Kontakt: Ines Landschek, Tel.: 030 – 8554 47 43, Mail: [email protected] ZMK – Zentrum für Muskel- und Knochenforschung Charité – Universitätsmedizin Campus Benjamin Franklin Leiter: Prof. Dr. med. Dieter Felsenberg „Knochen & Muskeln – Neue Welten“ PRESSEKONFERENZ 18. November 2004 2. Interdisziplinäres Forum mit Workshops Dr. med. Martin Runge, Esslingen Statement Sturzrisikodiagnostik und Sturzprävention: mit Folgen Stürze sind alterskorrelierte Ereignisse von großer Häufigkeit und mit schwerwiegenden Folgen. In pathogenetischer Kombination mit der Osteoporose führen sie zu einem exponentiellen Anstieg der Frakturinzidenz mit zunehmendem Alter. Ca. 30 % aller Älteren über 65 Jahren stürzen einmal oder mehrmals pro Jahr, unter Hochaltrigen und Pflegeheimbewohnern liegt die Sturzquote über 50%. Mehr als 90% der proximalen Oberschenkelhalsfrakturen (> 120 000 pro Jahr in Deutschland) entstehen bei einem Sturz, ein ähnlich hoher Anteil der Oberarm-, Becken- und Unterarmbrüche ebenfalls. Der alterstypische Sturz ereignet sich bei alltagsüblichen Aktivitäten, in gewohnter Umgebung, ohne Bewusstseinsverlust oder -veränderung und ohne überwältigende Krafteinwirkung von außen. Zu einer Fraktur kommt es, wenn die einwirkenden Kräfte (beim Sturz aus dem Stehen 4000 –12000 N) die Knochenfestigkeit übersteigen. Stürze und sturzbedingte Frakturen sind nicht zufallsverteilt über die ältere Bevölkerung, sondern streng korreliert mit der individuellen Häufung mehrerer Sturzrisikofaktoren: Sturzpatienten unterscheiden sich von Älteren ohne erhöhte Sturzgefahr durch eine individuelle Anhäufung bestimmter Merkmale. Folgende Merkmale, die sich in mehreren methodisch akzeptablen Untersuchungen als unabhängige Sturzrisikofaktoren erwiesen haben, sind für das Sturzgeschehen verantwortlich: - verminderte muskuläre Leistung der unteren Extremitäten, - verminderte Kontrolle der Balance - verminderte Sehschärfe, eingeschränkter Blickwinkel - > 4 verordnete Medikamente - spezifisch sturzkorrelierte Medikamente (Benzodiazepine, Antidepressiva/Tricyclica/SSRIs, Neuroleptica, Antikonvulsiva) - kognitive Störungen Als geeignete neuromuskuläre Untersuchungsverfahren haben sich vor allem der Aufstehtest und der Tandemtest bewährt. Sturzkorrelierte lokomotorische Testverfahren haben sich gleichzeitig als prädiktiv für einen zukünftigen Verlust von Mobilität und Selbstpflegefähigkeit in den kommenden vier Jahren erwiesen (Guralnik et al 1995). Statement - Dr. med. Martin Runge -2- Eine Abschätzung der Frakturgefahr von extravertebralen osteoporoseassoziierten Frakturen ist ohne ein Sturzrisikoassessment unvollständig. Erst die Kombination von Osteoporose und Sturzneigung bedingt ihre alterskorreliert exponentiell ansteigende Inzidenz. Die Identifizierung und Quantifizierung der Sturzgefahr ist Basis für Interventionen, die auf das individuelle Riskoprofil abgestimmt sind. Ziel einer rationalen Therapie und Prävention ist neben der Knochenfestigkeit das Sturzsyndrom. Damit hat ein Sturzrisikoassessment folgende Ziele: Identifizierung von Sturzpatienten: Hat diese Patientin/ dieser Patient Sturzrisikofaktoren? Quantifizierung der individuellen Sturzgefahr: Wie viele/ wie stark ausgeprägte? Therapieplanung: Welche Funktionen müssen behandelt werden? Therapieevaluation: Was hat die Therapie bisher erreicht? Die neue ärztliche Gebührenordnung (EBM 2000plus, GOP 03341) hat die Bedeutung der Sturzrisikodiagnostik und rationalen Sturzprävention erkannt und in das hausärztlich-geriatrische Basisassessment aufgenommen. Sie führt namentlich das hier vorgestellte Esslinger Sturzrisikoassessment als geeignetes Verfahren auf. Stürze und ihre Folgen verhindern, aber wie? Aufbauend auf einem geeigneten Sturzrisikoassessment ist eine rationale Planung zur Senkung der Sturz- und damit der Frakturhäufigkeit möglich. Das Sturzrisikoassessment sagt, welche Funktionen beim einzelnen Patienten behandelt werden müssen. In der Literatur werden gerade die Interventionen als erfolgreich beschrieben, die auf die multifaktorielle Genese der Altersstürze mit einer multifaktoriellen Intervention reagieren Mit solchen Ansätzen ist es gelungen, die Sturzhäufigkeit signifikant zu senken (Tinetti et al 1994, Close et al 1999). Mögliche Interventionen richten sich also nach dem individuellen Risikoprofil und sind zuerst motorisch-funktionelle Verfahren zur Verbesserung der Muskelfunktionen und Haltungskontrolle, z.B. Tai Chi, Krafttraining, Balancetraining, vibratorische Muskelstimulation mit dem Galileo-System. Aus den neuen Analysemöglichkeiten der Bewegung mit dem Leonardo-System (Novotec, Pforzheim) ergibt sich zunehmend die Bedeutung der elastischen Energiespeicherung für schnelle Bewegungen. Hier öffnen sich große therapeutische Chancen, wenn Erhalt und Wiedererlangung der Elastizität angemessene Bedeutung finden. Eine bereits abgeschlossene, aber noch nicht veröffentlichte Versuchsreihe mit der vibratorischen Muskelstimulation (Gaggenau-Studie mit DaimlerChryslerPensionären) hat belegt, dass mit 2 x wöchentlich je 9 Minuten Galileo-Training die neuromuskulären Sturzrisikofaktoren hochsignifikant verbessert werden konnten. Hier findet sich eine klinische Entsprechung der Ergebnisse der Berliner BedRest-Studie. Statement - Dr. med. Martin Runge -3- Ein sofortiger Schutz vor sturzbedingten Hüftfrakturen ist mit dem von Prof. Lauritzen aus Kopenhagen entwickeltem Hüftprotektor Safehip (Rölke Hamburg) möglich. Er wird in einer Fixierungshose direkt seitlich über dem großen Rollhügel getragen, und verhindert Hüftfrakturen durch Reduktion der deformierenden Kräfte bei dem alterstypischen Sturz auf die Seite. Die Revision der Medikation im Hinblick auf Sturzgefahr ist bei vielen älteren Patienten angezeigt. Hierbei kann die Anzahl der Verordnungen als allgemeiner Indikator für einen reduzierten Gesundheitszustand gesehen werden, der gleichzeitig hoch sturzkorreliert ist. Aktive Maßnahmen verlangen jedoch die kausal mit Stürzen gekoppelten Medikamente wie Neuroleptica, Benzodiazepine und Antidepressiva. Diese können natürlich nicht ohne weiteres abgesetzt oder reduziert werden, müssen aber individuell in Indikation, Dosierung, Verteilung über den Tag und flankierende Maßnahmen (Hüftprotektor) überprüft werden. Neben der Vermeidung oder Reduzierung sturzfördernder Medikamente ergeben sich aus dem Vitamin-D-Stoffwechsel Behandlungsmöglichkeiten. Länger bekannt ist die Koppelung von Stürzen an Vitamin-D-Mangel und dessen erfolgreiche Behandlung mit nativem Vitamin D. Neu sind Ergebnisse (Dukas et al 2004), dass bei einer verminderten Kreatinin-Clearance (<65 ml/Min) auch bei normalen Vitamin-D-Spiegeln die Sturzgefahr 4fach erhöht ist, und diese mit Alfacalcidol wieder normalisiert werden kann. Die Visusminderungen (Verminderung der Sehschärfe, Blickwinkeleinschränkungen) sind ein weiteres Feld sturzsenkender Interventionen (OP Grauer und Grüner Star, LASER-Behandlung von Netzhautblutungen, aber auch Brillenanpassungen und Brillenhandhabung). Umfeldanpassung als Beseitigung von sogenannten Stolperfallen ist bei der hier besprochenen Klientel zwar sinnvoll, aber eigentlich kein entscheidender Ansatz, da die Sturzursachen meistenteils im Inneren begründet sind. Sturzpatienten haben nicht signifikant mehr Stolperfallen in ihrer Wohnung als „normale“ Ältere, deren Entfernung bringt keine signifikante Sturzreduktion, und sie stürzen auch in optimierter Umgebung. Die therapeutischen Möglichkeiten, Altersstürze zu verhindern, sind erst am Anfang. Sie gewinnen erst sehr langsam in der medizinischen Praxis den Stellenwert, den sie wegen ihrer Bedeutung für die einzelnen, ihre Familie und die Gesellschaft verdienen. Dr. med. Martin Runge Muskel- und Knochenzentrum Aerpah-Klinik Esslingen Kennenburgen Str. 63 73732 Esslingen Tel.: 0711 / 390 53 26 Mail: [email protected] Statement - Dr. med. Martin Runge