen Turm übereinander. KLAUS Das war´s. Brauchst du mich noch? Max rechnet, nimmt einen Schluck aus dem Glas, dabei schüttet er sich etwas an. Max wischt sich nur angedeutet über den Mund. Klaus nimmt die weiße Kellnerschürze ab. KLAUS War ein schöner Abend. Max beachtet ihn nicht. Klaus geht mit der Schürze in der Hand nach hinten durch die schweren, roten Samtvorhänge in das Getränkelager ab. Nach einer kurzen Weile kommt er wieder. Er trägt jetzt eine schwarze Lederjacke und einen Motorradhelm. KLAUS Na dann! Schönen Tag wünsch´ ich dir. MAX (lallend, ohne aufzublicken) Dir auch! Klaus blickt auf Max, verharrt noch kurz, greift in die Jacke nach seinem Motorradschlüssel und geht dann ab. Max blickt nicht von der Abrechnung auf. 26 TANZLOKAL AUSSEN Sonnenaufgang. Max wankt sturztrunken vor das Lokal nach draußen auf die menschenleere Straße. Vor dem Lokal liegen leere Bierflaschen und Zigarettenschachteln auf dem Gehsteig. Das überschwere Motorrad von Klaus steht da. Max schafft es nach mehrmaligen Versuchen, das Lokal abzusperren. Gerade als er den Schlüssel abzieht, sieht er Klaus rauchend an der Hausmauer lehnen. Max spricht lallend und kaum verständlich. KLAUS Hallo, Max! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 57 MAX Das Geld liegt drinnen im Tresor. Den Schlüssel hab´ ich verschluckt. Und vor drei Tagen gehe ich bestimmt nicht scheißen. Wenn du also warten willst… Klaus lacht auf. KLAUS Keine Sorge, ich werde ja gut bezahlt. Max wankt auf Klaus zu. MAX Nicht ich bezahle dich, das sind die Besoffenen da drinnen. Max kommt vor Klaus zum Stehen und steckt sich eine ´Camel´ verkehrt in den Mund. Klaus greift auf die Zigarette und steckt diese auf richtige Weise in den Mund von Max. Klaus gibt Feuer. Max nimmt einen tiefen Zug. MAX Kannst nicht schlafen, wie? Klaus nickt. MAX Man gewöhnt sich nie daran. Am besten du nimmst Drogen. Das hilft. Klaus lächelt. MAX Bis morgen! Max zückt sein Handy, will gehen. Klaus kommt Max nahe. KLAUS Wir könnten ja noch… Max blickt Klaus neugierig an. MAX Ja? KLAUS … auf einen Kaffee gehen, oder so? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 58 Max blickt Klaus lange direkt in die Augen, lächelt dann überheblich, tätschelt Klaus auf die Wange. MAX Bist ein netter Junge, aber… in diesem Geschäft musst du noch viel lernen. Klaus nickt, auch wenn er nicht ganz versteht. Max geht los, an Klaus vorbei in Richtung Kreuzung. Er wählt dabei eine Schnellwählnummer am Handy. Klaus blickt ihm nach. MAX (lallend, ins Handy) Pleschowstraße, Ecke Fürthstraße, ins „new love“. Max lauscht ins Handy. MAX (lallend, ins Handy, erbost) Pleschowstraße, Ecke Fürthstraße, ins „new love“, du Idiot, hörst du schlecht? Ja! Und Mercedes, Inländer! Alles klar! Max legt auf. Klaus blickt noch kurz auf Max, dann geht er in die andere Richtung ab. Max steht wankend an der Kreuzung, dreht sich nicht mehr nach Klaus um. 27 WOHNUNG MARIA – SPÄTER MORGEN INNEN Die Sonne blinzelt durch die zugezogenen Vorhänge. Die Kerze am Tisch ist abgebrannt, das getrocknete Wachs liegt ´fließend´ über dem Kerzenständer. Adrian erwacht. Der Platz neben ihm auf der Couch ist leer. Adrian richtet sich auf, blickt um sich. Maria ist nicht da. Am Tisch entdeckt er einen gelben Memo-Zettel, daneben liegt ein blauer Kugelschreiber. Adrian zieht den Zettel von der Platte, liest: “Tagschicht. Es war sehr schön.“ © Rainer Weidlinger, Wien 2009 59 Adrian lächelt, er klebt den Zettel wieder zurück. Sein Lächeln gefriert, er blickt auf die Tür ins Nachbarzimmer. Das Gefühl, mit der kranken, alten Frau alleine in der Wohnung zu sein, bereitet ihm Unbehagen. Er steht auf, zieht sich schnell an. Er greift zum Kugelschreiber, kniet sich zum Tisch und kritzelt auf den MemoZettel unter die Nachricht von Maria: “Für mich auch! 0172/3414673“ Adrian richtet sich wieder auf, wirft noch einen Blick auf die Tür zur Großmutter und geht dann in den Vorraum. Er zieht seine Schuhe an, wirft einen Blick auf die Kanada-Karte an der Tür und geht dann ab. Die Tür fällt ins Schloss. 28 SANATORIUM – MITTAG AUSSEN Maria geht durch das Steintor. Eine entgegenkommende KOLLEGIN mit Umhängetasche und grünem Arbeitskittel passiert Maria. KOLLEGIN (polnischer Akzent) Mahlzeit! MARIA Mahlzeit! Maria geht weiter den Schotterweg durch den Park rauf zum Sanatorium. Sie erblickt wieder den alten Herrn Strombowski auf seinem Stammplatz auf der Parkbank sitzend. Nur diesmal ist er nicht alleine: Eng neben ihm sitzt sein 25-jähriger, braungebrannter, über und über mit Muskeln bepackter ENKEL, der eine schwarze Anzugshose, schwarze Lackschuhe, ein enges, schwarzes T-shirt und eine schwarze Sonnenbrille trägt: alles Markenwaren. Kurzhaarschnitt. MARIA (zu sich, lächelnd) Das ging ja schnell! Die an die Tüte mit den Medikamenten geklebte Mitteilung zeigt Wirkung. Denn dieser Enkel ist auch der Dealer, mit dem Maria über den geheimen Bunker an der Dachrinne die Medikamente gegen Heroin tauscht. Die Verbindung zwischen den beiden ist das Sanatorium. Maria winkt, ruft hinüber: MARIA (zynisch lächelnd) Schön, Sie wieder ´mal zu sehen! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 60 Der alte Herr winkt freundlich zurück, auch wenn Maria mit dieser Wortmeldung mehr den Enkel als den alten Herrn gemeint hat. Der Enkel zieht eine schmierige, grinsende Grimasse, lehnt sich weit zurück und zeigt mit einer händehebenden Geste: `Siehst du, ich bin hier, kein Problem!´ Maria gibt einen `Daumen hoch´ zurück. MARIA Noch einen schönen, langen Tag wünsche ich euch beiden! Der alte Herr hebt seinen Stock zum Abschied, der Enkel rührt keinen Finger. Der alte Herr sieht das und schlägt seinem Enkel mit dem Stock hart gegen das Schienbein. Der Enkel schreit kurz auf, reagiert dann prompt, winkt ebenfalls. Der alte Herr nickt zufrieden. Maria lacht, geht weiter. Sie fühlt sich wohl. 29 PENTHOUSE / KÜCHE – MITTAG INNEN Max sitzt am Küchentisch auf seinem Platz, Frühstück, wie üblich sehr reichlich und deftig. Am Tisch steht ein ausgetrunkenes Glas `bloody mary´, das sich Max wie immer vor dem Früstück zu Gemüte führt. Auch der gegenüberliegende, leere Platz von Adrian ist gedeckt. Max mampft alleine vor sich hin. Im off hört man, wie die Wohnungstür aufgesperrt und geöffnet wird. Max freut sich, er is(s)t jetzt nicht mehr allein. Adrian tritt schwungvoll und sichtlich gut gelaunt durch die Tür herein und betritt die Küche. Max nimmt diese für Adrian äußerst ungewöhliche Stimmungslage skeptisch wahr. ADRIAN Guten Morgen! MAX Guten Morgen! ADRIAN Der Wagen steht in der Tiefgarage. Danke. Adrian legt den Schlüssel auf die Küchenzeile. Max erhebt sich und geht zur Espressomaschine. Adrian setzt sich an den Tisch. MAX Espresso? ADRIAN Gerne! Max blickt verwundert über diese Frohnatur auf Adrian. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 61 MAX Alles klar! Startknopf! Die wuchtige Espressomaschine lässt LÄRMEND Kaffee. Max steht vor der Maschine. Während der Kaffee rinnt, beobachtet Max ungläubig Adrian, wie er sich, ganz gegen den üblichen Gepflogenheiten, gerade ein Brötchen mit Marmelade zubereitet. Das Glück steht ihm wahrlich ins Gesicht geschrieben. Max greift zum Espresso und serviert ihn Adrian. Max setzt sich. MAX Die Sängerin, stimmt´s? ADRIAN (lächelnd, im Sinne von `ja´) Mh-mh! MAX Muss ja eine richtige Bombe gewesen sein! Adrian hält inne, das Brötchen nah vor seinem Mund. Sekunden vergehen. ADRIAN Sie heißt Maria und sie ist… mehr als das. MAX Also eine Maria-Megabombe, sozusagen! ADRIAN Nicht so! Sie ist etwas… Besonderes. Max blickt eindringlich auf Adrian. MAX Etwas Besonderes? ADRIAN Etwas Besonderes! Sie ist… Adrian sucht vergeblich nach einem Wort, lächelt dann, beißt in sein Brötchen. MAX Und das kannst du nach einer einzigen Fickrunde schon so sagen? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 62 ADRIAN (im Sinne von `Ja!´) Mh-mh! MAX Ist ja unglaublich! Freut mich für dich! Ehrlich! Max greift zum leeren Glas, erhebt sich und geht zum Kühlschrank. MAX Wir könnten ja mal gemeinsam essen gehen. Ich würde sie gerne kennenlernen. Wenn sie schon so etwas Besonderes ist. Adrian blickt auf Max, der mischt sich eine neue `bloody mary´ mit extra viel Wodka. ADRIAN Gute Idee! Max nimmt eine Jumbo-Packung ´kellys chips` aus dem Regal. Er leert diese in eine große Glasschale und nimmt diese gemeinsam mit dem Glas mit ins Wohnzimmer. MAX (ohne sich umzudrehen) Das Spiel fängt dann an! ADRIAN Komm´ gleich! Max geht ab, Adrian beißt in sein Brötchen und blickt aus dem Fenster. Die Sonne blendet. 30 WOHNZIMMER – NACHMITTAG INNEN Max und Adrian hängen vorm Fernseher, riesiger Flatscreen, Sportprogramm, es läuft `Snooker´. Adrian sitzt im Sessel, Max liegt auf der Couch, schläft, schnarcht lautstark. Auf seinem dicken Bauch liegt die Fernbedienung, geht im Rythmus der Atmung hoch und nieder. Am Tisch steht ein gefüllter Aschenbecher, eine Packung Camel, das halbvolle Glas und die fast leere Schale Chips. KOMMENTATOR (sonore, ruhige Stimme) Wir sehen eine der spannensten Partien der letzten Jahre. Wenn Jimmy White diese Kugel versenken kann, ist ihm der Titel wohl nicht mehr zu nehmen. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 63 Der Spieler holt konzentriert zum Stoß auf eine gelbe Kugel aus. Er stößt. Die Kugel verfehlt die Tasche. KOMMENTATOR Das Spiel bleibt offen, meine Damen und Herren, das Spiel bleibt offen. Die Nerven liegen offensichtlich blank. Wir können nun davon ausgehen… (und so weiter) Adrian blickt abwesend auf den Schirm. Er richtet sich kurz auf, wirft einen Blick auf das am Tisch liegende Handy: Keine Nachricht! Er lässt sich wieder zurück. In diesem Moment empfängt das Handy eine SMS: PIEP-PIEEEP! Max schrickt auf, schnarcht noch einmal kurz, öffnet verschlafen die Augen, eigentlich nur das eine Auge. Adrian richtet sich schnell auf, checkt das Handy. MAX (verschlafen) Und? ADRIAN (auf das Handy starrend) Ein Gewinnspiel! Adrian legt das Handy zurück auf den Tisch, lässt sich wieder in die Couch fallen. MAX Lässt dich ja ganz schön zappeln, deine neue Eroberung. ADRIAN Sie muss arbeiten. Max reibt sich das Auge. MAX Was ist sie denn? Putzfrau? Adrian zögert mit der Antwort. ADRIAN Sie arbeitet oben im Sanatorium, bei den barmherzigen Schwestern. Sie ist… Physiotherapeutin. Adrian lügt. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 64 MAX (zynisch) Da hat man natürlich keine Zeit für eine SMS, ist klar! Max blickt auf den TV-screen. ADRIAN Kannst du mir heute Abend deinen Wagen borgen? MAX Was ist? ADRIAN Ich brauche heute Abend deinen Wagen. MAX Der ist erst mal ein paar Stunden zu Hause und hat schon wieder einen Steifen, unglaublich! Die barmherzige Schwester muss ja einen Monsterfick geliefert haben. Adrian lächelt. ADRIAN Wenn es so einfach wäre. MAX Hast du Angst, dass sie dir davon läuft? Wenn wir jetzt mal davon ausgehen, dass sie sich überhaupt wieder einmal meldet. Max richtet sich auf. ADRIAN Sie will nach Kanada. Früher oder später. Und da geht sich halt nicht mehr viel aus, denke ich. MAX Ist ein Problem! Max greift nach den Zigaretten, zündet sich eine an. MAX Und was gibt es dort eigentlich, was es bei uns nicht gibt? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 65 ADRIAN (im Sinne von `keine Ahnung´) Mh! MAX Eben! Max blickt auf den Bildschirm, dann auf seine klobige Armbanduhr. MAX Wie lange spielen die denn noch? ADRIAN Geht das mit dem Wagen in Ordnung? Max grübelt, legt die Zigarette in den Aschenbecher. Er richtet sich auf und geht kommentarlos in die Küche ab. Adrian blickt ihm fragend hinterher. Im off hört man, wie Max fünf Konservendosen aus einem Regal auf die Küchenzeile stellt. Adrian blickt wieder kurz auf sein Handy. Max kommt zurück, er hat einen einzelnen, kurzen, vielzackigen Schlüssel in der Hand. Er stellt sich vor das Bücherregal, räumt eine Bücherreihe zur Seite und gibt so den Blick auf einen kleinen Wandtresor frei. MAX Ruf ein Taxi! ADRIAN Was? MAX Ruf ein Taxi! ADRIAN Wofür? MAX (bestimmt) Ruf ein Taxi! ADRIAN (resignierend) Ich ruf ein Taxi. Adrian greift zum Handy. Max öffnet mit dem Schlüssel den Tresor. Adrian blickt über die Schulter von Max in den Tresor: Wir sehen mehrere Stapel Geld, einen kleinen Plastikbeutel Kokain, daneben liegt eine PISTOLE. Adrians Blick wird ernst, er erwähnt aber kein Wort. Max nimmt einen Packen ´Fünfhunderter´ raus und lässt den Tresor ins Schloss fallen. Er stellt die Bücher wieder zurück. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 66 MAX Und? ADRIAN (mit dem Handy am Ohr) Besetzt! MAX Schalt´ die Röhre ab, wir warten unten! Max geht vor, steckt dabei den Packen Geld und den Schlüssel lässig in seine Bermudahosentasche weg. Adrian geht zum Fernseher. KOMMENTATOR (off) Noch EIN erfolgreicher Stoß für Robertson und dann, meine sehr verehrten Damen und Herren und Snooker-Freunde, ist es vollbracht. Diese EINE Kugel muss er noch versenken und dann haben wir einen neuen… Adrian schaltet den Fernseher aus, folgt Max nach. Die beiden gehen ab. 31 WAGEN / FAHRT – NACHMITTAG AUSSEN / INNEN Ein knallroter, glänzender Mini Cooper zieht rasant über eine kurvige Landstraße, links und rechts die Natur. Adrian sitzt begeistert am Steuer, Max am Beifahrersitz krallt sich ängstlich fest. MAX Ist aber nur geliehen, hörst du, nur geliehen. Du fährst ihn, ich besitze ihn. Alles klar? ADRIAN (lächelnd) Aber sowas von klar! Adrian gibt Gas. MAX Und jetzt fahr´ mich zurück, mir ist schon schlecht. ADRIAN Okay! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 67 Adrian schaltet zurück, gibt erneut Gas, der Tourenzähler schnellt in den roten Bereich, der Wagen zischt ab. Am Horizont sehen wir die Großstadt. Der Mini-Cooper fährt in gemäßigtem Tempo durch eine noble Wohngegend: Villen, Einfamilienhäuser, Vorgärten, Doppelgaragen, teure Autos. Adrian blickt geradeaus auf die Straße, Max lässt seinen Blick nervös in der Gegend herumschweifen. MAX (betont beiläufig) Und? Gehst du mit ihr nach drüben? Adrian blickt verwundert auf Max. ADRIAN Was? MAX Nach Kanada! Gehst du mit ihr? Adrian ist überrascht. ADRIAN Wenn sie sich überhaupt wieder einmal meldet - deine Worte. Adrian blickt nach vor, aber alleine der Gedanke daran zaubert ein Strahlen in sein Gesicht. MAX Ach, man hat doch die verrücktesten Flausen im Kopf, wenn man verliebt ist. Max blickt eindringlich auf Adrian. [Es ist vielmehr Max, der hier solche Flausen im Kopf hat.] Adrian blickt auf Max. ADRIAN Wir werden sehen, was kommt. Max nickt, grübelt. MAX Und wovon willst du drüben leben? Holzfäller? Robbenmetzger? Fallensteller? Adrian blickt verwirrt auf Max. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 68 ADRIAN Ich bin Zahnarzt! Schon vergessen? MAX Praktikant! Und so selten, wie du dort arbeitest, bist du das in fünfzehn Jahren auch noch. Adrian reagiert trotzig. ADRIAN Hast du ein Problem damit? MAX Ich frag´ nur. Man wird ja wohl noch fragen dürfen. ADRIAN Und ich kann dir dazu nichts sagen, weil es dazu nichts zu sagen gibt. MAX Alles klar! Max blickt seitlich weg, er erblickt etwas Interessantes. MAX Halt an! ADRIAN Was? MAX Halt an! Der Wagen bremst sich abrupt ein. ADRIAN Was war denn? MAX Setz´ zurück! Adrian legt den Rückwärtsgang ein, der Wagen fährt retour. ADRIAN (zu sich) Wird schon ´was gewesen sein. Max blickt gebannt seitlich raus. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 69 MAX Stopp! Der Wagen hält. MAX (deutet mit dem Kopf) Da! Adrian blickt in die Richtung. Wir sehen durch zwei Häuserreihen und ein paar Gärten hindurch auf die alte Turnhalle von früher, erbaut mit roten Backsteinziegeln. Die beiden schweigen. Adrian blickt über die Schulter zurück. ADRIAN Ich wusste ja gar nicht, dass die Straße hier… Max fällt ihm ins Wort. MAX Warst du mal dort? Max meint den Ort des Verbrechens. Adrian blickt wieder zur Turnhalle. Er schüttelt den Kopf. ADRIAN Nie! - Und du? MAX Jedesmal … Adrian blickt verwundert auf Max, Max blickt auf Adrian. MAX … wenn ich mich im Spiegel sehe. Die beiden blicken sich eindringlich an, schweigen. MAX Fahr´ mich nach Hause! Du hast ja noch ´was vor! Adrian nickt, legt den Gang ein. Der Wagen fährt los. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 70 32 WOHNBLOCK / WAGEN – SPÄTER ABEND INNEN / AUSSEN Der auffällig rote Mini Copper steht auf einem Parkplatz und passt nicht in diese Plattenbaugegend. Adrian sitzt drinnen, er blickt auf sein Handy: keine Nachricht. Er blickt auf den mit einem Betonvorbau überdachten Eingang zum Plattenbau: Keine Maria. Im Rückspiegel sieht er fünf Jugendliche in einem Käfig Basketball spielen. Adrian steigt aus dem Wagen. Er tritt unters Vordach und sucht in einer schier endlosen Reihe von Wohnungen die Türnummer 3, die wir ja aus Szene 24 kennen. Es befindet sich kein Namenschild dort. Er zögert, dann läutet er. Nichts. Er läutet wieder. Nichts. Er tritt zurück, sucht die Fenster im Erdgeschoß ab, nichts. Er geht um den Block und sucht dort die Fensterreihe ab. Er erkennt die dicken, grünen Gardinen wieder: In diesem Zimmer lebt die Großmutter von Maria. Adrian denkt nach. 33 WOHNBLOCK / WAGEN – NACHT INNEN / AUSSEN Adrian sitzt im Wagen und blickt müde auf den mit orangen Licht erhellten Eingang. Er macht mit der Hand eine schnelle Wischbewegung über die Konsole, um Schmutz, den es dort gar nicht gibt, zu entfernen. Dabei sehen wir die Digitalanzeige der Uhr: “00.35”. Adrian blickt wieder auf. Er erschrickt. Maria nähert sich dem Eingang. Adrian steigt aus dem Wagen und nähert sich Maria. Er hat vielleicht noch dreißig Meter. In diesem Moment taucht hinter Maria ein Mann auf. Adrian bleibt stehen, stellt sich in den Schatten eines Baumes, beobachtet. Maria und der Mann betreten durch das Portal den Bau. Adrian stockt der Atem, er weiß nicht, wie ihm geschieht. Diese Gefühle kennt er nicht, hat er noch nie gehabt. Er sieht, wie sich ein Fenster im Erdgeschoß erhellt. Er wartet, blickt gebannt auf das Fenster. Das Licht erlischt und flackerndes Kerzenlicht tritt an dessen Stelle. Er weiß nur zu genau, was das zu bedeuten hat. Adrian wendet sich ab und geht zum Wagen. Er setzt sich rein, verharrt kurz, startet und fährt ab. 34 STRANDBAR AUSSEN Die selbe Nacht. Wir befinden uns wieder an der Strandbar im hölzernen Pavillon mit der Bar. Adrian lehnt an einem Seitenpfeiler des Pavillons, trinkt Bier aus der Flasche, grübelt. Auf der Bühne der kleinen Holzbude kauert wieder der kettenrauchende, gelangweilte DJ. Heute ist kein Karaoke. Es läuft eine lässige chill-out-Nummer. Adrian blickt auf seine Armbanduhr, er trinkt sein Bier aus und geht ein paar Schritte zur Bar. Er wankt, ist offensichtlich betrunken. Er stellt die Flasche ab und gibt dem Barkeeper, es ist wieder Rudi, ein Zeichen für ein neues Bier. Der nickt. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 71 Adrian wendet seinen Blick weg. Die Flasche wird mit einem WUMM auf die Theke gestellt. BARKEEPER (off) Ein Bierchen, bitte schöööön! Das letzte heute, dann ist Sperrstunde. Adrian blickt auf Rudi und kramt dabei in seiner Hosentasche nach Geld. BARKEEPER Lass stecken, ich schreib´s auf Max. Adrian blickt auf. ADRIAN (bestimmt) Ich bezahle, okay? BARKEEPER Ist mir auch recht. Adrian reicht einen Zwanzig-Euro-Schein rüber und greift sich das Bier. Der Barkeeper kramt in seiner mächtigen Kellnerbrieftasche nach dem Retourgeld. Im off hebt Musik an, Adrian horcht auf. Dann kommt eine Stimme, DIE Stimme, die nur einer Frau gehören kann: MARIA (off) There must be lights burning brighter somewhere Got to be birds flying higher in a sky more blue. (und so weiter) Adrian dreht sich um und eilt davon. Der Barkeeper blickt auf und sieht, dass Adrian weg geht. Der Barkeeper schließt die Brieftasche und steckt sie nach hinten weg. BARKEEPER (zu sich) Danke schööööön! Der Barkeeper geht nach hinten ab. Adrian stapft aufgeregt in schnellen Schritten durch den Sand in Richtung Bühne. Nur der DJ sitzt dort in einer opulenten Rauchwolke. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 72 MARIA (off) If I can dream of a better land Where all my brothers walk hand in hand Tell me why, oh why, oh why can´t my dream come true. (und so weiter) Adrian ist verwirrt. Er betritt die Bühne und geht zum DJ-Pult. ADRIAN Hallo! Der DJ, er trägt ein ausgemergeltes ´Free Nelson Mandela´-T-shirt, sitzt in seiner Rauchwolke. Er blickt mit verschwommenem Blick auf. In seiner Hand qualmt ein Joint. DJ Hi! ADRIAN Wer… wer singt hier jetzt? Heute ist kein Karaoke! Der DJ blickt noch verwirrter, als er ohnehin schon ist, auf Adrian. Er hält eine CD hoch. DJ (trocken zynisch) Das hier nennt man CD. Da kommt Musik raus und manchmal hört man auch ein paar so Stimmen d´rauf. Richtig unheimlich ist das! Adrian kommt näher. ADRIAN Ich meine… von wem ist dieses Lied? Wer SINGT dieses Lied? Der DJ wühlt nachdenklich in seinen Bartstoppeln, kramt dann in den wild verstreut herumliegenden CDs herum. DJ Junge, ich bin etwas desorientiert heute, hab´ nicht so den richtigen Durchblick, wenn du verstehst? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 73 ADRIAN Verstehe ich völlig. Und jetzt mach´! Der DJ kratzt sich seinen verlausten Kopf. DJ Ich glaube, das ist von so einer Schweizerin, die macht so Coverversionen von alten PresleyNummern. Hat eine unglaubliche Stimme, was? Adrian nickt, richtet sich auf, wendet sich dann wieder dem DJ zu. ADRIAN Letzten Mittwoch war hier eine junge Frau, hier auf der Bühne, mit einem blauen Sommerkleid. Die hat genau dieses Lied gesungen. Du warst auch hier, kannst du dich erinnern? DJ Klar doch. Die kleine Hübsche mit so netten Titten. Ist ja fast jeden Mittwoch hier. ADRIAN (auf den CD-Player zeigend) Ist sie DIE Frau da? DJ Mann, Junge! Was rauchst du denn für´n Zeug? Die singt Playback! Bewegt nur die Lippen, macht blabla-bla und so! Comprehende, amigo? Adrian nickt, er ist schockiert. Er wendet sich ab, geht langsam von der Bühne. DJ Auch wenn sie nicht singen kann, d´rauf geschissen, ist ´ne geile Alte! Der DJ nimt einen tiefen Zug vom Joint, Qualm steigt auf. Adrian reagiert nicht. Er geht noch ein paar Schritte, bleibt stehen, trinkt die Flasche in einem Zug aus, blickt hinauf in den Sternenhimmel, er wankt dabei etwas hin und her. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 74 STIMME (von der CD) While I can stand, while I can walk While I can dream, please let my dream come true, right now Let it come true right now Oh yeah! Die Musik ist aus. Adrian lächelt, senkt seinen Kopf, schüttelt ungläubig seinen Kopf. Er blickt noch einmal auf die Bühne. ADRIAN (zu sich) Die hat´s echt d´rauf! Adrian lacht auf, wirft die Flasche seitlich in den Sand weg und geht dann ab. 35 PENTHOUSE / TERRASSE – NACHT INNEN / AUSSEN Adrian tritt ein. Er wirkt irgendwie… entspannt. Die Wohnung ist dunkel, alles ruhig. Adrian schaltet das Licht im Vorraum ein. Adrian geht ins Wohnzimmer vor. Draußen auf der Terrasse flackert eine Fackel in einem großen Tontopf. Durch das Fenster erkennt man einen Schattenriss. Er geht zur Terrassentür, öffnet diese, blickt nach draußen. Max sitzt auf der Hollywoodschaukel, alleine, verlassen, eine halbleere Flasche Wodka in der Hand. Er blickt in die Sterne. Er weiß, dass Adrian da ist, blickt aber nicht auf. ADRIAN Hallo! Max blickt auf Adrian. MAX Hallo! ADRIAN Bist du gar nicht im Laden? Max schüttelt den Kopf. Adrian zögert, tritt dann näher, setzt sich zu Max auf die Schaukel. Beide blicken in die Nacht. ADRIAN Willst du ein wenig… hin und her schaukeln? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 75 Max blickt verblüfft auf Adrian, dann: MAX Ist gut, ein bisschen schaukeln. Adrian stellt sein Bein nach unten und bewegt die Schaukel ganz leicht hin und her. Adrian blickt in die Sterne. ADRIAN Und? Was sagen die Sterne? MAX Die reden nicht mit mir. DU bist hier der große Guru! Max zieht an der Flasche, bietet dann Adrian die Flasche an, Adrian schüttelt den Kopf. MAX Auch gut! Max nimmt einen Schluck. MAX Und? Wie war´s? Langes Zögern, dann: ADRIAN (im Sinne von `Ja`) Mh-mh! Adrian belügt Max, aber irgendwie auch nicht, wie wir gleich erfahren. MAX Das freut mich für dich, ehrlich! Max nimmt einen großen Schluck. MAX Klingt alles nach großer Liebe. Adrian nimmt Max die Flasche aus der Hand und nimmt auch einen Schluck. ADRIAN Ich weiß es nicht. Max blickt verblüfft und versteckt hoffnungsvoll auf Adrian. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 76 ADRIAN Aber ich weiß jetzt, was das ist. Adrian reicht die Flasche zurück. Max nimmt diese entgegen. MAX Viele sagen, ist alles nur eine große Lüge. ADRIAN Das bestimmt, aber… ! [Und dieses ´aber´ hält die Welt am Laufen.] Die beiden schweigen wieder, blicken in den Nachthimmel. MAX Vielleicht hätten sie uns damals erwischen sollen. Adrian nickt, blickt nach oben in die Sterne. ADRIAN Was wäre dann heute anders? Was glaubst du? Adrian blickt auf Max. MAX Nichts! Sekunden des Schweigens. MAX Außer WIR vielleicht. Langes Schweigen. ADRIAN Ich gehe fort von hier! Für immer! Langes Schweigen. MAX Alles klar! Max nimmt einen Schluck, lässt sich langsam zur Seite und bettet seinen Kopf weich auf die Schulter von Adrian. Adrian fühlt sich zunächst etwas unwohl, legt aber dann seinen Arm um dessen Schulter und lehnt seinen Kopf auf den von Max. Max lächelt sanft, eine Träne kullert über seine Wange, jetzt beginnt er zu weinen. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 77 ADRIAN Hör, bitte, auf. Du weißt, ich ertrag´ das nicht. Max wischt sich die Tränen aus den Augen, noch viel mehr kommen nach. Adrian beginnt auch zu weinen. Erst jetzt lässt er seinen, von Maria enttäuschten Gefühlen freien Lauf. Max nimmt einen Schluck, weint. Adrian greift nach der Flasche Wodka, trinkt, weint. Max richtet sich auf, blickt Adrian in die Augen. Der wischt sich schnell die Tränen aus den Augen. MAX Weinst du? ADRIAN Ja! Adrian flennt jetzt richtig los. MAX (heulend) Ich auch! ADRIAN (heulend) Ich weiß! Max nickt, lächelt, lässt sich wieder in den Arm von Adrian. Beide können endlich über das, was damals geschehen ist, weinen. MAX Das ist schön! ADRIAN (im Sinne von `Ja!´) Mh-mh! MAX Wer nicht weint, ist nicht gesund. Hat meine Mama mal zu mir gesagt. ADRIAN (im Sinne von `Verstehe´) Mh-mh! Und so sitzen sie da, heulen wie die Schlosshunde, und die Sterne schauen zu. ABBLENDE © Rainer Weidlinger, Wien 2009 78 AUFBLENDE 36 SANATORIUM – FRÜHER MORGEN INNEN Maria ist wieder in der Arbeit. Sie schiebt einen Rollwagen, beladen mit Bettzeug, durch einen endlosen Gang vor sich her. Die große, barocke Uhr verrät uns die Zeit: „Fünf vor Fünf“. Maria kommt zum Schwesternraum, der durch große Glasscheiben einsichtig ist. MARIA Guten Morgen! Eine dürre, hagere Krankenschwester, 38 Jahre alt, Namensschild sagt „Heidelinde Kraftig“, sitzt betont aufrecht auf dem Rollsessel und liest in einer ´Neue Post´. Hinter ihr steht der Arzneimittelschrank. Sie blickt kurz auf. SCHWESTER (grimmig) Morgen! Maria nickt, lächelt. Die Schwester blickt wieder in ihre ´Neue Post´. Maria schiebt den Wagen weiter den Flur entlang. Die Schwester schaut von der Zeitschrift auf und wirft einen verstohlenen Blick in Richtung Maria. Am Ende des Flurs blinkt über der Toilettentür ein weißes Signallicht. Der übliche Trick. Schwester Heidelinde tritt betont aus ihrem Kabäuschen, geht den Flur entlang und passiert den Abstellraum. Maria schleicht aus diesem heraus, wirft einen vorsichtigen Blick ums Eck und sieht, wie die Schwester die Toilette betritt. Maria kommt heraus und huscht auf leisen Sohlen über den Flur in den Schwesternraum. Sie zieht einen Schlüssel und eine kleine, weiße Plastiktüte aus ihrer Jeanshose und geht zum Arzneimittelschrank. Sie sperrt mit nervöser, aber bestimmter Hand den Schrank auf, öffnet die Flügeltüren. Gerade als sie zwei Packungen in die Tüte gesteckt hat: MÄNNERSTIMME (off, tief, herrisch) Suchen Sie ´was Bestimmtes? Maria erschrickt, erstarrt. Sie dreht sich langsam um. Unter der Tür steht der Primar, der leitende Direktor dieser Anstalt, seine Hände in seinen weißen Manteltaschen, aus der Brusttasche ragt eine Feder und ein Notizblock. Der Mann ist 57 Jahre alt, Brillenträger, kurze, graue, gekrauselte Haare, breite Nase. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 79 Gleich hinter dem Primar stehen die hagere Schwester Heidelinde und die dickleibige Schwester Sabine Menken vom letzten Nachtdienst, die ein breites, süffisantes Lächeln auf ihren Lippen trägt. MARIA Ich… MÄNNERSTIMME=PRIMAR PRIMAR Machen wir es kurz, Frau Müller! Marias Nachname lautet Müller. Maria blickt eingeschüchtert auf den Primar. PRIMAR 18 Uhr, in meinem Büro. Maria nickt, senkt ihren Kopf. PRIMAR Vielleicht finden wir ja… eine gute Lösung, für uns alle. Könnte ja sein, oder? Maria blickt hoffnungsfroh auf. Der Primar wendet sich an die Krankenschwestern. PRIMAR Und für sie, meine Damen, gilt absolute Verschwiegenheit. Sie können sich ja ausmalen, warum. Wir verstehen uns, oder? Die beiden Schwestern nehmen eine aufrechte Haltung ein. SCHWESTER SABINE Selbstverständlich, Herr Primar! SCHWESTER HEIDELINDE Natürlich, Herr Primar! PRIMAR Gut! Also dann, meine Damen, an die Arbeit! Es gibt doch genug Arbeit, oder etwa nicht? Die Schwestern nicken und gehen ab. Der Primar wirft noch einen kurzen, intensiven Blick auf Maria und geht dann ebenfalls ab. Maria legt die Tüte auf den Tisch. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 80 37 STRASSE / DACHRINNE - VORMITTAG AUSSEN Maria geht wieder den schier endlosen, monotonen, bleigeschwärzten, fensterlosen Häuserschlucht entlang. Sie kommt zur Dachrinne und dem am Boden befindlichen Kanaldeckel, der als Bunker für den Drogentausch dient. Sie schiebt den Kanaldeckel seitlich weg und nimmt den kleinen transparenten Plastikbeutel heraus. In diesem befinden sich wie üblich zwei aus Silberpapier gefaltete Briefchen. Maria steckt den Beutel in ihre Handtasche weg. Sie legt eine Notiz mit folgender Mitteilung hinein: „Tut mir leid, ich mach´s wieder gut!“. Sie schiebt den Deckel zurück, erhebt sich und geht ab. 38 KÜCHE – MITTAG INNEN Max sitzt am Frühstückstisch, is(s)t alleine. Am wie immer herrlich gedeckten Tisch steht ungewohnter Weise eine Flasche Wodka. Er hört Schritte, blickt auf. Adrian steht im Vorraum, blickt in die Küche. MAX (mit vollem Mund) Guten Morgen! ADRIAN Guten Morgen! MAX (mampfend) Espresso? Max legt sein Brötchen ab, erhebt sich schon, um den Espresso wie üblich zuzubereiten. ADRIAN Danke, nein, ich hab´s eilig! Max schluckt runter, blickt verwundert auf Adrian. MAX (angsterfüllt) Du gehst aber jetzt noch nicht, ich meine “für immer”. Adrian schüttelt verneinend den Kopf. ADRIAN Ich muss ins Ambulatorium. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 81 MAX (erleichtert) Alles klar! ADRIAN Ich geh´ jetzt. MAX Bis dann! Max setzt sich wieder an den Tisch, nimmt einen großen Schluck von seiner `bloody mary´, ein Glas mit puren Wodka trinkt er ex. Adrian blickt besorgt auf die Wodka-Flasche. ADRIAN Geht´s gut? MAX Ja-ja! Alles klar! Kannst ruhig gehen! Adrian nickt. Er macht ein paar Schritte zur Tür, hält inne, geht zu Max, setzt sich an den Tisch. Wir glauben schon, Adrian will Max auf das Trinken ansprechen, aber: ADRIAN Hör zu, Max, kannst du mir bis nächste Woche Geld leihen? Max blickt eindringlich auf Adrian, er legt sein Brötchen weg. MAX (betont ernst) Aber nur, wenn du bis nächste Woche noch bleibst! Adrian lächelt, Max lächelt. [Die beiden können nun belächeln, was über Jahre eine Art geheime, unausgesprochene Abmachung zwischen den beiden war: Max hält Adrian physisch am Leben, Adrian hält Max psychisch am Leben. Und jetzt, wo offensichtlich alles bald vorbei ist, fällt dieses Dogma.] Max erhebt sich, öffnet das Küchenregal und stellt eine Dose Tomaten auf die Küchenzeile. Er schraubt den Deckel unten weg und nimmt den Tresorschlüssel raus. Adrian blickt verblüfft auf die Dose: das perfekte Versteck. Max geht aus der Küche. ADRIAN (hinüberrufend) Bekommst es wieder! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 82 MAX (off) Wenn dein Vater tot ist, weiß ich schon. Adrian nickt, blickt kurz seitlich weg aus dem Fenster auf die Großstadt. Dann steht er auf, geht in den Vorraum. Max kommt daher und drückt ihm ein paar Hunderter in die Hand. MAX (lächelnd) Das und eine Million zurück. Hoffentlich reicht da der Pflichtteil. Adrian steckt das Geld in die Hosentasche weg. Hinter Adrian sehen wir im Vorraum einen großen Spiegel hängen, in dem sich Max spiegelt. ADRIAN Danke, Max! MAX (auf die Augenklappe zeigend) Und über das Auge müssen wir uns dann noch gesondert unterhalten! [Auch dieses Dogma ist gefallen.] Adrian sieht eisern auf Max, dann löst sich sein grimmiger Blick in ein Lächeln auf. ADRIAN Nimmst du dafür auch eine Niere? MAX Deine - sicher - nicht! Max lacht laut auf, umarmt überraschenderweise Adrian, löst sich und blickt Adrian tief in die Augen. MAX Halt die Ohren steif! Und den Schwanz schön hart. Dann blüht dein Weizen! Max lacht laut auf. Er geht in die Küche. Adrian blickt skeptisch auf Max. ADRIAN Bis dann! Adrian geht ab, Max setzt sich wieder an den Tisch, isst weiter. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 83 39 ZAHNKLINIK – NACHMITTAG INNEN Wir blicken in den großen, fensterlosen Saal des Zahnambulatoriums. Adrian ist auf dem Weg in `seine´ Kabine. Er knöpft sich gerade seinen weißen Arbeitsmantel zu. Plötzlich hält er inne, er grübelt, dann dreht er sich um und knöpft den Mantel wieder auf. Er geht ab. 40 ZAHNKLINIK AUSSEN Adrian tritt aus dem schäbigen 70er Jahre-Betonblock heraus. Die schwere Eingangstür fällt mit einem WUMM ins Schloss. Adrian trägt eine Jeans und ein weißes Hemd. Er geht über die Betonstiege nach unten. Ganz beiläufig zieht er sein Namensschild aus der Hosentasche. Er passiert am Ende der Stiege einen Mülleimer und wirft den „Dr. Adrian Weihsmann“ in den Eimer. Adrian Weihsmann wirkt erleichert. 41 ORT DES VERBECHENS / GARAGE – SPÄTER NACHMITTAG AUSSEN Adrian kommt zum engen Schlurf an der Garage, zurück an den Ort, der sein ganzes späteres Leben geprägt hat. Adrian hält inne und blickt eindringlich an das Ende des Schlurfes, wo der kleine Junge Alexander bitterlich um sein Leben gefleht hat. Adrian senkt seinen Kopf, er sieht die großen Steine am Boden. Mit einem dieser Steine hat er den Rotschopf Alexander erschlagen. Adrian atmet tief durch. Er geht zum Ende des Schlurfes, kniet sich genau dort nieder, wo der Junge gelegen hat. Adrian streicht sanft über die Steine. Er greift nach hinten zum Hosenbund und holt die Steinschleuder hervor. ADRIAN Hier hast du. Gehört ja dir. Er legt die Steinschleuder nieder. ADRIAN Tut mir leid, dass ich dich getötet habe. Adrian verharrt noch kurz, erhebt sich und geht wieder zurück. Sein Blick fällt seitlich weg und er entdeckt drei ausgetretene, frische ´Camel´-Zigarettenkippen. Adrian scharrt in den Steinen: Unzählige Stummel kommen zum Vorschein, ganz alte, zerfledderte, verwaschene. Max muss also sehr oft hier gewesen sein. Adrian grübelt. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 84 42 HAUS INNEN Adrian sitzt an einem alten Holztisch mit einem weißen Strickdeckchen darauf. An den Wänden hinter ihm hängen überall Kruzifixe und Heiligenbilder. Adrian rührt langsam in einer Schale Kaffee, sein Blick hängt am Löffel. Seine andere Hand liegt flach am Tisch. Er greift zu einem am Tisch stehenden Bilderrahmen: Wir sehen das Totenbild von dem jungen Alexander, eine Schleife umrahmt das Bild. Adrian betrachtet intensiv das Abbild. Er wischt sich eine Träne aus dem Auge. Eine zerfurchte, faltige Frauenhand streckt sich ins Bild und legt sich auf die Hand von Adrian. FRAU (off) Sie brauchen nicht mehr zu reden, Adrian! Es ist gut. Ich habe meinen Frieden gefunden. Adrian nickt. Wir blicken auf die eingefallene, bucklige, uralte Frau Seidl, die Mutter von Alexander, wie sie mit ihrer Strickjacke am Tisch kauert. Die Frau nimmt den Bilderrahmen, erhebt sich und stellt das Bild auf seinen Platz auf der alten Kommode zurück. FRAU = FRAU SEIDL FRAU SEIDL Und sie trifft ja keine Schuld. Adrian blickt fragend auf. Die alte Frau setzt sich wieder an den Tisch. FRAU SEIDL Ihr Freund Max hat mir alles erzählt. Adrian stoppt mit dem Rühren, er blickt fassungslos auf. ADRIAN WAS? WAS hat er gesagt? FRAU SEIDL Ihr Freund Max war bei mir und hat mir erzählt, wie er zugeschlagen hat, wie er meinen kleinen Alexander ums Leben gebracht hat. Aber es ist alles gut. Machen Sie sich, bitte, keine Sorgen! Adrian ist aufgewühlt. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 85 ADRIAN Wann war er bei Ihnen? FRAU SEIDL Erst heute, kurz nach dem Mittagessen. Darum war ich ja so überrascht, auch SIE hier zu sehen. Nach all´ der langen Zeit. Ist etwas passiert bei Ihnen? Adrian ist schockiert. ADRIAN (zu sich) Das ist zuviel! Adrian springt auf. ADRIAN (verzweifelt, schreit) Ich war es. Ich war es, verdammt noch einmal! Adrian schlägt mit der Faust so stark auf den Tisch, dass sich die Kaffeetasse vom Unterteller hebt. Frau Seidl erschrickt. ADRIAN (brüllend) Ich habe auf ihren Sohn eingeschlagen. Mit dieser Hand, mit einem Stein, zweimal! WUMM-WUMM! Ich habe ihn erschlagen, nicht er. Ich war es! Frau Seidl ist eingeschüchtert. FRAU SEIDL Ich verstehe nicht. ADRIAN Was bildet er sich überhaupt ein? Was glaubt er denn, wer er ist? Adrian blickt erzürnt, er zückt sein Handy. ADRIAN Er erniedrigt mich, er erniedrigt mich! Verstehen Sie? Frau Seidl blickt völlig ahnungslos auf Adrian, der jetzt in Richtung Haustür eilt und dabei eine Nummer wählt. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 86 ADRIAN (off, brüllend) Mit seinem Geld: Ja! Aber nicht SO! Aber nicht SO! Frau Seidl blickt Adrian völlig verwirrt hintennach. WUMM! Die Haustür fällt ins Schloss. Frau Seidl weiß überhaupt nicht, wie ihr geschieht. 43 PENTHOUSE – ABEND AUSSEN Abendsonne. Der Mini-Cooper bremst sich mit QUIETSCHENDEN Rädern vor dem nietnagelneuen Apartmenthochhaus ein. Adrian springt heraus und läuft mit grimmiger Miene in Richtung Eingang, das Handy in der einen, den Autoschlüssel in der anderen Hand. 44 PENTHOUSE INNEN Adrian stürmt durch die Wohnungstür herein. Er wirft einen Blick in die Küche. Dort herrscht das totale Chaos: Zertrümmertes Geschirr, die wuchtige Espressomaschine liegt in Einzelteilen verstreut am Küchenboden, verschütteter Kaffee überall. Die Regale weit geöffnet, der Inhalt am Boden verteilt. Auch die Dose Tomaten, mit dem Tresorschlüssel darin, liegt da. Eine leere Flasche Wodka steht am Tisch. Adrian wird skeptisch. ADRIAN (umherblickend) Max! - Max! Adrian geht weiter ins Wohnzimmer vor. Das rötliche Abendlicht fällt durch die Fenster herein. ADRIAN (schreit) Max! Bist du da? Adrian erblickt am Wohnzimmertisch eine Nachricht auf einem Zettel geschrieben. Daneben liegt der Tresorschlüssel. Adrian wird ruhiger, er nähert sich langsam dem Zettel. Er legt seinen Autoschlüssel auf den Tisch, greift sich den Zettel, liest: „Danke für Deine Zeit! Dein Max“. Am Zettel ist ein Pfeil, der zum danebenliegenden Schlüssel zeigt. Über dem Pfeil steht: „Für Kanada!“ ADRIAN (zu sich, besorgt) Max! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 87 Adrian blickt auf den Schlüssel. Ein Gedanke erfasst ihn. Er nimmt den Schlüssel, räumt die Bücherreihe im Regal hastig beiseite und öffnet den Tresor: Das Geld ist da, das Koks ist da, die PISTOLE fehlt. Adrian wendet sich ab. ADRIAN (zu sich) Oh Gott! Adrian läuft ins Badezimmer, nichts. Er läuft über die Stiege nach oben in sein Zimmer, nichts. Er blickt auf die Terrasse, nichts. Adrian lässt sich auf die Couch nieder, stützt seinen Kopf in die Hände. ADRIAN (zu sich) Oh Gott, Max! Tu dir nichts an! Tu´s nicht! In diesem Moment läutet das Handy. Adrian schrickt auf, hebt eiligst das Handy ab. ADRIAN (besorgt) Max! Wo bist du? Adrian lauscht ins Handy. Seine Miene zeigt Verblüffung. ADRIAN (überrascht, betont sanfte Stimme) Hi! 45 TELEFONZELLE / STADT AUSSEN Maria steht an einer Telefonzelle an einem belebten Platz. Maria checkt nervös die Umgebung, sie schwitzt, wirkt gehetzt, getrieben. Sie trägt einen engen, schlauchförmigen, schwarzen Rock und eine weite, weiße Bluse, darüber einen weißen Arztkittel. MARIA (zittrige Stimme) Kannst du mir, bitte, helfen? SZENE 44 / 45 TELEFONAT Adrian erhebt sich, geht nervös herum. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 88 ADRIAN Ich bin… ich kann jetzt nicht. Max ist… ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wo er ist. Adrian lauscht ins Handy. ADRIAN Was? Adrians Miene wird ernst. ADRIAN Wo bist du jetzt? MARIA (umherblickend) Ich weiß nicht, ich bin einfach nur…, ich… . Bleib´ dran! Maria macht zwei Schritte aus der Zelle, blickt auf ein Haus. Adrian lauscht aufmerksam, er blickt auf seine Armbanduhr: „19.25“. Er greift nach dem Autoschlüssel auf dem Tisch. ADRIAN (ins Handy) Ja? Ich weiß, wo das ist. Ich bin unterwegs. Maria nickt. MARIA Danke, Adrian! Adrian legt auf, blickt noch kurz in der Wohnung herum, wirft einen Blick auf den offenen Tresor mit dem Geld drinnen, dann eilt er davon. Maria legt auf, blickt verstohlen um sich und geht ab. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 89 ANFANG DER RÜCKBLENDE 46 SANATORIUM / FLUR – ABEND INNEN Maria geht mit schweren Schritten und angsterfüllter Miene den weiten Flur entlang. Sie trägt einen engen, schlauchförmigen, schwarzen Rock und eine weite, weiße Bluse. Sie blickt auf die große Ganguhr, deren schwarze Zeiger die Zeit verraten: „Fünf vor Sechs“. Maria kommt zum Zimmer von der Frau Doktor, der alten, redseligen Frau, die ihr vom Ausflug mit deren drei Söhnen berichtet hat. Vor den Zimmer stehen leere Möbel. Maria wirft einen Blick hinein und sieht die 37-jährige, großgewachsene, schlanke, blonde, Kaugummi kauende Schwester HANNA beim routinierten Abziehen der mit Rosen verzierten Bettlaken, jenen Laken, die Maria erst vor ein paar Tagen der alten Frau überreicht hat. MARIA Hallo, Hanna! Hanna steht über dem Bett gebeugt, blickt auf Maria. HANNA Na, geht´s zum Primar? Hanna weiß natürlich Bescheid über den Vorfall. Maria nickt, blickt im Zimmer umher. MARIA Ist die Frau Doktor… ? Hanna zieht während des Dialoges das Bett ab. HANNA Heute früh. Herzinfarkt! Maria nickt. HANNA Keine große Sache, ging schnell. MARIA Wissen Ihre Söhne schon Bescheid? Hanna hält inne, blickt fragend auf Maria. Dann scheint ihr etwas einzufallen. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 90 HANNA Verstehe! DIE Geschichte! Von den Drillingen? Maria denkt kurz nach. MARIA Sie hatte gar keine Kinder, oder? Hanna arbeitet weiter. HANNA Doch-doch! Waren auch wirklich Drillinge, aber die sind schon alle tot. MARIA Alle drei? HANNA Sind bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Hanna zieht mit einem Ruck das Bettlaken ab und knüllt das Laken auf einen Bausch zusammen. MARIA Bei einem Bombenangriff? Was für ein Bombenangriff? HANNA Na, Zweiter Weltkrieg… (Handbewegung zeigt fallende Bombe) …Bombenangriff eben! Marias Miene stellt Fragen. HANNA Na, das waren noch Babys, damals! Marias Blick wird ernst. Hanna stopft die Laken mit dem Rosenmuster in einen schwarzen Müllsack. MARIA (zu sich) Verstehe! Sie wendet sich ab und geht zur offenen Tür. Hanna richtet sich noch einmal kurz auf. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 91 HANNA (grinsend) Viel Spaß noch beim Primar dann! Maria steigt auf den Scherz nicht ein. MARIA Ja-ja! Maria will schon raus. HANNA Maria! Maria wendet sich um. MARIA Ja? HANNA (Kopfnicken zum Zimmer des Primars) Nimm´s nicht so tragisch, jede von uns kommt mal an die Reihe! Na, und heute bist eben du dran! Maria nickt und dreht sich um. HANNA Ach, übrigens! Maria dreht sich wieder zurück. MARIA Ja? HANNA Da war vorher ein Anruf für dich. So ein Typ hat nach dir gefragt, hat keinen Namen gesagt. Wollte nur wissen, ob du da bist. MARIA Und? Was hast du gesagt? HANNA Na, dass du jetzt da bist, eben! MARIA Und was hat er gesagt? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 92 HANNA Er hat gesagt, dass er sich wieder meldet. MARIA Okay! Danke! Maria dreht sich um und geht ab. HANNA Gern geschehen! Hanna verschnürt mit einem festen Ruck den Müllsack, in dem sich die Bettlaken befinden, und wirft ihn mit einem kräftigen Schwung auf einen Rollwagen. 47 PRIMARZIMMER / FLUR INNEN Maria steht am Ende des Flurs vor der Tür zum Primar, ein großes Namenschild sagt: „Direktor“. Sie klopft sanft: KLOPF-KLOPF! Sie wartet. Gerade als sie noch einmal klopfen will, ertönt ein SUMMEN und die Tür springt einen Spalt auf. Die Tür zum Büro hat außen keine Schnalle, sondern einen Knauf. Maria tritt langsam ein. Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss. Hinter dem glänzend schwarz polierten Büroschreibtisch sitzt auf einem breiten Lederstuhl der Primar. Er trägt einen weißen Arztkittel, darunter Hemd und Krawatte. Der Bürotisch ist leergeräumt. Dort steht nur ein zusammengeklappter Laptop, ein Telefon und ein japanischer Tischbrunnen, auf dessen Spitze sich eine schwere Steinkugel stetig im Wasserstrahl dreht. Das Wasser SPRUDELT sanft und leise vor sich hin. Der Primar telefoniert, er dreht er sich langsam am Drehstuhl hin und her. PRIMAR (ins Telefon, freundlich) Verstehe! – Ja!- Ja! Er weist Maria den Platz auf einen Sessel vor dem Tisch zu. Maria setzt sich. Sie sitzt aufrecht da, ihre Hände im Schoß. Sie blickt unsicher umher. Sie beobachtet die Steinkugel, die sich unentwegt am Wasserbrunnen dreht. Sie sieht in einem Kasten hinter dem Schreibtisch an der Wand ein Familienportrait in einem Rahmen stehen, das den Primar, seine Frau und seine drei Kinder zeigt. Das Foto zeigt den Primar noch als Mittedreißiger. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 93 PRIMAR (ins Telefon, freundlich) Gut! - Selbstverständlich! – Wir freuen uns auch sehr. Ja! Tschüss! (wird ungeduldiger) Ja- Ja! Selbstverständlich. Ich muss jetzt… - Ja! Auf bald! – Danke, wünsche ich Ihnen auch. Der Primar legt auf. PRIMAR Sie entschuldigen. Maria nickt, lächelt. PRIMAR Wie geht es Ihnen, Frau Müller? Maria ist überrascht über die Frage. MARIA Ich…, ich weiß´ nicht, Herr Primar. PRIMAR Sie haben etwas gestohlen, das diesem Sanatorium hier gehört, stimmt das so? Maria nickt. PRIMAR Aber wir wissen auch, dass sie eine sehr zuverlässige, fleißige, freundliche Hilfskraft sind. Unser Klientel ist begeistert von Ihnen. Wissen Sie das eigentlich? Maria lächelt etwas. MARIA Ich bemühe mich sehr, Herr Primar! Der Primar lässt sich mit sorgenvoller Miene weit über den Tisch. PRIMAR Sind Sie drogenabhängig, Frau Müller? MARIA Nein! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 94 PRIMAR Waren Sie drogenabhängig? MARIA Ja! Der Primar senkt kurz seinen Kopf, blickt dann wieder auf. PRIMAR Dann kennen Sie ja das Milieu nur zu genau. Kann man das so sagen? Maria nickt, sie grübelt. Der Primar nickt, aus seiner sorgenvoller Miene wird ein lüsternes Lächeln. Er lehnt sich in seinem Sessel weit zurück und dreht sich seitlich weg. Er blickt fordernd auf Maria. Jetzt versteht Maria. PRIMAR Eine gute Lösung, für alle! War doch versprochen, oder? Maria nickt. MARIA Und meinen Job! Der Primar lächelt, zeigt mit gestrecktem Zeigefinger im Sinne von `Du hast es echt drauf´. PRIMAR Und ihren Job! MARIA Gut! Maria erhebt sich und sieht, dass der Primar die Hosen bereits bei den Fußknöcheln hat. Er ist also bereits die ganze Zeit mit entblößter Hose hinterm Schreibtisch gesessen. Maria erhebt sich und geht langsam um den Schreibtisch auf den Primar zu. Sie blickt dem Primar dabei unentwegt und starr in die Augen. Dieser beobachtet lüstern ihre Bewegungen. Maria stellt sich stolz und aufrecht vor den Primar, lässt eine Hand nach unten gleiten und beginnt, ihn mit der Hand zu befriedigen. Der Primar schließt seine Augen, er stöhnt auf. Maria legt einen Gang zu. Der Primar stöhnt noch lauter auf. Er legt seine Hände auf ihre Schultern und drückt sie nach unten in seinen Schoß. Seine Hände legt er jetzt auf ihren Kopf. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 95 PRIMAR (stöhnend) Komm, steck´ dir meinen harten Schwanz ganz tief in deinen kleinen, versauten Mund, ganz tief rein in deinen Mund. Du willst dir meinen geilen Schwanz doch reinstecken, oder? Er blickt an sich runter, dann schließt er die Augen, wendet vor Erregung seinen Kopf seitlich weg. Das PLÄTSCHERN des Brunnens wird lauter. Der Primar öffnet die Augen und erblickt den japanischen Tischbrunnen. Er wird stutzig. Er bemerkt, dass die schwere Steinkugel fehlt. Gerade als er sich Maria zuwendet: WUMM! Der Primar bekommt den Stein mit voller Wucht auf seine Stirn, Blut quillt heraus und rinnt nur so über sein Gesicht. Der Primar greift sich mit den Fingerspitzen an die Wunde und sieht dann ungläubig auf das Blut an seinen Fingern. Er blickt fassungslos und benommen auf Maria, die mit entschlossner Miene vor ihm steht. Diese holt erneut aus: WUMM! Er wird genau oben auf der Schädeldecke getroffen. Er sackt in sich zusammen, der Kopf hängt nach unten, Blut tritt aus der Wunde, aus seinem Mund und aus seinen Ohren. Er ist tot. Maria blickt gebannt auf ihr Opfer, sie lässt ihre Arme langsam nach unten sinken, sie atmet schwer. Nach Sekunden der Paralyse: WUMM! Die blutverschmierte Steinkugel fällt laut zu Boden. Maria schrickt auf, sie ist geistig wieder anwesend. Die Steinkugel rollt seitlich ein paar Meter weg und kommt an der Mauer zum Stehen. Maria sieht die Blutspritzer auf ihrer Bluse. Sie blickt auf den Garderobeständer und sieht einen weißen Arztkittel hängen. 48 FLUR INNEN Maria eilt schnurstracks geradeaus über den Flur, ihr Blick konzentriert nach vorne gerichtet. Sie passiert das Schwesternzimmer. Schwester Sabine hat Dienst. Sie sitzt breit auf ihrem Sessel und bearbeitet Unterlagen. Sie hört im off die Schritte, sie blickt auf und erkennt Maria in einem weißen Arztkittel durch die Glasscheiben. Sabine blickt auf die Uhr im Schwesternzimmer: „18.07“. Ihr Blick wird skeptisch. ENDE DER RÜCKBLENDE © Rainer Weidlinger, Wien 2009 96 49 TELEFONZELLE / STADT - ABEND AUSSEN Passanten gehen durch die Gegend, Autos ziehen an uns vorbei. Wir sehen zwei kleine Mädchen, Volksschulkinder, näher kommen. Sie tuscheln geheimnissvoll, dann zählen sie mit den Fingern. MÄDCHEN#1 UND MÄDCHEN#2 (heimlich, ganz leise) Eins – Zwei – Drei! Die Mädchen gehen jetzt direkt bei uns vorbei und machen einen plötzlichen Ausfallschritt auf uns zu. MÄDCHEN#1 UND MÄDCHEN#2 (laut) Guten Tag, Frau Doktor! Maria erschrickt sich zu Tode. Die beiden Mädchen kichern und laufen davon. Maria blickt ihnen hinterher, lächelt gequält. Ihr Lächeln verschwindet: Sie blickt an sich runter, sie zieht in Windeseile den Arztkittel aus und wirft diesen so diskret wie möglich in einen daneben stehenden Mülleimer. Daneben liegt ein großer Bogen Zeitungspapier. Sie nimmt diesen auf, faltet ihn einmal und hält ihn sich vor die Blutflecken auf ihrer Bluse. Sie blickt verstohlen umher. Dabei sieht sie in einer Reihe parkender Autos den goldenen Mercedes, in dem sie ja von Adrian bei ihrem ersten Treffen nach Hause gefahren wurde. Maria lächelt erleichtert auf. Sie nähert sich dem Mercedes. Wir beobachten Maria im Außenspiegel, wie sie dem Wagen in schnellen Schritten, aber nicht laufend, näherkommt. In dem Wagen sitzt aber nicht Adrian, sondern Max. Max wirkt völlig überdreht. Er schwitzt stark, unter der Nase kleben die Überreste einer Spur Koks. Max beobachtet Maria im Außenspiegel, wie sie immer näher kommt. [Max hat Maria am Sanatorium abgepasst und bis hierher verfolgt. Es war für ihn nicht schwierig, Maria aufzuspüren: Max kennt ihr Aussehen vom ersten Treffen an der Strandbar und ER war der anonyme Anrufer im Sanatorium. Er wusste von ihrer Arbeitsstelle aus einem Gespräch mit Adrian, Szene 30.] Max wird nervös, er greift in sein Handschuhfach und holt seine Pistole mit zittriger Hand heraus. Er lädt durch und hält sich die Waffe verdeckt unter sein Hemd. Maria ist jetzt beim Wagen, checkt noch einmal kurz das Fahrzeug, ja, das ist ohne Zweifel der Wagen, mit dem sie damals bei Adrian mitgefahren ist. Maria geht hinten um den Wagen, Max beobachtet dies im Rückspiegel. Maria öffnet die Beifahrertür. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 97 MARIA (beim Einsteigen) Danke, Adrian, dass du… Sie erblickt Max. Sie erschrickt, schreit laut auf, verharrt zwischen Tür und Angel. Max blickt zu ihr, die Pistole unterm Hemd. MAX Wie? Wie kann ich Ihnen helfen? MARIA Entschuldigen Sie vielmals, ich dachte, … entschuldigen Sie, ich… MAX Kein Problem, steigen Sie doch ein. Ich warte hier nur… auf meine Frau. Ist einkaufen, das kann dauern. Max müht sich ein krampfhaftes Lächeln ab, Schweiß steht auf seiner Oberlippe und seiner Glatze. MARIA Nein, ich… Gerade als sich Maria wieder aufrichtet und die Tür zuwerfen will, erblickt sie einen Polizeiwagen, der geradewegs auf sie zuhält. Maria erstarrt, sie öffnet wieder die Wagentür und steigt in den Wagen ein. Sie schließt die Wagentür. MAX Haben Sie es sich anders überlegt? Maria sieht im Außenspiegel den Polizeiwagen näher kommen. MARIA Ja, ich… Maria dreht sich zu Max, der Polizeiwagen fährt vorbei und kommt ein paar Autolängen weiter an einer roten Ampel zum Stehen. Maria blickt verstohlen nach dem Wagen. Das Dienstfahrzeug steht dort und wartet auf Grün. Max sieht die Polizei und er erkennt die Blutspritzer auf der Bluse von Maria. Maria will schon wieder austeigen. MAX Probleme mit der Polizei? MARIA Was? - Nein, habe ich nicht. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 98 Max nickt und beginnt dann zu HUPEN, ohne Unterbrechung: TRÖÖÖÖÖT! Maria blickt aufgeregt von der Hupe am Lenkrad auf den Polizeiwagen und wieder zurück. MARIA (bestimmt) Hören Sie auf, bitte! TRÖÖÖÖÖT! MARIA (flehentlich) Hören Sie auf, bitte! Max geht von der Hupe. Maria blickt aufgeregt zum Polizeiauto, keine Reaktion. MARIA Was… was wollen Sie? Max´ Hand, in der er die Pistole hält, beginnt zu zittern. MAX Nur eine Minute! Bis meine Frau da ist. Max grinst, er wirkt verdreht, entrückt, wirr. Maria hat große Angst vor Max. MARIA Gut! MAX Gut! Max blickt eindringlich auf Maria. MAX Haben Sie Hunger? Maria blickt überrascht auf Max. MAX Kommen Sie! Wir gehen ´was essen. Ich wollte mit Ihnen schon immer mal ´was essen gehen. [Er nimmt damit Bezug auf seinen Satz aus dem Dialog Max-Adrian, Szene 29.] Maria blickt nach vor: Die Ampel springt auf Grün, der Polizeiwagen fährt los. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 99 MARIA Hören Sie, ich… Maria blickt zurück auf Max. Die Pistole ist auf sie gerichtet. Max hält die Pistole so tief, dass die Passanten von draußen diese nicht sehen können. Maria schrickt auf. MAX Chinesisch? Maria blickt gebannt auf die Pistole, dann auf Max. MARIA Nicht chinesisch! SCHNITT AUF 50 SUSHIRESTAURANT INNEN Running Sushi. Das Lokal ist voll. Am Förderband laufen die kleinen Tellerchen endlos im Kreis. Max und Maria sitzen sich gegenüber, seitlich neben ihnen läuft das Band. Am Tisch stehen auf der Seite von Max bereits eine Menge an leeren, übereinandergestapelten Tellern, die Seite von Maria ist leer, vor ihr ein volles Glas Cola. Max trinkt einen Schnaps aus und stellt das Glas zu den fünf anderen. Er klopft sich fest gegen die Brust, unterdrückt sich das Rülpsen. Sein Mund ist schmierig, sein Gesicht und seine Glatze verschwitzt, sein Blick wirr. MAX Keinen Appetit? Maria schüttelt den Kopf. MAX Auch gut! Max greift sich auf dem vollen Bauch, die Pistole scheint am Hosenbund zu drücken. Max legt, trotz der vielen Lokalbesucher, ganz ungeniert die Pistole neben sich auf den Tisch, legt ohne Hast die Getränkekarte darüber. Maria blickt ängstlich auf die Pistole. Max blickt eindringlich auf Maria. MAX Sie müssen mir helfen, ich komme einfach nicht dahinter. Maria blickt eingeschüchtert auf Max. MARIA Was meinen Sie? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 100 MAX Was das ´Besondere´ an Ihnen ist? [Adrian hat Max gegenüber davon gesprochen, dass Maria etwas Besonderes ist. Szene 29] Maria versteht die Frage nicht. Max lehnt sich dann weit zu ihr hinüber. MAX Was ist das ´Besondere´ an Ihnen? Ich kann das Besondere nicht sehen, verstehen Sie? Maria blickt starr auf Max. MAX (auf die Augenklappe zeigend) Vielleicht liegt es auch nur an meinem kaputten Auge. Ich weiß es nicht. Sekunden des Schweigens. MARIA Selbst wenn Sie blind wären, könnten sie es nicht sehen. Max verstummt, blickt gebannt auf Maria. Max zeigt auf seine Augenklappe. MAX Wollen Sie wissen, wie´s passiert ist? Maria zögert, schüttelt dann den Kopf. MARIA Nein! Max blickt eindringlich auf Maria. MAX Alles klar! Die beiden sitzen sich noch ein paar Sekunden schweigend gegenüber. Maria blickt an sich runter, zeigt auf die Blutflecken auf der Bluse, lässt sich nach vor. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 101 MARIA (geheimnissvoll flüsternd) Wollen Sie wissen, wie die Blutflecken auf meine Bluse gekommen sind? Max blickt auf die Flecken, lässt sich nach vor. MAX Ja, würde mich interessieren. Ganz ehrlich! Maria und Max sitzen jetzt ganz nah gegenüber. MARIA (eindringlich flüsternd) Sag´ ich Ihnen aber nicht. Max blickt grimmig, dann löst sich der Blick in ein süffisantes Lächeln auf. Er lässt sich wieder weit zurück, Maria lässt sich zurück. Die beiden blicken sich an. MARIA Ich muss jetzt aufs Klo. Nach ein paar Sekunden des Schweigens: MAX (nach hinten zeigend) Die Toiletten sind gleich da hinten ums Eck, nicht zu versäumen. Maria erhebt sich, steht noch ein paar Sekunden am Tisch und geht dann langsam und betont direkt zum Ausgang. Max nimmt sich noch ein Tellerchen vom Laufband. Maria öffnet die Eingangstür und blickt noch einmal zurück. Max sitzt am Tisch und mampft in sich rein. Maria verlässt das Lokal. 51 TELEFONZELLE / STADT – SPÄTER ABEND AUSSEN Die Sonne ist schon untergegangen. Die künstlichen Lichter der Großstadt regieren die Nacht. Maria geht über den Gehsteig. Sie grübelt über die seltsame Begegnung mit dem ihr völlig unbekannten Mann. Maria blickt nach vor und sieht Adrian an der Telefonzelle stehen. Adrian blickt suchend umher. Maria läuft los. MARIA (schreiend, erleichtert) Adrian! Adrian! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 102 Adrian erblickt Maria, läuft ihr entgegen. Die beiden nähern sich, Adrian verlangsamt sein Tempo, kommt zum Stehen. ADRIAN Maria, was ist… ? Maria umarmt innig Adrian, sie gibt ihm einen Kuss auf die Lippen, hält sein Gesicht zärtlich in ihren Händen, blickt ihn eindringlich an. MARIA Danke! Das vergess´ ich dir nie! Niemals! Mein Leben lang! ADRIAN Was ist passiert? Maria wirkt ziemlich gefasst. Sie dreht sich zurück. MARIA Da war jetzt dieser… Maria weiß gar nicht, wo sie anfangen soll. Sie dreht sich wieder zurück zu Adrian. MARIA Im Sanatorium. Er wollte mich…, er hat…, und das mache ich nicht mehr. Das mache ich nicht mehr. Das ist ekelig. Und da waren diese Drillinge. ADRIAN Drillinge? Maria beginnt zu weinen, die Tränen strömen aus ihren Augen. Die ganze Anspannung löst sich. MARIA (aufgelöst) Die Drillinge sind gestorben, alle drei Babys auf einmal. Von dieser alten Frau da. Das ist so… ungerecht. So ungerecht. Und dann der Primar, diese Drecksau… Maria lehnt sich an den Oberkörper von Adrian. Adrian nimmt Maria in die Arme. Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter. Adrian schließt seine Augen. Auch wenn die Umstände unglücklich sind, er genießt die Nähe zu Maria. Sie lösen sich. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 103 ADRIAN Komm, steig´ ein. Weg von der Straße. Adrian geleitet Maria zur Beifahrertür, Maria wirft einen neugierigen Blick auf das neue Auto. MARIA (gefasst, neugierig) Hast du einen neuen Wagen? Diese Frage kommt unerwartet. ADRIAN Gehört einem Freund von mir. Vielleicht lernst du ihn ja mal kennen. Hat sie schon. ADRIAN Komm, steig´ ein, weg hier. Maria setzt sich rein. Adrian wirft die Tür zu, der Wagen fährt ab. Als der Wagen die Reihe geparkter Autos entlang fährt, erblickt Maria wieder den Wagen von Max. Für Adrian bleibt der Wagen unentdeckt. Der Mini-Cooper passiert den Mercedes. Maria dreht sich nach hinten um, verliert dann den Wagen aus den Augen. ADRIAN Was gesehen? MARIA Nein! Maria dreht sich wieder nach vor. 52 STRASSEN DER STADT / AUTOFAHRT AUSSEN / INNEN Der Mini-Coopper fährt über eine schwach befahrene Ausfallsstraße, links und rechts Wohnsilos. Die orange Straßenbeleuchtung lässt weiches Licht in den Wagen fallen. Maria knetet nervös an einem Taschentuch in ihrem Schoß herum. Sie blickt von diesem sporadisch auf und aus dem Fenster. ADRIAN Wie geht´s dir? Maria nickt ein `Geht schon´. Sekunden des Schweigens. Adrian wirft immer wieder einen kurzen Blick auf Maria. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 104 ADRIAN Warum hast du MICH angerufen? Maria blickt auf Adrian, dann wieder aus dem Fenster. MARIA Ich hatte sonst keine Nummer, nur deine. Maria blickt auf Adrian. ADRIAN (im Sinne von `verstehe´) Mh-mh! MARIA Die hatte ich irgendwie im Kopf. Adrian nickt. Sekunden des Schweigens. ADRIAN Wie soll es jetzt weitergehen? Maria grübelt, weitere Sekunden des Schweigens. MARIA Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich jemanden getötet habe, dass ich einen Menschen mit einem Stein erschlagen habe. Wie im Reflex: ADRIAN (überrascht) Was? Du auch? Maria blickt erstaunt auf Adrian. MARIA Was? Adrian versucht, seine Überraschung zu verbergen. ADRIAN Es passierte doch in seinem Büro. Mit einem Stein? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 105 MARIA Da war so ein japanischer Springbrunnen, so ein kleiner, für den Tisch. Da war eine Kugel d´rauf, aus Stein. Mit der habe ich zugeschlagen. Adrian kann das Gehörte kaum glauben. Er blickt Maria tief in die Augen. ADRIAN Wie oft hast… ? Du hast zweimal auf seinen Kopf eingeschlagen, stimmt´s? Zweimal! Mit dem Stein! MARIA (verwirrt) Ja! Adrian blickt kurz gen Nachthimmel und die Sterne, seine ernste Miene sagt: `Sie ist es! Ich wusste es!´ ADRIAN Hör zu! Du musst hier weg, weit weg. Und ich gehe mit dir. Maria blickt konsterniert auf Adrian. ADRIAN Nach Kanada. Ich habe genug Geld! Mach´ dir keine Sorgen! Wir kriegen das hin. MARIA Ich will nicht weg. Ich muss bei meiner Oma bleiben. ADRIAN Was ist mit deiner Oma, wenn du im Gefängnis bist? Sie ist…, woher soll sie…? Du weißt, was ich meine. Maria senkt ihren Kopf. MARIA Ja, ich weiß. Maria trocknet mit dem Taschentuch ihre Tränen. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 106 53 WOHNBLOCK / WAGEN INNEN / AUSSEN Der Mini-Cooper kommt vor dem Wohnblock zum Stehen. Adrian stellt den Motor ab. Beide bleiben schweigsam sitzen. Maria blickt gebannt auf den Hauseingang. Adrian blickt ungeduldig auf Maria. ADRIAN Wir müssen dann los, Maria, die Polizei… MARIA Meine Oma hat ein paar Jahre in Kanada gelebt, wie sie jung war. Es ist sehr kalt dort im Winter, hat sie mir mal erzählt, eiskalt, mit einem Wind, der alles gefrieren lässt. Und meterhoch Schnee, soweit das Auge reicht. Man konnte oft tagelang nicht aus dem Haus. Also blieb man drinnen. Man musste schon warten, bis die Sonne kommt. ADRIAN (im Sinne vom `Ja!´) Mh-mh! Maria blickt auf Adrian. MARIA Ich gehe mit dir, aber ich weiß nicht, ob ich das will. Adrian nickt. MARIA Und ich will dahin, wo es nie kalt ist. ADRIAN Ich auch. MARIA Ja! Maria öffnet die Tür. ADRIAN Ich beeile mich. Maria reagiert nicht darauf. Sie steigt aus dem Wagen. Adrian lässt sich noch etwas rüber, um Maria etwas zu sagen. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 107 ADRIAN Ich… WUMM! Maria wirft die Autotür zu. Adrian senkt seinen Blick, dann beobachtet er Maria, wie sie sich dem Hauseingang nähert. Sie schließt die Haustür auf und tritt ein. Adrian startet den Wagen. Er setzt mit QUIETSCHENDEN Rädern zurück, bremst und zieht mit voller Geschwindigkeit ab. 54 WOHNUNG MARIA INNEN Maria betritt langsam die Wohnung. Alles ruhig. Sie dreht das Licht auf. Ihr erster Blick fällt auf die Tür ins Nachbarzimmer, in dem ihre Oma liegt. Maria versucht ruhig zu bleiben. Sie dreht sich um und schließt die Tür. Vor ihr sieht sie jetzt die alte, zerfledderte, ausgebleichte Karte von Kanada an der Innenseite der Wohnungstür kleben (Szene 24). Maria kann nicht mehr, sie bricht in Tränen aus, sie fällt auf die Knie, ist völlig aufgelöst. MARIA (zu sich) Ich kann das nicht! Ich kann das nicht! 55 PENTHOUSE – NACHT INNEN Adrian betritt die Wohnung, er dreht das Licht im Vorraum und im Wohnzimmer auf. Er stürmt ins Wohnzimmer zum offenen Tresor. Gerade als er nach dem Geld greifen will: MAX (off) Na, greifst also doch noch zu? Adrian erschrickt. Er dreht sich um. Max steht vor ihm, an seiner hängenden Hand die Pistole. In der anderen Hand hält er eine fast leere Flasche Wodka. Max ist schwer betrunken, er lallt und kann kaum das Gleichgewicht halten. Max hat seine Augen weit aufgerissen, er schwitzt, er atmet schwer. Er befindet sich jetzt in einem absoluten Ausnahmezustand. Adrian macht einen Schritt auf Max zu. ADRIAN (erleichtert) Max! Ich dachte schon… Max weicht hektisch einen Schritt zurück. MAX Dachte ich auch, aber… keine Sorge… © Rainer Weidlinger, Wien 2009 108 Er nimmt einen kräftigen Schluck aus der Flasche. MAX … das wird schon noch. Ich war doch schon immer so ein feiger Hund, kennst mich ja! Ein feiger Hund! Zu allem zu feig! Aber sonst hätte ich es wohl kaum so lange mit dir ausgehalten, du kleiner Wichser du! Adrian blickt besorgt auf die Pistole. Er erkennt den Ernst der Lage: Am Tisch liegen und stehen ein umgeworfenes, ausgeschüttetes Glas, daneben ein aufgerissenen Plastikpäckchen, ein über den ganzen Tisch verstreutes Kokain, ein Aschenbecher, Asche. Hinter dem Tisch liegt frisch Erbrochenes, darin baden Shrimps und Lachs. ADRIAN Max! Bitte, mach doch keinen… MAX Nimm das Geld und verpiss dich. ADRIAN Max, bitte, … Max hebt die Pistole und zielt auf Adrian. MAX Nimm jetzt das Geld und verpiss dich. Alles klar? Und hab´ keine Angst vor der Pistole. Ich kann niemanden erschießen, den ich gern habe. Das weiß ich jetzt auch! Adrian nickt. Er hebt beschwichtigend die Hände. ADRIAN Okay, Max! Wie du willst! Ich nehme jetzt das Geld. MAX (nickt) Genau! Du nimmst jetzt das Geld! Adrian dreht sich langsam um und geht zum Tresor. Er wirft dabei immer wieder einen kurzen Blick auf Max. Der nimmt einen kräftigen Schluck aus der Flasche, die Pistole stetig auf Adrian gerichtet. Adrian nimmt die gebündelten Geldscheine aus dem Tresor und hält sie in beiden Händen vor sich. Das sind bestimmt über 40 000 Euro. MAX Und jetzt verpiss´ dich! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 109 ADRIAN Wir… reden später. Okay, Max? MAX (nickt) Okay, Adrian! ADRIAN Okay! Dann geh´ ich jetzt! Max nickt. Adrian macht ein paar Schritte in Richtung Ausgang. Max richtet die Pistole nach den Bewegungen aus. Adrian steht jetzt im Vorraum bei der Wohnungstür. Wir sehen Max im großen Spiegel im Vorraum. ADRIAN Bis dann, Max! MAX Ja! Bis dann, Adrian! Ihr übliches Verabschiedungsprocedere, nur diesmal unter anderen Vorzeichen. Adrian verlässt die Wohnung und schließt langsam die Tür hinter sich. Er atmet tief aus. ADRIAN (zu sich) Bitte nicht! Adrian wartet noch ein paar Sekunden, blickt noch einmal auf die Tür. Dann geht er schnell ab. Wir bleiben noch für ein paar Sekunden auf der Tür. Alles ruhig. 56 PENTHOUSE / STIEGENHAUS INNEN Adrian eilt aus der Liftkabine. Ein Schuss HALLT durch das Stiegenhaus. Adrian erstarrt. Er blickt nach oben, er atmet schwer, schließt die Augen. Dann senkt er seinen Kopf. Sekunden vergehen. Er blickt auf und eilt los in Richtung Hauseingang. Er verlässt das Gebäude. 57 WOHNUNG MARIA INNEN Wir stehen an der Küchenzeile. Maria wirkt entschlossen. Sie streicht mit einem Messer das Heroin aus einem Silberpapier auf den Löffel. Sie schabt das Papier gründlich ab. Sie öffnet ein zweites Silberpapier. Sie verharrt kurz, dann streicht sie auch diesen Inhalt auf den Löffel. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 110 Sie checkt die Spritze gegen das Licht der Küchenlampe. Sie hält die Spritze vor sich und geht zur Tür. Sie hält davor inne, sie senkt ihren Blick. Sie kämpft gegen die Tränen, gegen ihr Gewissen, gegen sich selbst einen unerbittlichen, erbarmungslosen und barbarischen Kampf. Sie öffnet langsam die Tür. 58 STRASSEN DER STADT / AUTOFAHRT AUSSEN / INNEN Adrian glüht über die breite Ausfallsstraße. Am Beifahrersitz liegen die Geldbündel. 59 WOHNUNG MARIA / SCHLAFZIMMER INNEN Maria entzündet die Kerzenlichter am prächtig geschmückten Weihnachtsbaum. Ein Sternspritzer erhellt das Zimmer. Maria schaltet wieder den alten Kassettenrekorder ein, es ERTÖNT der liebliche Kinderchor: „Stille Nacht, heilige Nacht“. Maria wendet sich ihrer Oma zu, die friedlich in ihrem Bett schläft. 60 WOHNBLOCK / WAGEN AUSSEN / INNEN Inmitten der Wohnsilos. Adrian fetzt um die Kurve. Wir blicken durch die Windschutzscheibe nach vor. Als er zum Block von Maria kommt, sehen wir Blaulichter, Polizeiautos, Polizisten, Kriminalisten, Schaulustige. ADRIAN (zu sich) Verdammte Scheiße, nein! Adrian bremst sich ein, er parkt mitten auf der Straße. Er springt aus dem Wagen und eilt nach vor zum Geschehen. Flackerndes Blaulicht erhellt die Szenerie. Er wird gemeinsam mit Schaulustigen von Polizisten aufgehalten. Ein Polizist zieht gerade ein Absperrungsband über den Gehweg, der zum Hauseingang führt. POLIZIST#1 (forsch) Zurücktreten, bitte, Polizeieinsatz! Treten Sie, bitte, zurück! Adrian drängt ein paar Schaulustige zur Seite. ADRIAN (händeringend) Lassen Sie mich durch! Lassen Sie mich doch durch! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 111 Adrian kommt vor dem Absperrband zum Stehen, er verschafft sich einen Überblick über das Geschehen. Er entdeckt seitlich vom Haus einen Polizeibus. Hinter dem Bus mit geöffneter Heckklappe stehen acht Beamte des Einsatzkommandos, die sich gerade schusssichere Westen anlegen. Man sieht Maschinenpistolen, Gesichtsmasken. Dahinter sieht man auch noch einen Notarztwagen geparkt. Adrian ruft nach einem Polizisten: ADRIAN (fordernd) Hören Sie! Entschuldigen Sie! Hallo! Die Polizisten reagieren nicht. Adrian schlupft unter das Band durch. Eine 45-jährige, robuste Passantin, knielange, enge Jogginghose, schwarzes T-shirt mit der weißen Aufschrift: “ich chef – du nix!”, Marke Hausmeisterin, ist entrüstet und brüllt in Richtung Adrian. PASSANTIN#1 (rauchige Stimme) He, du! Ich wohne auch hier im Block und darf nicht durch hier, oder wie ist das jetzt? Oder darf jetzt jeder? (in Richtung Polizisten) He, du! Da läuft einer durch! Da läuft er! Halloooo! Adrian geht direkt auf den Hauseingang zu. Ein junger, athletischer Polizist mit kantigem Gesicht läuft auf ihn zu und hält ihn an. POLIZIST#2 Stehenbleiben! Sofort! Adrian bleibt stehen. ADRIAN Hören Sie, ich… ! POLIZIST#2 (extrem betont) Treten Sie hinter das Absperrband zurück! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 112 ADRIAN Hören Sie zu, ich kenne die Frau da drinnen, ich kann sie rausbringen, hören Sie, ich kann Sie… Der Polizist packt Adrian mit einer blitzschnellen Bewegung an der Schulter, zieht seinen Arm ruckartig nach hinten und führt ihn so in Richtung Absperrung zurück. POLIZIST#2 Ich warne Sie! Wenn Sie sich weiter meinen Anweisungen widersetzen, kann Sie das… ADRIAN (schreit) Wer ist hier der leitende Beamte? Wer hat hier das Sagen? Ich bin der Ehemann, ich bin der Ehemann der Frau da drinnen! Drei Kriminalisten stehen im Halbkreis mit dem Rücken zu uns, sie beraten sich. Der Beamte in der Mitte horcht auf und dreht sich um. Dieser Kriminalist ist Herr Einer (!), den wir vom Krankenhaus aus Szene 1 kennen. Herr Einer hat deutlich an Gewicht verloren, sein Gesicht ist schmal, eingefallen, nur sein Kugelbauch ist noch immer da. Herr Einer blickt auf Kollege#1. HERR EINER (in Richtung Adrian nickend) Wenn ich Sie bitten darf? Der 40-jährige, vollbärtige Kollege#1 blickt auf Adrian, dann wieder auf seinen Chef. KOLLEGE#1 Kein Problem, Chef! Bin schon unterwegs. Kollege#2, der bullige Mann wirkt neben Einer wie ein Riese, setzt ein sarkastisches Lächeln auf. KOLLEGE#2 (zu Kollege#1) Nur jede zweite Schritt berührt den Boden, Herr Kollege! KOLLEGE#1 (zu Kollege#2) Nur fliegen ist schöner! © Rainer Weidlinger, Wien 2009 113 Der Kollege#1 läuft los zu Adrian und dem Polizisten#2. Er klärt den Polizisten#2 auf. Dieser lässt Adrian los. Der Kollege#1 führt Adrian zu Herrn Einer. HERR EINER Guten Abend! Sie sind der Ehemann von Frau Maria Müller? ADRIAN Das bin ich! HERR EINER Dann können Sie uns helfen! Adrian blickt eindringlich auf Herrn Einer. ADRIAN SIE können MIR helfen! Herr Einer blickt interessiert auf Adrian. 61 WOHNUNG MARIA / SCHLAFZIMMER INNEN / AUSSEN Maria sitzt an der Bettkante bei ihrer schlafenden Oma. Sie hält in einer Hand die Spritze mit tödlichem Inhalt, mit der anderen hält sie die zerfurchte, ausgemergelte Hand ihrer Oma. Maria zittert am ganzen Leib. Ein blaues, stroposkopes Licht fällt durch den Spalt zwischen den Vorhängen ins Zimmer. Maria blickt auf und sieht das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge flackern. Maria weiß, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Sie blickt auf ihre Oma. Sie zückt die Spritze und führt diese in die Kanüle am Arm ein. Sie drückt die Spritze durch. Ihre Oma erwacht, sie öffnet weit die Augen, stöhnt. MARIA Jetzt wird alles gut! Maria legt ihre Wange auf die Wange der Oma. MARIA Jetzt wird alles gut! Marias Blick fällt aus dem Fenster. In diesem Moment beginnt es zu schneien. Schneeflocken beginnen vereinzelt vom Himmel zu rieseln. Das glänzende Weiß der Flocken vermengt sich mit der orangen Straßenbeleuchtung zu einem brillanten Farbgemisch. MARIA (euphorisch) Oma, schau! Es schneit! Es schneit! Siehst du es? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 114 Maria läuft zum Fenster und reißt die Vorhänge zur Seite. Wunderbare, bezaubernde Schneeflocken ziehen in schlingenden Bewegungen am Fenster vorbei, es werden immer mehr. Dazu die Musik aus dem Kasettenrekorder, der geschmückte Baum, es ist Weihnachten. Maria setzt sich wieder zu ihrer Oma. MARIA Es schneit, nur für dich, Oma, nur für dich! Die Augen der alten, todgeweihten Frau beginnen zu leuchten, sie lächelt mild und zufrieden, glücklich. Sie nickt ganz zart, sie schließt ihre Augen, für immer. Mit einem Lächeln im Gesicht. MARIA Oma? - Oma? Keine Reaktion. Maria fühlt am Handgelenk den Puls, sie schließt kurz die Augen. Sie legt die Hand ihrer Großmutter sanft auf das Bett. Maria blickt lange und eindringlich auf sie, dann gibt sie ihr einen Kuss auf den Mund. MARIA Schlaf gut! Maria erhebt sich und geht zum Fenster. Sie blickt raus und sieht im dichten Schneetreiben Adrian stehen. Er winkt, Maria blickt lange auf Adrian, sie lächelt, nickt, winkt kurz zurück. Dann geht sie vom Fenster weg. Adrian blickt noch für Sekunden auf das Fenster. Der Schneefall lässt nach. Adrian blickt nach oben auf das Stockwerk darüber. Die Passantin von der Polizeiabsperrung von vorhin, die Frau mit dem T-shirt mit der weißen Aufschrift: “ich chef – du nix!” lehnt sich weit aus dem Fenster und schüttelt die letzten Federn aus einer Bettdecke. PASSANTIN#1 (rauchige Stimme) War´s das? ADRIAN Ich danke Ihnen! PASSANTIN#1 (rauchige Stimme) Bedanken können sich bei mir meine Kinder! Von dir bekomme ich 200 Euro! Adrian nickt. Die Frau geht vom Fenster zurück in ihr Zimmer. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 115 62 MARIA WOHNUNG INNEN Maria kommt aus dem Nebenzimmer, sie schließt hinter sich leise die Tür. Maria bleibt stehen und blickt sich noch einmal um. Sie geht zum Vorraum und nimmt eine gepackte Reisetasche auf. Sie blickt eindringlich auf die Kanada-Karte auf der Innenseite der Wohnungstür. Sie öffnet die Tür. Herr Einer steht vor der Tür. HERR EINER Guten Abend, Frau Müller! Sind Sie soweit? MARIA Ja! Das bin ich! Maria schultert noch einmal ihre Tasche, tritt aus der Wohnung und geht in Begleitung von Herrn Einer in Richtung Ausgang. Wir bleiben in der Wohnung und blicken ihr nach. Kaum ist Maria ein paar Schritte von der Wohnungstür weg, sehen wir vier maskierte, schwer bewaffnete Beamte des Einsatzkommandos hinter der Mauernische vor die Tür treten. Sie senken ihre Waffen und folgen Maria und den Kriminalisten nach. 63 WOHNBLOCK AUSSEN Maria wird nach draußen geführt, umringt von den Beamten des Einsatzkommandos und der Polizei. Die Menge beginnt aufgeregt zu tuscheln. Einige Schaulustige durchbrechen die Sperre und laufen auf Maria zu und versuchen, mit ihren Handys und Digitalkameras ein paar Fotos zu erhaschen. Die Polizei drängt die Menschen ab: Gedränge, Geschiebe. Adrian läuft um die Hausecke. Er sieht die Menschentraube, die sich um Maria gebildet hat. Er drängt sich ebenfalls in Richtung Maria. ADRIAN (brüllt lauthals) Maria! Maria! Maria kann die Rufe vorerst nicht wahrnehmen. ADRIAN (off) Maria! Maria wendet ihren Kopf, wird dabei von den Beamten weiter nach vor geschoben. MARIA (verzweifelt schreiend) Adrian! Wir sehen Adrian durch die aufgebrachte Menschenmenge hindurch. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 116 ADRIAN Maria! Adrian bleibt stehen, weil er sieht, dass es kein Durchkommen gibt. ADRIAN (schreiend) Maria! Ich liebe dich! MARIA (schreiend) Ich liebe DICH, Adrian! (leise, zu sich) Ich liebe DICH! Maria wird von den Polizisten auf die Rückbank einer Funkstreife gesetzt. Der Wagen fährt unter Blitzlichtgewitter und Gebrüll der Passanten los. Adrian blickt dem Wagen hinterher. Maria sitzt im Wagen, ihre Blicke treffen sich noch einmal, beide lächeln. Dann biegt der Wagen ab und ist weg. Adrian blickt ihm noch lange nach. Die ersten Passanten gehen wieder nach Hause, die Menge löst sich auf. Hinten bei den Funkstreifen stehen Herr Einer und seine beiden Kollegen. Herr Einer blickt dem Wagen noch hinterher, die Kollegen besprechen Amtliches. Herr Einer dreht sich zu ihnen, geht auf sie zu. Er streckt die Hand zur Verabschiedung aus. HERR EINER Meine Herren, es war mir eine große Ehre, mit Ihnen gearbeitet zu haben. Kollege#1 und Kollege#2 blicken sich verwundert mit großen Augen an. Sie erwidern perplex den Handschlag. KOLLEGE#1 Kein Problem, Chef! KOLLEGE#2 Für morgen alles Gute, Chef! KOLLEGE#1 Ja, alles Gute für morgen! Herr Einer nickt, lächelt. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 117 HERR EINER Sie brauchen nicht auf mich zu warten, ich gehe noch ein Stückchen zu Fuß. KOLLEGE#1 Kein Problem, Chef! Kollege#2 nickt. Herr Einer dreht sich um und geht in die Finsternis ab. KOLLEGE#1 Und was war DAS jetzt? KOLLEGE#2 Keine Ahnung! Die beiden drehen sich um und gehen in Richtung Dienstfahrzeuge weg. KOLLEGE#1 Bisschen viel Theater für eine Routineuntersuchung, was? KOLLEGE#2 Hat wohl mächtig Schiss, wie´s aussieht! KOLLEGE#1 (bohrt mit dem Finger in die Luft) Tatüü tattaa - die Prostata! Die beiden lachen laut auf. 64 PENTHOUSE INNEN Adrian öffnet langsam und vorsichtig die Wohnungstür. Er trägt einen Plastiksack mit sich. Adrian tritt ein, blickt vorsichtig um sich. Er entdeckt, dass der Spiegel, in dem sich Max bei der finalen Aussprache gespiegelt hat, ein Einschussloch aufweist, genau auf Kopfhöhe. Adrian geht ein paar schnelle Schritte weiter ins Innere vor. ADRIAN (umherblickend) Max! Er geht ins Wohnzimmer vor, alle Verschmutzungen von vorhin sind beseitigt. © Rainer Weidlinger, Wien 2009 118 ADRIAN (umherblickend) Max! Durch das Terrasenfenster zeichnet sich ein Umriss ab. Adrian eilt los. Er wirft den Plastiksack beim Vorbeigehen auf den blitzeblank sauberen Wohnzimmertisch, dabei rutschen die Geldbündel raus. Adrian eilt auf die Terrasse nach draußen. 65 TERRASSE AUSSEN Adrian kommt auf die Terrasse. Max, gestriegelt und gekämmt, neu eingekleidet, sitzt entspannt in der Hollywood-Schaukel. Adrian blickt mit großen Augen auf Max. ADRIAN (überrascht, erleichtert) Hallo! MAX (ruhig, cool) Hallo! Max spricht so, als wäre nie etwas gewesen. ADRIAN Wie… wie geht´s dir? MAX Gut! Adrian nickt, lächelt. ADRIAN Und ich dachte schon, du hättest dich… MAX Habe ich ja gesagt: Ich kann keinen erschießen, den ich gern habe. ADRIAN (lächelnd) Das ist gut, das ist sehr gut! Sekunden vergehen. MAX Kannst du mich wieder ein bisschen… hin und her schaukeln? © Rainer Weidlinger, Wien 2009 119 ADRIAN (erfreut) Sicher! Adrian setzt sich auf die Schaukel, stellt seinen Fuß nach unten und wippt die Schaukel leicht hin und her. Sekunden vergehen. MAX Wann geht´s jetzt los? ADRIAN Später. Viel später. Max nickt. MAX Ich habe schon eine Wohnung für dich, sehr gemütlich, adrett, sauber. ADRIAN (im Sinne von `verstehe´) Mh-mh! MAX Und ganz in der Nähe. Die beiden blicken sich an, lächeln. Max blickt hoch in den Nachthimmel. Adrian folgt seinem Blick. Die beiden sitzen entspannt in der Hollywoodschaukel und blicken in die Sterne. ADRIAN (Kopfnicken in Richtung Sterne) Und? Kannst du jetzt auch hören, was sie sagen? MAX Da musst du schon ruhig sein, sonst funktioniert´s ja nie. Adrian nickt. ADRIAN (im Sinne von `okay´) Mh-mh! Beide blicken nach oben, schweigen. ABBLENDE ENDE © rainer weidlinger, A-wien, 2009 © Rainer Weidlinger, Wien 2009