Abgabetext 10.10.2008 Georg Fischer Mentalitätsgeschichtliche Aspekte des kleinstädtischen Bürgertums im 20. Jahrhundert. Wertvorstellungen und polit-ökonomische Entwicklungen in Gunzenhausen. 1. Vorgehen, Zweck und Definitorisches „Aus dem Erlebten heraus von den Leiden und Freuden“1 einer fränkischen Kleinstadt zu beschreiben, sah der Lokalchronist Wilhelm Lux als seine Lebensaufgabe. Er prägte, zusammen mit einer handvoll ähnlich denkender Menschen die Interpretation lokaler historischer Ereignisse von Gunzenhausen, was in seinen rund 600 Artikeln2 zum Ausdruck kommt. Während seiner Lebenszeit von 1906 bis 1987 veränderten sich die politischen Verhältnisse von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik und das „Dritte Reich“ zur AltBundesrepublik Deutschland. Gunzenhausen wuchs vom ländlichen Kleinstädtchen zum Mittelzentrum im Neuen Fränkischen Seenland. Den letzten Abschnitt des 20. Jahrhunderts, also die Wiedervereinigung Deutschlands, bzw. den Wandel Gunzenhausens zum Fremdenverkehrsort des fränkischen Seenlandes, erlebte Wilhelm Lux nicht mehr. Auch aufgrund dieses Umstandes bilden seine Aufzeichnungen zur Geschichte eine wertvolle Quelle, um die Mentalität des kleinstädtischen Bürgertums zu ergründen, dem er selbst zuzurechnen ist.3 Einstellungen, Gedanken und Gefühle der Menschen einer Epoche zu interpretieren kann als Ziel der Mentalitätsgeschichte beschrieben werden. So Geschichte zu verstehen hat sich erst im 20. Jahrhundert etabliert. Entgegen bzw. ergänzend zu dem, v.a. die Fakten politischer Geschichte aufschreibenden Wissenschaftsverständnis, versucht Mentalitätsgeschichte die Haltungen und Handlungen sozialer Gruppierung zu ergründen, um damit das Zusammenspiel von objektiven und subjektiven Faktoren, das von allgemeinen Rahmenbedingungen und konkreten Ereignissen, sowie das von individuellen und kollektiven Meinungen am historischen Prozess und das Mitwirken in ihm plausibel zu erklären.4 Differenzen ergeben Gunzenhäuser Heimatbote, Heimatbeilage der Lokalzeitung „Altmühlbote“. Erschien seit 1923 in acht Bänden. Angegeben ist immer das Jahr und die Seite des Zitats. 2 Stadtarchivar W. Mühlhäuser stellte im Gunzenhäuser Heimatboten, 1990 / 1991, eine Übersicht der 528 Titel von W. Lux im Altmühlboten zusammen, die zwischen 1933 und 1988 erschienen. Hinzu zu zählen sind die umfangreicheren Aufsätze in „Alt Gunzenhausen“ und anderen Zeitschriften. 3 Mit seiner Familie kam W. Lux (1906-1987) 1909 aus Regensburg nach Gunzenhausen, weil sein Vater (Karl Lux, +1947) das Uhrmachergeschäft seines Onkels (Carl Salch, 1855-1922) in der Mariusstr. 3 gekauft hatte. Er wechselte nach der 4. Volksschulklasse auf die Realschule, verließ diese aber 1923 in der 6. Klasse kurz vor dem damaligen Gymnasialabschluss und lernte (wie sein Vater) Uhrmacher. 1925 trat er der Freiwilligen Feuerwehr bei und 1929 gründete er eine Sängergruppe mit. Nach seinen mündlichen Angaben (Interview 6.4.1977) wurde er 1933 Obmann für Kultur zuerst in der NS-Kulturgemeinde, dann in der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, von der er später urteilte, dass sie zu einer „Vermassung“ der Kultur beitrug. Von 1937 bis zu seinem Lebensende arbeitete W. Lux intensiv journalistisch. Zum gleichen Zeitpunkt wurde er Sekretär einer neu gegründeten Geschäftsstelle des gewerblichen Mittelstand (NS-HAGO), die nach dem 2. Weltkrieg in der Handwerkskammer weiter geführt wurde, wo W. Lux bis 1949 angestellt blieb. Mit Beginn der AltBundesrepublik wurde er hauptberuflicher Mitarbeiter beim Altmühlboten Gunzenhausen, wo er den Kulturteil betreute. 1952 wurde er Vorsitzender des Heimatvereins, der seit 1923 fast jährlich den Aufsatzband „AltGunzenhausen“ herausgibt. W. Lux wurde als höchste seiner vielen Auszeichnungen das Bundesverdienstkreuz verliehen, die Stadt Gunzenhausen ehrte ihn an seinem 75. Geburtstag mit der Verdienstmedaille. In einer Lobrede hieß es: „Tugenden wie Treue und Beständigkeit seien für ihn eine Selbstverständlichkeit.“ (Altmühlbote, 4.2.1987) 4 Vgl. Raulff, Ulrich (Hg.): Mentalitäten-Geschichte. Berlin 1987 (Wagenbach). Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Stuttgart 1993 (Kröner). 1 1 sich hieraus zu den Auffassung, die Wilhelm Lux mit seiner Geschichtsschreibung vertritt. Mit Berufung auf Ranke5 wollte er nur Fakten mitteilen. Dennoch formulierte er 1954 als Vorsitzender des Heimatvereins: „Die Volkskunde eines jeden Landes steht in der Gegenwart aber nicht nur im Dienste der eigenen Nation, sondern sie erfüllt auch eine wichtige, ja unentbehrliche Aufgabe in der Bildung und Weltanschauung des europäischen Menschen überhaupt.“6 Entwicklungen menschlicher Wertorientierungen wurden und werden in der deutschen Geschichtsschreibung, die sich relativ spät der Wirtschafts- und Sozialgeschichte öffnete, stiefmütterlich behandelt. Zu sehr scheinen die jeweils aktuellen Beurteilungen vom Nutzen und Nachteilen vieler Grundwerte einem „geschichtswissenschaftlichen Zugang“ entgegenzustehen. Dies gilt verstärkt für die typisch „bürgerlichen Tugenden“ (ohne die „kein gemeinschaftliches Beste statt finden“ könne7) von Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Hinzu kommen die missbräuchlichen Nutzungen im 20. Jahrhundert, wo im Extrem aus der Zucht, die in „Erziehung“ selbst steckt, wörtlich sogar „Züchtung“ wurde. Im Zynismus der „nationalsozialistischen Weltanschauung“ und im Terrorsystem des „Dritten Reichs“ wurden „Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland“ als Meilensteine eines Wegs bezeichnet, der aus dem Konzentrationslager herausführen würde.8 Spätestens solche Funktionalisierung erfordert eine neue historische Besinnung. Sie kann zum Schluss kommen, dass der bürgerliche Wertekanon nicht nur eng mit der Entwicklung von Ökonomie und Staat seit Beginn der Neuzeit verbunden ist.9 Seit rund 200 Jahren verknüpft sich das Eigen- und Fremdbild „Deutschtum“ mit den „bürgerlichen Tugenden.“ Dabei benötigt der Begriff „deutsch“ schon selbst weitere Differenzierungen, denn der Nationalstaat „Deutschland“ entstand durch militärische Einigung erst 1871 und deckte sich nicht mit dem Siedlungsgebieten aller „Deutschen“.10 Zudem sollten alle Charakterbeschreibungen von Großgruppen als systematisch unzulängliche Hilfskonstruktionen erkannt werden. Verschiedene Wissenschaftler versuchten, mit Modellen wie „Säkularisierung“. „Rationalisierung“, „Prozess der Zivilisation“ oder „Sozialdisziplinierung“ zu erklären, wie und warum tradierte Haltungen in der Alltagskultur fortlebten und Geschichte gestalteten. Auch in diesem Rahmen werden Mentalitäten als Langzeitphänomene („longue durée“) begriffen, die zum immobilsten Bereich der Gesellschaftsgeschichte gehören.11 Die den „Bürgern“ zugeschriebenen Werte und Tugenden tragen hiernach wesentlich zur Verhaltensmodellierung der Menschen bei. So wird auch tiefgreifend die „bürgerliche Mentalität“ verstanden. Leopold v. Ranke (1795-1886) gilt weithin als „Vater der Geschichtswissenschaft“. Er postulierte eine Historiographie, die theoretische Erörterungen vermied. Selbst ausgesprochen konservativ - lutherisch geprägt, sollte der Historiker politisch neutral „zeigen, was eigentlich gewesen ist“ und nicht „richten“. Sein Postulat: „Die Wahrheit der Geschichte ist der Prozess des Lebens, des Geistes“ betonte die Individuen und bemühte sich zu wenig darum, gesellschaftliche Systeme im Zeitenverlauf zu erforschen. Bedeutend bis heute blieben seine methodologischen Erörterungen, insbes. der kritischer Umgang mit Quellen, während sein idealistischphilosophischer Hintergrund nach dem 20. Jh. keinen Bestand mehr haben kann. Vgl. Iggers, G.: Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971. 6 W. Lux: 75 Jahre Verein für Heimatkunde. In: Alt-Gunzenhausen. 1954, 5. Interessanterweise begründete H. Krauß, der Vorsitzende des Heimatvereins 1987 – 2006, die Darstellungen über den Nationalsozialismus in Gunzenhausen wiederum mit der Aufgabenstellung, die L. Ranke der Geschichtsschreibung gegeben hatte; in: Alt-Gunzenhausen. 1993, 146. 7 Justi, von, J.H.G.: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten (1761). In: Münch, P. (Hg.): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. München 1984, 157-167. 8 Comité International de Dachau (Hg.): KZ Dachau 1933-1945. München 1978, 67. 9 vgl. Max Webers (1864-1920) soziologische Analyse von „Wirtschaft und Gesellschaft“. 10 Auch L. Ranke fragte schon 1832: «Wer will jemals in den Begriff oder in Worte fassen, was deutsch ist ?“ 11 Vgl. Reichardt, R.: Histoire des Mentalités. In : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3/1978. 5 2 „Mentalitätsgeschichte“ zu schreiben fordert daher eine Interessenklärung auch für diesen Aufsatz. Wenn vorherrschende Denk- und Verhaltensmuster einer sozialen Gruppierung, wie hier die des Bürgertums einer Kleinstadt, aus spezifischen Quellen herausgefiltert werden, so kann dies auch und kurzschlüssig zu Stereotypen und Pauschalurteilen führen. Dieser Gefahr zu begegnen dient die Gliederung des 20. Jahrhunderts nach politisch-sozialen Abschnitten, denen dann Interpretationen zugeordnet werden. Sie beziehen sich insbesondere auf die Sichtweise von Wilhelm Lux, ergänzt durch lokalgeschichtliche Fakten, durch andere Darstellungen und durch Deutungen, die mit der oral-history-Methode gewonnen wurden. Gleichwohl bleibt die Kritik (an Mentalitätsgeschichte wie auch an diesem Aufsatz) berechtigt, es handele sich um subjektive Ansichten des Autors, die mit selektiver Quellenauswahl verbunden seien. In der Tat sind meine Ansichten offenzulegen, da ich selbst meine Jugend im bürgerlichen Gunzenhausen durchlebte, erst in einer rund 10-jährigen Studienzeit formulierbare Distanzierung erlernte und als Zeitgeschichtler und Erwachsenenbildner zur Aufklärung beitragen möchte. So fließen die in meinem 60 Lebensjahren gemachten Erfahrungen ein, methodisches vorgehen soll die Argumentationen nachvollziehbar machen und die Thesen sollen Nachdenken provozieren und ähnliche Beiträge anregen. Mentalität als „den Geist betreffend“ wird als wesentliche Grundlage der Wahrnehmung, der Wirklichkeitsinterpretation und der Handlungen definiert. Der Aufsatz bezieht sich auf die Mentalität des Kollektivs „Bürgertum einer süddeutschen Kleinstadt“. Diese soziale Schicht kann als abgrenzbarer geistiger Kosmos verstanden werden, dessen materielle Basis die handwerklich-händlerischen Berufs- und Besitzverhältnisse bilden. Im Gunzenhausen des 20. Jahrhunderts mit seinen fünf- bis fünfzehntausend Einwohnern dürften ihr etwa 60 % zuzurechnen sein.12 Die bürgerliche Mentalität grenzte sich im Begriff „Stand“ gegenüber „höheren“ und „niedereren“ Ständen ab. Noch aus dem Mittelalter übernommen, verweist „Stand“ auf Herkunftsfamilien und Hierarchien (Adel, Klerus, Bürger oder Bauern), in ihm wurden die Machtverteilungen des Absolutismus (politischer und ökonomischer Einfluss, militärische oder zivile Machtbeteiligung, Klassenzugehörigkeit) mit gedacht und er wurde zum Beginn des 20. Jahrhunderts v.a. über die berufliche Zugehörigkeit definiert.13 Kleinbetriebe führende Handwerksmeister und Kaufleute bildeten in Gunzenhausen den einen Teil des „Bürgerstandes“. Aus dem „Bildungsbürgertum“ rekrutierte sich der andere Teil. Im „Amtsstädtchen“ wurde bis in die 1970er Jahre die veröffentliche Meinung durch Menschen geprägt, die auf die Real- oder Oberrealschule14 gingen oder als höhere Angestellte/Beamte zugezogen waren.15 Das mahnt auch eine Quellenkritik an, denn die dem Aufsatz zugrunde liegenden Berichte sind selbst schon mehrfach gefilterte, weil den „gebildeten“ Autoren die 12 Vgl. Tabelle 1: Adressbuch 1906 Analyse Praktische Auswirkungen hatte diese Einteilung überall. Die Jahresberichte der Realschule verzeichnen über ein halbes Jahrhundert den „Stand“ der Eltern von Schülern. Bis in die 1960er Jahre achtete man auf „standesgemäße Heirat“ und in den ev. Kirchen setzten sich selbstbewusste Bürgersfrauen ebensolange in ihren „Stand“, d.h. auf einen bestimmten, seit Generationen von den Angehörigen einer Familie besetzten Platz, der vormals sogar mit dem Namen gekennzeichnet war und eine bürgerliche Variante der abgeschlossenen „Fürstensitze“ darstellte. 14 Vorläufer reichen ins Mittelalter zurück. Die „Lateinschule“ wurde 1893 zur „Realschule“ (mit bis zu ¼ jüdischen Schülern) und nach dem Aufbau als Oberrealschule (1957) wurde sie 1965 zum Gymnasium umbenannt, das sich 1968/69 als Landkreiseinrichtung den Namen Simon-Mariums-Gymnasium gab. Vgl. Heimatbuch 1982, 202 f. und W. Pilhofer: Eine Schule hat Jubiläum. In: Alt-Gunzenhausen. 1993, 126-145. 15 Hieraus sich ergebende methodische Fragen werden vernachlässigt zugunsten der Interpretation von Texten der „Bildungsbürger“ und dem Versuch, den Prozess der Entstehung der „öffentlichen Meinung“ in den jeweiligen Zeitabschnitten anhand dafür wichtiger Orte (z.B. Gastwirtschaften) und Personen (z.B. Aufsatzschreiber / Bürgermeister) nachzuvollziehen. 13 3 Absicht zu unterstellen ist, „Leserinnen und Leser“16 von der Richtigkeit der mitgelieferten Interpretationen zu überzeugen. Für die Veröffentlichung im Gunzenhäuser Heimatbote wählten sie „das Wichtigste aus der Geschichte“ aus.17 Strukturell gesehen bildeten sich die Meinung zu den historischen Ereignisse wesentlich durch Gespräche in Gastwirtschaften und Vereinen. In den Zeitungsartikeln wurden dann „scheinobjektivierend“ die Fakten mitgeteilt. Die Mentalität deutete sich daher oft nur in den Auslassungen, eben „zwischen den Zeilen“ der schriftlichen Darstellung an. Wenn z.B. „LeserInnen“ sprachlich/grafisch ausdrückt, dass heute auf Gleichstellung von „man/frau“ geachtet wird, so zeigt dies einen Mentalitätswandel an, der ein Ergebnis der Feminismus- und Gender-Diskussionen des letzten Jahrhunderts darstellt. Als ähnliche Indikatoren des veränderten Denkens kann gelten, dass heute die Bevölkerung sozialwissenschaftlich-empirisch nach ihrer Zugehörigkeit zu Schichten und Milieus aufgegliedert wird und sich eine hohe soziale Mobilität feststellen lässt. Eine weitere Dimension der Mentalität ist mit dem Begriff „Werte“ verbunden. Die Mehrheit der zitierten Zeitzeugen wuchs im lutherisch geprägtem Milieu der Altstadt auf. Dies prägte den bürgerlichen Wertekanon von „Treu und Glauben“, „Sicherheit und Ordnung“, „Handel und Wandel“. Er bestimmte im Alltag, was „sich gehört“ (im Sinne des sich öffentlich Benehmens), was „redlich“ sei (im Sinne von gerecht / richtig), wie im „ganzen Haus“ die Rollen zwischen Mann-Frau-Kindern-Bediensteten verteilt und wie zu arbeiten sind.18 Die konfessionellen Unterschiede wurden zwar betont, prägte aber die Existenz längst nicht so stark wie die ökonomischen Verhältnisse. Die Differenzen zwischen den geistigen Prägungen und materiellen Entwicklungen dürften jene historischen Un-Gleichzeitigkeiten ergeben haben, die auch in der fränkischen Kleinstadt Gunzenhausen festzustellen sind. Während sich die Lebensumstände rapide änderten und die politische Geschichte bis zu acht Systeme unterscheidet,19 blieben die „höheren“ geistigen Orientierungen nahezu stabil. Ihre Modulierungen gilt es zu untersuchen, denn gegenüber der „bürgerlichen Mentalität“ als Autostereotyp des Kleinstädtischen Bürgertums scheinen erst im letzten Jahrhundertdrittel größere Zweifel aufzukommen.20 Am Beispiel eines Volksliedes, das fremdenverkehrspassend seit Beginn des 21. Jahrhunderts im Glockenspiel auf dem Marktplatz von Gunzenhausen ertönt, sei die immer eine Rolle spielende erzieherische Absicht der bürgerlichen Mentalität beschrieben: „Üb’ immer Treu’ und Redlichkeit bis an dein kühles Grab und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab.“ a) Treue wird in dieser „Volksweise“ verstanden als konservatives Festhalten an einmal Gesetztem – meist ohne umfassend und rational zu bedenken, wie Traditionen zustande kamen. So können Freundschaften als „in Treue fest“ produktiv und notwendig als gelungene zwischenmenschliche Kommunikation definiert werden. Aber „treu im Glauben“ wurde im 20. Jahrhundert als religiöse Forderung auch in die Nähe des weltanschaulichen Bekenntnisses von „unsere Ehre heißt Treue“ gerückt. Obgleich Postulat sollte dieser Wert a-historisch und unabhängig von materiellen Bedingungen verinnerlicht werden und handlungsbestimmend sein. Im gesamten Aufsatz stellt sich das Problem einer „geschlechtergerechten Sprache“. Da in fast allen zitierten Quellen kein „Genderbewusstsein“ vorhanden sein kann, Frauen als Akteure kaum vorkommen und ein männlicher Sprachduktus selbstverständlich ist, versuche ich ab und zu dem heute selbstverständlichen Gleichbehandlungsgebot von Frauen und Männern nachzukommen. Daher verwende ich das „Binnen-I“. 17 Erklärung der Herausgeber in der ersten Ausgabe nach dem 2. Weltkrieg 1949. 18 Vgl. Münch, P. (Hg.): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. München 1984 19 Kaiserreich; Kriegsdiktatur; Demokratie; Präsentialsystem; Faschismus; Besatzungsregime; Alt-BRD, BRD. 20 Vgl. Steffen, H. (Hg.): Die Gesellschaft der BRD. Analysen. Göttingen 1970. Die „Schell-Studien“ zur Selbsteinschätzung der Jugend bewirkten nicht nur eine politische Diskussion, sondern belegten auch den reduzierten Einfluss bürgerlicher Wertvorstellungen in Westdeutschland nach 1980. 16 4 b) Redlichkeit gilt als bürgerliche Tugend, die mit Gerechtigkeit gegenüber den Mitbürgern und Strebsamkeit für das eigene und allgemeine Wohl verbunden wurde. Sie verkürzt den kategorischen Imperativ von Kant zur Formel „lebe so, dass dein Handeln allgemeines Gesetz sein könnte“ – und schließt damit die im Alltag (nötig und unnötig) praktizierten Relativierungen aus. Bürgerliche Mentalität benutz Redlichkeit als moralischen Appell und beurteilt das Tun jedes Menschen danach, ohne (viel/systematisch) nach den jeweiligen Motiven zu fragen. c) Gottes Wege seien haargenau einzuhalten – ein Grund, Kinder zur „Sittsamkeit“ zu disziplinieren. Dann werde man sich nach einem geglückten Leben in der Kühle des Grabes (entgegen der heißlaufenden Welt) erholen können. Diese Replik auf einen Kinderglauben, legt eine „anständige“ Daseinsgestaltung nahe ohne darauf hinzuweisen, wer die realen Wege vorschreibt zu begehen. So bleibt unerwähnt, dass andere Zustände hergestellt werden könnten. Mentalitätsgeschichte soll hier auch anhand des Alltags beschrieben werden. Individuell sind dabei die je subjektiven Verhältnissen entscheidend, kollektiv müssen die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen und die Katastrophen des Jahrhunderts beachtet werden. So bewirkten die technischen Erfindungen eine langsame Umstellung der Produktionsbedingungen. Hausarbeit wurde durch Elektrogeräte und Gasherde verändert, ganze Handwerkszweige starben aus und die Landwirtschaft wurde (erst nach dem zweiten Weltkrieg) mechanisiert. Die Infrastruktur Gunzenhausens verbesserte sich einschneidend erst mit den Industrieansiedlungen nach 1955. Die Dynamik der Handelsketten verdrängte erst in den 1980er Jahren die kleinen Geschäfte. Auf den Weiterbildungsbedarf aufgrund der Digitalisierung reagierte z.B. die Volkshochschule21 ab den späten 1980er Jahren. Den kleinstädtischen Alltag prägten auch die kleinen und großen Katastrophen. Wilhelm Lux beschrieb die Feuerwehreinsätze bis 1918, weniger den Zusammenbruch der Weltsicht des Kaiserreichs in diesen Jahren. Die Inflation 1923 brachte eine Enteignung des Bürgertums, aber kein Heimathistoriker beschäftigte sich intensiver damit. Die Weltwirtschaftskrise war ab 1930 Ausgangspunkt autoritärer und faschistischer Gesellschaftsorganisation, aber ihre ökonomischen Ursachen wurden in der Heimatgeschichtsschreibung nicht genannt. Arbeitslosigkeit scheint als von außen hereinbrechendes Schicksal wahrgenommen worden zu sein. Beschrieben wurden lokale rechtsradikale Aktionen als Vorläufer des Nationalsozialismus, aber nicht als Gefahr für die Demokratie. Nicht untypisch für die Bürger schrieb Wilhelm Lux erst im höherem Alter über den Zweiten Weltkrieg, der auf den damaligen Alltag durchaus katastrophale Auswirkungen hatte. Manche Hinweise, in Gunzenhausen seien Veränderungen „wie überall üblich“ eingetreten, verwischen nahezu die realen Ereignisse der Lokalgeschichte, wie z.B. die Reformbemühungen nach der Konstituierung zweier deutscher Staaten 1949, die Auswirkungen des Kalten Kriegs, die Krisen der Alt-BRD, des Anschlusses der DDR und der „new economy“ in den 1990er Jahren. Heimatgeschichtsschreibung weiß sich zwar von den „großen Ereignisse“ mit bestimmt, erzeugt aber systematisch Kontinuitätslinien, wenn sie lokale Ereignisse nicht auch als Reflex auf gesellschaftlichen Wandel versteht. Mentalitätsgeschichte versucht zu erklären, wie und warum sich die Entwicklungen sozusagen „hinter dem Rücken der Bürger“ vollzogen. Die „Bürger“ selbst empfanden sich meist als Gedrängte der „großen“ Geschichte und „bescheiden“ Mitwirkende an den lokalen Entwicklungen. Im negativen Sinn kann ein „spießbürgerliches Bewusstsein“ unterstellt werden, wo sich die Begrenzung auf den Kirchturmhorizont oder die ausschließliche Orientierung an persönlichen Schicksalen zeigte. Belege hierfür z.B. bei der Etablierung des Nationalsozialismus: Als sich 1933 im „Kampf gegen Handelsgroßunternehmen“ (das die Parteiaktion) Kaufleute die Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte unterstützten, war dies Ausdruck der ökonomischen Konkurrenz und des 21 Vgl. Fischer/Herrmann: 50 Jahre Erwachsenenbildung in Gunzenhausen. Gunzenhausen 1999. 5 kleinbürgerlichen Antisemitismus. Dass sich zwei Beamte des Bezirksamts versetzen ließen, kann als eine Widerstandsform und als Protest gegen das Spießbürgertum verstanden werden.22 Im positiven Sinn kann den Aktiv-Bürgern ein „bürgerschaftliches Engagement“ bescheinigt werden. Gezielt wurde auf die Lokalgeschichte eingewirkt. Bewusst wurde durch Vergangenheitsbeschwörung bei den regen Vereinsaktivitäten eine kleinstädtische Identität aufgebaut und gestärkt, die zum Wohlbefinden der Menschen beitrug. Das Image der Stadt sollte durch relativ breite Lokalgeschichtsschreibung verbessert werden. Geschichte einer Kleinstadt zu schreiben bedeutete und bedeutet bis heute eben auch, die Ereignisse nach mehr oder weniger bewusstem und meist unzureichend mitgeteilten Ideen/Konzepten zu erzählen. Die unvermeidlich damit verknüpften Interpretationen entstehen aus dem Zusammenspiel verschiedener Motive, Einflüsse und Rahmenbedingungen. So soll in diesem Aufsatz mentalitätsgeschichtlich aufgezeigt werden, wie auf die (durch andere Dynamiken geprägten) sozialen Veränderungen in Gunzenhausen reagiert wurde. Wissensstrategisch werden sozialpsychologische Elemente mit bedacht und von einem kollektiven Bewusstsein ausgegangen. Ein Bespiel zeigt der Spruch: „Geld regiert die Welt“. Er war eine typische Erklärung des historischen Prozesses durch das handwerklichhändlerische Bürgertum. Mit der Interpretation wird die oft angewandte Methode angewandt, dass zu Sprichwörtern gleich die bürgerlichen Verhaltensleitbilder verdeutlicht wurden. Die Rede vom Geld, das entgegen der Aussagen von jeweiliger Politik in Wahrheit regiere, demaskiert die ideologisierten Werte. Selbst wo sie als göttlich verkündet und menschlich sinnvoll angesehen wurden, widersprach ihnen die Wirklichkeit allzu oft so sehr, dass (bildungsbürgerlich mit Goethe ausgedrückt) als Motiv „zum Golde drängt“ erkannt wurde. Der Materialismus setze sich durch und Einfluss hätten jene, die Geld haben. Und dieses Prinzip gelte für die „Welt“, geografisch verstanden als ganze Erde; geistig sind damit alle weltlichen Sachen und Gedanken gemeint. Dieses Verständnis enthält eine Mystifizierung und definiert Ereignisse als wenig beeinflussbar: trotz der Änderungen in den sozialen / politischen / ökonomischen Systemen ändere sich nichts an der Geldabhängigkeit jedes Menschen und jeder Gesellschaft. Aus diesem Gedanken und dem damit verbundenen Ohnmachtgefühlen dürfte die Haltung von „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ entstanden sein – mentalitätsgeschichtlich selbst ein Beleg für die Un-Gleichzeitigkeiten. Diese Forderung stammt aus dem Absolutismus, also (biblisch gesprochen) bis ins 3. und 4. Glied zurück reichend, und nötigt zu einem passiven Hinnehmen der staatlich verordneten Entscheidungen. Wenn etwas „von oben“ befohlen wurde, nahm bürgerliche Mentalität dies wahr, als sei es mit christlichem Segen versehen. Luthers Bibelübersetzung lieferte dazu die Formel: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist.“ Auch die folgende lokalgeschichtliche Darstellung wird von der These bestimmt, dass sich Mentalitäten nicht im selben Rhythmus ändern wie die politischen und sozialen Verhältnisse. Unterschieden werden verschiedene Abschnitte des 20. Jahrhunderts. Dies kann eine Tabelle verdeutlichen. In der politischen Geschichte dominieren historische Fakten, in der Mentalitätsgeschichte sind Haltungen benennbar und für die Lokalgeschichte können Hauptaspekte in den Mittelpunkt gestellt werden. Politische Geschichte 1900 – 1918: Kaiserreich Lokalgeschichte lobpreisen des kleinstädtischen Bürgertums Mentalitätsgeschichte festhalten an „Altdeutschem“ Lux, W.: Der Nationalsozialismus in Gunzenhausen – lokalgeschichtlich gesehen. In: Alt-Gunzenhausen. 1987, 28 + 31. 22 6 10-15 Jahre Demokratieversuch 1930 – 1950 radikal - autoritäre Lösungen 1949 – 1990: Alt-Bundesrepublik Deutschland 10 Jahre Neudeutschland bewahren vergangener Verhältnisse gewaltgestütztes ausgrenzen von NichtDeutschem nachholende Industrieansiedlung entwickeln zur Fremdenverkehrsregion „Heimat“ „Volksgemeinschaft“ fortsetzen und verdrängen funktionale Neugestaltung Würden die einzelnen Tabellenfelder ausführlicher beschrieben, entstünde ein Bild des 20. Jahrhunderts, das Menschen und Ereignisse in ihren gegenseitigen Verknüpfungen darstellt. Jedoch kann dieser Aufsatz wegen seiner Produktionsbedingungen nur Exemplarisches erzählen. So ist es sinnvoll und plausibel davon auszugehen, dass die strukturellen Elemente bürgerlicher Mentalität während des ganzen 20. Jahrhunderts vorhanden waren und immer (mit-)wirken. Sie prägten Kontinuitäten aus, die wiederum Selbstverständnis und Weltsicht der Bürger stabilisierten. Grundsätzlich ist dies auch nötig, denn jeder Mensch braucht Erklärungsmodelle. Er muss sich gedanklich und praktisch zu Ereignissen verhalten, sich im Kommunikationsprozess mit anderen eine Meinung bilden und sich in diese historische Entwicklung einbringen – so wird er zum Gestalter seiner und der Geschichte, statt sie im „Knechtsbewusstsein“23 erdulden zu müssen. Dieser Aufsatz versucht vor allem aber nicht nur, über Zusammenhänge im jüngst abgeschlossenen Jahrhundert aufzuklären. Nachdenken über Vergangenheit kann so auch handlungsanleitend für die Gegenwart werden und bei einer reflektierten und aktiven Mitgestaltung der heutigen Zustände im Sinne eines menschenwürdigen Da-Seins und einer nachhaltigen Zukunftssicherung der lokalen wie globalen Lebensmöglichkeiten helfen. Dieses Motiv ähnelt dem des Wilhelm Lux. Zeitgemäß und religiös untermauert, arbeitete er Gunzenhäuser Vergangenheit auf, was ihm Nutzen brachte und den Bürgern für die Zukunft helfen sollte: „Gebe ein gnädiger Gott, dass nach den Bedrängnissen unserer Gegenwart wieder friedliche, glückhafte und von einer Harmonie der Völker erfüllte Zeiten kommen.“24 2. Bis zum Ende des Kaiserreichs Gunzenhausen hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „immer mehr zum zentralen Ort des mittleren Altmühltales“25 entwickelt. Für den ersten Abschnitt des 20. Jahrhunderts ist zunächst die Fortsetzung dieses Aufstiegs und dann die Katastrophe des 1. Weltkriegs festzuhalten. Die damals geborenen Menschen sind als letzte Generation in der Atmosphäre jenes „deutschen Wesens“ aufgewachsen, an welchen laut kaiserlichem Diktum die Welt genesen sollte. Seit der Reichsgründung 1871 war die Einwohnerzahl um rund 1000, das entsprach fast einem Drittel, auf 4300 zur Jahrhundertwende angestiegen. Die gesamtstaatliche „Aufwärtsentwicklung“ übertrug sich auf die Kleinstadt, auch weil gute Voraussetzungen bestanden. Gunzenhausen war Verkehrsknotenpunkt geworden, da sich die Eisenbahnlinie Donauwörth-Nördlingen-Nürnberg (1849 eröffnet) und die zwischen Ansbach und Ingoldstadt (1859 eröffnet) im oberen Altmühltal kreuzten. Die fast 50-jähringen Bemühungen um einen Eisenbahnanschluss des Hahnenkamms führten hingegen nicht zum Erfolg. Mit der deutschen Einigung im „Kaiserreich“ wurde der 23 Mit diesem Begriff von Ernst Bloch, dem humanitären marxistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts mit seinem „Prinzip Hoffnung“, kann eine Wirkung der bürgerlichen Mentalität beschrieben werden. 24 Dankesrede für den Verdienstorden der Stadt 1981, zit. im Altmühlboten 25 Heimatbuch 1982, 109 7 Charakter Gunzenhausens als Amtsstadt gestärkt. Post und Telegrafenamt wurden eingerichtet und das „Bezirkskommando“ angesiedelt. Letzteres war bis 1945 zuständig für die militärischen Planungen der nordbayerischen Region zwischen Nürnberg und der Grenze zu Württemberg. Der Bevölkerungszuwachs führte zum Ausbau der Infrastruktur. Mit der Stadterweiterung wurden 1912 auch Straßennamen und neue Hausnummern eingeführt. Gas- und Elektrizität hielten Einzug in den Haushalten. Die Juden,26 die 1900 noch einen Anteil von 6,25 % aller Einwohner stellten, legten 1875 einen neuen Friedhof an und bauten sich 1883 eine neue Synagoge sowie ein Schulhaus. Beides konnte nur bis zur Reichspogromnacht 1938 genutzt werden. Die Analyse des 1906 entstandenen, ersten Adressbuchs von Gunzenhausen ermöglicht eine Einsicht in die Sozialstruktur, denn alle Namen sind mit der Berufsbezeichnung des Haushaltsvorstands versehen. Am häufigsten kommt der Begriff „...meister“ vor. Als Mentalitätselement interpretiert verweist das auf eine hohe Identität der so sich bezeichnenden Menschen mit dem traditionellen Bürgertum – egal ob sie nur angestellt waren oder selbst einen eigenen Betrieb besaßen. Als Aspekt der bürgerlichen Mentalität bezog sich „Meister“ nicht nur auf alte Zunftordnungen, sondern schloss hart erarbeiteten beruflichen Aufstieg ein. Z.B. gab es bei der Eisenbahn „Stations- und Oberstationsmeister“. Ähnliches gilt für die als „Kaufmann“ verzeichneten Einwohner von 1906. Sie dürften Eigentümer oder deutsche Angestellte von Kleinhandelsgeschäften mit deutsch-nationaler Überzeugung und bürgerlichen Tugenden gewesen sein, denn die jüdischen Kleinhändler wurden eigens als „Handelsmänner“ benannt.27 Überhöht wurde der Beruf „deutscher Kaufmann“ dann dreißig Jahre später in den „Berufskundlichen Mitteilungen für höhere Schulen“, wo dann die Bank- und Versicherungskaufmann eingeschlossen waren: „Der deutsche Kaufmann (habe) von den Zeiten der Hansa an bis auf den heutigen Tag“ so große Leistungen vollbracht, dass Kaufmann ein Ehrentitel mit Verpflichtungen sei. Um die Anzahl der Haushalte mit vermuteter „bürgerlichen Mentalität“ im Adressbuch von 1906 zu ermitteln, wurden anhand der Berufsbezeichnungen drei Kategorien gebildet. Dies ist zulässig, da öffentlich der „Stand“ des Haushaltsvorstands bekannt gegeben wurde und sich von 1021 Haushalten 10 % mit „...meister“ bezeichneten. a) Zur Gruppe „gut bürgerlich“ wurden die Handwerks- /Betriebsmeister und Kaufleute gezählt, die den Kern des Bürgertums der Kleinstadt bildeten. Zu beachten ist allerdings, dass noch keine schulische Qualifikation verbindlich vorgeschrieben waren, sondern die Innungen den Berufsweg bestimmten. Dieser Gruppe wurden ebenfalls Angehörige des 26 Bezüglich der Begrifflichkeit ist besondere Vorsicht angezeigt. Staatsrechtlich waren alle Juden Deutsche. Die behördliche, z. B. im Einwohnermeldeamt und den Statistiken angewandte Bezeichnungen „israelitisch“ oder „mosaisch“ differenzierte nach religiöser Zugehörigkeit. Das aber unterstellt eine Überzeugung oder Praxis, die für keine Religionsgemeinschaft seit der Säkularisierung und Judenemanzipation mehr allgemein zutreffend war. Die „Deutschen“ grenzten sich von „Juden“ oftmals bewusst ab, während diese in ihrem Selbstverständnis „gute Deutsche“ waren. Die „bürgerliche Mentalität“ prägte im 19. Jahrhundert ein biologisches Feindbild von „Juden“ aus, das jahrhundertelang geübte Diskriminierungen fortsetzte. In Kombination mit sozialdarwinistischen Interpretationen gesellschaftlicher Entwicklungen konnten, systemanalytisch gesehen, „Bürger“ keine Argumente gegen den Antisemitismus und den nationalsozialistischen Rassismus entwickeln. Letzterer führte zum Holocaust / der Shoa. Für heutige Darlegungen verkompliziert sich dies noch durch die Staatsphilosophie Israels (bes. nach 1967). So lässt sich über die früheren Identitäten und ihre Folgen trefflich streiten - pragmatisch benutze ich den Begriff „Juden“ (v.a. im historisch-ethnischen Sinn), weil er am plastischsten die Realität abbildet. 27 Dieser Begriff verweist auf die meist sehr armen Wanderjuden, die seit Jahrhunderten durch Süddeutschland zogen und für deren vorübergehende Unterkunft die jüdische Gemeinde in Gunzenhausen sorgte. Im Adressbuch 1906 findet sich nur ein Handelsmann mit deutschem Namen. Dort sind aber auch 10 Kaufleute mit jüdischen Namen aufgeführt. 8 „Bildungsbürgertums“ zugerechnet, weil sie sich als Beamte oder Angestellte in einem „höherem Stand“ gegenüber Arbeitern sahen. Ein von Wilhelm Lux zitiertes Lob für sie lautet: „zuverlässiger und pflichtgetreuer Beamter von altem Schrot und Korn.“ 28 Mentalitätsbezogen sind auch jene Menschen dem „Bürgerstand“ der Kleinstadt zuzuordnen, die einfachere Arbeiten in Behörden oder bei Banken, Versicherungen und Kanzleien zu erledigen hatten, wenn von ihnen eine deutliche staatstragende Einstellung erwartet wurde. b) Dem „Arbeiterstand“ wurden die klassischen Handwerksberufe (Maurer, Schreiner, Schuster usw.) und die Bahn- und Fabrikarbeiter zugeordnet. Auch die hierarchisch unter ihnen stehenden Tagelöhner, „Expeditoren“ und Knechte sind hier eingerechnet. Ihre Mentalität dürfte sich deutlich vom „besitzenden Bürgertum“ unterschieden haben. c) Als „weitere“ Standeszugehörigkeiten finden sich viele „Privatiere“ (weiblich) und „Privatier“ (männlich), d.h. alte Menschen, die von ihren Rücklagen oder ihrer Pension lebten. Dann wurden hier die „Ökonomen“, d.h. Besitzer landwirtschaftlicher Betriebe, eingerechnet. Schließlich kamen noch einige exklusive Berufe in diese Kategorie. Diese Auszählung nach a), b) und c)29 ergibt für 1906 mit 456 eine Mehrheit der Haushalte im „Bürgerstand“ gegenüber 419 Haushalten im „Arbeiterstand“. Bedenkt man, dass von den 149 „weiteren“ noch relativ viele zum „Bürgertum“ geneigt haben dürften, so deutet das Adressbuch von 1906 auf eine 60%-Mehrheit von Haushalten mit „bürgerlicher Mentalität“ hin. Die 1021 aufgeführten Namen repräsentieren die Haushaltsvorstände (nur etwa 50 mal „...witwe“), denn in der mittelfränkischen Kleinstadt Gunzenhausen wohnten damals knapp 5000 Menschen. Für die bürgerliche Mentalität scheint bedeutend, dass sich am Jahrhundertanfang das Bürgertum „unter“ dem Adel, aber „über“ dem „gemeinen Volk“ wähnte. Der in der Romantik entwickelte Volksbegriff war eine Reaktion auf das Standesbewusstsein der „höheren Schichten“ und auf die nationalstaatliche Entwicklung. In der hierarchischen Gliederung wurden als untere Stufen die „Bauern“, „Arbeiter“, „Hauswirtschaftsangehörigen“, „armen Leute“ und weitere „niedrigste Volksklassen“ (Tagelöhner, Knechte, Landstreicher) gedacht.30 Ausdruck des „Bürgerstolzes“ waren die Häuser, herausragend das 1911 errichtete Anwesen des Tuchhändlers Wucherer am unteren Markplatz mit neubarockem Giebelbau.31 Für die Entwicklung von Werten und Haltungen eines Menschen können drei wesentliche Quellen angenommen werden. Neben dem Einfluss der familiären Lebensbedingungen und Erziehungsmethoden sind die schulischen Erfahrungen und vor allem die Beispiele von Menschen im ähnlichen Alter prägend. Auf Kinder des Bürgertums wirkten alle diese 28 W. Lux nutzt diesen Ausdruck im Lebensbild des Oberinspektors im Landratsamt Hans Werner (1865-1950), Alt-Gunzenhausen 1979, 201f. 29 Vgl. Anlage 1: Auszählung Adressbuch 1906. Ein anderes Problemfeld wäre eine „Klassenanalyse“ nach rein ökonomischen Gesichtspunkten, wozu das Steueraufkommen herangezogen werden könnte. 30 Dieses Bewusstsein spiegelt sich in der 1899 veröffentlichten „Chronik der Stadt Gunzenhausen“ des Pfarrers Karl Stark. Zum Volksbegriff vgl. G. Fischer: Grenzen und Wirkung der personalen Interpretation von Volk und Volksbildung.“ In: Schepp u.a.: Zum Demokratieverständnis der „Neuen Richtung“. Päd. Arbeitsstelle DVV. Frankfurt 1988, 29-38. Exemplarisch für Stark’s Volksbegriff seine Notizen zum dreitägigen Volksaufstand vom März 1984. Vgl. G. Fischer: Abendliche Störung der öffentlichen Ruhe vor 150 Jahren. In: Alt-Gunzenhausen. 1998, 147-153. W. Lux beurteilte die Vorgänge von 1848 im Portrait des Bürgermeisters J.L. Hensolt, der nach dem Aufstand der Eisenbahnarbeiter und ‚niedrigsten Volksklassen’ die bürgerliche Ordnung wieder herstellte, als „tolle Tage“. 31 Alt- und Neubau im Bildvergleich siehe Mühlhäußer, W. (Hg.): Gunzenhausen einst und jetzt. Gunzenhausen 1990, 29. 9 Elemente in die gleiche Richtung, denn die am Beginn des 20. Jahrhunderts Geborene wuchsen in Gunzenhausen im geistigem Klima des Luthertums auf.32 Wilhelm Lux schrieb viele „Lebensbilder“ und „Portraits“ bedeutender Gunzenhäuser Bürger, um den später Geborenen vorbildhafte Menschen aus der Lokalgeschichte nahe zu bringen. Vier Beispiele deuten an, von welchen Menschen er selbst mit geprägt wurde. Pfarrer Karl Haußleiter (1853-1920) wurde 1910 Dekan in Gunzenhausen, sei „vorzüglicher Kanzelredner“ gewesen und habe das, neben den Lutherschen Katechismus, verbreitete „Leitbuch im Präparanden- und Konfirmandenunterricht“ geschrieben. Für seine Verdienste 33 wurde er zum Kirchenrat ernannt. „Der alte Haußleiter“ war für die Jugendlichen des Altstadt Sprengels, u.a. für Wilhelm Lux ein Eindruck in ihrer Pubertät. Den katholischen Stadtpfarrer Peter Landwirt (1863-1934) habe „Menschenfreundlichkeit, christliche Milde und Toleranz sowie unermüdliche Arbeitskraft“ ausgezeichnet und seine Leistungen für Kirche, Kindergarten und Krankenpflege trugen dazu bei, ihn in „bester Erinnerung“ zu behalten.34 Bürgerliche Mentalität kann in dieser Beschreibung auch darum vermutet werden, weil Wilhelm Lux seine Eindrücke und Quellenrecherchen als allgemeine Meinung postuliert. Als autodidaktisch gebildeter Historiker nutzte er auch die eigenen Erinnerungen – er hatte Peter Landwirt selbst als Lehrer der Realschule mit „menschlich gewinnender Art und tief fundiertem Wissen“ erlebt. Friedrich Bierlein (1850 – 1921) habe sich als Hauptlehrer und Kantor „größter Wertschätzung erfreut“. Wilhelm Lux zitierte aus dem Nachruf im Altmühlboten (6.10.1921): „Treue, Fleiß und Gewissenhaftigkeit in seinem Beruf“ und das Eintreten für „Recht und hohe Ideale“ des „charakterfesten trefflichen Mannes“ würden eine „Lücke im gesellschaftlichen Leben“ entstehen lassen, „die nicht mehr ausgefüllt werden kann.“ Besonders sein Engagement als Chorleiter, im Verschönerungsverein und den Obstbauverein seien Vorbildlich gewesen. Wilhelm Lux wurde selbst begeisterter Sänger. In ähnlicher Weise stellen die „Lebensbilder“ der Lehrer Friedrich Gundlach (18671940) und Karl Guthmann (1873-1944)35 deren positiven erzieherischen Einfluss auf die Schüler heraus – ohne auf die damals üblichen Züchtigungsmethoden hinzuweisen. Diese sind assoziierbar, wenn erwähnt wird, dass Gundlach „bei seinen Schülern auf eine schöne Handschrift“ besonderen Wert legte und Guthmann Leiter des Wehrkraftvereins war. Von der „harten Hand“ der „guten Lehrer“ erzählte die Bürgerstocher Babette Fischer 36 noch im hohen Alter: „Die Schläge haben uns nicht geschadet.“ Die Verflechtung der Erziehungsziele verdeutlicht eine Schönschreibübung von 1912. Die „gestochene Schrift“ zeigt den Übungserfolg, der Text nahm die Lebensumstände der Schülerin auf, denn ein Lehrer wohnte im Storchenturm, der ihrem Vater gehörte. Vor diesem war vom Großvater bei der Kultivierung des Stadtgrabens eine Linde gepflanzt worden – keine „deutsche“ Eiche, denn die Lindenblüten ergaben die nächsten 100 Jahre lang gesunden Tee. Der Baum, als erzählendes Subjekt des Textes, verkündet „fest verwurzelte“ Verhältnisse und Moral: In der Hierarchie von Gott – Herr – Vater – Frau - Sohn wie erwartet „heranwachsen“, nützlich sein und Soldat fürs Vaterland werden. Bilder: Familie, Hefttitel, Textbeispiel einfügen Beispiel: Schönschreibübung von Babette Fischer (1902 – 1987) in der 5. Klasse 1912: 32 Der Anteil katholisch Gläubiger unter den 4300 Einwohnern vom Jahr 1900 betrug 16 %, der Anteil israelischen Glaubens betrug 6 %. Bis zum Zweiten Weltkrieg blieb die konfessionelle Verteilung nahezu gleich, jedoch ging der Anteil der Juden stetig zurück und 1941 war die Stadt „judenfrei“ geräumt. 33 Dass es nicht nur solche gab, sondern auch heftige Auseinandersetzungen, belegt die Popularität von Ernestine Reichel. Siehe S. 16, Anm. 51. 34 GHB 31/1962, 121 f. 35 Diese drei Lehrer sind in AG 1979 beschrieben 36 Tochter des Gastwirts und Metzgermeisters der „Storchenwirtschaft“, wo von 1911-1914 der Volksschullehrer Bernhard Pfeiffer (1850-1921), seit 1874 in Gunzenhausen tätig, wohnte. Ihre Vorstellungen waren auch seinem Einfluss verpflichtet. W. Lux schilderte ihn mit „stark konservativen Einstellungen allen Lebensumständen gegenüber“. Vgl. Gunzenhäuser Heimatbote. 1957, 42 f.. 10 Das betont lutherische Glaubensverständnis passte genau zur obrigkeitsstaatlichen Tradition, weil es die väterliche/elterliche Autorität und die vaterländische Gesinnung schon für frühkindliche Erziehung zum Maßstab machte. Dies zeigen zwei Gedichte aus dem „Gottbüchlein“,37 das bis in die 1950er Jahre im Umlauf war. „Der Vater winkt, / gehorch auf der Stell! / Die Mutter ruft, / komm, hilf du ihr schnell! / Sie sorgen für dich, / drum höre und lern / und hab sie lieb / und folg ihnen gern!“ „Allmächtiger! In deinem Segen / liegt unser liebes deutsche Land, / und seine Sonne und sein Regen / kommt ihm von deiner Vaterhand. // Sei du mit denen, die uns führen, / gib Fried und Freude jedem Stand, / laß fleißig uns die Hände rühren / für’s liebe deutsche Vaterland!“ Dies wurde Kindern „eingebleut“: „Es war noch die Zeit, in welcher der Stock als unentbehrliches Erziehungsmittel galt.“ Ein menschenfreundlicher Lehrer zeichnete sich schon durch seltenere Anwendung desselben und dadurch aus, dass „er mit väterlicher Güte seinen Schülern entgegen kam.“38 Immerhin schrieb Wilhelm Lux auch über „Vertreter des fortschrittlichen Teils des Gunzenhäuser Bürgertums“. Georg Josef Geil (1866 – 1940) habe „namentlich im gesellschaftlichen Leben der Stadt eine große Rolle“ gespielt. Dieser Augsburger Kaufmann war seit den 1880er Jahren bis 1906 bei der Firma Faulstich angestellt, lernte dabei seine Frau kennen (ein Sohn von ihnen wurde Schriftsteller) und übte „manche Kritik (an) Gunzenhäuser Verhältnissen und Begebenheiten.“39 Allein, dass Wilhelm Lux ihn mit einem Portrait als „Gunzenhäuser“ eingemeindet, wo er nur ein Drittel seines Lebens in der Kleinstadt verbrachte (vorher und nachher lebte er in Augsburg), zeigt den Stellenwert, den liberale Bürger um 1900 tatsächlich hatten. Die Bedeutung der christlichen Erziehung war am Jahrhundertanfang noch sehr hoch. Erst langsam verstärkte sich der staatliche Einfluss auf die konfessionelle Volksschule über Lehrerausbildung und Lehrplanvorschriften. Die vierjährige Einheitsschule wurde nach 1920 verbindlich und blieb lange umstritten. Auch bedurfte es nach dem Zweiten Weltkrieg einer Bürgerinitiative, um Konfessionsschulen zu verhindern. In die Gunzenhäuser Volksschule am unteren Marktplatz gingen zwar alle Schüler schon durch den selben Eingang, aber es gab eine katholische Klasse und getrenntgeschlechtlichen Unterricht. Strenge Erziehung mit erklärtem Ziel, dem (niederen) Volk Grundbildung für berufliche und staatliche Eingliederung zu bieten, war selbstverständlich. Als der Kaiser noch als „gottgewollt“ dargestellt wurde, waren die Geschlechterrollen selbstverständlich fixiert. Das rituelle Auswendiglernen des Gedichts „Die Glocke“ von Friedrich Schiller sollte Haltungen eintrichtern: der Mann muss hinaus ins feindliche Leben – im Haus „waltet“ die züchtige Hausfrau. Die intensiv betriebene Tabuisierung von Sexualität führte zu Elementen einer „gespaltenen Persönlichkeit“. Allzuoft reagierten Menschen aggressiv (den Männern erlaubt) oder hysterisch (den Frauen vorgeworfen). Als einziger Ausweg bei Seelennöte galt die Beichte. Nur mit Hilfe der sich damals entwickelnden Psychoanalyse sind einige Dynamiken zu erklären, die das Mann-FrauVerhältnis im privaten und öffentlichen Leben (auch) der Kleinstadt bestimmten. An chronologisch zu verzeichneten Ereignissen begann das 20. Jahrhundert mit der Einweihung des Bismarckdenkmals und dem Umzug des Bezirkskommandos in ein neues Haus. Beides lässt sich in den Ausführungen von Wilhelm Lux als Ausdruck der kulturellen und militärischen Grundhaltungen lesen, die er mit Hinweisen auf die sozialen und wirtschaftlichen ergänzt. Der evangelische Handwerker- und Arbeiterverein gründete einen 37 Veit, E.: Gottbüchlein. München 1946 (zit. 8. Aufl. 1953, S. 5, 143) W. Sperl: Christian Hensolt. In: Gunzenhäuser Heimatbote. 1950, 40. Beide Zitate beziehen sich zwar auf Christian Hensolt (1818-1867) umschreiben aber auch treffend die (mindestens) bis zum 1. Weltkrieg praktizierte Erziehung. Dass ganze Sippen als vorbildhaft gelten, zeigt das Portrait von W. Lux zum umstrittenen zweimaligen Bürgermeister Johann Leonhard Hensolt (1816-1867) im Gunzenhäuser Heimatboten. 1953, 143f.. 39 W. Lux in Gunzenhäuser Heimatbote, 1954, 193 f. 38 11 „Lehrlingshort“ (ihre schulische Ausbildung war am Sonntagnachmittag, aber erst ab 1906 für „Knaben“ verpflichtend – dafür organisierte die Kirche bis 1914 Zusammenkünfte im Gasthaus „Zur Traube“ in der Rathausstraße). Dem städtischen Gaswerk wurde ein Elektrizitätswerk angegliedert (bis 1909 war nahezu die gesamte Altstadt am elektrischen Netz angeschlossen), eine Hochdruckwasserleitung wurde verlegt und ein Schlachthof gebaut. Solcherlei Fortschritt traf immer dann auf einen gewissen Widerstand, wenn die hausbesitzenden Bürger zu Gebühren herangezogen wurden. Das nötige Finanzkapital stellten die zwei (ein deutsches, ein jüdisches) Bankgeschäfte zur Verfügung, der Wunsch nach einer Reichsbanknebenstelle konnte nicht realisiert werden. Neben der Tugend Sparsamkeit spiegeln sich in diesen Umständen auch die mentalen Vorbehalte gegen zu hohe Risiken. Größere Investitionen in neue Betriebe, wie die Malz-, Landmaschinen- und Wurstfabrik, wurden immer von Zugezogenen getätigt. Als Früchte dieser „glücklichen und unbeschwerten Friedensjahren“ können auch die Gründung der „Hensoltshöhe“ (1903) und die Zunahme an sportlichen Aktivitäten (Turnerbund Jahn, Wintersportverein, Radfahrer- und Fußballclub) angesehen werden. Neben den jährlich stattfindenden Festen galten dem Bürgertum die Theateraufführungen und neue Tänze am Fasching im Saal des „Fränkischen Hofs“ als gesellschaftliche Ereignisse. Für lokale Aufregung sorgten das erste Auto, die Überflüge von Zeppelin und Flugzeugen und das erste Kino40. Die erste im 20. Jahrhundert sozialisierte Generation war im Schul- oder Jugendalter als „der erste Weltkrieg ausbrach“. Bis heute üblich sind Formulierungen wie „er platzte mitten in die friedliche Tätigkeit hinein“, „er erzeugte einen rauschhaften Zustand“, „Deutschland sei hineingerissen worden“. Darin zeigt sich das Unvermögen der „bürgerliche Mentalität“, Triebkräfte, Ursachen und Wirkungen der nationalstaatlichen Politik zu erkennen. Was in der Kleinstadt während des Ersten Weltkriegs geschah, beschrieb Wilhelm Lux im „Gunzenhauser Heimat-Boten“ 1937/1938 ausführlich, im Heimatbuch 1982 fasste er sich am „Abend des Lebens“ relativ kurz und vermied deutlich Wertungen. Dies auch ein Exemplarbeispiel für die bürgerlichen Haltungen und das je zeitgebundene Verständnis von Ereignissen. Im Sommer 1914 fühlten sich, so Wilhelm Lux, die meisten Menschen als Teil einer deutschösterreichischen „Schicksalsgemeinschaft“. Die ausgelöste Begeisterung habe keine der folgenden Schrecken ahnen lassen. „Kinder einer anderen Zeit“ könnten dies nicht nachvollziehen. Er zitierte literarische Urteile und notierte lokale Ereignisse – das entspricht genau dem Umgang seiner Generation mit jenen „unauslöschlichen Erlebnissen“, die lebenslang „deutlich vor Augen“ blieben. Bei der Mobilmachung Ende Juli 1914 richtete der Stadtmagistrat einen extra Wachdienst für die Bahn- und Telegraphenanlagen ein – wohl aus Angst vor Sabotage seitens der „Vaterlandsverräter“. Solche Ängste dürften Monate später verflogen gewesen sein, als die Siegbegeisterung ihren Höhepunkt hatte. Bei Kriegsbeginn wollten die meisten Bürger ihr Papiergeld in (Gold-)Münzen umtauschen – wohl aufgrund einer Ahnung des möglichen Wertverlustes. Erst nach den vielen „vaterländischen Kundgebungen“ setzte jene „Spendenfreudigkeit“ ein, die Wilhelm Lux als Zustimmung der Bevölkerung zum Krieg verstand. Anstelle ihre Kirchweih abzuhalten, nahmen die Gunzenhäuser hin, dass drei Lazarette eingerichtet wurden. Man habe die italienischen Arbeiter heimgeschickt, die Soldaten versorgt, wenn ihre Züge im Bahnhof standen und sich über „Kunde von Russeneinfällen in Ostpreußen und den dort von ihnen verübten Greueln“ aufgeregt – das beschrieb er als Alltägliches im ersten Kriegsjahr, in dem doch schon bei manchem „dämmerte, dass ein Friedensschluss wahrscheinlich noch in weiter Ferne liegt“. Die Aufzählung folgt der Darstellung von W. Lux im „Heimatbuch der Stadt Gunzenhausen“ 1982, 111-114. Im Weiteren als „Heimatbuch 1982“ zitiert. 40 12 Als drei örtliche Katastrophen während der Kriegsjahre werden der Großbrand in der Bäckerei Högner (1.4.1915 mit zwei Todesopfern), die Sprengmunitionsexplosion bei einer Preisverleihung an Schüler (26.6.1915 mit zwei Todesopfern) und die Tat einer „geistesgestörten“ Frau am 3. Jahrestag des Kriegsbeginns (sie brachte ihre drei Kinder und ihren Schwiegervater um) aufgeführt. Die Kirchenglocken seien für Kanonen eingeschmolzen, ein Festgottesdienst zum 400jährigen Thesenanschlag Luthers abgehalten worden. Die „Kohlrübenwinter“ und „fleischlosen“ Sommerwochen erwähnt Wilhelm Lux neben „schweren Hagelschlag“, der Obst, Gemüse- und Kornernte vernichtete. Zink-Notgeld sollte das Hamstern von Pfennigstücken (aus Nickel) eindämmen und mitgeteilt wurde, dass durch die Grippeepidemie „eine ganze Anzahl von Gunzenhäusern der verschiedenen Altersklassen“ starben. Aber es sei auch die „Kriegsmüdigkeit“ „immer stärker“ geworden.41 Deutlich verharmlosend berichtet Wilhelm Lux über die Zwangsarbeit der Kriegsgefangenen, die zur Altmühlregulierung eingesetzt wurden. Sie hätten sich mit Schnitzarbeiten „kleine Nebenverdienste“ erworben, „in Begleitung ihrer Dienstherren ... an Sonntagen von ihren Arbeitsplätzen aus die Stadt“ besucht und Einkäufe gemacht – wer befahl ihre Arbeit, wer bewachte sie, was gab es überhaupt noch zu kaufen, wenn selbst die Deutschen hungerten? Als kommentierende Generalaussagen galten ihm die „Sorgen um das tägliche Brot“, die „seelische Bedrückung“ und die „Furcht, durch den Krieg den Ernährer zu verlieren“. 42 Kurz vor der Proklamierung der Republik sei in Gunzenhausen in einer Versammlung aufgerufen worden, von dem in Flammen stehenden Bau des Deutsches Reiches „zu retten was zu retten sei“. Dieser Bürgerstimmung gemäß sei nach der Gründung eines Arbeiter- und Soldatenrates in Gunzenhausen einem Nürnberger Gewerkschaftsredner am 22. 11.1918 heftig widersprochen worden. Die 10 Folgen über den Ersten Weltkrieg erschienen 1938 – zeitgemäß schloss Wilhelm Lux seinen Artikel mit folgenden Worten: „Langsam und vorerst noch schüchtern erwuchs (im November 1919) der erste Abwehrwille gegenüber den durch die Revolution entstandenen Zuständen und Formen, schon in den nächsten Jahren Gestalt annehmend in Bünden und Gruppen, verworren noch in den Zielen und Ideen, bis die Möglichkeit der Einordnung in die große Bewegung Adolf Hitlers sich bot.“43 Im Heimatbuch 1982 formulierte er allerdings, dass sich die Bürger, die bis zur Revolution 1919 den Ton angegeben hatten, sich dem „Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat44 ... zur Aufrechterhaltung der Ordnung zur Verfügung“ gestellt hätten.45 Solche kleinen Differenzen können ebenso wie bestimmte Botschaften „gegen den Strich“ gelesen werden. So schrieb Wilhelm Lux 1982, dass die „ausländische Presse ... vielfach mit Schadenfreude“ über Kriegsereignisse berichtet habe. Mit poetischen Mitteln interpretiert, die Wilhelm Lux selbst bei solch kritischen Punkten nutzte, besagt dies, dass in bürgerlicher Mentalität das um 1914 geprägte Feindbild auch noch 70 Jahre später als das für ein „damals“ Richtiges angesehen wird – ohne wenigstens zu konstatieren und vielleicht daraus etwa zu folgern, dass ein solches gleichwohl lebenszerstörend war und ist. Selbstredend ist jedem Autor zu gute zu halten, dass er unterschiedliche Standpunkte am Beginn und am Ende seiner Schriftstellerlaufbahn einnimmt. Ebenso selbstverständlich ist jede Wahrnehmung und jedes Aufschreiben zeitgebunden. So kann Wilhelm Lux ein positiver Lernprozess zugute gehalten werden. Für die Mentalitätsgeschichte bedeutsam bleibt aber die in den Jahreszahlen 1914-1919-1938-1982 sich zeigenden Kontinuität obrigkeitshöriger Haltung des kleinstädtischen Bürgertums. 41 Zitate aus dem Gunzenhäuser Heimatbuch 1982, 118 +125. Den geltwerten Verlust der Bürger durch den 1. Weltkrieg spiegelt der Spruch: „Gold gab ich für Eisen“ wider. Die hohe Bedeutung von Metall wurde im 1. und 2. Weltkrieg dadurch plastisch vor Augen geführt. 42 W. Lux: Die Stadt Gunzenhausen im Weltkrieg 1914-18. In: Gunzenhauser Heimat-Bote. 1938, 1,5. 43 Beide Zitate in Gunzenhäuser Heimatbote. 1938, 6 f.. 44 Ich fand bislang keine Quelle, die näheres zur Zusammensetzung und Arbeit des Rates wiedergibt. 45 Heimatbuch 1982, 118. 13 Bedeutsam für den nächsten Zeitabschnitt wird der Wilhelm Lux - Hinweis auf sich bildende Bünde und Gruppen. Männer, die 10 Jahre älter waren als er, bildeten das Kanonenfutter in den Massenschlachten des Ersten Weltkriegs. Ihre Mentalität versucht der Begriff des „soldatischer Mannes“ zu erläutern, der ein Ergebnis der Sozialisation im Kaiserreich formuliert.46 Viele Leitbilder für „junge Burschen“ waren vom Militär geprägt, modische Matrosenanzüge unterstützten die „kaiserliche Marine“. Der junge Leutnant in Paradeuniform, dem alle Mädchenherzen zufliegen, war in Unterhaltungsfilmen noch der 1950er Jahre ein übliches Klischee. Die am Jahrhundertanfang noch exklusive Fotografie wurde genutzt, die zum Militär gezogenen jungen Männer in „Ausgehuniform“ abzubilden – oftmals ihr einziges Portrait neben einem Passbild. Gleichwohl frustrierte die Realität der Kasernenhöfe auch die Bürgersöhne. Ihren „Schliff zum Mann“ erhielten sie beim wörtlichen „im Schlamm kriechen“, was für sie oft auch die ersten Erfahrungen mit moralischem Schlamm47 bedeutete, denn „fern der Heimat“ erlebten die wohlbehütet aufgewachsenen jungen Männer „abgrundtief“ Dinge, die in der Kleinstadt unvorstellbar waren. Die kriegerische Männergesellschaft prägte das „Fronterlebnis“ und die „SchützengrabenKameradschaft“. Typisch war das Fotomotiv: Männergruppe mit Bierfass und Einheitsbezeichnung. Gehorsamkeit, in der religiös und weltlich orientierten Erziehung vermittelt, konnte als Basis genutzt werden, aus den Burschen Befehlsempfänger zu prägen, die solche ausführen ohne darüber nachzudenken. Pflichtbewusstsein beinhaltete für Bürger den Kampf für das Vaterland, einschließlich eines möglichen „Opfertodes“. Das patriarchalische Mann/FrauVerhältnis ermöglichte, die Tötung von erklärten Feinden als ein Beschützen der eigenen Familie zu rechtfertigten. Um die Widersprüche und Gefühle zu verkraften, mussten äußere und innere Grenzen aufgebaut werden, die innerlich zu „Körperpanzern“ und äußerlich zu gesellschaftlichen Zwängen wurden. Im „Prozess der Zivilisation“ hatte sich diese Struktur sein mehreren Jahrhunderten herausgebildet. V.a. im „Kampfrausch“ konnte nun das (männliche) Individuum alle Grenzen überschreiten, es verlor sich in der Gruppe oder Masse. Nach solchem Erleben musste es die Grenzen – um so strikter, je exzessiver die Erfahrungen waren – wieder einhalten. Aus diesem Modell von „Wunschproduktion des Unbewussten“ kann der Zusammenschluss in Männerbünden erklärt werden, welcher die Mentalitätsentwicklung insgesamt zwischen 1920 und 1930 deutlich prägte. In der Lokalgeschichtsschreibung bekam „Heimat“ einen neuen Klang durch die beginnenden Veröffentlichungen der Aufsatzsammlung „Alt-Gunzenhausen“ und der Beilage „Gunzenhauser Heimatbote“ in der Lokalzeitung sowie durch die Beteiligung aller Vereine an der 1100-Jahr-Feier 1924 und den beiden Heimattagen 1929 und 1934. 3. Umgang mit demokratischen Verhältnisse in der Weimarer Zeit Ein „überaus populärer und geschätzter Bürger der Stadt“ sei Heinrich Krauß (1892 – 1980) gewesen, „den man allgemein und auf gut gunzenhäuserisch als den ‚Kraußn-Schloger’ bezeichnete.“48 Er wurde, obwohl aktiver Turner, vom aktiven Kriegsdienst freigestellt („da er militärisch untauglich war“), erfüllte seine Vaterlandspflicht aber seit 1913 in der Freiwilligen Feuerwehr. Noch 1918 hatte er für seine „Bemühungen auf dem Gebiet des Turn- und Sportwesens“ das König-Ludwig-Kreuz verliehen bekommen und übernahm in den 1930er Jahren die in langer Familientradition geführte Schreinerei in der Sonnenstraße. 46 Diese Argumentation gründet sich v.a. auf K. Theweleit: Männerphantasien, Frankfurt 1977 Über die sexistische Ableitung „Schlampe“ können prägende Erfahrungen zum Geschlechtsleben der soldatischen Männer dargestellt werden. 48 Alle Zitate aus dem Lebensbild, das W. Lux ihm in „Alt-Gunzenhausen“ 1983, 120-122, widmete. 47 14 „Aufgrund seiner christlich-idealistischen Weltanschauung, schloss sich Heinrich Krauß nach dem Ersten Weltkrieg ... dem damals entstandenen Bund Oberland an, der speziell zur Niederringung der Münchner Räterepublik und der Aufstände in Oberschlesien ins Leben gerufen worden war. Wiederholt nahm er auch an den Tagungen dieses Bundes auf der Burg Hoheneck“ teil.49 Mit dieser Beschreibung gab Wilhelm Lux einige Hinweise auf jene Bürger, die in der Weimarer Republik im besten Mannesalter zwischen 20 bis 40 Jahren waren. Sie trafen ihresgleichen in Vereinen und Gastwirtschaften. Auch da sie sich mit Spitznamen anredeten, kann interpretiert werden, dass sie Vorstellungen der Wandervogel-Bewegung50 auf die Verhältnisse der Kleinstadt übertrugen. Allerdings rechneten sie sich selbst den Freikorps zu, also jenen „Kampfbünden“, die das Wilhelminische Deutschland wieder herstellen wollten, d.h. auch eine 1918 ad absurdum geführte Weltsicht. Folgerichtig aus der genossenen Erziehung führte der Weg dieser Männer ins „Oberland“.51 Die jungen Bürger hatten den Krieg durchlebt und fühlten sich mit dem „Versailler Diktatfrieden“ um ihren Einsatz betrogen. Mit ihrer meist nicht schriftlich fixierten Zugehörigkeit zum „Bund Oberland“ bekundeten sie eine rechtsradikale Haltung, welche sich mindestens als Distanz zur Demokratie, oft als „Kampf gegen die republikanischen Verhältnisse“ äußerte. Deutlich gegen linkssozialistische Vorstellungen eingestellt, bekämpften in den 1920er Jahren etliche von ihnen die KPD- und SPD-Anhänger und sahen „im Nationalsozialismus eine positive Kraft zur Neugestaltung der damaligen politischen und staatlichen Verhältnisse“.52 Jene jungen Männer drückten darin, vermutlich unreflektiert, auch ihre Abgrenzung zur Vätergeneration aus, die in den Vereinen das Sagen hatten und die bürgerliche Öffentlichkeit prägten. Für diesen psychisch verständlichen Vorgang kann angenommen werden, dass er damals andere praktische Auswirkungen hatte als heute. Dies war durch die geringere Mobilität, die begrenzteren Wissensanforderungen und den nicht hoch ausgeprägtem Informationsfluss begründet. Die übliche Berufskarriere von Bürgersöhnen beinhaltete im handwerklichen Bereich noch Elemente der Zunftordnung, z.B. „Wanderjahre“ in anderen Städten zu absolvieren. Auch bei „Studierten“ war der Zeitraum, während dessen sie „auswärts“ waren, überschaubar. Eine standesgemäße Heirat fand meist erst dann statt, wenn die ökonomische Existenz der künftigen Familie gesichert erschien. In Handwerk und Handel war üblich, dass ein Sohn im väterlichen Betrieb arbeitete, weil er ihn später fortzuführen hatte. Weitere Söhne ließen sich „auszahlen“, um eigene Existenzen zu gründen. Söhne mit höherem Bildungsabschluss wurden in Verwaltungen geschleust oder kopierten die Karriere ihrer Väter. 49 W. Lux Lebensbild in Alt-Gunzenhausen. 1983, 120-122. Es wäre eine spannende Aufgabe, zu untersuchen, wie die „Wandervogelbewegung“ in Gunzenhausen wirkte. Es lassen sich Spuren bei den Realschülern finden und die kirchliche Jugendarbeit war bis in die 1960er Jahre „bündisch“ geprägt, vgl. Mühlhäußer, Gunzenhausen Archivbilder, S. 67. Auch dies wäre ein Aspekt mentalitätsgeschichtlicher Phänomene. 51 Der „Bund Oberland“ war national orientiert, aber längst nicht einheitlich. Warum er und kein anderer in Gunzenhausen aktiv werden konnte, ist unbekannt. Es könnte aber mit „Beppo“ Dr. Josef Römer (1892-1944) zusammen hängen, der in 1919-1922 in Würzburg studierte, wenn er nicht als Freikorpsführer aktiv war. Die Ortsgruppe Gunzenhausen des Bund Oberland wurde 1933 in die SA überführt. Der rechtsorientierte Hauptmann Römer hatte sich Ende der 1920er Jahre den KPD-Positionen angenähert und war 1933-1939 in Konzentrationslagern. 1935 könnten sich Hermann Fischer (vgl. S. 28, Anm.105) und er im KZ Dachau getroffen haben. B. Römer organisierte ab 1942 in der Künstlerkolonie Berlin einen Widerstandskreis und wurde von der Gestapo 1944 hingerichtet. Vgl. www.wikepdia.de /Bund Oberland / Dr. Josef Römer. 52 W. Lux schreibt dies zu H. Krauß, dem er gleichermaßen eine hohe Bildung und Mitmenschlichkeit attestiert und in Alt-Gunzenhausen 1987, 117, mitteilt, dass sein Vater Georg Krauß einer der in der Gleichschaltung 1933 eingesetzten Stadträte war. 50 15 In solch patriarchalischen Traditionen war für Töchter eine „gute Partie“ vorgesehen. Nach der siebenjährigen Volksschule wurden sie für das künftige Hausfrauenleben vorbereitet. Um für ihr Leben gut gerüstet seien, empfahlen auch die Mütter ihren Töchtern einen „bescheidenen und dienenden Charakter“ zu entwickeln. Üblich war, in weit entfernten Städten „in Stellung“ zu gehen, um Erfahrungen z.B. mit „vornehmer Küche“ zu sammeln. Wo für die „höheren Töchter“ eine Mitarbeit in einem Handelsbetrieb vorgesehen war, durchliefen sie auch eine Art beruflicher Schmalspurausbildung, denn eine Frau als Chefin war Ausnahmefall. Einen solchen stellte in Gunzenhausen die Bäckermeisterin Rosa Linse dar, die das Geschäft allein weiterführte, weil ihr Mann im Krieg gefallen war. Die Zeitzeuginnen berichteten von einer weicheren Erziehung durch ihre Mütter gegenüber dem oft harten „Durchgreifen der Hausherrn“. Sie empfanden dies lebenslang als im Prinzip richtig, denn es „gehörte sich so“ – ebenso wie es sich gehörte, ihren Beitrag zur Existenzsicherung der „gut bürgerlichen Familie“ zu würdigen. In der Subsistenzwirtschaft spielten Erzeugnisse aus eigenem Garten in vielen Bürgerhaushalten eine große Rolle. Dies war Teil der Frauenarbeit. Eine emanzipatorische Wirkung stellte die selbstgesteuerte Fortbildung mit Hilfe von populären Gesundheitsbüchern dar. Die gute Hausfrau hatte auch für Hygiene zu sorgen und war Pflegerin bei Krankheiten. Während die früheren Generationen die Lesekompetenz v.a. für christliche Schriften nutzte, scheint nun die sexuelle Aufklärung durch Selbststudium üblich geworden zu sein. Weitere Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter ergab das 1919 den Frauen eingeräumte Wahlrecht und die republikweite Einführung der Einheitsschule. Durch öffentliche Auseinandersetzungen mit dem dominierenden evangelischen Dekan wurde eine Frau so bekannt, dass sie für den Stadtrat kandidierte. Von 1922 – 1924 war sie als erste Frau im Stadtparlament. Erst 1956 – 1966 und dann ab 1990 waren wieder Frauen im Gunzenhäuser Stadtrat vertreten.53 Konkret wirkten sich die schulpolitischen Diskussionen in der Aufnahme von Mädchen in die Realschule aus. Durch sie stieg die Zahl der SchülerInnen um rund 15 % an.54 Diese neuen Verhältnisse können als direkte Auswirkungen der Frauenbewegung55 in der Kleinstadt bewertet werden. Mit dem Zurückdrängen des kirchlichen Einflusses auf die Erziehungseinrichtungen war ein wenig vom „sozialistischen“ Schlagwort „Religion ist Privatsache“ Realität geworden. Das Weltbild des männlich dominierten kleinstädtischen Bürgertums wurde durch diese Entwicklungen ziemlich 53 Ernestine Reichelt (1879-1968) kandidierte 1919 für die linksliberale DDP und war von 1922-1924 Nachrückerin im Stadtrat. Anna Lehnert (1898-1976) war 1948 Kandidatin der SPD, von 1948-1952 Kreisrätin und von 1956-1966 im Stadtrat für die Liste „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“. 1990 kamen Helga Betz (Bündnis 90/DIE GRÜNEN) und Erika Wüst (CSU) in den Stadtrat, ebenso Helga Demans (FW/UWG) und Heide Ott (CSU) als Nachrückerinnen. 1996 und 2002 wurden jeweils 6 Frauen in den Stadtrat gewählt. Vgl. Wopperer, Monika / Mühlhäuser, Werner: Frauengeschichte(n) aus Gunzenhausen. Stadt Gunzenhausen 2003, 37 f.. 54 Vgl. Schüler-Statistik 1886-1938, abgebildet bei W. Pilhofer: Eine Schule hat Jubiläum. In: AltGunzenhausen. 1993, 126-145. Die kirchliche Schulaufsicht war 1919 von der staatlichen abgelöst worden. Das 8. Schuljahr wurde 1926 in der ev., 1928 in der kath. und der israelitischen Volksschule eingeführt. Die Vereinheitlichungen des Schulsystems erfolgte unter den Nationalsozialisten; nach dem 2. Weltkrieg wurde durch eine Bürgerinitiative die Wiedereinführung der konfessionellen Volksschulen verhindert; 1969 wurde die 9. Klasse in der neu organisierten Grund- und Hauptschule verbindlich. 55 Diese thesenhaften Äußerungen stützen sich auf Interviews mit 4 Frauen der Geburtsjahrgänge 1902-1922. Zur Auswirkung der Frauenemanzipation in Gunzenhausen des 20. Jh. bedarf es weiterer Forschungen. Vgl. Anm. 52. Als 1. Frauenbewegung kann der Kampf um bessere Bildung und erste Arbeitsplätze in Männerberufen gezählt werden, der im letzten Drittel des 19. Jh. ausgefochten wurde. Die (2.) deutsche Frauenbewegung in der Weimarer Republik hatte zwar aufgrund des durchgesetzten Frauenwahlrechts eine günstige Startposition, erreichte mit feministischen Zielen aber nur eine begrenzte Bedeutung. Die 3. Frauenbewegung begann mit den Selbstanzeigen zur Abtreibung, d.h. dem Kampf um Abschaffung des § 218 Anfang der 1970er Jahre. Sie führte unter dem Stichwort „Feminismus“ zu Quotenregelungen und Gleichberechtigungsgesetzen. 16 erschüttert, was auch zur Folge hatte, dass das „Weimarer System“ distanziert hingenommen wurde. Männer, die im Gunzenhausen der Weimarer Republik „etwas zu sagen“ hatten, waren im Magistrat und dem traditionsreichen Vereinen aktiv. Die verschiedenen „Gesellschaften“ bildeten auch die Hierarchie des Bürgertums ab. Das verdeutlicht die Analyse der 66 Vereine, die im Adressbuch 1930/31 aufgelistet wurden.56 Sie zeigt in quantitativer Hinsicht die Dominanz bürgerlicher Mentalität bei den Zweck der Vereine, die als Rangfolge 1. christliche Orientierung, 2. Geselligkeit unter Gleichgesinnten und 3. materielle Interessensvertretungen haben. Qualitativ hob sich das national-konservative und ökonomische Element heraus, was bei den Vereinsvorständen gespiegelt wurde. So leitete den Veteranenverein ein Reichsbahninspektor a.D. und den „Verein für das Deutschtum im Ausland“ der 1. Bürgermeister. Dem Automobilclub stand ein (1917 zugezogener) Fabrikbesitzer vor, dem Haus- und Grundbesitzerverein der Buchdruckereibesitzer. Das für die Identität bedeutende Kulturleben bestimmten der „Liederkranz 1843“, die „Casino-Gesellschaft“ und der „Altertumsverein“. 57 Diese repräsentierten ein Uhrmachermeister, ein Oberst a.D. und der Ober-Medizialrat und Ehrendoktor, dem Ausgrabungen zur Gunzenhäuser Vorgeschichte zu verdanken sind. Handwerksmeister leiteten den Gewerbeverein, Pfarrer solche im sozialen Bereich. Die Bedeutung der geselligen Gruppierungen drückte sich auch in ihren Treffpunkten aus. „Vornehme“ versammelten sich in den (zwei) Hotels, die „bessere“ trafen sich am Stammtisch der Gasthöfe, die oft mit Gesang ihre Fröhlichkeit ausdrückenden Gruppen in den Nebenzimmern der Gastwirtschaften. Für die politische Bewusstseinsbildung von erwachsenen Bürgern (heute wissenschaftlich diskutiert als informelles Lernen zur bürgerschaftlichen Teilhabe, im europäischen Kontext als Lernziel „citizenship“ gefordert) waren gerade in den 1920er Jahren diese Zusammenkünfte (neben diesbezüglichen Gesprächen während der Arbeitszeit) entscheidend. Es gab noch kaum Radios, die Neuigkeiten erfuhr man aus dem Altmühlboten – diskutiert wurden sie am Stammtisch. Ihnen kam eine nahezu rituelle Bedeutung als bürgerliche Öffentlichkeit zu. Am Stammtisch trafen sich etwa fünf bis zehn engere Bekannten an einem bestimmten Wochentag ihrem Lokal, etwa verdoppelt wurde die Anzahl durch gelegentlich Anwesende. Für die Subjekte strukturierten die regelmäßigen Treffen, an welchen Meinungen tiefergehend ausgetauscht oder nebenbei beim Kartenspielen geäußert werden konnten, den Alltag. An den anderen Wirtshaustischen nahmen Gäste Platz, die als Korrektoren oder Referenzpersonen zur Meinungsbildung herangezogen werden konnten. Dies dürfte ein Grund für den sonntags üblichen Besuch mehrerer Gaststätten gewesen sein, wo man am Spätnachmittag, zur Versperszeit und am Abend jeweils andere „Runden“ antraf. Für das Gaststättengewerbe (die meisten Lokale waren als „Gaststätte und Metzgerei“ betrieben) war der Stammtischabend und die „Kart’lrunde“ ein planbarer Einkommensfaktor, denn diese Gäste bildeten auch den Kern bei Sonderveranstaltungen im Jahresverlauf: dem „Kappenabend“ in der Faschingszeit, dem Mittagstisch am Missionsfest, dem „Gesellschaftstag“ während der Kirchweihwoche und der „Christbaumversteigerung“ am Jahresende. Für lokalpolitische Ereignisse stellte diese Struktur Öffentlichkeit her, denn so konnten auch Informationen aus den verschiedenen Quellen zusammenfliesen. Stadtrat, Handwerksmeister, Bankangestellter, Grossist und Lehrer trafen sich beispielsweise während warmer Sommersonntage beim „Stor“ im von Wilhelm Lux gelobten „Fischers Gärtla“ am Storchenturm. Sie waren vorher beim „Knoppern“ oder „Spotz“ und zogen dann zum 56 Vgl. Analyse des Adressbuchs von 1930 in der Anlage 3. Für W. Lux bilden der „Liederkranz“ und der „Altertums- und Heimarverein“, in denen selbst sehr aktiv war, praktisch Referenzmodelle seiner Argumentationen. 57 17 „Schnouk“58 weiter, wo vielleicht ein guter Sänger, Zither- oder Gitarrespieler ein Lied anstimmte. Einen Beleg hoher Kontinuität des „geselligen Beisammenseins“ bietet der städtische Werbeprospekt von 1974, der mit einem Bild der „abendlichen Tischrunde“ im Gasthaus Lehner die Gunzenhäuser Gemütlichkeit anpreist. Mindestens der Eindruck sollte erweckt werden, dass es wie zu alten Zeiten zu ginge. Im Farbbild sitzt der Wirt zitherspielend mit den Gästen am gut gedeckten Tisch, die holzgetäfelte Wand ist mit Zinntellern und Krügen geschmückt, in Trachtenkleidung und bei Gitarre prostet man sich lachend zu.59 Als Beispiel der Verkehrsform „Stammtisch“, der in der Weimarer Zeit durchaus eine „demokratische Öffnung“ gegenüber den abgeschlosseneren Zirkeln der Kaiserzeit zugesprochen werden kann, sei die „Schwarzviertelgma“ angeführt. Sie ist sozial und geografisch60 zu definieren, denn in ihr versammelten sich junge und ältere Bürger, Bauern und Arbeiter aus der südwestlichen Ecke der Stadt. Die „Gemeinde“ traf sich jeden Mittwochabend in der Gastwirtschaft und Metzgerei „Zur Altmühl“ (mit Nebenzimmer und Kegelbahn) und zu Ausflügen an Feiertagen. Ein Foto61 von Pfingsten 1929 bildet mehr als nur die Mitglieder ab: Am Umzug zum Heimattag nahm der „Stammtisch Schwarzviertel“ teil – der Begriff „Gemeinde“ war offiziell besetzt, ein Verein war nicht gegründet und der Dialektausdruck „Gma“ sollte nicht aufs Plakat geschrieben werden, weil ihn „Auswärtige“ vielleicht nicht verstehen würden. Anwesenheit der großen Anzahl zum Fototermin demonstriert Gemeinschaft. Sie überdeckt sowohl die Standesunterschiede als auch die Widersprüche zwischen der sich allwöchentlich treffenden Kerngruppe und den nur zu bestimmten Anlässen sich beteiligenden Männern. Ochsenfuhrwerk und die Schubkarre präsentiert den bäuerlichen - und Arbeiteranteil, die traditionellen Uniformen der ehemaligen Bürgerwehr und aktiven Freiwilligen Feuerwehr verweisen auf gemeinnütziges Engagement. Ziegenbock und Bierkrug symbolisiert, dass Essen und Trinken zur Geselligkeitspflege gehören. Die Hochgekletterten verweisen auf die Elemente Sport und Gaudi. Die weiße Schürze des Wirts und die jungen Ochsenreiter zeigen die Arbeitsamkeit. Die hinter den Vorhängen eines Fensters im Privatbereich der Wirtschaft hervorlugende Frau verdeutlicht die Geschlechterrollen.62 58 Utz-Namen der Betreiber der Gastwirtschaften Storchenfischer (Stor) an der Ecke Sonnen-Bühringerstraße, Karl Kirsch (Knoppern) in der Mariusstraße, Guthmann (Spotz) in der Bühringerstraße und Lehner (Schnouk) in der Weißenburgerstraße. Vgl. W. Lux: Gunzenhäuser Bei- oder Spitznamen. In: Alt-Gunzenhausen 1983, 103108. 59 Gunzenhausen. Die gastliche Stadt im schönen Altmühltal. Hg. v.d. Stadt Gunzenhausen 1974. In derselben Gaststube ließen sich 1952 einige Honorationen zum Kirchweihauftakt ablichten. Vgl. Mühlhäuser, W.: Gunzenhausen. Archivbilder. Sutton-Verlag 2003, 120. 60 R. Maurer schrieb im Gunzenhauser Heimatboten 1940, 117, dass die untere Vorstadt von der Kirche die Altmühl abwärts dazu zähle und der Name „wohl wegen der ehemals schlechten Beleuchtung seiner Wege und Pfade“ entstand. Zwei SchülerInnen grenzten geografisch 2007 das „Schwarzviertel“ auf den Bereich zwischen Saumarkt und Schießwasen ein; vgl. Simon Marius Gymnasium Gunzenhausen, Wettbewerbsbeitrag der 11. Klasse 1999: Körbers Faust und Hitlers langer Arm. Die Leiden des jungen W.K.. 61 Mit in großer Zahl vorhandenen ähnlichen Gruppenaufnahmen könnte diese These ebenfalls untermauert werden. 62 Zum fotografischen Zeugnis der Feier des 25-jährigen Bestehens 1925 stellte sich ein größerer Teil der Wirtsfamilie mit auf. Der Wirt mit weißer Schürze, die Wirtin in dunklem Kleid, eine Tochter mit der Kittelschürze als Küchenhilfe und Bedienung und ein Sohn mit Krawatte und Pullover. Alle anderen Herren waren in Anzug und Krawatte gekleidet. Vgl. Mühlhäuser, W.: Gunzenhausen. Archivbilder. Sutton-Verlag 2003, 62. Der „Schwarzviertelgma-Bürgermeister“ war (laut W. Lux in Altmühlbote, 8.12.1971) lange Jahre Hans Bach – vgl. Anmerkung 117. 18 Die Distanz zur Republik drückte sich auch in einer „bildungsbürgerlich geläuterten“ Haltung aus, die mit der Beschreibung des o.g. katholischen Pfarrer Peter Landwirth belegt werden kann. Wilhelm Lux erinnert im Jahr 1962 an die Feierlichkeiten zu dessen 25. und 35. Dienstjubiläen 1919 und 1929. Ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs konnte der Kirchenmann nur in der Kirche selbst geehrt werden,63 10 Jahre später lobte ihn der dazu eigens nach Gunzenhausen gereiste Würzburger Bischof als „Mann des Volkes, des Friedens und der Gnade“. Die Werte Menschenfreundlichkeit, Toleranz, Arbeitskraft, Wissen und Frieden werden durchaus der Weimarer Demokratie zugerechnet – aber eben nicht als Ziele der Revolution 1918/19 angesehen. Im öffentlichen Leben profilierten sich Männer. Folgerichtig verfasste Wilhelm Lux nur über drei Frauen Lebensbilder.64 Eines schildert das soziale Engagement von Fräulein Christiane Heubusch (1855 – 1940) im Gunzenhäuser Frauenverein des Roten Kreuzes, wo sie die Aktivste im „Ortskomitee für Lazarettangelegenheiten“ gewesen sei. Hierin kristallisierten sich die öffentlichen Aufgabe von Frauen. Im zweiten werden die kulturellen Beiträge von Frieda Faulstich (1890 – 1968) gewürdigt, die für Klavierspiel und Gesang viel Beifall bekam und „in den zwanziger Jahren mit zu den eifrigsten Förderern der einstigen Theatergemeinde Gunzenhausen“ gehörte. Dass sie Klavierlehrerin war, geht fast dabei unter; wo sie als Tochter des Bahnhofrestaurateurs und lebensbejahende Ehefrau eines Großkaufmanns geschildert wird. Bezeichnend, was als wichtige Information galt.65 Solche Auswahl und die Formulierung „lebensbejahend“ deutet auf Tabus bei den Themen Sexualität und Geschlechterverhältnissen hin. Für bürgerliche Männer der Kleinstadt dürften die „Freizügigkeiten“ der Großstädte, die jene „Goldenen 20er Jahre“ geprägt haben sollen, phantasieanregende Frivolitäten gewesen sein. Zu Beginn der 1920er Jahre galt es, sich mit den neuen staatlichen Verhältnissen zurecht zu finden. Das fiel umso schwerer als mit der Inflation 1923 ehemaliger Geldbesitz wertlos wurde. Viele Privatiers verloren ihre ökonomische Basis oder Teile davon. Umgekehrt konnte die „Hensoltshöhe“ günstig zwei Immobilien erwerben, was in deren eigenem Geschichtsverständnis eine göttliche Hilfe zum Aufbau ihrer „diakonischen Mission“ war.66 Im Sinne der bürgerliche Mentalität war diese Fortsetzung der Enttäuschungen und Entbehrungen während des Weltkriegs ein weiteres Element, die Tugend „Sparsamkeit“ in neuen Dimensionen zu sehen. Hatten die Hungerjahre zur Folge gehabt, keinerlei Essen verkommen zu lassen, so ging nun das Vertrauen ins Finanzkapital verloren. Ein Haus zu besitzen bestätigte sich gegenüber Geldbesitz als besser. Das „eigenes Dach über dem Kopf“ und Produktionsmittel zu haben, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, gab den Haltungen der „Vorväter“ recht. Wenn man im eigenen Garten wenigstens Teil der Ernährung selbst produzieren konnte, verminderte das die Existenzangst. Was die „Altvorderen“ schon immer meinten, blieb Leitbild, bes. auch für die Erziehung der nächsten Generation. Die Mit der gleichen Formulierung berichtet W. Lux von der 50-Jahr-Feier zur Einweihung der Synagoge 1933 – weil diese „bereits im Schatten der beginnenden Verfolgung durch die nationalsozialistischen Machthaber“ gestanden habe. Vgl. Heimatbuch 1982, 194. 64 Die beiden aus „Alt-Gunzenhausen“ 1979, 189f. u. 206 f. werden kurz skizziert. Das dritte „Porträt“ (in Gunzenhäuser Heimatbote 1953, 156) galt „Madam“ Röschel (1796-1872). Als Chefin der Brauerei machte sie das Gasthaus „Adler“ zum „bestrenommierten“ v.a. durch „Punschgesellschaften“ – möglicherweise die kleinstädtische Variante der großstädtischen Salons. Auch als Redakteur des Altmühlboten berichtete W. Lux nur über einige stadtbekannte Frauen. 65 W. Lux wusste vermutlich mehr über die Familie, teilte aber z.B. nicht mit, ob oder wie ein Zusammenhang mit dem Selbstmord einer jüdischen Freundin (Elsa Seller 1937) bestand. Vgl. u. S. 24. 66 vgl. Daniel Schönwald: Die Geschichte der Deutschen Christen in Gunzenhausen unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisses der "Hensoltshöhe" zum Nationalsozialismus. In: Alt-Gunzenhausen 2001, S. xxx. Sowie Heimatbuch 1982, 190 f. 63 19 Investitionsbereitschaft des Bürgertums blieb daher begrenzt, es wurden für möglichst risikoarme Aktionen nur Kleinkredite benötigt. Das wirkte sich z.B. auf den Neustart der (1824 gegründete, gemeindeeigenen) Sparkasse Gunzenhausen aus, die im Jahr 1919 neue Geschäftsfelder und Geschäftsräume besetzte. Nicht von ungefähr, sondern als symbolische und praktische Fortsetzung des bürgerlichen Selbstbewusstseins schrieb Wilhelm Lux oft und ausführlich über die Elfhundert-Jahr-Feier der ersten urkundlichen Erwähnung von Gunzenhausen als herausragendem Ereignis des Jahrzehnts. Wegen der Inflation von 1923 auf 1924 verschoben, wurde die gesamte Lokalgeschichte inszeniert sowie von einer Gewerbe- und Landwirtschaftsausstellung begleitet. Heimatforscher, Stadträte, Lehrer, Großhändler und Handwerksmeister organisierten das Fest, Bürgermeister und Pfarrer hielten die Reden.67 Dies ein Beispiel der „Pflege des Heimatgedankens“ im Sinne einer mentalen Reaktion auf die politisch und ökonomisch Verhältnisse, die nicht mehr alle den Vorstellungen der Bürger entsprachen. In der bürgerlichen Mentalität verband sich „Heimat“ mit übersichtlich geordneter Gesellschaft in einer geschlossenen Welt. Im menschlichen Bedürfnis nach Verortung kann einer „heimatlichen Verwurzelung“ die Utopie von gutem Leben zugehören, weil solche den Hoffnungen Basis sein und Nahrung geben kann. Hingegen wird eine nur im schicksalhaften Hineingeborenwerden erlebte Herkunfts-Heimat zum ideologischen Bezugspunkt, der selbst Verlust an Distanz und Reflexionsfähigkeit bewirkt. So gesehen inszenierte die 1100-Jahrfeier 1924 und der Heimattag 1929 eine Scheinwelt, deren reale Grundlage aus Kirchentreue, Vetternwirtschaft, Honoratiorentum, Geschäftemacherei und Vereinsklüngel bestand. All dies sind überlebensnotwendige Verkehrsformen, durch die gleichwohl die Kleinstadt den politischen Standpunkt ihrer Bürger bestimmte. Verordnetes Verhalten bedeutete, sich ruhig mit den Umständen abzufinden; es machte unsensibel für die Ursachen des „Zerfalls der althergebrachten Ordnung“. Demokratischer Diskurs wurde als Angstfaktor erlebt, weil er moralische Grundüberzeugungen erschütterte. In den heimatkundlichen Veröffentlichungen der historisch engagierten Bildungsbürger klingt folgerichtig eine provinzielle Selbstzufriedenheit mit. „Heimat“ wurde mit Lokalpatriotismus verknüpft, als der nationale Stolz keine reale Grundlage mehr hatte. Wir-Gefühle wurden mit Brauchtumspflege erzeugt und die Kleinstadt des Bürgers Bezugspunkt. Beschwörungen der traditionellen Kirchweih übertünchte die Bierzeltatmosphäre. Wer nicht bei solchen ‚Appellen der Gemütlichkeit’ mitmachte, war Außenseiter. Nicht zufällig wurde in der Amtsperiode des ersten hauptamtlichen Bürgermeisters nach 1927 die Kirchweih zum Volksfest ausgebaut. Wilhelm Lux nutzte eine Generation später (und bis in die 1980er Jahre) die Kirchweihbeilage des Altmühlboten, um auf Traditionen, Häuser und Personen mit der Absicht hinzuweisen. Diese verdienstvolle Arbeit sollte die „Verbundenheit mit der Heimat“ gerade auch jener Gunzenhäuser stärken, die nicht mehr im Ort wohnten. 4. Das eigene Profil der Kleinstadt im Nationalsozialismus Der Heimattag 1929 wurde am Pfingsten 1934 wiederholt und steht symptomatisch für die in diesen fünf Jahren erfolgten Umbrüche. Zwischen Anhängern der autoritären und der sozialistischen Lösungen des Wirtschaftsabschwungs kam es auch in Gunzenhausen zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Als die „Hitler-Bewegung“ an die Macht gebracht wurde, führte der Rassismus zu ersten Exzessen gegen die jüdischen Einwohner. Der Identitätsstiftend sollte u.a. Theaterstücke wirken. Das „Kreuz im Altmühltal“ und die „Übergabe des Lehens Gunzenhausen an Ritter Burkhard von Seckendorff im Jahr 1349“ vergegenwärtigten das Mittelalter, die Dichtung „Sternwirts Töchterlein“ führte bürgerliche Moral vor. 67 20 Gunzenhäuser SA-Sturm III/13 beteiligte sich am 1. April 1933 am Boykott jüdischer Geschäfte aktiv und sah sich während der „Gleichschaltungsphase“ als Ordnungsmacht.68 Am Palmsonntagabend, 25. März 1934, kam es pogromartigen Verfolgungen. Etwa 100 v.a. junge Männer zogen vor jüdische Wohnhäuser, traten Türen ein und schleppten Männer ins Gefängnis. Zwei Tode forderte diese Aktion, denn Juden, die „als übelste Hetzer aus vor- und nachrevolutionären Zeiten (bekannt gewesen seien, hätten) sich selbst gerichtet.“ Diese offizielle Sprachregelung der SA zeigt, wie die Öffentlichkeit informiert wurde. Es gab dennoch eine Gerichtsverhandlung dazu in Ansbach, über deren Verlauf nichts bekannt gemacht werden durfte, aber die Freigesprochenen veranstalteten einen Siegeszug durch die Kleinstadt. Einer der Rädelsführer wurde zu einer kurzzeitigen Haftstrafe verurteilt, schwor Rache und führte diese am Heimattag zu Pfingsten 1934 aus: Nach einer durchzechten Nacht und weiteren Gasthausbesuchen am Sonntag besorgte er sich eine Pistole, ging in die jüdische Gastwirtschaft und Metzgerei und erschoss den Besitzer.69 Dessen Sohn überlebte glücklich das Attentat. Viele jüdische Familien erkannten, dass nur ein Wegzug aus Gunzenhausen eine Überlebenschance bot.70 Diese Extrempunkte des immer vorhanden gewesenen Antisemitismus71 sind bezüglich der Mentalitätsgeschichte mehr als ein Beweis für rechtsradikale Neigungen „gutbürgerlicher Haltung“. Im gleichem Maße wie auf Verunsicherungen mit autoritären Scheinlösungen gesetzt wurde, begrüßten die meisten Bürger den Nationalsozialismus und hatten für die „Auswüchse“ das Sprichwort: „Beim Hobeln fallen Späne“ parat. Nachvollziehbar wird das, wenn die Alltagsbelastungen bedacht werden: sie legten nicht nur nahe, die gesellschaftlichen Veränderungen hinzunehmen, sondern durch anpassen oder etwas beteiligen erreichen, dass „man besser leben“ konnte. Aus grundsätzlichen Überzeugungen Widerstand zu entwickeln, konnte nur wenigen Menschen mit bürgerlicher Mentalität gelingen72. Die wichtigsten Männer der „vaterländischen Bewegung“, wie Wilhelm Lux die generelle Rechtsorientierung der Bürger umschrieb73, unterstützten aktiv den Nationalsozialismus. Zum lokalen Führer für 15 Jahre avancierte, übernahm der Steuersekretär, Reichstagsabgeordnete, Bürgermeister und NSDAP-Kreisleiter Johann Appler74 eine entscheidende Rolle. Nur verhalten erfolgten Vgl. W. Lux: Der Nationalsozialismus in Gunzenhausen – lokalgeschichtlich gesehen. In: Alt-Gunzenhausen 1987, 102-163, und Alt-Gunzenhausen 1988, 60-132. 69 Ausführliche juristische Beschreibung der Vorgänge durch Dr. A. Meyer finden sich in seinen Aufsätzen von „Alt-Gunzenhausen“ 2005, 2006 und 2007. 70 Vgl. Anlage 8: Abwanderung 71 In Alt-Gunzenhausen, Heft 30 von 1959/60 veröffentlichte W. Lux die Recherchen des O. Maurer über Juden in Gunzenhausen bis zum 19. Jh. und ergänzte sie bis zum „Ende der israelitischen Kultusgemeinde“, das er 1938 sieht. (Etwas überarbeitet wurde dieser Text im Heimatbuch 1982 wiederum veröffentlicht.) O. Maurers Aufzeichnungen lesen sich wie eine Liste der Maßnahmen des kleinstädtischen Bürgertums gegen die Juden, denen, x-fach ausgenutzt, vom Markgrafen die Anwesenheit erlaubt worden war. Selbst ihre Emanzipation (d.h. die höhere Akzeptanz aufgrund aufklärerischer Ideen, der rechtliche Gleichstellungsprozess – 1813 mussten Juden Familiennamen annehmen – und die staatlichen Einbindung nachdem Gunzenhausen zu Bayern gekommen war) sollte erreichen, dass ihre Anzahl „eher vermindert“ wurde. W. Lux hingegen behauptete in AltGunzenhausen, 1962, 54, es wäre „bis in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg in Gunzenhausen von irgendwelchen antisemitischen Tendenzen nichts zu bemerken“ gewesen. Als Beleg verwies er auf Juden im Magistrat, in Vereinen und auf jüdische Ärzte. 72 Die zwischen 1933 und 1935 in „Schutzhaft“ genommenen Bürger scheinen mir ein Beleg dafür. Allerdings kann diese Ansicht je nach der Breite des Widerstandsbegriffs relativiert werden. Fruchtbar ist es, zwischen dem Zeitabschnitt bis 1939, der „Siegesphase“ und dem „totalen Krieg“ auch hinsichtlich des Widerstands zu differenzieren. Mir ist aber auch keine Diskussion zur „inneren Emigration“ in Gunzenhausen bekannt. 73 Alt-Gunzenhausen 1987, 151. 74 vgl. M.H. Schmid: Johann Paulus Appler (1892-1978)– ein Leben in vier politischen Systemen. In: AltGunzenhausen 2003 68 21 Distanzierungen und direkte Kritik wurde weitgehend vermieden, denn die Drohung „du kommst nach Dachau“ war an einigen Männern exekutiert worden.75 Wilhelm Lux beschrieb an seinem Lebensende die lokalgeschichtlichen Ereignisse auch zwischen 1930 und 1950 ausführlich, in historischer Distanz und als glaubwürdiger Zeitzeuge. Das erlaubt, seine Haltung als exemplarische des Bürgertums zu interpretieren. Er war 1982, als im „Heimatbuch der Stadt Gunzenhausen“ seine Lokalhistorie veröffentlicht wurde, geehrter Mitbürger christlicher und sozialdemokratischer Orientierung – dass er Funktionsträger im Nationalsozialismus war, wurde nicht mehr erwähnt76. Dies ist auch logische Folge einer >langsamen Distanzierung von der radikalen und terroristischen Komponente der nationalsozialistischen Weltanschauung<, wie die Vorform von Widerstand genannt werden kann, aufgrund des bürgerlichen Werthorizonts. Erste Anzeichen dafür sind in Vorbehalten zu den „Aufmärschen“ nach der Gleichschaltung zu sehen. Sie verdichteten sich dann bei der Auseinandersetzung zur Kirchenpolitik, verbreiterten sich durch die Kriegsereignisse und führten zur kampflosen Kapitulation des „Volkssturms“ beim Anrücken der US-Armee 1945. In gleicher Weise erfolgte die Umorientierung auf demokratische Verhältnisse mit dem sich einlassen auf die Anordnungen der Militäradministration bis zur Gründung der DDR/BRD 1949.77 Diese war (auch) im Gunzenhäuser Bürgerstand durch Rückgriffe auf Elemente geprägt, die in der Vergangenheit die humanen, demokratischen Linien der bürgerlichen Mentalität repräsentierten. Zentral erschien der „gerade, rechtschaffende Sinn, der sich in den Bürgerfamilien von den Vätern her fortgeerbt hatte. ... Er war eng verbunden mit einer ernsten Frömmigkeit, die sich im ganzen Leben ausprägte.“ Ewige christliche Wahrheiten hätten „pünktliche Gehorsam und Gewissenhaftigkeit“ 78 begründet und seien so eine Quelle der Regeneration mit dem Ziel, unerschrocken das Leben zu meistern. Nach den Beschreibungen von Wilhelm Lux gab es folgenden Entwicklungen: Schon in den 1920er Jahren sei eine Ortsgruppe der NSDAP entstanden, deren Antisemitismus sich in eingeworfenen Fenstern der Synagoge und Schändung des Friedhofs79 geäußert habe – sprachlich klingt dabei eine Ablehnung an. Ende der 1920er Jahre existierten drei jüdische Bankhäuser in der Stadt, eine jüdische Gastwirtschaft und ein Kaffeehaus. Zwei jüdische Ärzte praktizierten, ein Allgemeinarzt und ein Zahnarzt. Überwiegend arbeiteten die Juden als Handelsleute. Der Gegensatz zwischen politisch rechts und links Stehenden entlud sich schon im März 1923 in einer lange diskutierten „Saalschlacht“ am worden – wer sich in der >Frühzeit der Bewegung< engagierte und wieweit dies im Einklang oder Gegensatz zum „Bund Oberland“ geschah bleibt unerwähnt. Die NSDAP sei „immer stärker in den 75 Sechs Männer kamen schon 1933 in KZ, weitere später. Eine Aufarbeitung dieser Fälle steckt noch in den Anfängen. Vgl. Alt-Gunzenhausen 1987 76 Die Anfangsjahre des Nationalsozialismus sind in den Aufsätzen in Alt-Gunzenhausen 1987, 1988, 1989 geschildert. Zu Aktivitäten vgl. Anm. 3 im Kapitel 2. 77 So gesehen ist „langsame Distanzierung“ selbst eine Methode bürgerlicher Mentalität, um auf die gesellschaftlichen Veränderungen zu reagieren. 78 W. Sperl: Christian Hensolt. Ein Charakterbild aus der Heimat. In: Gunzenhauser Heimatbote 1950, 38-40. Der Aufsatz bezieht sich auf die Biedermeierzeit, als Menschen noch „in guter bürgerlicher Sicherheit und Geborgenheit“ hätten leben können, weil sie nicht wussten, „von Schrecknissen, wie sie unser Geschlecht durchleben musste.“ Sperl gibt darin auch Hinweise auf Wilhelm Löhe, der in Neuendettelsau Menschen ausbildete, die dann die fränkischen Auswanderer in Michigan/USA betreuten. Dies wurde Grundlage der Städtepartnerschaft Gunzenhausen-Frankenmuth. Vgl. S. 35 f.. 79 Zum Friedhof vgl. J. Schöborn: Der Judenfriedhof in Gunzenhausen. Alt-Gunzenhausen 1992, 99-113. Zu den Ausschreitungen gegen Juden vgl. neben Alt-Gunzenhausen 1959/60 und Heimatbuch 1982 (Anmerkung 51) und W. Lux in Alt-Gunzenhausen 1987 und 1988, sowie die Analysen der Zeitungsberichterstattung in den Heften Alt-Gunzenhausen 1993 ff. und auch: www.stephanie-gs.de, Projekt: Jüdisches Leben in Gunzenhausen. 22 Wirkungsbereich des öffentlichen Lebens“ getreten – als Kommentar dazu wird Golo Mann80 zustimmend zitiert, dass >mit den aufgeblähten Nazis< ebenso wie >mit den Kommunisten< keine Debatte mehr möglich gewesen sei. „Und dann naht das Schicksalsjahr 1933“ – das sich lokal „in den üblichen Formen“ vollzogen habe. Diese Darstellungen verharmlosen die gewalttätigen Auseinandersetzungen der >Kampfzeit< zwischen „stadtbekannten Radaubrüdern ... mit links- und rechtsgerichteter Einstellung“, bzw. „jugendliche Fanatiker“ 81. Anfang Januar 1933 wurde ein „jugendlicher Hitzkopf“ im „Schwarzviertel“ erstochen: „Ein sehr bedauerlicher Vorfall überschattete den Neujahrstag“ formulierte Wilhelm Lux dazu, und berichtet, dass „dem Überfallenen“ (so bezeichnete sich der SA-Mann, der zum Mörder wurde, selbst) in der späteren Gerichtsverhandlung Notwehr zugebilligt wurde. Solche Geschichtsschreibung relativiert und entschuldigt den Erkenntniswert, der im damaligen Bewusstsein der Gunzenhäuser Bürger vorhanden war: Sie hätten das „rücksichtslose Hinwegsetzen des Nationalsozialismus über alle bestehenden Gepflogenheiten und auch über die bestehenden gesetzlichen Einrichtungen“ nicht erwartet. Ihnen sei „sehr bald offenbar“ geworden, dass die Nazis „den politischen Gegner nicht nur zur Seite schieben, sondern auch vernichten“ wollten, „und zwar mit allen Mitteln und auf jede Art und Weise“. Warum, so ist mentalitätsgeschichtlich zu diesen Interpretationen zu fragen, stellt ein Bildungsbürger ein halbes Jahrhundert nach dem „Anschwellen der nationalsozialistischen Stimmen“ die Fakten so zusammen? Eben weil die Bürger der Kleinstadt die mündlichen und schriftlichen Ankündigungen des Terrors nicht so ernst nehmen konnten, dass sie zu einer antifaschistischen Koalition zusammengeschlossen hätten. Weil sie den „nationalen Aufbruch“ beklatschten, weil sich die bürgerliche Öffentlichkeit willig >gleich schaltete<, weil die Grenze zwischen der „Drohung des Verbringens nach Dachau Andersdenkenden gegenüber“ und dem Begrüßen eines >Durchgreifens mit harter Hand< ausgesprochen fliesend war. Ist das nur Entschuldigung oder noch Rechtfertigung für die 1933 von Wilhelm Lux wie von vielen anderen Bürgerinnen und Bürgern der Kleinstadt persönlich erlebte Begeisterung angesichts des 12 Jahre später erlebten „Zusammenbruchs“? Wie weit hätte denn der Umgang mit politischen Gegnern gehen dürfen: „zur Seite schieben“ und „in Schutzhaft nehmen“ ja, aber „vernichten“ nein? Was folgte denn während des Nationalsozialismus aus der (irgendwann schließlich doch oder jedenfalls punktuell) wahrgenommenen Inhumanität? Diente die Aufzählung von Ereignissen den Gunzenhäuser Bürgern im Westdeutschland der 1980er Jahre vor allem zur Selbstvergewisserung ihrer Alltagspraxis? Die verdienstvolle Durchsicht der zeitgenössischen Berichte des Altmühlbotens durch AbiturientInnen, die in den Heften von Alt-Gunzenhausen 1993 ff. wiedergegeben sind,82 führen detailreich in die Atmosphäre der 1930er Jahre ein. Ergänzend ist zu fragen, wie Wilhelm Lux, der als junger Erwachsener diese Jahre erlebte, in seinem Selbstverständnis als Stadtrat und im Alter darüber berichtete, denn dies scheint für die Mentalitätsgeschichte des 80 Gern zitierter Historiker zu diesem Thema, dem literarische Neigungen wegen seines Vaters, Thomas Mann, zugesprochen werden. Auch sein Geschichtsverständnis kann als Beispiel bürgerlicher Mentalität angesehen werden. 81 W. Lux in Alt-Gunzenhausen 1987, 106. Im Heimatbuch 1982, 123, wird die Ermordung eines Juden am 15.7.1934 auch als deren Aktion angesehen. 82 Vgl. Alt-Gunzenhausen die Hefte ab 1993. Sie setzen die Darstellungen von W. Lux über „Der Nationalsozialismus in Gunzenhausen“ fort. Er begann Anfang / Mitte der 1980er Jahre mit der Beschreibung der Jahre 1932 bis 1935, starb aber (1987) bevor weitere Jahre bearbeitet waren. Seine Texte sind in AltGunzenhausen 1987 bis 1988 veröffentlicht und regten im Simon-Marius-Gymnasium den Leistungskurs Geschichte (Initiative des Lehrers Heinrich Krauss) an, projektmäßig den Alltag während des Nationalsozialismus anhand der Zeitungsberichte nachzuvollziehen. 23 Bürgertums relevant. Zu konstatieren sind bei ihm allemal Widersprüche, die sich in vielen Passagen (ähnlich der schriftlichen Zeugnisse anderer Bürger) finden. Einige Illustrationen zum Profil der Stadt in der „Friedensphase“ des „Dritten Reichs“. Mit der Auflösung der Bayerischen Volkspartei 1933 sei „das Ende der Demokratie in Deutschland durch Selbstaufgabe und mit verstecktem Zwang gekommen. Dass man dem bei den Deutschen oft gerügten Personenkult auch weiterhin treu blieb, beweist eine Meldung vom 6. Juli 1933, in der es heißt: ‚Die Abteilung Gunzenhausen des Musikzuges III/13 brachte in den frühen Morgenstunden ihrem Führer, Herrn Karl Bär, anlässlich seiner Ernennung zum Obersturmbannführer durch den Herrn Stabschef Röhm eine Morgenserenade, die mit Schäfers Sonntagslied ‚Das ist der Tag des Herrn’ eingeleitet wurde.“83 An der Selbstaufgabe der Parteien sei die Weimarer Demokratie gescheitert, wenngleich Zwang hinzugekommen war – das Verhalten der Parteien erstreckte sich (während 19331945) vom begeistertem Mittun bis zum „Ausschalten“ mit terroristischen Mitteln. Treu geblieben sei „man“ der alten Praxis, jemanden zu ehren, zu beglückwünschen – das würden (1987) Nicht-deutsch-denkende „den Deutschen“ als Personenkult vorwerfen. Das Glückwunschständchen des SA-Zuges beinhaltete einschlägige Musik – christliche Heiligung des Sonntags wurde (1933) mit Führerverehrung vermischt. Die NSDAP und SA rief zum Bau des Hitlerdenkmals und zu vielen „Propagandamärschen“ auf – sich selbst gleichschaltend beteiligten sich daran alle bürgerlichen Vereine. Auf Antrag des Stadtrats Karl Bär verlieh Gunzenhausen am 23.3.1933 Hitler und Hindenburg (im Oktober 1933 auch Julius Streicher, durch den der 6.11.1933 zu einem „denkwürdigen Tag“ geworden sei) die Ehrenbürgerschaft und benannte Plätze nach ihnen – damit war sie deutschlandweit eine der ersten Städte. Die „Verfügung des SA-Obersturmbannführers Karl Bär“ vom September 1933 machte abnehmen der Kopfbedeckung und „Erheben des ausgestreckten rechten Armes“ zur Pflicht, wenn ein SA-Fahne vorbeigetragen wurde – was sich nach der „Röhm-Affäre“ 1934 in der Machtverteilung unter den Nazi-Organisationen änderte, thematisierte Wilhelm Lux nie. „Die von Hitler propagierte soldatische Haltung (fand) vor allem im Kleinbürgertum eine erhebliche Anhängerschaft“84 urteilte 1982 Wilhelm Lux – sich davon selbst distanzierend und nicht die eigene Beteiligung benennend. Widersprüchliche Positionen prägen v.a. die Berichte zu den Ausschreitungen gegen Juden. Bis zur Wahl am 5.3.1933 hätten sie „wie die Nichtjuden ungehindert in Gaststätten verkehren, in den Geschäften einkaufen“ können, genossen „noch immer den für alle Staatsbürger geltenden Rechtsschutz“. Anfangs „unbehelligt“ seien die beiden jüdischen Bankgeschäfte geblieben. Erst wenige Jahre später sei das eine von der Landwirtschaftsbank „übernommen“ worden. Das andere wurde „in der sogenannten ‚Kristallnacht’“ 1938 demoliert. Mit dem Metzgermeister Johann Salomon wurde ein Bürger „aufgrund eines rasch anwachsenden Denunziantentums ... in Schutzhaft“ genommen wurde. Sechs Menschen teilten im Sommer 1933 dieses Schicksal, ihre Namen bleiben ungenannt. „Der für den 1. April 1933 angesetzte Boykott jüdischer Geschäfte“ brachte zwar „Beschmieren von Schaufenstern, SA-Posten vor den Läden usw. Doch kam es zu keinen Demolierungen oder zur Misshandlung“. Am 25. März 1934 wurden von einer „johlenden Volksmenge ... die jüdischen Einwohner aus ihren Häusern (geholt), viele misshandelt und in die Fronfeste“ eingeliefert. Zwei Juden kommen dabei zu Tode, die Umstände wurden nie aufgeklärt. Der Gastwirt und Metzgermeister Simon Strauß wurde am Abend des Heimattages, 15.7.1934, erschossen und sein Sohn überlebte schwer verletzt das Attentat des „jugendlichen Fanatikers“ (W. Lux), der 21 Jahre alt, „Nichtstuer“ und >Sturm-Führer< war. Dieser lebte bei seinem Onkel, dem o.g. Karl Bär und ließ seine Trinkschulden von seiner streng gläubigen Tante bezahlen. Drei Viertel der vor 1933 ansässigen Juden verließen bis zur „Reichskristallnacht“ Gunzenhausen. Andere erlebten Traumatisches, z.B. wurden in Anschluss an die Reichspogromnacht Ende November 83 84 W. Lux in Alt-Gunzenhausen 1987, 132. W. Lux in Heimatbuch 1982, 125. 24 1938 sieben Juden „nach Dachau“, d.h. ins Konzentrationslager verschleppt. 85 Das Bürgertum scheint an der Exekution des Rassismus der Nazis mehr beteiligt gewesen zu sein als Wilhelm Lux ausdrückt. Zwischen 1.2.1933 und 1.4.1934 zogen 10 % der 181 Juden weg. Als Reaktion auf das Pogrom Palmsonntag und das Attentat Pfingsten 1934 verließen 20 % der 163 Juden Gunzenhausen. Als Folge der Rassengesetze 1935 verringerte sich die Zahl der Juden von 126 auf 10286. Die 48-jährige Elsa Seller wurde „wegen Verdachts gegen die Blutschutzgesetze“ verstoßen zu haben, ins Amtsgerichtsgefängnis gesperrt. Dort erhängte sie sich am 13.8.1937. Das Verfahren gegen den Mitangeklagten deutschen Großkaufmann Ludwig Faulstich wurde eingestellt. Ein Ludwig Faulstich erhängte sich am 16.5.1941 in seiner Wohnung. Ein Leutnant Ludwig Faulstich erhielt Ende Mai 1943 das „Deutsche Kreuz in Gold“. 87 Direkt vor der Reichspogromnacht 1938 kaufte die Stadt Gunzenhausen von der israelitischen Kultusgemeinde die Synagoge – das Gebäude (mit 500 Plätzen) zum Schleuderpreis von 5.500 RM und die Einrichtungsgegenstände (eichenes Gestühl, Teppiche der Galerie, Bundeslade, Beleuchtungs- und Beheizungseinrichtung) für 2.500 RM. Der Brandversicherungswert hatte bei knapp 60.000 RM gelegen 88. „In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 kam vom Gau die Weisung, Vergeltungsmaßnahmen gegen die ansässigen Juden zu ergreifen und Hab und Gut zu zerstören. In den frühen Morgenstunden rückte die SA aus und zerstörte den Hausrat und das gesamte Vermögen der Juden. ... Die männlichen Juden befinden sich in Schutzhaft.“ So schrieb der Stadtkämmerer in das „Tagebuch für Gunzenhausen“. 89 Eine der „Zwiebeln“, das „maurische“ Element der Synagoge, wurde abgerissen (die andere später), aber kein Brand gelegt. Im Zweiten Weltkrieg diente das Gebäude als Gefangenenlager für Belgier und Franzosen, die Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie (Fa. Hering) leisten mussten. Zur Reichspogromnacht 1938 schrieb eine Bürgersfrau 30 Jahre später auf: „Die Kristallnacht war das schlimmste, was es je gab. Den Juden die noch da waren, nicht viele mehr, wurden ihre Wohnungen zusammengeschlagen, die Wertsachen, Geld, was man brauchen kann, mitgenommen. ... Da gingen bei uns Geschäftsleuten mehr und mehr große Geldscheine ein, wie 1933. Von damals hat mein Schwiegervater erzählt, in der Nachbarschaft da hatten Leute nichts zu nagen und zu beißen. Auf einmal gabs beim Fleischeinkauf immer Hundertmarkscheine, alles von den ‚Judenstinckern’“. 90 Für 6100 RM „erwarb“ die Stadt am 13. November 1942 das jüdische Schulhaus, Mariusstr. 18. Die beiden letzten ehemalig jüdischen Häuser wurden vom Reich mit 1. Februar 1944 an die NSDAP und die Stadt übertragen. „Damit ist nunmehr der gesamte jüdische Grundbesitz arisiert.“91 Im Bürgertum der Kleinstadt wurde das offene Bekenntnis zum Nationalsozialismus durch dessen Kirchenpolitik zum Problem. Dabei wurden ab 1933 die Feiern zum 1. Mai 1933 (der nun erst zum freien Tag gemacht wurde) mit Festgottesdiensten in der evangelischen und katholischen Kirche begangen. Am „Luthersonntag“, 19. November 1933, marschierten zum Gedenken an dessen 450. Geburtstag die SA-, SS- und NSDAP-Abteilungen mit Musik „an der Spitze des Festzuges“ 85 vgl. Anlage 9, W. Lux: Die Juden im Gunzenhäuser Bürgerbuch. In: Alt-Gunzenhausen. 1962, 55-61. Tagebuch O. Maurer, Alt-Gunzenhausen 2000, 65. vgl. Anlage 8. 87 Tagebuch O. Maurer, Alt-Gunzenhausen 2000, 63,75+85. Nicht zureichend klären konnte ich die innerfamiliären Fragen, die möglicherweise eine Rolle spielten. Vgl. dazu das Lebensbild von W. Lux über Frieda Faulstich in Alt-Gunzenhausen 1979, 189f. und S. 18, Anmerkung 60. 88 Tagebuch O. Maurer, Alt-Gunzenhausen 2000, 65. Wo sich diese Gegenstände heute befinden ist unklar. 89 Diese Notizen verstehe ich nicht als ausschließlich private. O. Maurer veröffentlichte als Heimatgeschichtsschreiber und hielt bis „nach dem großen Völkerringen“ (auch W. Lux verwandte diesen Begriff in „Gunzenhausen. Lebensbild einer fränkischen Kleinstadt“ 1963, 17) an seiner nüchternen Berichterstattung von Ereignissen fest. Er dürfte auch die parteiamtliche Aufforderung gekannt haben, das Geschehen festzuhalten: Die Gauschulungsämter verfolgten nach 1936 das Projekt „Dorfbuch“ mit dem in gestalteter Form die Geschichte der Kommunen für die Nachwelt festgehalten werden sollte. Noch bedeutender ist, dass diese damals nicht veröffentlichte, aber am 10.11.1938 notierte Mitteilung ausdrücklich von „Weisung“ spricht. Die gleichgeschaltete Presse sprach während des Nationalsozialismus immer von „spontanem Volkszorn“ und auch die Erörterungen bis lange Jahre nach 1965 gingen in der Alt-BRD davon aus, dass sich solcher darin (mit) ausdrückte. Auf die Bereicherungsabsicht der Täter wurde (und wird) kaum hingewiesen. 90 Unveröffentlichte Aufzeichnungen „Aus meinem Leben“ von Luise Fischer (1906-1993). 91 Tagebuch O. Maurer, Alt-Gunzenhausen 2000, 92. 86 25 durch die Stadt zur Kirche. Es bestanden „noch keinerlei größere Spannungen zwischen Kirche und NSDAP“. Als die „Deutschen Christen“, ihr Sprecher war der 1. Bürgermeister92, eine „Beteiligung am Kirchenregiment“ durchsetzen wollten, bildete sich langsam eine Art „bekennende Kirche“. Die Mehrheit der Evangelischen traf sich in der Stadtkirche und unterstützte die distanzierte Haltung des bayrischen Bischofs Meisner. 1937 wurde ein neuer Dekan eingesetzt und die beiden Richtungen organisatorisch getrennt. In der Spitalkirche trafen sich die „Deutschen Christen“, die einen eigenen Pfarrer bekamen. Drei Stadtpfarrer verblieben in der Stadtkirche. Das Lutherhaus wurde im Krieg statt als Veranstaltungssaal für Kriegszwecke genutzt. Direkt bei der Mobilmachung wurden Soldaten untergebracht, dann „Auslandsdeutsche aus Russland“, später 150 Kinder aus dem Kreis Recklinghausen und im Dezember 1944 lagerte man dort eine Uniformfabrik aus der Nähe Aachens ein. Die Zahl der Katholiken wuchs im 2. Weltkrieg von rund 1000 auf 1500, weil wegen der Luftangriffe evakuierte Menschen (zuerst aus dem Saarland, dann aus Kiel) in Gunzenhausen untergebracht wurden. Diese waren „Vorboten“ der nach dem Krieg angesiedelten Flüchtlinge aus Osteuropa. Unter ihnen befanden sich viele Katholiken und so veränderte sich das jahrhundertelang existierende (Zahlen-) Verhältnis zwischen den Konfessionen. Der Pfarrer der „Deutschen Christen“ hielt die Ansprache beim Begräbnis der über 100 Toten des Luftangriffs vom 16. April 1945 – welche Gründe hatte dies? In den ersten Stadtrat nach Kriegsende berief die US-Militärverwaltung u.a. dem ev. Pfarrer Schmidt, weil er der Bekennenden Kirche nahe stand und ein „nicht belastete“ Bürger war. Kulturelle Veranstaltungen und wie über sie berichtet wurde, können als Indikatoren für bürgerliche Mentalität verstanden werden. Sie funktionierten als Fluchtpunkte und Garanten der Kontinuität. 1932 wurde dem 100. Todestag Goethes ebenso im Lutherhaus (mit max. 200 Menschen) gedacht wie 1948 dessen 200. Geburtstag93. Spannend wäre es, die Beteiligung von Bürgern an dem, im Oktober 1932 von den Nazis inszenierten „großen Tag“ feststellen zu können, an dem Hitler persönlich in einem eigens errichteten Festzelt eine Wahlkampfrede hielt. 1935 und 1937 wurde das neue „Zentralschulhaus“ eingeweiht. Ein weiterer Ausbau sei nicht möglich gewesen, weil der zweite Weltkrieg „bereits seine Schatten über das tägliche Geschehen zu werfen“94 begonnen habe. An dessen Ende wurde der Unterricht wegen Mangel an Brennmaterial eingestellt und die Schule zum Lazarett. Die Zeitungsberichte der Vorkriegszeit hingegen sprechen von friedlichem Aufschwung, internationaler Anerkennung und der deutschen Volksgemeinschaft, die mit der Namensgebung „Hindenburgschule“ und dem Kriegerdenkmal davor einen großen Deutschen Ehre erweisen würde. Auch während des Krieges musste die Lokalzeitung selbstverständlich dem Propagandaministerium folgen. Aber die Darstellung von Wilhelm Lux 1982 versucht einen systemkritischen Aspekt einzubauen, den es so nicht gab. Bis 1944 konnten die heimatkundlichen Veröffentlichung erscheinen. Dabei hatte der Papiermangel schon 1942 die Bücher-, Zeitschriften- und Zeitungsproduktion stark reduziert. Die Potenz und Anpassungsbereitschaft der Lokalhistoriker aus dem Bürgerstand zeigt sich also auch in ihren lang existierenden Medien. Lediglich das Logo des Gunzenhäuser Heimatboten wurde einfacher, d.h. weniger druckaufwendig, gestaltet. 95 Während aller Herrschaftsjahre des Nationalsozialismus wurde zu spezifischen Gedenktagen Feiern inszeniert, an denen sich fast alle Kulturträger der Kleinstadt beteiligten. Über den Parademarsch am 11.11.1944 zum Gedenken an die sogenannten „ersten Blutopfer der Bewegung“ vom „Marsch auf die Feldherrnhalle am 9. November 1923“ schrieb der Kämmerer ins städtische Tagebuch: „Am Silogebäude war der Volkssturm angetreten und marschierte unter Vorantritt des Fanfaren- und Trommlerzuges, der Fahnen, des Hoheitsträgers ... kompanieweise durch die Bahnhofs-, Hensolt-, General-Ludendorff-Str., Martin-Luther-Platz, Julius-Streicher-Str. zum Adolf-Hitler-Platz. Es waren etwa 520 Mann, jung und alt, im 92 Dr. Münch starb 1935. Er war 1927 als Amtsrichter aus Schwabach zum ersten hauptamtlichen Bürgermeister berufen worden. Dass er, der sich 1932 zur NSDAP bekannte, einige Positionen des bürgerlichen Rechtsstaat aufrecht erhielt, wird ihm bis heute positiv angerechnet. Vgl. Alt-Gunzenhausen 2005, 207: er habe das Pogrom 1934 begrenzt. 93 Die Festrede 1932 beinhaltete deutsch-nationale Aspekte, während die von 1948 zeitgemäß auch Anspielungen auf allgemeine Menschenrechte enthielt. Vgl. Altmühlbote / die Fränkische Landeszeitung 94 Heimatbuch 1982, 124. 95 Vgl. S. 31, Anm. 113 26 Bürgerrock.“96 Über „Kulturereignisse“ in der Kleinstadt unter ideologiekritischem Aspekt sollten weitergehende Überlegungen angestellt werden, um das „Mitläufertum“ (das dieses Beispiel ½ Jahr vor Kriegsende beweist) qualitativ beschreiben zu können. Mit kulturhistorischen Artikeln griff Wilhelm Lux in die zeitgenössische Diskussion direkt ein. In einer Betrachtung kurz vor Kriegsbeginn 1939 erklärte er, dass es nie eine „gute alte Zeit“ gegeben habe. Er führt als „Kehrseite der Medaille“ des hochgelobten Mittelalters an, dass es mit der „bürgerlichen Sparsamkeit, Ehrsamkeit und Zucht ... gar Übel aussah. Ebenso mit dem öffentlichen Frieden.“ „Das 15. und 16. Jahrhundert (seien) mit Recht stets als die Zeiten ausgesprochener Genusssucht bezeichnet worden. Aber auch das 17. und 18. Jahrhundert (stünden darin) nicht zurück.“ Ist das als eine Unterstützung der schnellen Veränderungen in den 1930er Jahren zu sehen? Dann hätte die bürgerliche Mentalität die „Modernisierung“ im Nationalsozialismus unterstützt.97 Ist darin eine Kritik zur ideologischen Verklärung des Mittelalters durch den Nationalsozialismus formuliert? Dann hätten sich die jungen Erwachsenen des Bürgerstands gegen weltanschauliche Verkürzungen gewehrt. 98 Als kleiner Angestellter im Gewerbesekretariat, aber schon öffentlichkeitswirksamer Bildungsbürger, erinnerte Wilhelm Lux an vergangene Kriege, um ein Licht auf den aktuellen Krieg zu werfen. Ausdrücklich schrieb er im Frühjahr 1941 am Ende seines Aufsatzes über 1870/71: „Ihr Zweck soll nicht lediglich in einer chronologischen Aufzählung und Schilderung der Sieges- und Festesfreude von damals begrenzt liegen, sondern insbesondere der Erinnerung an einen Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Volkes (dienen)... Aus solcher Einstellung heraus mögen diese Zeilen, die geschrieben sind in den Vorfrühlingstagen von 1941, in denen Großdeutschland von heute sich zum Endkampf mit seinem letzten Gegner England anschickt, gelesen und verstanden werden.“ 99 Konnte in den Kulturveranstaltungen oder konnte sich anlässlich ihrer ein geistiger Widerstand entwickeln? Am Beispiel des Wilhelm Lux Textes wäre dann der Rückgriff aufs Mittelalter ein Schachzug gegen die Verherrlichung des Wilhelminischen Kaisertums, in dem seine Altersgruppe aufwuchs. Da in ihren Kindheitserinnerungen auch die Demütigungen durch die Erzieher erhalten blieb, sollte diese „gute alte Zeit“ nicht wiederkehren, die „neue“ (seit 1933) aber „gut“ werden.100 Vereinzelt führten die Widersprüche und Einschränkungen auch zu gewissen Formen des Widerstands. „Wenn das der Führer wüsste“ war die Formel für gleichzeitige Kritik und Zustimmung des Bürgertums am real regierenden Nationalsozialismus. An Beispielen aus dem „Schwarzviertels“ seien Möglichkeiten, Folgen und Grenzen aufgezeigt. Am „Saumarkt“, dem Zentrum des „Schwarzviertels“ gab es drei Gastwirtschaften, im Umkreis von 200 Metern weitere vier.101 Alle betrieben weitere Gewerbe, damit die Familien leben konnten: Metzgereien, Bäckereien, Kleinlandwirtschaft, Viehhandel. Die Wirtshausstuben bildeten die Kommunikationszentren in der Zeit, als es kaum Rundfunk und noch kein 96 O. Maurer, Tagbuch. Alt-Gunzenhausen 2000, 103. Solches interpretiert der bürgerlich-liberale, europaweit hoch anerkannte R. Dahrendorff. 98 W. Lux schrieb selbst ausführlich über das Handwerk im Gunzenhauser Heimatboten, von November 1949 beginnend bis zur 17. Fortsetzung 1953, + Lit. 1953, 152. 99 Gunzenhäuser Heimatbote 5/1941, 138 f.. Diese Haltung von W. Lux widerspricht als solche direkt meinen Interpretationen der bildungsbürgerlichen Mentalität zur Kriegfrage, wie sie in Anmerkung 29 dargelegt sind. Ich sehe den Artikel aber im Zeithorizont des Frühjahrs 1941: auf der Höhe des Blitzkriegsiegesrausches verloren sich die Distanzierungen. Auch darum wurde die Frage „Bolschewismus“ ausgeklammert: es gab noch keine Ostfront; das Wiederherstellen der Systemgegensätze zwischen Hitler und Stalin erfolgte erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 21.6.1941. Hinzu kommt, dass es W. Lux während des ganzen Krieges gelang, sich in Gunzenhausen „unabkömmlich“ zu machen, er also nicht eingezogen wurde. 100 Wenn dies in den Vordergrund gerückt wird, treffen hier auch die Argumentationen zu, die in Anmerkung 29 zur Kriegsfrage angeführt wurden. Dann bekommt auch der äußerst staatstragende Schlusssatz des Artikels (er unterstützt den „eisernen Besen“ und kritisiert das „französische Wesen“) einen anderen Akzent. Er lautet: „So haben wir Menschen der Gegenwart, die wir in einem geordneten Staatswesen leben, in einem Deutschland, das die unseligen Zustände der Zersplitterung längst überwunden hat, allen Grund, nicht den Formen einer vergessenen Zeitperiode nachzutrauern und deren Wiederholung herbeizuwünschen, sondern können uns im Bewusstsein der steten Fortentwicklung der deutschen Nation der Gegenwart erfreuen.“ (Gunzenhäuser Heimatbote 1939, Band IV, 86) 101 „Zur Altmühl“- Schwarzbeck, „Goldener Stern“- Spitzbart, „Zur Sonne“- Gempel; „Rotes Ross“- Lehner, „Zum Storch“-Fischer, „...“ Weinhandlung, „...“Minnameier; „...“-Reichardt. 97 27 Fernsehen gab. Dort traf man sich am Stammtisch und im Verein. Sonntags besuchte man mehrere davon im Rundgang. Zum Weltkriegsbeginn 1914 gab es im Stammtischlokal der „Schwarzviertelgma“, der Gastwirtschaft und Metzgerei „Zur Altmühl“ eine Hochzeit: die seit vier Jahren verwitwete Wirtin mit fünf Kindern heiratete einen Metzgermeister, der die Weiterexistenz sichern sollte und für die weitere strenge Erziehung der Kinder im Alter zwischen fünf und dreizehn Jahren sorgte. Trotzdem musste das neue Familienoberhaupt am Weltkrieg teilnehmen. 1927 wurde er für 25-jährige Mitgliedschaft beim Militär- und Veteranenverein geehrt, was aber seine kritische Haltung gegen solche staatlich-militärische Verfügungen nicht änderte. Er empfand viele solcher als ungerecht (nicht redlich). Der „Stammtisch Schwarzviertelgma“ im Gasthaus „Zur Altmühl“ nahm 1929 am Umzug des Heimattages teil.102 Das „bessere Bürgertum“ (Treffpunkte in den Hotels „Gundel“ und „Krone“ sowie dem Gasthof „Zur Post“) sah auf diese Gruppe herab, weil ihr auch viele Arbeiter und „Oberländer“ angehörten. Am Stammtisch selbst ging es „immer hoch her“, weil die politischen Auseinandersetzungen lautstark und biertrunken geführt wurden. Das „Schwarzviertel“ bildete im wesentlichen den Wahlkreis IV, in dem die NSDAP schon Ende der 1920er Jahre hohe Stimmenanteile gewann. Am 6.11.1932 entfielen dort auf die NSDAP 358 Stimmen, auf die SPD 82, die Bay. Volkspartei 29 und die KPD 26 Stimmen. Bei der Volksabstimmung (ja/nein zu Hitler) am 12. Nov. 1933 waren es mit 598 Stimmen glatte 100% für die neu geschaffenen Verhältnisse. Die Zustimmung zum Nationalsozialismus nach der Gleichschaltungswelle, nach den ersten Abtransporten ins Konzentrationslager Dachau und nach der ersten „Bettelbekämpfung“ im Kreis103 – aber auch nach den „Propagandaschlachten“, den Aufmärschen und Jubelfeiern – lässt sich am Ergebnis der Volksabstimmung ablesen: Von den knapp 5000 Einwohnern der Stadt gaben 95,1% ihre Stimme ab. Das bedeutet zwei Stufen der Nichtzustimmung: etwa 200 Erwachsene (weniger als 5 %) weigerten sich bewusst, der „Verpflichtung zur Wahlbeteiligung“ zu folgen; von den Wählern sagten 4756 „ja“ – nur 16 Gunzenhäuser hatten im Herbst 1933 den Mut „nein“ zu Hitler anzukreuzen. Nach 1933 waren etliche deutsche Viehhändler rund um dem „Saumarkt“ erfreut, dass die Juden (fast) ausgeschaltet waren, andere aber verärgert, dass ihnen Handelsgeschäfte verunmöglicht wurden. Der Wirt des Stammlokals der Schwarzviertler wurde öfters aufgefordert seine Kritik zu unterlassen, denn er könne trotz seiner 54 Jahre und der Familie „nach Dachau“ kommen. Die „Schwarzviertelgma“ traf sich als solche in den nächsten Jahren nicht mehr, stramme NSDAP-Mitglieder mieden das Lokal.104 Der 37-jährige Hermann Fischer, ehemaliger Sympathisant des Bundes Oberland, Gastwirt, Metzgermeister und Kleinlandwirt, „motzte“ mit Freunden gegen die Parteibosse. 1935 nutzte der NSDAP-Kreisleiter und 1.Bürgermeister Gunzenhausens (wie in nachweislich weiteren 15 Fällen) eine Gelegenheit, ihn als Exempel für alle „Unruhestifter“ des Viertels als „politischen Häftling“ ins KZ Dachau einliefern zu lassen. 105 Durch einen glücklichen Zufall (der Sohn einer anderen Schwarzviertelwirtschaft 106 war beteiligt) dauerte diese „Schutzhaft“ nur ein halbes Jahr. 1937 heiratete „der KZ-ler“ eine Tochter aus dem Stammlokal der „Schwarzviertelgma“. Er äußerte sich als gebrochener und kranker Mann bis 1945 politisch nicht mehr, gehörte 1946 dem ersten Stadtrat an und starb 1948 an den Folgen des KZ-Aufenthaltes. Die Grenzen des „passiven Widerstands“ zeigt der Umstand auf, dass zu Weihnachten 1938 die damals 67-jährige Wirtin des Schwarzviertler-Stammlokals teilnahmslos das 102 Vgl. oben S. 27. 43 Bettler kamen vorübergehend ins Gunzenhäuser Gefängnis, 15 für zwei Jahre ins Arbeitshaus Rebdorf. Vgl. W. Lux, NS lokalgeschichtlich 1933. In: Alt-Gunzenhausen 1987, 139. 104 Vielleicht wurde wegen solcher Vorgeschichte das Nebenzimmer der Gastwirtschaft „Zur Altmühl“ vom September 1943 bis zum Kriegsende für die Unterbringung eines Teils der Reichsbahndirektion beschlagnahmt, die, wie weitere Behörden und Betriebe, aus dem zerbombten Nürnberg aufs Land verlagert wurde. 105 Hermann Fischer (1898-1948), Metzgermeister, leicht gehbehindert durch eine Verwundung im 1. Weltkrieg, führte die Gastwirtschaft und Metzgerei „Zum Storch“ in dritter Generation weiter. Seine Frau Luise (19061993, geb. Kirsch) „brachte ihre vier kleinen Kinder allein durch“. 1956 erstritt sie 251 DM „Entschädigung“ für den KZ Aufenthalt. Einer ihrer Söhne und ihrer Enkel führten und führen bis heute den Familienbetrieb weiter. 106 Hans Reichardt (1897-1974), Metzger, Alchemist und Heilpraktiker, war als „Berühmtheit“ wenig angreifbar und konnte dadurch Juden bei der Auswanderung helfen. Er gründete 1946 die örtliche CSU mit und vermachte sein Vermögen der Gunzenhäuser Hospitalstiftung und dem Heimatmuseum. 103 28 nationalsozialistische „Mutterkreuz“ entgegen nahm. „Da ist ihr ja nichts daran gelegen, aber sie musste sich melden, weil sie ja 8 Kinder geboren hatte, von denen nur noch vier lebten.“ Umstritten ist bis heute (gerade auch in feministischen Diskussionen), ob bürgerliche Frauen sich gegen die ihnen zugewiesene Rolle „Hausfrau und Mutter“ eher wehrten oder ihnen eine noch höhere Anpassungsbereitschaft an nationalsozialistische Weltanschauung zu unterstellen ist als den Bürgern. In keinen der zu diesem Aufsatz herangezogenen Text wird dazu etwas gesagt. Das bedeutet, dass es jedenfalls in der Kleinstadt keinen nennenswerten Frauenwiderstand gab. Die Parteinachrichten sprachen oft von aktiver Teilnahme der nationalsozialistischen Frauenschaft bei offiziösen Aktionen. Beim Winterhilfswerk und der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) engagierten sich relativ viele Frauen bei der Soldatenbetreuung und in den Hilfskrankenhäusern. Da für Frauen auch eine Arbeitsverpflichtung bestand, wäre die Hypothese zu untersuchen, dass bürgerliche Frauen eher im Krankenhaus- und Pflegedienst, Frauen aus dem Arbeiter- und Bauernmilieu eher in der Rüstungsindustrie (z.B. in der Munitionsfabrik im Spitalwald) eingesetzt wurden. Als die Zeit der höchsten Akzeptanz des Nationalsozialismus können die Monate während der Olympischen Spiele 1936 gewertet werden. National und international wurde die faschistische Gesellschaftsformation als Erfolgsmodell wahrgenommen. Viele andere Staaten versuchten die Methode, durch zwangsgesteuerte Infrastruktur- und Rüstungsmaßnahmen die kapitalistische Wirtschaftsweise fortzusetzen (sie hatte mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 zur Arbeits- und Perspektivlosigkeit von x-Millionen Menschen geführt). Aus dem „neuen Deutschland“ strahlten nun Gesichter auf Wochenschaufilmen in alle Welt, Radioberichte übertrafen sich mit Zufriedenheitsbekundungen und vielfältige Print-Medien verbreiteten Zahlen und Berichte zum „Aufschwung“ Deutschlands. Die „deutsche Volksgemeinschaft“107 schien Realität geworden zu sein und ihr wurde tausendjährige positive Weiterentwicklung zugetraut. In der Routine des Alltags scheinen die Ausgrenzungen mitsamt der unmenschlichen Folgen ausgeblendet worden zu sein. In der Gemeinschaftsideologie steckte nicht nur, sondern sie bedingte auch, dass, was nicht „deutsch“ war „ausgemerzt“ werden sollte. Dieses rassistische Prinzip setzte sich in Arbeitsbefehle um, wo Pünktlichkeit, Ordnung und Sauberkeit nun als „deutsche Tugenden“ eingefordert wurden. Wenn jemand „wie ein Zigeuner“ rumlief, verurteilte der Bürger dessen Kleidung, „rumzigeunern“ war die Beschimpfung, wenn jemand nicht arbeitete.108 1938 wurden in der „Aktion arbeitsscheu Reich“ fast 10.000 Menschen in die Konzentrationslager verschleppt, weil sie als nicht strebsam genug angesehen wurden. In einer nächsten Stufe der Ausgrenzung wurden Zeugen Jehovas (damals „Bibelforscher“ genannt) v.a. wegen ihrer Weigerung, Militärdienste zu 107 Begriff der "Volksgemeinschaft" spielte in der nationalsozialistischen Propaganda eine wichtige Rolle. Er diente als Beschwörungsformel für eine widerspruchsfreie Gesellschaft, in der die Deutschen unabhängig von Klassen, Ständen, Wissen, Kapital, Konfessionen und Berufen eine soziale Einheit bilden sollten. Zugleich war die "Volksgemeinschaft" als eine Opfer- und Schicksalsgemeinschaft gedacht, in der das einzelne Individuum nur durch den Dienst an der Gemeinschaft Geltung besitzen und mit ihr untrennbar verbunden sein sollte. In der Tat war das nationalsozialistische Konzept der "Volksgemeinschaft" ein rassistischer Entwurf für eine nach dem Führerprinzip hierarchisch gegliederten Gesellschaft, die mit den Mitteln der "Auslese" sowie der "Ausmerze" von angeblich "Artfremden" und "Fremdrassigen" geschaffen werden sollte. Die politische Funktion des Ideals der "Volksgemeinschaft" bestand darin, die bloße Diktatur hinter einer egalitären Maske zu verbergen. Da die Volksgemeinschaftsideologie aller rationalen und realen Grundlagen entbehrte - sie missachtete die Tatsache, dass die deutsche Gesellschaft des 20. Jahrhunderts keine Naturgegebenheit war, sondern das Ergebnis fortschreitender Assimilation verschiedenartiger Menschen und Gruppen, also ein Produkt historischer Prozesse - mussten die Nationalsozialisten ständig einen "Beweis" der Existenz einer "Volksgemeinschaft" antreten. Dies geschah in der Ritualisierung von Festen, von Feiertagen und spezieller NS-Jahrestage, bei denen die "blutsmäßigen" Bande der "Volksgemeinschaft" theatralisch beschworen wurden. 108 Im Gunzenhäuser Dialekt weist die Lautung „rumzicheinern“ noch deutlich auf herumziehen hin, während die rassistische Bewertung der „Zigeuner“, die zum nationalsozialistischen Völkermord an Sinti und Roma führte, versteckter bleibt. 29 leisten diskriminiert.109 Noch unmenschlicher wurden die Ausgrenzungen aus der „deutschen“ Volksgemeinschaft für alle, die nicht „völkisch“ als Deutsche galten. Während sich um „volkstumsdeutsche“ im Ausland (weltweit zählte man rund 20 Millionen dazu) eigenen Institutionen kümmerten, gab Hitler 1935 auf dem Parteitag die „Nürnberger Gesetze“ bekannt,110 die „juristische“ Grundlage der Vernichtung des europäischen Judentums wurden. Diese Dimensionen von „Volk“ und „Gemeinschaft“ werden meist noch in den heutigen Diskursen zur Gesellschaft zu wenig berücksichtigt. Auch die bei großen Sportereignissen oft gezogenen Vergleiche bezüglich „perfekter Organisation“ der Olympischen Spiele 1936 verhindern historische Erkenntnisse mehr als dass sie aufklärend wirken. Bürgerliche Mentalität reichte nicht hin (so die in diesem Aufsatz vertretende und besonders aus dem Verhalten im Nationalsozialismus belegbare These), die bezüglich „Menschlichkeit“ und „gutes Leben“ fatalen Ursachen und Wirkungen von Staat und Militär zu erkennen. Den Hierarchien im Staatsapparat und jeder Militärorganisation sind destruktive Elemente immanent, welche sich im Nationalsozialismus radikalisiert ausgeprägt wurden. Im „Dritten Reich“ konnte sich das Gewaltmonopol des Staates (das zudem mit dem „Parallelstaat der Partei“ verdoppelt wurde) nahezu schrankenlos verbreiten. Das militärische Prinzip „Befehl und Gehorsam“ wurde mit dem Führerprinzip für alle Verkehrsformen verbindlich. Die meisten Darstellungen in der Alt-BRD erwecken bis in die 1980er Jahre den Eindruck, der zweiten Weltkrieg sei ein über Deutschland hereinbrechendes Schicksal gewesen. Die zeitgenössischen Berichte gaben die Goebbels-Propaganda wieder und notierten örtliche Varianten davon. 111 Etwas distanziertere Bürger notierten 1939 vorsichtiger, der Führer habe „die politische Lage und seine Handlungsweise“ erklärt, stimmten 1940 aber auch in den Siegesjubel ein: „Am deutschen Wesen muss noch einmal die Welt genesen.“112 Wilhelm Lux vermerkte im Rückblick die „militanten Züge“ und bliebt eng lokalgeschichtlich: „In machen Amtsstuben“ habe sich „ein gewisser rüder Umgangston“ breitgemacht – aber die Lebensmittelrationierung funktionierte „fast bis in die letzten Kriegstage hinein reibungslos“113. Zunächst hatte die Stadt Lazarettplätze und Wohnraum für Evakuierte zur Verfügung zu stellen. Dann mussten durchziehende Truppenteile versorgt werden. Ab 1943 wurde der Krieg durch die „feindlichen Tiefflieger“ auch für Stadtbewohner lebensgefährlich. Schließlich wurde er „furchtbar“ und die Bombenangriffe auf Gunzenhausen kostete ca. 160 Menschen das Leben, zerstörten viele Häuser und Infrastruktureinrichtungen. Im Landkreis wurde Werte in Höhe von 3,8 Millionen RM vernichtet.114 Baracken für Evakuierte entstanden, die „erst lange nach dem Ende der Feindseligkeiten verschwinden“ – Wilhelm Lux formuliert die dramatischen Einflüsse auf Biografien fast zum ästhetischen Problem der Kleinstadt um. Die „Enttäuschung in der Bevölkerung“ sei schon 1940 groß gewesen, obwohl die propagierte „soldatische Haltung vor allem im Kleinbürgertum eine erhebliche Anhängerschaft“ gefunden habe – wie überzeugt Gunzenhäuser Bürger nach den Blitzkriegsiegen vom Endsieg des Faschismus, vom Großdeutschen Reich und vom „faschistischen Europa“ waren, wird nicht thematisiert. Über die Beteiligung der „Deutschen Christen“ und der evangelischen bzw. der katholischen Kirche bei der Ausgrenzungen von Andersgläubigen wurde viel – und tendenziös – geforscht. Eine lokale Aufarbeitung wurde aber mit der Hensoltshöhe-Darstellung – vgl. S. 19, Anm. 66 – erst begonnen. 110 Ihre Entstehung wäre als Kuriosität zu schildern, wenn sie nicht solch völkermordenden Beitrag geleistet hätten. Sie sind auch ein Beispiel der Justizgeschichte und der systemimmanenten Widersprüche. 111 Altmühlbote, 25.7.1940, Jubelbericht zum Aufmarsch der „siegreichen Truppen“: „Als der uns längst bekannte Feind und Kriegshetzer dem Deutsch Reich den Krieg erklärte“, habe der Führer gehandelt. 112 O. Maurer, Tagebuch. Alt-Gunzenhausen 2000, 73. 113 Dieses und die folgenden Zitate stammen alle aus dem Heimatbuch 1982, 125-129. 114 Im „Tagebuch“ notierte der Stadtkämmerer Oskar Maurer nüchtern die Belastungen der Bürger. Als eine bedenkenswerte Information ist mentalitätsgeschichtlich daraus festzuhalten, dass in Gunzenhausen bei Kleidersammlungen viele Uniformen der Parteigliederungen abgegeben wurden. Die Schadenshöhe teilte W. Huber in Alt-Gunzenhausen 1955, 51, mit. 109 30 1943 vermehrten sich Fliegeralarme in Gunzenhausen und der „pausenlose Rückzug im Osten“ habe „bei vielen die Überzeugung, dass der Krieg verloren“ sei, gestärkt. – „Aber jeder tut noch immer seine Pflicht an der Front und in der Heimat.“ In bürgerlicher Mentalität bedeutete die Treue zum soldatischen Fahneneid ein unhinterfragtes Ausführen von Befehlen, auch wenn sie unmenschlich waren. Da die Heimat im „totalen Krieg“ von der Propagandaformel zur wortwörtlichen „Heimatfront“ wurde, setzte sich das Pflichtbewusstsein in Beiträge zur Verlängerung des Krieges um. Der Widerspruch deutet sich in „dennoch“ : „immer“ an. Auch Gunzenhausen war ab Februar 1944 Luftangriffen ausgesetzt. Opfer habe es auch darum gegeben, weil „die Bevölkerung die Anordnungen des Luftschutzes nicht befolgt“ habe – die Alltagspraxis von Menschen wird in solchen Formulierungen fast zur Aussage, sie seien doch selbst Schuld, wenn sie Schaden genommen hätten. Die „wunderschönen“ Vorfrühlingstage seien durch Bomberpulks, die über die Stadt „brausten“ gestört worden. Die „Kriegsfurie“ habe sich in den letzten Apriltagen 1945 genähert – die poetischen Umschreibungen von Wilhelm Lux dienen der Verarbeitung der Realität. Das Ende des zweiten Weltkriegs erlebten die Gunzenhäuser Bürger als „Zusammenbruch“, nicht etwa als „Befreiung“. Nicht nur das „Dritte Reich“, von den meisten Bürgern unterstützt, sondern auch viele ihrer privaten Wünsche waren im Frühjahr 1945 ad absurdum geführt worden. Die Kapitulation sei „im allgemeinen mit Gleichmut aufgenommen“ worden. Das „deutsche Volk in seiner Gesamtheit“ sei aber nicht untergegangen, wie es „nach dem einstigen Oberhaupt des Großdeutschen Reiches“115 hätte sein sollen – eine eigenwillige Widerstandskraft wird dem „Volk“ beigemessen, das als besiegtes weiter existiere. Im Mai 1945 wurden 9102 Einwohner registriert, 30 % von ihnen waren „Evakuierte und Flüchtlinge“, also unerwünscht Zugezogene. Am besten sollten sie „in ihre Heimat“ zurück kehren. In Gunzenhausen seien 165 Kriegsgefangene und 30 Internierte „zurückerwartet“ worden – dies verbirgt den Täterstatus von ehemaligen Soldaten und Nazis, die von der Militäradministration als federführende Nazis eingesperrt worden waren. Die Anzahl der gemeldeten Einwohner war von knapp 6000 vor dem Krieg durch die Einquartierungen bis zum 1.1. 1945 schon auf 8287 Personen gestiegen. Dabei wurden die „Zivilarbeiter“ und die „Kinderlandverschickung“ zahlenmäßig nicht berücksichtigt. Praktisch war jedes freie Zimmer einer Wohnung mit „Evakuierten“ belegt – als kriegsbedingte Belastungen nahmen die Bürger dies in der „Zustimmungs-Diktatur“116 hin. Nachdem nun „die Amis das Sagen hatten“, d.h. auch, dass die Bürger sich wieder etwas sagen trauten, wurde gefordert, schnellstmöglichst Wohnverhältnisse herzustellen wie sie vor dem Krieg bestanden hatten. Die nach Gunzenhausen verschleppten Zwangsarbeiter, „fremdländische Arbeitskräfte“ tituliert, störten die „allmählich sich ausbreitende Ruhe“, da durch sie „Geschäfte geplündert und sonstige Übergriffe begangen“ wurden. Weil die Sieger alle Gewalt hatten, habe es zeitweise „keine Persönlichkeitsrechte, kein Recht auf Eigentum, keinen Schutz vor Willkür“ mehr gegeben. Wilhelm Lux notierte bedauernd, die Nutzung der Realschule durch die „Verschleppten“ nach dem Zusammenbruch habe sich auf das Gebäude so negativ ausgewirkt, dass die Räume erst wieder 1948 schulisch genutzt werden konnten. Kein Wort darüber, dass das Kriegsende für die „Angehörigen der Ostvölker“ die Befreiung war, die ermöglichte, sich endlich genug zu essen zu organisieren. Vielmehr „verunsicherten“ sie das Bürgertum mit ihrem „anmaßende Auftreten“, ihr „Abtransport“ wird für richtig erklärt und nicht gefragt, welche Umstände sie erwartete und ob sie das wollten. Erst allmählich habe sich „das bürgerliche Leben ... unter Aufsicht der Militärregierung“ normalisiert. Nahezu ironisch wirkt es, wenn Wilhelm Lux als Beleg dafür das erste Amtsblatt anführt, in dem u.a. das Finanzamt die Bürger aufforderte, „sämtliche Steuern in bisheriger Höhe einzuzahlen“. So betitelt W. Lux im Heimatbuch 1982, 128, Hitler, der auf dem Höhepunkt seiner Macht „größter Führer aller Zeiten“ = „Gröfaz“ genannt wurde. Fast klingt es wie eine Drohung, das wahre Deutschtum könne wieder auferstehen, wenn W. Lux die Maßnahmen der Besatzungsmacht als negative Wirkung auf die leider nicht mehr existierende deutsche Volksgemeinschaft der Jahre 1945-1948 beschreibt. 116 Forschungsergebnisse zu den Lebensverhältnisse der Deutschen ergaben die provozierende These von Götz Ali: Hitlers Volksstaat. Frankfurt/M 2005, 36: Die Volksgemeinschaft sei eine „jederzeit mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur“ gewesen. 115 31 Die ersten Nachkriegsjahre sind von Rückzug der führenden Nazis und den Vorbereitungen auf künftige demokratische Verhältnisse geprägt. Trotz Internierung von 14 Nazis-Spitzen entstand eine hohe personale Kontinuität. „Die Beamten, Angestellten und Arbeiter der Stadt, die zum großen Teil Mitglieder der NSDAP waren, setzten ihrer Tätigkeit bei derselben fort.“117 Ebensolches galt für Vereinsvorstände. Der Heimatverein hatte 1944 in der letzten Ausgabe von „Alt-Gunzenhausen“ den ersten Teil eines Artikels veröffentlicht und brachte 1949 in der ersten Ausgabe nach dem Krieg den zweiten Teil, ohne auch nur ein Wort über die Systemänderung zu verlieren. 118 Das bislang vertretende Geschichtsverständnis brauchte nicht geändert werden. Ausgetauscht wurde Stadtrat und Bürgermeister. Zum ersten Stadtrat wurden vom Militärkommandanten zehn Männer berufen, von denen sieben dem Bürgerstand zugehörten. Acht Monate später wählten nach demokratischen Regeln die Gunzenhäuser zehn Mitglieder der gerade neu gegründeten Parteien: acht aus der CSU und zwei von der SPD. Wilhelm Lux beklagte, dass an dieser Wahl jene Bürger nicht teilnehmen durften, die vom Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus betroffen waren. Dies sagt mehr über seine Mentalität als die tatsächlichen politischen Verhältnisse aus, denn aus der Wahl „ohne nennenswerte Beschränkungen“ 1948 folgte eine Sitzverteilung von 7 für die CSU, 3 für die FDP (davon er selbst einer), 2 für die SPD, 1 Parteiloser und 3 für die „Neubürger“, d.h. die in Gunzenhausen angemeldeten Flüchtlinge. Das Flüchtlingsproblem, 2000 „Ausgewiesene“ waren zu rund 7000 Einheimischen hinzugekommen, stellte für die Bürger eine tatsächlich neue Herausforderung dar. Sie waren dem Kleinstadtbürgertum „fremd“, wurden oder mussten aufgenommen werden. Es wird zur „Fürsorgepflicht“ der neuen Stadtoberhäupter, dass für die „Neubürger“ Wohnraum zur Verfügung gestellt wird. Zur Existenzsicherung zwischen 1945 und 1950 beteiligten sich Bürger selbstverständlich auch am Schwarzmarkt. Wilhelm Lux kritisierte sogar, die „Hortungen bei der Geschäftswelt (hätten) sehr stark überhand“ genommen. Von einem Zusammenhang mit den Bürgertugenden „Sparsamkeit“ und „Eigentumsmehrung“ ist verständlicherweise nicht die Rede. Deutlich aber wird vermerkt, dass nach der Währungsreform 1948 „plötzlich die Läden und Schaufenster wieder voll von Waren“ gewesen sind. Im Heimatbuch 1982 stellt Wilhelm Lux auf fünfzig Seiten die Gunzenhäuser Geschichte seit der Reformation dar. Er widmet dem „Schicksalsjahr 1945“, eines im 425 jährigem Zeitraum, vier Seiten. Diesen Umfang begründete er mit dem „Niederbruch aller bestehenden staatlichen und politischen Gewalten und Ideengänge“. Die Darstellung des Jahres 1933 erfolgte auf zwei Seiten, die gesamte nationalsozialistische Herrschaftszeit füllte acht Seiten. Die scheinbar oberflächlichen Verhältniszahlen von 12 zu 425 Jahren und 8 zu 50 Seiten weisen auf „eine überaus große moralische Wirkung und Erschütterung des Selbstbewusstsein“ hin, der sich in diesen 12 Jahren die bürgerliche Mentalität ausgesetzt sah. So scheint Wilhelm Lux auf die jüngeren Interpretationen der jüngsten Vergangenheit und gesellschaftlichen Entwicklung reagiert zu haben, die sich in den 1970er Jahren mit den „neuen sozialen Bewegungen“ wie Frauenemanzipation, ökologisches Bewusstsein, Friedensbewegung und oral-history-Ansatz der Geschichtsforschung zu etablieren begannen. Er berichtete bewusst „krasse“ Einzelheiten, weil diese „in das Gewissen und Gemüt der einzelnen dringen und eine Mahnung bilden sollen, damit die Zukünftigen vor gleichen Erschütterungen bewahrt“119 blieben. 117 Tagebuch O. Maurer, Alt-Gunzenhausen 2000, 120. vgl. Anhang: Logo und Autoren des Gunzenhäuser Heimatboten 1939 – 1959. Dass die Beilage im Altmühlboten während des gesamten Krieges erschien, zeigt eine besondere Bedeutung. Gunzenhausen war „Zeitungsstadt“ geblieben als die Druckerzeugnisse wegen Papiermangels ab 1942 weitgehend beschränkt wurden. Als einzige Konzession wurde das Logo verkleinert. (O.Maurer, Tagebuch. Alt-Gunzenhausen 2000, 85) 119 W. Lux, Heimatbuch 1982, 130. 118 32 5. Industrialisierung als nachholende Entwicklung Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verlief in zwei Abschnitten. Der erste zeichnet sich durch Betonung der bürgerlichen Wertvorstellungen und die Ansiedlung großer Industriebetriebe aus, im zweiten wurde Gunzenhausen zum Teil des „Neuen Fränkischen Seenlandes.“ Durch diese Umstrukturierung bekam der Dienstleistungssektor (bes.der Fremdenverkehr) die wirtschaftliche Priorität. Mentalitätsgeschichtlich ist bis in die 1980er Jahre eine hohe Kontinuität festzustellen, anschließend steht pragmatische Ausrichtung an der ökonomischen Entwicklung im Vordergrund. Im Vollzug von „Ordnung“ und „Erziehung“ zeigt sich, wie mit Fortbestand alter Verhältnisse unter neuen Bedingungen pragmatisch verfahren wurde. Die hoheitliche Aufgabe der Polizei war und ist es, „für den Sicherheitsdienst in der Stadt“ Sorge (!) zu tragen. Nun stand ihr in Gunzenhausen zwischen 1938 und 1958 derselbe Inspektor vor. Dies funktionierte, obwohl seine vorgesetzte Dienstbehörde bis 1945 dem Gestapochef H. Himmler unterstand, dann übergangsweise die US-Militäradministration die Anweisungen gab, schließlich das Innenministerium des mit demokratischer Verfassung neu gegründeten Freistaats Bayern (später das der Alt-BRD) doch qualitative Veränderungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung 120 während dieser 20 Jahre gegeben haben dürfte. Bei seiner Ausbildung zum Volksschullehrer in den „Friedensjahren“ der nationalsozialistischen Herrschaft lernte ihr späterer Rektor die pädagogische Fachzeitschriften „Nationalsozialistische Erziehung...“ und „Die Scholle“ kennen. Während das erste Blatt nach 1945 verboten wurde, konnte das zweite vom selben Herausgeber mit inhaltlich kaum erkennbaren Unterschieden weiter verbreitet werden. Da es Teil der wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung des Rektors der Stephanieschule (die Umbenennung von Hindenburgschule erfolgte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs) war, dürfte es dessen Einfluss auf Schüler und Lehrer der Volksschule ebenfalls über sein ganzes Berufsleben mit bestimmt haben121. Beide Männern konnten selbstverständlich und glaubhaft versichern, dass sie ihre Berufe jederzeit nicht nur nach bestem Wissen, sondern auch zum Wohl der Betroffenen und des Gemeinwesens ausgeübt hätten. Da sich objektiv dennoch viel änderte, kann als Methode bürgerlicher Mentalität eine „langsame Distanzierung“ zu den vorherigen Verhältnissen unterstellt werden. Durch sie wird ein Anknüpfen an die Vergangenheit, das Aufnehmen vorhandener Gegebenheiten und der eigene Beitrag zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft möglich. Nach dem 2. Weltkrieg bedeutete dies eine Rückbesinnung auf „wahre Werte“ (z.B. die des J.W. Goethe bei der Gründung der Volkshochschule GunzenhausenDinkelsbühl), ein sich berufen auf Befehlsnotstand (z.B. um den „Persilschein“ als nur Mitläufer in Nationalsozialismus zu bekommen122) und ein Arrangement mit der Siegermacht (z.B. um eine Betriebslizenz zu erhalten). Dass Wilhelm Lux im Heimatbuch 1982, 136, von „Sicherheitsdienst“ spricht, dürfte eine unterbewusste Leistung sein – es war im öffentlichen Bewusstsein wohl nicht mehr die Abkürzung „SD“ präsent, die 1938 eines der Terrorinstrumente, ebenfalls unter Himmlers Regie, bezeichnete. 121 Vgl. Anhang: Logo und Herausgeber „Die Scholle“ 122 Ende September 1948 wurde die Spruchkammer aufgelöst und „eine kleine Abwicklungsstelle“ erledigte bis zum Jahresende alle Verfahren, die das Mittun im Nationalsozialismus aufarbeiten sollten, um einen „Umerziehungsbeitrag“ zu leisten. Allerdings erstritt sich der Nazi-Bürgermeister, der für die Einweisung mehrerer Menschen ins Konzentrationslager verantwortlich war, bis 1953 eine Pensionserhöhung während einige dieser KZ-Gefangenen erst 1956 als politisch Verfolgte anerkannt und (minimal) entschädigt wurden. Durchaus dem entsprechend urteilte W. Lux, dass es „nicht allzu lang dauerte, bis nach dem Entscheid der Spruchkammer überhaupt niemand mehr fragt(e)“ wer was im Nationalsozialismus war und gemacht hatte. Heimatbuch 1982, 132. 120 33 Im dazu passenden Geschichtsbild lassen sich „große Bögen“ auch für die ökonomische Basis des Bürgertums formulieren. Z.B. wird in der Beschreibung der Sparkasse Gunzenhausen als „Spiegelbild der Wirtschaftsentwicklung“123 erkennbar, wie sich Ideologie und Praxis zusammenfügten. „Mit Mut, Ausdauer und persönlichen Opfern“ habe sich 1823 der Stadtschreiber jener „großen Idee“ gewidmet, die bei der Sparkasse angelegten Gelder „hauptsächlich an solche Bürger (auszuleihen), welche sich in ihren Gewerben einen augenblicklichen Nutzen damit verschaffen können“. So entstand „das Wesen“ Sparkasse als einerseits kommunale Einrichtung, andererseits wirtschaftliches Unternehmen. Sie sei „notwendige Komponente der Daseinsvorsorge, nämlich dazusein für den Bürger.“ Die Praxis veränderte sich materiell in den 150 Jahren, da die Stadt ursprünglich die Geschäftslokale bereit stellte. 1919 wurde der (erweiterte) Bankbetrieb direkt ins Rathaus verlegt. „Die Sparkasse gewann schnell das Vertrauen der Gesamtbevölkerung und aller Wirtschaftskreise.“ 1936 erfolgte mit der Ausweitung auf den Bezirk ein Umzug in die vormalige Volksschule am Marktplatz. An Bankeinlagen verfügte sie 1936 über 4,6 Millionen Reichsmark und bei der Währungsreform 1948 (in der Darstellung in dieser Unmittelbarkeit!) waren fast 41 Millionen Reichsmark bei ihr angelegt. Die Eröffnungsbilanz der D-Mark-Zeit von 2,3 Millionen erhöhte sich in den nächsten 35 Jahren auf 133 Millionen und bis 1982 auf rund 360 Millionen. Ideologisch wird der „sozialstaatliche Aspekt“ der Spar(samkeits)kasse hervorgehoben. In der „differenzierten Industriegesellschaft“ habe sich zwar „diese Aufgabe total gewandelt“, aber immer stand und stünde „die Hilfe für den Bürger“ im Mittelpunkt. „Zum Wohle unserer Bürger“ würden den Unternehmern Kredite zur Verfügung gestellt, damit diese Arbeitsplätze schaffen könnten. Selbst wenn 1982 die Praktiken des Finanzkapitals noch etwas anders als heute (= September 2008, wo gerade das „System Wallstreet“ zusammenbricht) gewesen sein sollten, spiegelt solche Darstellung auch einen frivolen Umgang von gesellschaftlich bestimmenden Kräften mit den ehemals gut-bürgerlichen Tugenden Fleiß und Sparsamkeit. Unhinterfragt und undifferenziert wird „Arbeit“ verherrlicht, wenn sie das Bruttosozialprodukt steigere. Kein Gedanke, dass sich Tätigkeiten während des 150-jähringen Entwicklungsprozesses grundlegend verändert haben könnte, kein Wort zur Entfremdung der Menschen durch Lohnarbeit, kein Bewusstsein über die Funktion des Finanzkapitals. Wilhelm Lux verstand sich als Chronist, welcher sich darauf beschränken müsse, „Angaben zu machen“ ohne eine abschließende historische Aufarbeitung zu leisten. Dies klingt nach Selbstbescheidung des Hobbyhistorikers, sollte aber auch kritisch gesehen werden. Die Stadt habe seit den 1950er Jahren eine „erstaunliche Aufwärtsentwicklung“124 genommen, urteilt er 1982. Er selbst war in allen jener „Stadtratsgremien“. Er wurde sogar Vertreter des Bürgermeisters, dem es gelungen sei, durch Industrieansiedlungen das Gewerbesteueraufkommen zu mehren und neue Wohngebiete zu erschließen. So kommentierte er mit „erstaunlich“ indirekt auch seinen Anteil, wenngleich er auf nur auf „hervorragende“ Personen, insbesondere den Bürgermeister und den CSUBundestagsabgeordneten, hinwies. Nicht erstaunlicherweise, sondern als folgerichtig aus dem handwerklich-mittelständischem Streben entstand durch die nachgeholte Industrialisierung in Gunzenhausen mehr Spielraum für Investitionen in Schul- und Straßenbau, Kanalisation und Kläranlage sowie Neubaugebiete und Altstadtsanierung. „Noch bis zum Zweiten Weltkrieg herrschte in der Gunzenhäuser Bürgerschaft ... die Meinung vor, dass das bestehende wirtschaftliche Gefüge für die Stadt sinnvoll sei und man industrielle Arbeitsplätze in größerer Zahl nicht brauche“. Diese Bewertung leitet den Artikel 123 124 W. Schomber: Die Sparkasse. In: Heimatbuch 1982, 231 f. W.Lux in Heimatbuch 1982,135 34 zur Wirtschaft125 im Heimatbuch 1982 ein. Zu Industrieansiedlungen im größeren Maßstab kam es erst ab 1960, weil durch Fördermittel des Bundes in der Oststadt große Flächen zu günstigen Konditionen und Kosten zur Verfügung gestellt werden konnten. Durch sie wurde aus der „Abwanderung von arbeitsfähigen jüngeren Menschen“ eine stetige Bevölkerungszunahme. Zwischen 1955 und 1963 stieg die Zahl der Industriebeschäftigten um über 100 %. Wo 1950 von 1000 Beschäftigten nur 24 in Industriebetrieben beschäftigt waren, änderte sich die bis zum Jahr 1963 auf 87 von 1000. Auswirkungen hatte die nachgeholte Industrialisierung auch auf das Schulwesen und die Kulturangebote. So entstanden Schulen für mehrere Bildungszweige und die zum Heimattag 1924 erstellte Festhalle auf dem Schießwasen wurde 1977 durch eine großzügige „Stadthalle“ ersetzt. Auch die Sportclubs bekamen neue Gelände. Symbolisch kann verstanden werden, dass nach dem zweiten Weltkrieg der alte Fußballplatz von 1929 an der Schmalespanstraße zum Siedlungsgelände wurde und ein neuer zwischen dem Schwarzviertel und der Mülldeponie angelegt wurde. Ende der 1970er Jahre wurde das Gebiet altmühlabwärts weiter erschlossen wurde. Die Kirchweih findet seither auf dem ehemaligen Fußball- und Tennisplatz statt, die Kläranlage wurde soweit südlich gebaut, dass zwischen sie und dem Schießwasen neue Sportplätze (Einweihung 1983) und eine Schießsporthalle passten. Dementsprechendes formulierten die Festschriften des 1. FC Gunzenhausen bei den Jubiläen 1930 bzw. 1985. 1930: „Diese Festschrift gilt vor allem der Jugend, der Zukunft unseres Volkes, der Jugend, die, geistig und körperlich durch den Sport gestählt, einst ein neues Deutschland schaffen wird.“ 1985: „Sport zählt heute zu den wichtigsten Faktoren unseres Lebens. Gerade in einer hochtechnisierten Zeit braucht der Mensch den Ausgleich. Der Sport verbindet Menschen und baut Brücke zu anderen Ländern und Nationen. Menschen, die dem Sport verbunden sind, erfüllen zudem eine große gesellschaftliche Aufgabe.“ Anfang der 1950er Jahre wurden durch Flüchtlinge neue Betriebe126 gegründet. Dieser Beitrag zur Stadtentwicklung wurde vom Bürgertum nicht unkritisch gesehen, denn das Flüchtlingsprobleme warf ganz neue Fragen auf. Mit ihnen wuchs nicht nur der Anteil von Arbeitern und Katholiken an der Einwohnerschaft, sondern sie veränderten auch das öffentliche Leben durch die eigene Interessensvertretung. Die Gruppe „Neubürger“ errang bei den Kommunalwahlen 1948 im Stadtrat drei von 16 Sitzen. Von den 45 Kreistagsmitgliedern bildeten sie mit 12 Sitzen die zweitstärkste Fraktion nach der CSU, die 24 Sitzen bekommen hatte. Je drei Mandate hatten die SPD, FDP und die Parteilosen. Flüchtlinge waren wahltechnisch „Bürger“. Wenngleich viele von ihnen durchaus eine bürgerliche Mentalität gehabt haben dürften, stellten sie in der Kleinstadt jahrelang „fremde“ Elemente dar. Von großen Teilen des Bürgertums des „alten Gunzenhausen“ wurden sie wie Exilanten angesehen und aufgenommen. Ein Beispiel ist die Patenschaft der Stadt Gunzenhausen mit der „ehemals sudetendeutschen Stadt Weipert“. Die Integration der „Deutschen aus den Sudetenländern“ ging sehr schleppend vor sich, obwohl sie in politischen Sonntagsreden gar als „vierter Stamm“ (neben Bayern, Schwaben, Franken) gepriesen wurden. Lange Zeit ging man so selbstverständlich von einer Rückkehr aus, dass die Weiperter in der Region sich als eine quasi Exilstadt Weipert vorstellten. 1954 wählten sie einen 125 Beck, Chr.: Die Wirtschaft im Gunzenhäuser Land. In: Heimatbuch Gunzenhausen 1982, 209-212. Christof Beck (1913-19xx) leitete als norddeutscher Journalist von 1965 bis 1980 das Gunzenhäuser Verkehrsamt und war wesentlich am Aufbau des Fremdenverkehrswesens beteiligt. 126 Else Kontny (1919-19xx) kam aus Pommern nach Gunzenhausen und gründetet 1953 eine Kleiderfabrik, die bis zu 400 MitarbeiterInnen beschäftigte. 1982 erhielt sie als erste und bisher einzige Frau den Ehrenteller der Stadt verliehen. 35 Apotheker „zum interimistischen Bürgermeister dieser Stadt“. 127 Aufgrund dessen Initiative beschloss der Stadtrat von Gunzenhausen, Pate von Weipert zu sein – sich also über die politischen Gegebenheiten in der Tschechoslowakei hinwegsetzend. Im folgenden Jahr fand die „erste Weiperter Kirchweih in der Altmühlstadt“ als weiteres „Treuebekenntnis zur alten Heimat“ statt. Auch die Öffnung der bundesdeutschen Außenpolitik unter der Regierung Brand/Scheel gegenüber dem „Ostblock“ mit der Anerkennung der als Ergebnis des zweiten Weltkriegs entstandenen Grenzen nach 1971 änderte das Selbstverständnis erst langsam. Man erinnerte sich nun an das Motto eines bedeutenden Weiperter Katholiken: „Gebt Liebe statt Hass!“. Die Patenschaft wurde nach der Implosion der Sowjetunion und der Verselbständigung von Tschechien und Slowakei nicht offiziell der Stadt Weipert in Tschechien mitgeteilt. Auch gab es keine Bemühungen zur Umwandlung in eine Partnerschaft im Sinne der erweiterten Europäischen Union. Allerdings ehrte die Sudetendeutschen Landsmannschaft die Stadt im Jahr 2004 für 50 Jahre lang erworbene „Verdienste um die sudetendeutsche Volksgruppe“. Am Ende des 20. Jahrhunderts galt das Heimatmuseum der Weiperter als eine touristische Attraktion Gunzenhausens. Utopisch gedacht könnte sich im 21. Jahrhundert eine „europäischen Mentalität“ entwickeln, in der die Leiden der Menschen einen hohen Stellenwert bekommen.128 1962 schloss Gunzenhausen seine erste internationale Partnerschaft mit der deutschstämmigen Kleinstadt Frankenmuth in USA-Michigan. Die Begründung des Stadtrats liest sich wie eine Bestätigung autoritär-historischen Denkens: er sei einverstanden mit einem Vorschlag des Konsulats der Bundesrepublik in Detroit zu einem People-to-Peoble-Programm, weil dies in der Geschichte mittelfränkischer Auswanderer von 1845 begründet wäre und ja das Freundschaftsverhältnis unterstützen könne, das 1945 ein Soldat aus Frankenmuth begründet habe, der „nach Gunzenhausen zurückkam.“ Mit der Jumelage zu Ville d`Isle wurde 1984 ein Stück der Kultur Frankreichs etabliert, z.B. beim jährlichen Marktplatzfest. Diese Veränderungen sind „jungen“ Gunzenhäusern möglicherweise nicht so bewusst wie den „alten“, die noch aufgewachsen waren, als der „Erbfeind“ Frankreich mit Faulheit und „welscher Verkommenheit“ bewertet wurde.129 Eine mögliche Erklärung, wie ein Bewusstsein entstehen könnte, das solchen Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart ergab, bietet die These von Entfremdung im und durch den Arbeitsprozess.130 Die Untergrabung der Moral durch die Entfremdungsprozesse, die durch Fließbandarbeit (als Spitze der industriellen, „fordistischen“ Produktionsweise) bei den Individuen ausgelöst wurden, führten zu einer strukturell bedingten Sinnlosigkeit von Lohnarbeit in kapitalistischen Wirtschaften. Entfremdung zeigt sich als die des Menschen von sich selbst, von seinen Mitmenschen und von seiner Umwelt, weil er nicht mehr den Gesamtprozess seines Schaffens überblicken und dessen Ergebnisse nutzen kann, bzw. diese ihm nicht nützlich sind. Das der industriellen Produktion entsprechende Bewusstsein kann nur mechanisches Anwenden von Normen sein, die sich in früheren Produktionsverhältnissen So W. Lux im Heimatbuch 1982, 136. Den Bericht über die Patenschaft „für“ Weipert (keine Partnerschaft mit der Stadt!) verfasste für das Heimatbuch 198, 155-157, der damalige Ausschussvorsitzende der Weiperter und Rektor der Realschule Treuchtlingen, Johann Zörkler. Vgl. auch Heimatbuch 1982, 154 f.. 128 Eine künftige „europäische Mentalität“ müsste aus vielen Erfahrungen Lehren ziehen: statt aus dem gegensätzlichen des „Morgen- und Abendlands“ zu einem „Kampf der Kulturen“ zu kommen die gegenseitigen Befruchtungen hervorheben; statt die Kolonialgeschichte durch wirtschaftliche und militärische Einflusszonenpolitik fortzuführen eine globale Sozialpolitik versuchen; statt die Weltkriegstechniken auf andere Kontinente zu übertragen aus deren inhumanitären Auswirkungen die Konsequenz ziehen und eine antimilitaristische Grundposition entwickeln; statt die nationalstaatlichen Interessen zu favorisieren auf Selbstbestimmung der Ethnien und ihrer regionalen Kooperation setzen; statt mitteleuropäische „Zucht und Ordnung“ als Verhaltensmaßstab von Menschen anzusehen die kreative Vielfalt von Lebensgestaltung akzeptieren; usw.. 129 Die im Kaiserreich geborenen Menschen bekamen neben dem Hass auch noch gesagt, dass die „deutsche Kultur“ das bessere gegenüber der „französischen Zivilisation“ sei. Die vor dem 2. Weltkrieg geborenen bekamen noch mit, wie sich Hitler 1940 am historischen Ort von 1919 über den Sieg über Frankreich aufführte. 130 Aufbauend auf Hegels Weltsicht; insbesondere von Feuerbach und Marx/Engel entwickelt, ist diese These fester Bestandteil materialistischer Interpretation von Geschichtsprozessen und Anthropologie. 127 36 aufgrund der ganzheitlicheren Arbeit entwickelt hatten. Die bürgerliche Mentalität verliert unter industriellen Produktionsbedingungen demzufolge ihren ehemaligen Sinn und Zweck insoweit, als ihr kein ganzheitliches Verständnis von Mensch, Gesellschaft und Natur möglich ist. Nun stieg (wie in allen ländlichen Regionen Mitteleuropas) in Gunzenhausen der Anteil industrieller Produktion sehr langsam an. Wenn angenommen wird, dass die Arbeitsteilung – und damit das Entfremdungspotential – bei zunehmenden Mitarbeiterzahlen steigt, so lässt sich an den Betriebszahlen dieser Prozess nachvollziehen. Noch 1981 gab es knapp 5000 Arbeitsplätzen in 35 Betriebe mit mehr als 20 Mitarbeitenden. Von den 10.000 Einwohnern des Stadtgebiets arbeiteten weniger als 2000 in den drei großen Industriebetrieben (wobei die Ein- und Auspendler nicht berücksichtigt sind). Ansonsten gab es in 21 Betrieben zwischen 20 und 100 MitarbeiterInnen. Hinzu kamen 300 Arbeitsplätze in der „Hensoltshöhe“ und 200 im Krankenhaus, d.h. in klassischen Dienstleistungsbetrieben. So blieb das „ehrbare Handwerk“ ein wichtiger Wirtschaftszweig. Wenngleich sich zwischen 1950 und 1982 die Anzahl solcher Betriebe von 1032 auf 186 reduzierte und der Anteil von Arbeitsplätzen im Handwerk bis zum Jahrhundertende hin stetig sank. „Wichtig“, wie das Handwerk noch im Heimatbuch 1982 eingeschätzt wird, blieb es v.a. wegen seines Images von Stabilität und Bodenständigkeit. Auf dieser materiellen Basis erklären sich die Veränderungen der bürgerlichen Mentalität in der zweiten Jahrhunderthälfte. Zutreffend wurde diese als Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit bis in die 1980er Jahre bewertet. (Dieses Urteil birgt aber die Gefahr, dass die Kontinuitäten nicht ausreichend berücksichtigt werden.) Während der Jahre 1930 bis 1950 konnte eine, sich aus der Alltagsarbeit ergebende, „mechanische Anwendung bürgerlicher Tugenden“ noch ideologisiert werden durch das Schlagwort „gesundes Volksempfinden“. (Das ja leider oft tatsächlich schlag-wörtliche Auswirkungen hatte.) Damit gelang es teilweise, die Zerstörungen, die solche Haltungen in den Mensch selbst (also von innen her) auslösten, zu überdecken durch „soldatische Disziplin“. Die im Alltag hergestellte und als selbstverständlich richtig hingenommene Befehl-und-GehorsamAtmosphäre baute, so eine sozialpsychologische Erklärung131 des Mitläufertums, in den Menschen permanente und aggressive Spannungen auf. Um sie zu lösen, wurde in der streng hierarchisierten Gesellschaft das „nach oben buckeln, nach unten treten“ als Lösung angeboten. So konnte die Beteiligung an einer Masseninszenierung (z.B. Umzug durch die Stadt oder Gedenkveranstaltung am Kriegerdenkmal) ebenso eine Entspannung bringen wie das sich Einfügen in die Kleingruppe einer nationalsozialistischen Unterorganisation (z.B. Abenteuer in der Hitler-Jugend erleben oder im „Samariterkurs“ der NS-Frauenschaft medizinische Grundkenntnisse erwerben). Die faschistische Ausprägung solcher Steuerungsmechanismen erlaubte Gewalttätigkeiten in der Durchsetzung verliehener Macht und beim Ausüben der Befehle. Dies war eine zusätzliche Attraktion für Männer, denen in ihrer Erziehung selbst Gewalt widerfahren war. Wo also die im Alltag entstehende Sinn-Leere bis 1945 durch die „nationalsozialistische Weltanschauung“ auszufüllen gewesen war, musste nach dem „Zusammenbruch“ (eben auch der Welterklärungen) auf die „alten Werte“ zurück gegriffen werden. Als im Wirtschaftsaufschwung der 1950er Jahre die industriellen Produktionsverhältnisse bedeutend zunahmen, reagierten ältere Bürger wie „workaholics“, d.h. mit dem Versuch durch rastloses arbeiten andere Bedürfnisse auszuschalten, ein Nachdenken durch Müdigkeit zu verunmöglichen und sich umfassenden Verantwortlichkeiten zu entziehen. Der bürgerliche 131 Hier sei auf W. Reich: Massenpsychologie im Faschismus, verwiesen. Neben dem aggressiven Verlauf gibt es einen produktiv-friedlichen, der zu einem lustvollem Leben führen kann. 37 Nachwuchs lernte informell, mit den immer inhaltsloser werdenderen Tugenden „zunehmend mechanistisch“ umzugehen. Pünktlichkeit und Ordnung, Fleiß und Sauberkeit, Anstand und Innerlichkeit, Treu und Redlichkeit wurden zu Rädchen im Alltagsgetriebe – ihre ethische Basis und ihre Umsetzung in religiöse Praxis verringerte sich stetig. Dies scheint die Ursache des gesellschaftlichen und mentalen Wandels gewesen zu sein. Beispiele dafür sind um 1960 die ersten „Halbstarken“ in Gunzenhausen, die mit ihren Mopeds die Bürgerruhe störten; die englischen Musiktitel, die SchülerInnen besser fanden als deutsche Schlager oder der Konfirmand, der eine Elvis-Presley-Locke trug. Auch war es nun nicht mehr selbstverständlich, dass die Bürgersöhne die kleinen Betriebe ihrer Eltern fortführten. Das Fernsehen bewirkte eine Veränderung der Verkehrsformen und der Meinungsbildungsprozesse veränderte. Z.B. erweiterten etwa 10 Jahre lang die Gastwirtschaften durch einen Fernseher ihr Angebot und den Besuch. Als dann zum Ende der 1960er Jahre hin jede Familie selbst einen Fernseher hatte, führte das zum Rückgang der Gaststättenbesuche. Mutig waren die ersten Frauen, die im Stadtbad Bikini trugen. Diskussionen über „darf das sein?“ löste der Oswald Kolle Film „Das Wunder der Liebe“ aus – öffentliche Sexualaufklärung war in der herrschenden Moral bis 1970 nicht vorgesehen. Obgleich von sexueller Selbstbestimmung noch weit entfernt, brauchten Empfängnisverhütungsmittel bald nicht mehr unter dem Ladentisch verkauft werden. Dabei signalisierte schon damals der Minirock die einsetzende Vermarktung freizügigerer Sitten. Provozierend wirkten ein paar „Gammler“, jene zum Wochenende nach Hause kommenden Studenten mit längeren Haaren, deren Auftreten in der Eisdiele mit den Fernsehbildern von Studentendemonstrationen verknüpft wurden. Politischer Auslöser des gesellschaftlichen Prozesses, der heute mit dem Signum „1968“ versehen wird und eine neue Bewusstseinslage in der Alt-BRD erzeugte, war der Tod eines Demonstranten in Berlin am 2. Juni 1967 durch eine Polizeikugel – Ursachen der studentischen Kritik waren die Unzulänglichkeiten des Establishments, die Unterdrückung von Lebensfreude und das sich erhöhende Bildungsniveau.132 Gleichwohl gab es in der Kleinstadt noch keine Aktionen von „1968er“ und keine Wohngemeinschaft von „Hippies“. Aber auch in Gunzenhausen nahm die Abiturientenquote zu, ein Jugendzentrum wurde Ende der 1970er Jahre realisiert. Als Fernwirkung der (3. deutschen) Frauenemanzipation kann gesehen werden, dass 1982 in einer Landkreisgemeinde erstmals eine Bürgermeisterin gewählt wurde. 1976 übernahm die Stadt die Patenschaft des Panzerbataillon 304, d.h. dass das etablierte Bürgertum auch im Wortsinne militärisch auf die Veränderungen reagierte. Rund 1000 Soldaten waren seit 1973 in der Heidenheimer Hahnenkammkaserne stationiert, was eine wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung des Landkreises mit sich brachte. Dass damit auch der erste Nachtclub in Gunzenhausen entstand, war nur untergründiges Gesprächsthema. Öffentlich verlautete vom Stadtrat, es gäbe eine besondere „Verbundenheit der Bevölkerung mit der Bundeswehr“. Wieweit übergriffig solche Einvernahme aller Einwohner ist, drang nicht ins Bewusstsein. Die öffentlichen Bekundungen stützten sich auf Staatsloyalität der etablierten Parteien. Direkt nach der Gründung der CSU 1946 in Bayern war in Gunzenhausen eine Ortsgruppe gebildet worden, die für das folgende halbe Jahrhundert bestimmender Faktor der lokalen Entwicklung wurde. Gegen den Aufbau der Bundeswehr gab es auch darum keine Einwände, weil die Veteranenvereine ähnliche militärische Traditionen pflegten und die Heimatvertriebenen sich für ein starkes Deutschland aussprachen (womit die Alt-BRD gemeint war, denn die DDR wurde immer noch als „sowjetische Besatzungszone“ betitelt). Statt sich an Ostermärschen zu beteiligen feierten maßgebliche Bürger den Aufstieg von Franz-Josef Strauß. Der Einsatz von Militär gegen Studentenproteste und die „RAF“ wurde nicht als Verfassungsfrage und Bürgerrechtsproblem diskutiert, Die internationalen Proteste, die persönlichkeitsbildenden Aspekte und die Arbeiterseite von „1968“ werden hier nicht thematisiert. 132 38 sondern als Staatsaufgabe im Sinne der Notstandsgesetze. Bei der bundesweiten Terroristenhysterie entstand auch die Atmosphäre des „deutschen Herbstes“. Die öffentlichen Inszenierungen von Rekrutengelöbnissen auf dem Marktplatz wurden Ausdruck solcher Staatstreue. Exemplarisch zeigt dies ein dreitägiges Fest im Mai 1972 und die Berichterstattung des Altmühlboten dazu. Bei „schönsten Sommerwetter lief die Jubelfeier der Soldaten- und Kriegskameradschaft Gunzenhausen ab“; Ehrengäste wurden ausgezeichnet; ein Manöverball „fand großen Zuspruch“; den Vereins- und Militärkapellen wurde gedankt; der aus Liederkranz und Sängerbund gemeinsam gebildete Männerchor trug das „Bundeslied von W.A. Mozart“ vor. Ein Generalleutnant a.D. durfte die Kameradschaft ehren, die zu einem Lebensstandard beigetragen hätte, „wie wir ihn als Volk und in überwiegender Zahl auch als einzelne noch nie in unserer Geschichte erreicht“ hatten. Bei der fackelfeuerumrahmten Rekrutenvereidigung gab der Bürgermeister 133 seine Meinung über „die Freiheit als höchstes Gut“ zu besten: Freiheit könne nicht durch „ideologisches Wunschdenken“, sondern nur durch militärischen „Ehrendienst am Staat“ erhalten werden. Das müsse vor allem jenen jungen Menschen klar gemacht werden, die „gegen die traditionelle Ordnung“ aufbegehrten, indem sie sich „ungezwungen“ und manchmal „auch unfassbar verwerflich“ verhielten. Der Bericht endet, nicht untypisch für diese Variante bürgerlicher Mentalität, mit dem Satz: „Mit klingendem Spiel rückten die Soldaten wieder ab.“ Der evangelische Dekan, selbst kriegs- und gefangenschaftserfahren und über drei Jahrzehnte in Gunzenhausen wichtigster Geistliche der Kleinstadt, bilanzierte, Soldaten hätten im Zweiten Weltkrieg tiefgehende Erfahrungen gemacht. Der Aufruf des Psalm 143 helfe aber zur Vergangenheitsbearbeitung. : 1. Krieg sei etwas Furchtbares – darum sollten ehemalige Soldaten die „energischsten Kämpfer für den Frieden in der Welt“ sein. 2. In der Ausnahmesituation Krieg und Gefangenschaft lerne man die Menschen kennen – als „Schweinehunde“ oder echte Kameraden. 3. Als Christ glaube man, dass das Überleben durch die „rettenden und bewahrenden Hände Gottes“ geschenkt wurde. Mental auf der Höhe der Zeit stehend – 1972 öffnete sich durch die sozial-liberale Koalition die Alt-Bundesrepublik nach Osten, das Aufbegehren der 1968-Studenten wurde gemanagt und die RAF als militärischer Feind bekämpft – erwähnt der Dekan mit keinem Wort die gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen. Er lobt stattdessen die existierenden staatlichmilitärischen Rahmenbedingungen. Immerhin unterstreicht seine persönliche Zeugenschaft den Aufruf zum Frieden – bei anderen Festrednern wirkte dies oberflächlicher. Den Landrat zitiert der Zeitungsbericht sogar mit folgenden Worten: Kriegerkameradschaften stellten „ein Vorbild für Pflichterfüllung, Opferbereitschaft und edler Kameradschaft“ dar, die dem „Streben nach Frieden“ dienen würden. Faktisch geschichtsklitternd dankte er dafür, dass die Soldatengemeinschaft ein „steter Mahner zum Frieden und Erhaltung der Freiheit“ gewesen sei. In diesen Jahren wurden auch die Weichen für die Umstrukturierung der Region zu einem Tourismusgebiet gestellt. So zeigte sich durch die politökonomische Ebene die Gleichzeitigkeit vom Schwinden der materiellen Basis mit dem Beibehalten der geistigen Haltung des Bürgertums. Laut städtischem Werbeprospekt von 1974 sei Gunzenhausen „trotz der Aufgeschlossenheit der modernen Zeit gegenüber eine gemütliche, heitere Stadt geblieben. Selbst die Ansiedlung einer beachtlichen Industrie konnte daran nichts ändern.“134 Am 16. Juli 1970 beschloss in letzter Minute vor den Sommerferien der bayerische Landtag die Rechtsbasis für das in den folgenden 20 Jahren entstandene „Neue Fränkische Seenland“. 133 134 Friedrich Wust (1914-1998) vgl. unten S. 42. „Gunzenhausen. Die gastliche Stadt im schönen Altmühltal.“ Text von Christof Beck. 1974. 39 Der damalige Stadtrat und spätere Bürgermeister, der diese Entwicklung durch seine Kontakte vorantrieb, urteilte im Rückblick: „In einer Weise, die heute so nicht mehr machbar wäre“ 135 unterstützte die öffentliche Hand den Strukturwandel von kleinbäuerlicher Landwirtschaft zur Fremdenverkehrsregion. Rund 1,2 Milliarden DM wurden investiert – das war immerhin die vierfache Menge dessen, was die Olympischen Spiele 1972 in München gekostet hatten. Die Umsetzung der Idee der Wasserüberleitung vom Altmühltal in das Regnitz-Maingebiet nutzte nicht nur der regionalen Wirtschaftsentwicklung, sondern auch der Stadt, die dadurch den gewissen Bedeutungsverlust136 ausgleichen konnte, den sie durch die Kreisreform erlitten hatte. Als Bewusstseinsentwicklung interpretiert wurde aus dem Wunsch, die jährlichen Hochwasser der Altmühl zu vermeiden, der methodische Prozess, das Hinterland am Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft zu beteiligen.137 Alle Bürgermeister pflegten das geschichtliche Erbe. Im Vorwort des Heimatbuches 1982 definiert der Bürgermeister (CSU-Mitglied) Heimat als den „unmittelbar prägenden Lebensund Erlebensbereich“, in dem ein Mensch wurzeln und sich geborgen fühlen könne. Die Veränderungen gegenüber 1930 zeigen sich, dass der damalige ersten Bürgermeister (Hitler Anhänger) zur Heimatfrage auf Hans Bach (1882 – 1959), der Galionsfigur des Vereins für Heimatkunde, verwies. Hans Bach verkörpere (so Wilhelm Lux) sichtlich den „wohlberechtigten Bürgerstolz“ in einer „schlichten einfachen Weise.“138 1949 wurde er zum Ehrenbürger Gunzenhausens ernannt und 1957 bekam er das Bundesverdienstkreuz verliehen. Hans Bachs Geschichtsbild verdeutlicht sich z.B. in einem Aufsatz von 1931 über das „ehrsame Handwerk“: „Es ist eine Schmach für uns Deutsche, dass unser Volk so wenig von seiner Geschichte, vom deutschem Wesen und deutscher Art weiß.“ Trotz des berechtigten Stolzes auf den Fortschritt solle man nicht mitleidig die früheren Zeiten belächeln, sondern erkennen, dass das Handwerk „ehedem unserem gewerblichen Leben sittlichen Halt und 135 Interview Altbürgermeister Willi Hilpert am 23. Juli 2008. Beschlusstext vgl. Heimatbuch 1982, 227. Durch die Gebietsreform gliederte sich Gunzenhausen 14 umliegende Gemeinden ein, wodurch die Einwohnerzahl von 10.000 auf 15.000 stieg. Gleichzeitig wurden aber Kreisdienststellen nach Weißenburg verlegt, das Autokennzeichen GUN verschwand. 137 Eine hier nicht diskutierte Dimension der bürgerlichen Mentalität stellt dar, dass im Selbstbewusstsein eine Zugehörigkeit zur Stadt im Unterschied zum Dorf oder Land existiert. Zur großräumigen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jh. wirkt dies manchmal anachronistisch, denn die gesamte Region zählt als „strukturschwacher ländlicher Raum Nordbayern“. Der gegenseitige Austausch mit dem großstädtischen Raum Nürnberg wurde im Landtagsbeschluss von 1970 deutlich benannt. Dass bei der Wasserüberleitung die „Großschifffahrtsstraße“ Rhein-Main-Donau-Kanal eine wesentliche Rolle spielte, sollte nicht hintern, die Dienstleistungsfunktion (bzw. das Ausnutzen) des Hinterlandes für die Bedürfnisse des Ballungsraum zu erkennen. 138 H. Bach: Das ehrsame Handwerk der Stadt Gunzenhausen. In: Alt-Gunzenhausen, 1931. Auch in seinen Meinungen lassen sich die Widersprüche deutlich erkennen: im September 1941 dankte er als „Vereinsführer“, dass „mitten im schwersten Existenzkampf unseres Volkes“ der Band 18 von „Alt-Gunzenhausen“ erscheinen könne und so „der Pflege des Heimatgedankens eine wesentliche Unterstützung“ angedeihe. Darin heißt es u.a. „Europa (schicke sich an) unter deutscher Führung dem Todfeind aller Kultur und allen geistigen Lebens, dem Bolschewismus, ein Ende zu bereiten“. Ist die Rede von Europa eine bewusste Vermeidung des Führerkults um Hitler und das Herausstreichen der Antithese abendländische Kultur gegenüber Bolschewismus eine Bearbeitung der Verwirrungen, die der gerade zu Ende gegangenen Hitler-Stalin-Paktes ausgelöst hatte? 1949 konnte H. Bach als „Vereinsvorsitzender“ dafür danken, dass nach der Unterbrechung „durch die Ereignisse des Jahres 1945“ (!) nun wieder ein Heft Alt-Gunzenhausen erscheinen könne. Obwohl es keine abschließende Antwort auf solche Fragen geben kann und Interpretationen immer mit Zweifeln behaftet sind, drücken die Texte doch auch Kontinuitäten im Verständnis des Verfassers aus. Unter diesem Aspekt kann noch eine kurze Interpretation von Hans Bach zu den verschiedenen Namen des Färbertums untersucht werden: er meint im Gunzenhäuser Heimatbote 1958, 68, dass der Name Folterturm nur eine falsche Lesart von Falltorturm sei, denn es sei dort „nie gefoltert“, sondern nur gefangengehalten und an den Pranger gestellt worden. Kann dies als klare Begrifflichkeit des „Begründers der wissenschaftlichen Heimatforschung“ verstanden werden oder drückt es einen allzu engen Begriff aus? Nach einem Prospekt von 1757 gab es am Nordrand der Stadt einen „Folterturm“; vgl. Mühlhäußer, W. (Hg.): Gunzenhausen einst und jetzt. Gunzenhausen 1990, 6 f.. 136 40 Weihe gab.“ Die Zunftordnungen schrieben Gesellen- und Wanderjahre vor, deren „Erfahrungen und Eindrücke ... auf die heimatlichen Handwerksverhältnisse angewandt“ wurden. So sei nicht nur die Entwicklung der Heimat gefördert worden, sondern auch die Verwurzelung der Menschen in ihr.139 Jedenfalls taugten um 1980 die Sphären der 1930er Jahre nicht mehr, um auf die Veränderungen zu reagieren, die sich durch das Eingebundensein der Stadt in die sich entwickelnden Fremdenverkehrsregion ergaben. Bezeichnenderweise stellte die Stadt als Organisator des Fremdenverkehrs einen norddeutschen Journalisten ein. Die lokalpolitisch entscheidenden Stellen besetzten nun Geburtsjahrgänge der 1930er Jahre. Ihre Vorstellungen prägten die letzten 20 Jahre des 20. Jahrhunderts, wo sich eine neue Qualität des Dienstleistungsstandorts Gunzenhausen entwickelte. 6. Umorientierung zur Dienstleistungsgesellschaft Die Entwicklung Gunzenhausens während des letzten Abschnitts des 20. Jahrhunderts ist ein Beispiel dafür, wie sich bürgerliche Mentalität veränderte und auch, wo die Grenzen dieses Erklärungsansatzes liegen.140 Mit der Umgestaltung der Region zum „Fränkischen Seenland“ verlagerte sich nicht nur der wirtschaftliche Schwerpunkt der Stadt weg von industrieller Produktion hin zu Dienstleistungen, sondern auch die existenzsichernde Arbeit vieler GunzenhäuserInnen hing zunehmend vom aufzubauenden Tourismus ab.141 Entsprechend dürften sich auch die Mentalitäten der Menschen angeglichen haben. Die realen Veränderungen scheinen von (eher älteren) Einwohnern als rascher Wandel, der viele alte Werte zerstöre, hingenommen worden zu sein, während (eher jüngere) Einwohner darin eine Steigerung der Lebensqualität sahen und die Chance aufgriffen, sich gut damit einzurichten. Die erste Gruppe dürfte mehr an bürgerlichen Tugenden festgehalten, die zweite Gruppe solche eher funktional eingesetzt haben: wenn es einem Individuum nützt, ordentlich und fleißig zu sein, wird es sich so verhalten; wo es ihm nicht nützt, wird auf diese Tugenden kein Wert gelegt. Hinzu kam ein Wandel der Sprache nicht nur durch die Anglizismen, sondern auch durch den Verlust von Bedeutungsfeldern, der bei Wertbegriffen einsetzte. „Treue“ wurde, wo sie nicht doch nur „leerer Wahn“ im Schillerschem Gedichtssinn war, eine Kategorie des Privatlebens. In der Haltung „verantwortliche Partnerschaft“ erlebte Treue im zwischenmenschlichen Bereich durch die Sexualaufklärung, durch moderne Verhütungspraktiken, durch Aids und durch die Pornografisierung eine richtige Renaissance. „Redlichkeit“ konnte die verrechtlichten Vertragsbeziehungen zwischen Institutionen, Betrieben und Personen nicht mehr abbilden. So kann einerseits eine Verallgemeinerung von „gut bürgerlichen“ Vorstellungen in alle gesellschaftlichen Milieus hinein festgestellt werden. Andererseits setzte eine (bis heute sich fortsetzende) gesellschaftliche Spaltung ein, die bestimmte Gruppen, die sich nicht am Fortschritt beteiligen wollten oder konnten, von der ökonomischen Entwicklung abtrennte. Abspaltungen aber auch von (geistig definierbaren) Gruppen, die vom „mainstream“ bundesdeutscher Öffentlichkeit nicht wahrgenommen / nicht verstanden wurden. Aufgabe des einzelnen Individuums wurde es, sein „gutes Leben“ im System von funktionierender Delegationsdemokratie und prosperierender Marktwirtschaft zu arrangieren. Dieser Herausforderung konnten Menschen mit materiellen Besitz und höherem Bildungsstand zwar leichter begegnen als weniger Begüterte, aber etliche Elemente der bürgerlicher Mentalität hinderten auch beim „funktionalen Einsatz“ alter Tugenden und trugen nicht zur individuellen Partizipation am höherem Lebensstandard bei. Was Kritiker als 139 H. Bach: Das ehrsame Handwerk der Stadt Gunzenhausen. In: Alt-Gunzenhausen, 1931, 2-12. Diese Erzählung kann sich auch nicht mehr auf Wilhelm Lux und das Heimatbuch stützen, sondern nutzt neben den Werbebroschüren des Verkehrsvereins Gunzenhausen zwei wissenschaftliche Arbeiten. 141 Gezielte Hinweise darauf schon im Heimatbuch 1982, 227-230. 140 41 eine Reduktion auf „Konsumismus“ beschrieben, hatte einen „gesellschaftlichen Wertewandel“ zur Folge, der umfangreich sozialwissenschaftlich untersucht und als Politikberatung in die Arbeit unzählige Kommissionen einfloss.142 Die Anforderungen an die Menschen erhöhten sich, ihre persönlichen Haltungen (in den Gegensatzpaaren aggressiv : friedfertig, egoistisch : solidarisch, couragiert : zurückziehend beschreibbar) vermehrt selbst zu steuern, da die „allgemein verbindlichen Werte“ ständiger Relativierung unterzogen sind. Weder Kaiser, noch Führer, noch Parlament wollen und können noch sagen, was „richtig“ sei. In Gunzenhausen wurde der Anstieg des Bruttosozialprodukts durch den Fremdenverkehr begrüßt, ohne allzu sehr auf die sozialen Folgen zu achten. Positiv wurde dem Projekt „Neue Fränkische Seenlandschaft“ angerechnet, dass alle betroffenen Gruppen in den demokratisch verlaufenen Planungsprozess einbezogen wurden, was eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung zur Folge hatte. Mit dem „Zweiklang aus Wasserwirtschaft und Fremdenverkehr“ konnten „positive regionalwirtschaftliche Effekte“ 143 erzielt werden. 1982 wurde eine Werbegemeinschaft gegründet, seit 1990 organisiert der „Tourismusverband Neues Fränkisches Seenland“ die Entwicklung. War seit jeher der Austausch zwischen der Kleinstadt und den umliegenden Gemeinden ein entscheidender wirtschaftlicher Faktor, so fügte sich Gunzenhausen nun in neuer Weise in das „moderne Franken“ ein. Sozusagen kam zur realisierten Auto-Mobilität eine geistige Mobilität, die der „postmodernen Gesellschaft“ Rechnung zu tragen versuchte. Zu den gemeinsamen Marketingkonzept des Tourismusverbandes gehörte, dass alle kommunalen und gewerblichen Werbemittel ein einheitliches Erscheinungsbild bekamen. Durch die bundesweite Werbung, im Neuen Fränkischen Seenland Urlaub zu machen, wurde auch die Stadt bekannter, wenngleich sie versuchen musste, ein eigenes Profil zu konkurrierenden Orten auszuprägen. Diesem Zweck nutzten auch die vielfältigen heimatgeschichtlichen Darstellungen, die mit Unterstützung des nun hauptberuflich geleiteten Stadtarchiv herausgegeben wurden. In Anwendung der Methode der bürgerlichen Mentalität (langsame Anpassung) und der dabei oft geübten personenbezogen Darstellungsweise kann die Entwicklung der zweiten Jahrhunderthälfte an den beiden langjährigen Bürgermeistern festgemacht werden. 1954 – 1978 gelang es Friedrich Wust (1914-1998) die städtische Infrastruktur zu erneuern, Schulen auszubauen, Industrie anzusiedeln und die Gebietsreform erträglich zu gestalten. Sein Nachfolger Willi Hilpert (*1932) hatte ihm den Wahlkampf organisiert und das Technische Hilfswerk gegründet, wurde als jüngstes Mitglied des Stadtrates mit 28 Jahren CSUFraktionssprecher, arbeitete 10 Jahre im größten angesiedelten Industriebetrieb und prägte dann als 1. Bürgermeister ab 1978 die Entwicklung der Stadt in den letzten 20 Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Einige Ansichten von Friedrich Wust wurden oben zitiert,144 Willi Hilpert wies in einem Gespräch 2008145 auf notwendigen Fleiß, wichtige Beziehungen, demokratische Verpflichtungen und den Zusammenhang hin, dass „verdienen von dienen“ komme. Mental verdeutlicht letzteres eine aktuelle Variante eines Ausspruchs, den der Preußischen König vor 250 Jahre getätigt haben soll: er wäre der erste Diener des Staates. So zeigen sich selbst in den Bedeutungsdimensionen des Wortfeldes „dienen“ die seither stattgefundenen Übertragungen vom Adel aufs Bürgertum und die Veränderungen in Amtsverständnis und Ökonomie. 142 Statt Einzelverweise möchte ich die These aufstellen: weite Teile der geisteswissenschaftlichen Universitätsfächer schulden dem Bedürfnis hochentwickelter Staaten nach Steuerungsinstrumenten der postmoderner Gesellschaft ihre Existenz. 143 Die Zitate dieses Abschnitts stammen aus Schneider, Manfred: Das Neue Fränkische Seenland. Die Umgestaltung eines periphereren ländlichen Raums zu einer Freizeitlandschaft. Erlangen 1998. 144 Vgl. S. 39. 145 Interview Altbürgermeister Willi Hilpert am 23. Juli 2008 42 Der Strukturwandel des ländlichen Raums wurde durch eine eigene Beratungsstelle begleitet: „Da Kapital (für abgetretenes Land wurden an die Eigentümer insgesamt 60 Millionen DM gezahlt) zur Verfügung stand, haben sich nicht wenige (Bauern) für eine Einkommenskombination aus Landwirtschaft und Fremdenverkehr entschieden.“146 Ärgerlich waren die Verzögerungen bei den Flutungen der Seen, denn für Investitionen mussten Zinsen gezahlt werden, auch wenn die „Seenlandschaft ohne Wasser“ keine Einnahmen brachte. 1987 wurde die erste Baustufe eingeweiht, im Jahr 2000 war die Brombachhauptsperre geflutet. Spätestens als die 420.000 Übernachtungen von 1983 auf fast 1,1 Millionen im Jahr 1993 gestiegen waren, wurden die 1,2 Milliarden DM an Investitionen zur Erfolgsstory in Form eines „hohen ökonomischen Zuwachses“. Die Region prägen fünf neue Seen, neue Straßen verbinden die Orte, Wander- und Radwege wurden großzügig ausgebaut. Es entstanden 3000 neue Arbeitsplätze und der Tourismus erwirtschaftete ab Mitte der 1990er Jahre jährlich etwa 116 Millionen DM. „Aus den einstmals 78 Betten, die 1966 den Reisenden im Altkreis Gunzenhausen zur Verfügung standen, wurden bis zum Jahr 2000, dem Jahr der offiziellen Einweihung, 6512 Betten.“147 Fast so poetisch wie die zitierten Heimatforscher oftmals einschneidende Ereignisse beschrieben, formulierte eine angehende Lehrerin 2006: „Niemals hätte sich jemand erträumen lassen, dass einmal 891.670 Übernachtungen registriert werden, waren es doch 1966 nur 8000 Übernachtungen.“148 Eine Wirkungen scheint zu sein, dass am Ende des 20. Jahrhunderts eine „bürgerliche Mentalität“ nicht mehr in der Qualität existierte (und heute existiert) wie sie bis in die 1960er Jahre dominant war. Da Geld die Welt regiere, sei mit dem Geldumlauf argumentiert. Laut Tourismusverband betrugen alle Einnahmen 2002 in der Region zusammen 138,9 Millionen Euro – eine Summe, die für ältere Gunzenhäuser BürgerInnen noch 1968 kaum vorstellbar gewesen sein dürfte. Die bürgerliche Tugend Sparsamkeit hatte in den Jahren nach der Währungsreform ihren Anteil daran, dass auf die meisten Haushalte des kleinstädtischen Bürgertums das Wort „Kapitalfluss“ als nicht anwendbar gelten kann. So dürfte in den kleinen (fast 30 an der Zahl) Gastwirtschaften der Wochenumsatz unter 500 DM gelegen haben; die rund 20 Metzgereien zahlten für den Fleischeinkauf pro Woche um 1960 unter 1000 DM.149 Dementsprechend niedere Einkommen waren selbstverständlich und bestimmten auch die Haltungen. Das wöchentliche, im gleicher Runde gepflegte Kartenspiel drehte sich um Pfennigbeträge. „Wenn einer gewonnen hat, dann hat er noch was gegessen.“150 Ein Heimatgefühl151 konnte sich am Ende des Jahrhunderts auf dem Marktplatz kaum mehr herstellen, da er in der Hochsaison von Touristen bevölkert wurde. Neben den Urlaubsgästen besuchten übers Jahr 2002 noch 3,8 Millionen Tagesausflügler die Region, viele davon auch Gunzenhausen. Der Erklärungsansatz „bürgerlicher Mentalität“ verlor einiges seiner Qualität, weil spätestens seit der Wiedervereinigung (und ökonomisch überdeutlich mit dem 146 Schneider, M.: Das Neue Fränkische Seenland. Erlangen 1998, 105 Wolf, Birgit: „Das Fränkische Seenland – ein peripherer Raum wandelt sich.“ Lehrprobe am Wolfgang-vonEschenbach-Gymnasium. Schwabach 2006, 61. 148 Wolf, B.: Lehrprobe, 2006, 61. 149 Schätzzahlen, die aus Erfahrungen von drei „Gastwirtschaften mit Metzgerei“ hochgerechnet sind. 150 Walburga Kirsch, *1922, Wirtin der Brauhausgaststätte Gentner, Spielberg, und Frau des Dr. Hans Kirsch (Sohn des Karl Kirsch, Gastwirtschaft und Metzgerei, Mariusstraße, „Knoppern“, SPD-Stammlokal in den 1930er Jahren) 151 Weil die Identifizierung mit dem Herkunftsort durch die (geforderte und zur Existenzsicherung notwendige) Mobilität obsolet wurde, verlor die geografische „Heimat“ die Qualität eines Bezugspunktes für Individuen. Typischerweise gilt dies für die „Generation Golf“, weil hier ein Markenname „metapherfähig“ wird, also jene Erfahrungen umschreibt, die „Heimatlosigkeit“ verhindern. In der Konsumgesellschaft übernehmen „Marken“ die Funktion, die offenbar für Menschen notwendigen identitätsstiftenden „Bezugspunkte“ zu bilden – ein solcher war (auch) in der bürgerlichen Mentalität „Heimat“. 147 43 Aktienrausch nach 1995) von einer „Manager-Mentalität“ auszugehen ist. Sie wurde auch nötig zum Selbstmanagement der Subjekte im globalisierten Markt. Diese Haltung aber ist weniger in Besitzständen und bürgerlichen Tugenden begründet als an ökonomischer Effizienz orientiert. Wie die Natur ein „Reservat-Dasein (führt), abgegrenzt und dekorativ herausgeputzt, um bestaunt und erforscht zu werden, aber beileibe nicht sich selbst überlassen“,152 so verstört kann ein Mensch werden, wenn die Autokolonnen am Wochenende seine Regenerationsbedürfnisse behindern. Bei solchen Herausforderungen sind Fleiß und Disziplin keine sinnstiftenden Orientierungen mehr, sondern können als kleine Hilfsmittel in einem komplexen Handlungsfeld eingesetzt werden. Wenn sie wirken, tragen sie zum Erfolg bei, der im materiellem Besitz und öffentlicher Akzeptanz eines Individuums gemessen wird. Wenn sie nicht wirken, werden sich beiseite geschoben und andere(s) ausprobiert. Wenn diese Beschreibung zutrifft, dann öffnet sich als Problemhorizont des beginnenden 21. Jahrhunderts im Stichwort „Überforderung“. Die unübersehbare und exproportional steigende Informationsmenge kann von keinem Individuum mehr verarbeitet werden und Organisationen müssen sich Selektionskriterien schaffen, was einer ständigen trail-and-errorSuche gleichkommt. Es muss also von einer strukturell bedingten unzureichenden Informationsbasis für alle Entscheidungen ausgegangen werden, weil kein „Überblick“, sondern lediglich einige Einblicke in kleine Ausschnitte erarbeitet werden kann. Permanente Verunsicherung der handelnden Subjekte ist eine unvermeidliche Folge, selbst wenn durch hohes Selbstbewusstsein und Durchsetzungsfähigkeit der Eindruck oder das Faktum entsteht, dass „alles im Griff“ zu haben. Während über viele Jahre des 20. Jahrhunderts durch die Wirksamkeit der bürgerlichen Mentalität in Gunzenhausen trotz vieler und dramatischer Turbulenzen eine oft beschriebene „Beschaulichkeit“ herrschte, signalisiert die angemahnte „Planungssicherheit“ (der Investoren gegenüber der Politik, der Verwaltung gegenüber dem übergeordneten Behörden, des Angestellten gegenüber seines Arbeitgebers, usw.) ein Unbehagen. Die Klagen der Bürger über den „Rhythmus des Lebens, den unsere geschwinde Zeit einhält“153 in der Mitte des letzten Jahrhunderts waren eher moralisch begründet, denn sie hatten den Verlust an religiös und staatsautoritär begründeten Wertvorstellungen als Hintergrund. Ein Konsens darüber, was für die Kleinstadt „eigentlich richtig“ sei, bestand trotzdem. Fünfzig Jahre später hat sich das Gefühl und das Wissen verbreitet, dass die Kategorien „richtig / falsch“ unzureichend sind für die Reaktion auf aktuelle Probleme. Die Relativität von Werten und die begrenzte Reichweite von Überzeugungen bedeutet auch, dass allen Handlungen eine Unzulänglichkeit anhaftet. Die (scheinbare/reale/offenbare) Zunahme an Komplexität bewirkt bei Individuen und Kollektiven, dass sie ohnmächtiger und ausgelieferter sind oder sich so fühlen, als dies in „überschaubareren“ Verhältnissen der Fall war. Der Verlust an Orientierung kann zu persönlichem Rückzug, zu Aggressionen oder zur Flucht in Scheinsicherheiten („genug Geld haben“ / „das ist die einzige Erklärung“) führen. Dennoch und darum verschwand „bürgerliche Mentalität“ nicht einfach, sondern bot, auch im Maß wie sie funktionalisiert wurde, Erklärungsmodelle für politischer Ereignisse. Sie wurde weiterhin herangezogen, um handlungsfähig zu bleiben (auch wenn möglicherweise erkannt wurde, dass sie unzureichend ist / sein könnte). Als nach 1987 Spätaussiedler aus der Sowjetunion in die Stadt kamen, wurde dies als politische Aktion innerhalb der Entspannung zwischen den Blöcken des Kalten Kriegs wahrgenommen. (An ein Ende desselben oder gar mit der Implosion des „Ostblocks“ dachte, Schreck, Johann: Fränkisches Seenland. Hg. in Zusammenarbeit mit dem Gebietsausschuss „Das Neue Fränkische Seenland“. 1998, 10. 153 W. Sperl beschrieb so den Unterschied zwischen 1950 und „guter bürgerlicher Sicherheit und Geborgenheit“ die in der Biedermeierzeit geherrscht habe, in der man „gemächlicher“ lebte. In: Gunzenhäuser Heimatbote 1950, 38. 152 44 wie überall in Deutschland, noch niemand.) Die geforderten Integrationsmaßnahmen weckten jedoch auch Erinnerungen an die Parole „Heim ins Reich“, die 1940 erklärt hatte, dass „Wolhyniendeutsche“ im Gunzenhäuser Reichsarbeitsdienstlager untergebracht wurden. Noch präsent im kollektiven Gedächtnis waren die „Flüchtlinge aus den Ostgebieten“, deren Ansiedlung nach dem zweiten Weltkrieg eine zentrale Herausforderung war. Wie in jenen Zeiten wurden Vorurteile gegenüber den „nicht zu uns Bürgern passende Menschen“ aktiviert. Auf den immanenten Widerspruch aber, der in der nationalstaatlichen Begründung aller (hier genannten drei) Wanderungsbewegungen liegt, wurde nicht eingegangen. Immer wurde staatsrechtlich als “deutsch“ definiert, was „nach dem Blut“ dazu gehöre. Der innere Zusammenhang zwischen den Umsiedlungen vor und nach dem zweiten Weltkrieg und der Ansiedlung von Spätaussiedlern in den letzten 10 Jahren des 20. Jahrhunderts wurde oft nicht erkannt. Im Vollzug der rassistischen Ideologie waren Menschen 1940 (quasi über den Umweg Gunzenhausen) in den „Wartegau“ umgesiedelt worden, deren Vorfahren vor Jahrhunderten nach Ost-/Südosteuropa ausgewandert waren. Unter stalinistischer Herrschaft wurden viele von ihnen nach Sibirien verschleppt, konnten in zentralasiatische Sowjetrepubliken umziehen und kamen nun als „Russlanddeutsche“ zurück. (Bei manchen Befürwortern in der Alt-BRD durchaus auch mit der Absicht, ein „Aussterben der Deutschen“ zu verhindern.) In Gunzenhausen tauchten sie als Fremde auf, um die sich der Staat besonders kümmerte. Wo eine Bevorzugung vermutet wurde, entstand Neid; wo die sprachliche Verständigung möglich war, konnten alte, traditionelle „deutsche“ Verhaltensweisen festgestellt werden. Bürgerliche Tugenden wurden den Älteren eher als den Jüngeren zuerkannt; zu Ansehen und gesellschaftlichen Rang gelangten bis zur Jahrtausendwende nur wenige. Am Ende des 20. Jahrhunderts ergänzten und änderten sich die Kommunikationsformen durch Digitalisierung, Aufbau des Internet und neuen Technologien sehr stark. Ebenso trug die erhöhte Mobilität in Beruf, Freizeit und Urlaub dazu bei, dass sich die sozialen Vergleichsmöglichkeiten gegenüber früheren Jahrzehnten ernorm vervielfältigten. Zusammenwirkend scheint sich eine „funktionalen Anwendung“ von Werten und gesellschaftlichen Theorien durchgesetzt zu haben. Im persönlichem Bereich mussten (und müssen) die Bedürfnisse (z.B. Anerkennung, Wohlergehen) und Motive (z.B. Leistung, Macht) wie seit eh und je und doch unter neuen Bedingungen austariert werden. Im öffentlichen Bereich nutzten (und nutzen) politische und wirtschaftliche „Macher“ neu entwickelte Analyse- und Steuerungstechniken, um ihre Interessen durchzusetzen. So veränderte (und verändert) sich in neuen Dimensionen die sinnliche Wahrnehmung und Alltagspraxis der Menschen. Damit können am Beginn der 21. Jahrhunderts auch die Wirkungen auf die „langen Wellen“ der Mentalitäten gesellschaftlich wie individuell nur mehr spekulativ als präzise beschrieben werden. Als Schlagwort der neuen Verkehrsformen kann „Netzwerk“ stehen. Auf das Aufsatzthema angewandt bedeutet es, dass sich auch die verbliebenen Elemente der „bürgerlichen Mentalität“ nur als Zusammenwirken verschiedenen selbständig aktiver Einheiten beschreiben lassen. So stellt Mentalität einen Knotenpunkt im Erklärungsnetz gesellschaftlicher Prozesse dar und die Interaktion zwischen mehreren Knotenpunkten bestimmt die Entwicklung. Wo die Existenzsicherung über Dienstleistungen erfolgt (gegenüber der durch stoffliche Produktion) wird noch wichtiger als in früheren Zeiten, ob man die Definitionsmacht zur Interpretation von gesellschaftlichen Bedingungen und Entwicklungen erringen und wie man sie behalten kann. Daher gewinnen die Kommunikationsprozesse so sehr an Bedeutung. Gleichzeitig wirken mit dem Anstieg des 45 Bildungsniveaus154 die Verhältnisse anders auf die mentalen Befindlichkeiten und Handlungen der Individuen und Kollektive. Wenngleich die Wahrnehmungen innerhalb eines relativ eindimensionalen „mainstreams“ erfolgen, haben sich ehemalige Bürgertugenden so allgemein verbreitet, dass Konstrukte des 20. Jahrhunderts, wie „Klasse“ oder „Schicht“, keine befriedigenden Erklärungsmodelle mehr bieten. Soziologen sprechen von eigenen „kulturellen Codes“ als Schlüssel für das Verständnis der sozialen Welt. Solche Codes werden netzwerkartig mit relativ hoher Selbstbestimmung der beteiligten kleinen Bezugsgruppen entwickelt und ständig verändert. Mit ihnen interpretieren Menschen soziale Sachverhalte, d.h. sie bestimmen zusammen mit anderen Elementen ihre Mentalität. Das Etikett „bürgerlich“ beschreibt nun sinnvoll nur noch ein spezifisches Milieu, dessen situative Definition erst seine Qualität ausmacht. So erklingen die Glockenspiele des Gunzenhäuser Marktplatzes mehrmals am Tag mit unterschiedlich Melodien – nicht um zum „Sinnieren“ über die „gute alte Zeit“ aufzufordern, sondern um Touristen das Urlaubserlebnis und Einheimischen den Alltag mit Begleitmusik zu versehen. 154 Dabei denke ich nicht nur an formale Qualifikationen, die über statistische EU-Vergleiche spätestens sein „PISA“ heftige gesellschaftliche Diskussionen auslösen, sondern an die informellen Lernprozesse, aus welchen die Kompetenzen entstehen, die heute Lebenden ein Überleben ermöglichen. Ein Beispiel sind die in prekären Beschäftigungsbedingungen relativ selbstbestimmt existierenden und mit sich und der Welt (fast) zufriedenen ZeitgenossInnen. 46