neurobiologischen Grundlagen des Lernens

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Prof. Dr. Annette Scheunpflug
Neurobiologische
Grundlagen
des Lernens
Die Beschreibung von Lernprozessen durch
Beobachtungsmethoden
und
erklärende
Theorien aus den Biowissenschaften steht
bisher noch am Anfang. In den letzten Jahren
ist zwar viel Detailwissen entwickelt worden,
eine umfassende Theorie der Gehirnentwicklung, die das Gesamtsystem des
Gehirns umfassend beschreiben könnte, steht
aber noch aus. Zudem ist der interdisziplinäre
Dialog zwischen der Erziehungswissenschaft
und den Biowissenschaften an dieser Stelle
noch unterentwickelt und in der Überdehnung
der Aussagen häufig nicht unproblematisch
(vgl. Becker 2006). Auch die nachfolgenden
Aussagen sind vorsichtige Schritte in ein
unübersichtliches Gelände.
Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind die
Nervenzellen im Gehirn zum Zeitpunkt der
Geburt im Wesentlichen angelegt. Sie sind nur
wenig miteinander verbunden.
Nicht die Nervenzellen machen die kognitive
Leistung des Gehirns aus, sondern die Art
ihrer Verbindung miteinander. Viele der
Verbindungen wachsen im ständigen Kontakt
mit der umgebenden Umwelt. Das Gehirn steht
über Nervenzellen in Kontakt zu allen
Körperteilen. Die aus den Sinnesorganen
gesendeten Impulse regen zu entsprechenden
Verbindungen an. Zudem sind die Neuronen
des Gehirns noch nicht ausgewachsen,
genauso wie in anderen Körperteilen findet
auch im Gehirn Wachstum statt. Beide
Prozesse, der Aufbau neuronaler Netze
und das Wachstum der Neuronen, sind für die
kindliche Entwicklung von Bedeutung.
Nun werden nicht wahllos alle neuronalen
Verbindungen geknüpft und erhalten, die sich
anbieten oder die entstanden sind. Vielmehr
werden neuronale Verbindungen einem
internen Bewertungsprozess unterzogen, der
geeignete Verbindungsmuster heraussucht:
„Das Gehirn entscheidet, gesteuert von seinen
eigenen Bewertungen, welche Aktivitätsmuster
Veränderungen der Verschaltung induzieren
dürfen. Das hierfür benötigte Vorwissen liegt
in
der
funktionellen
Architektur
der
Bewertungssysteme gespeichert und ist
genetisch festgelegt.“ (Singer 2001,
S. 5) Ca. ein Drittel der einmal angelegten
Verbindungen bleibt erhalten, der Rest wird
wieder vernichtet. Nach welcher Logik diese
Prozesse vollzogen werden, wird zur Zeit
intensiv untersucht. Vermutlich sind sie
vergleichbar
mit
einem
darwinischen
Ausleseprozess:
„Kontakte
werden
im
Überschuss angelegt und solche, die einer
funktionellen Validierung standhalten, bleiben.“
(Singer 2001, S. 3) Werden
Neuronenverbindungen nicht gebraucht, verschwinden
diese.
Genau genommen passiert Lernen damit
immer auf der Grundlage des schon
Gekonnten oder Gekannten. Neues entsteht
im Gehirn durch die Verknüpfung von schon
Vorhandenem. Die Mannigfaltigkeit der
Kombinationsmöglichkeiten lässt aber sehr
unterschiedliche Denkstrukturen entstehen.
Was sind die Kriterien für eine Integration oder
eine Nichtintegration von Neuronenverbindungen in den Gesamtkontext?
Auch hierzu liegen einige erste Informationen
vor. Offensichtlich ist das Gehirn keine „tabula
rasa“,
sondern
enthält
gespeicherte
Hypothesen, an denen entlang sich der Aufbau
neuer Erkenntnisse organisiert. Diese sind
unterschiedlich, angesichts der Tatsache, dass
Menschen
sehr
unterschiedliche
Dinge
Wissen, Verhaltensweisen, logische Muster,
Bewegungen etc.) lernen.
Gefühle
Gefühle
stellen
eine
sehr
wichtige
Bewertungsinstanz für Eindrücke dar. Sie sind
für den Aufbau der neuronalen Netze von
Bedeutung sowie für die nachfolgende
Handlungssteuerung.
Anschlussfähigkeit
Im Gehirn wird blitzschnell entschieden, ob ein
Impuls aus der Umwelt an irgendeiner Stelle
anschlussfähig ist. Die Anschlussfähigkeit
kann im Einzelnen sehr unterschiedlich
aussehen. Konvergenz und Divergenz zu
bestehenden Mustern sind wichtige Aspekte,
ebenso wie die konkrete Anknüpfungsmöglichkeit an bestehendes Wissen. Ohne
Anschlussmöglichkeiten wird ein Impuls
von Außen im Gehirn nicht aufgenommen, er
rauscht einfach vorbei. Die Sinneswahrnehmungen von Außen werden in die
elektrischen Reize des Gehirns umgewandelt
und dann auf Anschlussfähigkeit überprüft.
Dabei spielt die Art der Sinnesreizung – anders
als in vielen pädagogischen Lehrbüchern
unterstellt – keine Rolle.
Schließlich wird das Gehirn nicht durch
Sinnesreizungen zu neuen Verbindungen
angeregt, sondern dadurch, dass Sinnesreize
als Sinneseindrücke zugelassen und diese
dann im Gehirn in neuronale Verbindungen
umgesetzt
werden,
also
eine
Anschlussmöglichkeit an bereits bestehende
Verbindungen finden. Deshalb ist es nicht
die Kombination mehrerer Sinne, die als
solche zu einem besseren Lernergebnis führt,
sondern
bei
unterschiedlichen
Herangehensweisen ergibt sich eine höhere
1
Wahrscheinlichkeit,
finden.
Anschlussfähigkeit
zu
Module
Das Gehirn verfügt vermutlich – dieser
Theorieansatz ist allerdings nicht unumstritten
(vgl. abwägend Barrett 2002, S. 270-294) –
über verschiedene Module zur Bearbeitung
und Erkennung unterschiedlicher Probleme.
Welche das sind, von wie vielen solcher
„Module“ man sprechen kann und wie diese im
Einzelnen aussehen, ist umstritten.
Bekannt ist, dass unterschiedliche Neuronen
auf unterschiedliche Funktionen spezialisiert
sind (vgl. Damasio 2000, S.59f.), z. B. auf die
Bearbeitung von Formen oder Farben,
Emotionen oder Sprache. Diskutiert wird, in
welcher Form sich die Spezifität neuronaler
Mechanismen
in
die
Form
der
Informationsverarbeitung hinein verlängert.
Offensichtlich ähnelt das Gehirn weniger
einem Allzweckcomputer, der alle Probleme
mit demselben Programm bearbeitet, sondern
eher einem Schweizer Taschenmesser, das für
unterschiedliche Probleme unterschiedliche
Werkzeuge bereithält. Demnach wären
eine Vielzahl kognitiver Programme evolviert,
um spezifische Probleme lösen zu können.
Diese „Module“ (Cosmides/Tooby 1997) oder
„Algorithmen“ dienen z. B. dazu den
Spracherwerb zu steuern (Pinker 1998), den
Umgang
mit
Wahrscheinlichkeiten
und
Häufigkeiten zu ermöglichen (Gigerenzer
2002), zu zählen (Dehaene 1999) oder soziale
Regeln zu verstehen (Cosmides/Tooby 1992).
Unklar ist bisher, wie sich die einzelnen
Aktivitäten im Gehirn koordinieren bzw.
einzelne Module gegenseitig koordiniert
werden. In der Hirnforschung wird dieses
Problem als „Bindungsproblem“ diskutiert.
Vieles spricht dafür, dass dieser Prozess
dezentral abläuft (vgl.zu den einzelnen
Modellen Singer 2002, S. 65-72).
Wiederholung
Neuronale Verbindungen bestehen umso
sicherer, je öfter sie verwendet werden. Je
häufiger eine Verbindung verwendet wird,
umso automatisierter wird auch der mit ihr
verbundene Impuls. Das Einüben bestimmter
Verbindungswege, z. B. im motorischen
Bereich das Erlernen des Laufens oder eines
Musikinstrumentes,
ist
nur
über
die
Wiederholung möglich. Wer häufig Fahrrad
fährt, wird dabei geschickter. Wer sein
Musikinstrument häufig übt, wird eine
Zunahme der Geläufigkeit spüren. Wer den
Zehnerübergang oder das Einmaleins häufig
übt, wird dieses besser können. Wer englische
Vokabeln eifrig lernt, wird diese geläufiger
verwenden können. Die Wiederholung ist
damit ein wichtiges Kriterium für den Aufbau
neuronaler Netze.
Zusammenfassend kann die Arbeitsweise des
Gehirns stark vergröbert so beschrieben
werden: Das Gehirn saugt nicht etwa wie ein
Schwamm alle einströmenden Eindrücke auf,
sondern arbeitet hoch selektiv nach der
Maßgabe seiner eigenen Funktionalität.
Anmerkung:
Dieser
Text
stellt
eine
sehr
kurze
Zusammenfassung dar. Genauer ist dies
nachzulesen in:
Duncker,
Ludwig/Scheunpflug,
Annette/Schultheis, Klaudia:
Schulkindheit. Anthropologie des Lernens im
Schulalter.
Kohlhammer, Stuttgart 2004, S. 172-230.
Literatur:
Barrett, L./Dunbar, R./Lycett, J.: Human
Evolutionary
Psychology. Princeton 2002
Becker, N.: Die neurowissenschaftliche
Herausforderung
der Pädagogik. Bad Heilbrunn 2006
Eigeninitiative
Sehr bedeutend scheint die Eigeninitiative des
Organismus
zu
sein.
Häufig
werden
Verbindungen nur dann induziert, wenn sie
„Folge aktiver Interaktion mit der Umwelt
sind, bei denen der junge Organismus die
Initiative hat“ (Singer 2002, S. 50). Für viele
Operationen sucht sich das Gehirn selbst die
Informationen, die es braucht.
Sowohl tätiges Handeln als auch Denken sind
kognitiv gesteuerte Prozesse. Die Betonung
der Eigentätigkeit und Eigeninitiative für das
menschliche Lernen nobilitiert damit nicht die
Bedeutung des praktischen Handelns vor
dem Denken. Vielmehr ist gerade auch die
denkerische Eigentätigkeit gemeint und in
diesem Kontext gleichermaßen wie das tätige
Handeln von Bedeutung.
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