Die Geburt als Thema biographischer Literatur Textanalyse und Textauswahl unter besonderer Berücksichtigung der Hebammenausbildung Heidi Schnettler Zusammenfassung 1. Zielsetzung Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden Erich Fromm1 Dass Drillinge spontan2 geboren werden können und sich eine davon zu einer später renommierten Psychiaterin und Sterbeforscherin3 entwickeln kann, ohne, dass vorher per Ultraschall eine Risikoschwangerschaft bescheinigt wurde und ein geplanter Kaiserschnitt gemacht wird, kann heute eine deutsche Hebammenschülerin nur noch in Büchern nachlesen4 oder sie absolviert ein Praktikum im Ausland, vornehmlich in den Niederlanden oder in afrikanischen Ländern, wo geburtshilflich andere Maßstäbe gelten. Diese Geburtsgeschichte von ELISABETH KÜBLER-ROSS ist in der 1981 von DEREK GILL verfassten Biographie: Elisabeth Kübler-Ross. Wie sie wurde wer sie ist und in der 1997 erschienenen Autobiographie: Das Rad des Lebens veröffentlicht. Wie eine Lebensbeschreibung zu schreiben sei, davon hat Oskar Matzerath, der „Held“ der Blechtrommel, klare Vorstellungen: „Ich beginne weit vor mir; denn niemand sollte sein Leben beschreiben, der nicht die Geduld aufbringt, vor dem Datieren der eigenen Existenz wenigstens der Hälfte seiner Großeltern zu gedenken.“ (GRASS 1974, S. 9) So formuliert es Oskar Matzerath in der Blechtrommel und kommt damit an dem Thema seiner eigenen Geburt nicht vorbei. Auch wenn nicht alle Autorinnen und Autoren Oskar Matzeraths Auffassung teilen, wird die eigene Geburt häufig in biographischer Literatur beschrieben. 1 Umschlageinband, RUHE 1988 Spontan meint in diesem Zusammenhang ohne vaginaloperative Intervention wie Saugglocke oder Zangenentbindung und ohne Kaiserschnitt. 3 KÜBLER-ROSS, ELISABETH: Interviews mit Sterbenden. Stuttgart 1999 (Erstveröffentlichung 1969) 4 „Meine Mutter ... war eine zuverlässige Stütze für das Geschäft meines Vaters. Nach der Geburt meines Bruders setzte sie ihren Ehrgeiz darein, ihrem Sohn eine gute Mutter zu sein. Um die Familie zu vervollständigen, wünschte sie sich noch eine hübsche, kleine Tochter. Ihre zweite Schwangerschaft verlief ohne Probleme, und als am 8. Juli 1926 ihre Wehen einsetzten, erhoffte sie sich einen lockigen Liebling, den sie wie eine Puppe in phantasievolle Kleidchen stecken könnte. Frau Dr. B., eine ältere Ärztin für Geburtshilfe, stand ihr bei der Niederkunft bei. Mein Vater, den man in der Firma über den Zustand seiner Frau benachrichtigt hatte, kam im Krankenhaus an, als die neun Monate der Erwartung ihren Höhepunkt erreichten. Als die Ärztin schließlich das Baby ergriff, hielt sie das kleinste Neugeborene in Händen, das jemals lebend in diesem Kreißsaal geboren worden war. Das war meine Ankunft. Ich wog nur zwei Pfund. Die Ärztin war schockiert über meine Winzigkeit. Ich sah aus wie eine kleine Maus, und niemand rechnete mit meinem Überleben. Sobald Vater jedoch meinen ersten Schrei hörte, eilte er ans Telefon draußen im Gang, um seiner Mutter Frieda mitzuteilen, sie habe einen zweiten Enkel bekommen. ... Doch zu dem Zeitpunkt, als er wieder im Kreißsaal erschien, um meiner Mutter beizustehen, wartete eine weitere Überraschung auf ihn. Eine zweite Tochter war geboren worden, wie ich wog sie nur zwei Pfund. Und nachdem er seiner Mutter die zusätzliche frohe Botschaft verkündet hatte, mußte er mitansehen, daß seine Frau immer noch unter beträchtlichen Schmerzen litt. Sie schwor, sie sei noch nicht fertig und würde ein weiteres Kind bekommen. Vater hielt das für Unsinn und führte es auf ihre Erschöpfung zurück; die erfahrene Ärztin stimmte zögernd zu. Plötzlich begannen die Wehen jedoch wieder stärker zu werden. Mutter fing an zu pressen, und ein paar Augenblicke später hatte sie eine dritte Tochter zur Welt gebracht. Diese war groß und wog sechseinhalb Pfund, das Dreifache der beiden anderen. Und sie hatte einen prächtigen Lockenkopf! Trotz ihrer Erschöpfung war meine Mutter begeistert. Endlich hatte sie das kleine Mädchen bekommen, von dem sie in den vergangenen neun Monaten geträumt hatte. Frau Dr. B. hielt sich für eine Hellseherin. Wir waren die ersten Drillinge, die mit ihrer Hilfe zur Welt gekommen waren. Nachdem sie unsere Gesichter ganz genau betrachtet hatte, machte sie meiner Mutter Vorhersagen für ihre drei Töchter. Eva, die letztgeborene, sagte sie, würde immer >dem Herzen ihrer Mutter am nächsten bleiben<, während Erika, die zweigeborene, stets >den Pfad der Mitte wählen würde<. Auf mich zeigend, bemerkte sie abschließend, daß ich den anderen den Weg gezeigt hätte, und fügte dann hinzu: >Um dieses Kind brauchen Sie sich nie Sorgen zu machen.< (KÜBLER-ROSS 2000, S. 24-26) 2 1 Wird diese nur kurz erwähnt,5 oder werden Szenarien entworfen, in die der Protagonist hineingeboren wird? Mit welcher Intention könnte das geschehen sein, und was kann man als Rezipientin oder Rezipient daraus lernen? Die Art und Weise wie mit dem Thema Geburt in biographischer Literatur umgegangen wird, aufzuzeigen, ist Ziel der literaturwissenschaftlichen Analyse dieser Arbeit. In einem zweiten Schritt gehe ich auf die Suche nach dem speziellen kreativen Aspekt von biographischer Literatur, den ich nutzen möchte für die Umsetzung einer Literaturdidaktik Geburt in der Hebammenschule. Die großen literarischen Vorlagen, die Confessiones des AURELIUS AUGUSTINUS (354-430), die posthum erschienen Confessions des JEAN-JACQUES ROUSSEAU (1712-1788) und GOETHES Dichtung und Wahrheit geben zwei Möglichkeiten vor: GOETHES Lebensbeschreibung als Kunstwerk betont mit der Dichtung den kreativen, künstlerischen Aspekt, AUGUSTINUS und ROUSSEAUS Bekenntnisse die Reflexion, das sich von der Seele schreiben. Bei der Bearbeitung von Themen innerhalb des Studiums hat mein Interesse besonders den biographischen Hintergründen der einzelnen Autorinnen und Autoren gegolten. Zum besseren Verständnis der Thesen, zur Unterstützung der Glaubwürdigkeit der Person und aus Erkenntnisinteresse finde es hilfreich, nicht nur das Werk, sondern auch den Menschen, soweit möglich, dahinter kennen zu lernen und zu beleuchten. Aufgrund meines Berufes als Hebamme und meiner Ausbildung habe ich feststellen können, dass kreative Aspekte in der Ausbildung zu kurz kommen6. In dem Lesen von literarischen Geburtsdarstellungen in der Hebammenschule sehe ich eine Chance, Dingen auf die Spur zu kommen, die im Klinikalltag und der eher von Sachlichkeit und dokumentatorischen Stil7 geprägten Kommunikation untergehen. Das zwischen den Zeilen Lesen. Die Hebammenausbildung ist in einem Wandlungsprozess begriffen. (vgl. BARRE 2001, ZOEGE 2002) Wie beispielsweise PETER RÜHMKOPF: „Geboren am 25.10. 1929 als Sohn der Lehrerin Elisabeth R. und des reisenden Puppenspielers H.W. (Name ist dem Verf. bekannt) in Dortmund. Die Stadt soll ruhig mal was springen lassen.“ (RÜHMKOPF 1972, S. 7) 6 Dazu habe ich eine kleine und nicht repräsentative Umfrage an der Hebammenschule Tübingen gemacht. (vgl. Hausarbeit: Wichtig ist das, was dabei herauskommt? Produktorientierte Kreativitätsförderung bei Robert Ulshöfer und Manfred Hermann und ihr Bezug zum späteren Handlungsfeld als Lehrerin, im Rahmen des Seminars Kreativitätsförderung im Deutschunterricht im Wintersemester 2001/2002 bei Frau Prof. Dr. Jutta Wermke, S. 26-42) 7 „Kind geboren, Computerbericht des Krankenhauses Sehr geehrte Frau Kollegin! Sehr geehrter Herr Kollege! Wir berichten Ihnen über die Patientin, deren Personalien, Geburtsdatum und stationäres Aufnahmedatum sie aus der eingefügten Adrema freundlicherweise entnehmen können. Die 24jährige Patientin wurde zur Entbindung aufgenommen. Es handelte sich um die zweite Schwangerschaft. Die Patientin ist eine 1. para. Die Patientin wurde am 21.05.´75 von einem 3400 Gramm schweren und 52cm langen Knaben aus der 2. Hinterhauptslage entbunden. Apgar nach einer Minute: 9 Apgar nach fünf Minuten: 10 Die operative Versorgung eines Scheidenrisses war erforderlich. Die Plazenta löste sich spontan. Blutverlust: 200ml Die anatomischen Reifezeichen und physiologischen Reflexe des Kindes zum Zeitpunkt der Geburt sind der nachfolgenden Tabelle zu entnehmen. Lanugo: mittel, Fettpolster: vorhanden, Fingernägel: überragen, Fußnägel: überragen, descensus testiculorum: tastbar beiderseits, Corneal- und Konjunktivalreflexe: beiderseits, Greifreflex. Beiderseits, Moro-Reflex: beiderseits, Saug- und Schluckreflexe: vorhanden Das Wochenbett war im wesentlichen komplikationslos. Die Patientin hat teilgestillt. Das Kind wurde mit Zwiemilch ernährt. Das Kind wurde BCG geimpft. Die Untersuchungen auf Phenylketonrie sowie der Urin-Screening- Test auf angeborene Eiweiß- Stoffwechselstörungen wurden veranlaßt. Die Rachitis- Prophylaxe mit Vitamin D3 wurde mit täglich 1000 IE ab dem 6. Lebenstag begonnen. Das Kind wurde in gutem Allgemeinzustand mit der Mutter entlassen. Die Patientin wurde am 6. Wochenbettstag entlassen. Sie wurde gebeten, sich bei Ihnen vorzustellen!“ (E. M. Stark, in: RUHE 1988, S.56/57) 5 2 Im Rahmen eines Promotionsvorhabens “Curriculumentwicklung für die Hebammenausbildung“ an der Humboldt Universität Berlin erarbeitet die Hebamme und Diplompädagogin JESSICA PEHLKE-MILDE „evidenzbasierte konzeptionelle Grundlagen“ für die berufliche Ausbildung von Hebammen. (vgl. PEHLKEMILDE 2001) Meine Arbeit soll Ansätze für ein Curriculum Literaturdidaktik zum Thema Geburt aufzeigen. Zur Zeit gibt es in der Hebammenausbildung keine allgemeinbildenden Fächer, sondern lediglich das Unterrichtsfach Sprache und Schrifttum mit einem Stundendeputat von 30 Stunden. Meine These ist, dass das Lesen von literarischen Geburtsdarstellungen auf der einen Seite den Horizont der Hebammenschülerinnen erweitern und auf der anderen Seite, sie anregen kann, selber kreativ zu werden und eigene Ausdrucksformen zu finden. Literaturdidaktik kann ein Motor für Kreativitätsförderung sein. Kreatives Schreiben in der Hebammenschule kann sich als eine von vielen Copingstrategien gegen Stress und Belastung8 in der Ausbildung erweisen. 2. Ergebnisse und wissenschaftliche Relevanz Bei den ausgewählten Texten fällt auf, dass es sich häufig um Debütstücke (Blechtrommel, Herbstmilch, Bruchstücke) oder Alterswerke (Dichtung und Wahrheit, Malina) der Autorinnen und Autoren handelt. Den Texten ist eine gewisse Spannung in elementaren Gegensätzlichkeiten gemein. Den Personenbeschreibungen und deren Funktionen lassen sich bestimmte prototypische Rollenkonstellationen zuordnen. Bei den Rollenkonstellationen lässt sich festhalten, dass sowohl Arzt wie auch Säugling durch ihre Kompetenz bestechen und damit zum „Positiven Helden“ des Geschehens Geburt avancieren, während Vater und Hebamme als Antihelden ein eher schlechtes Bild abgeben. Was für die Darstellung der Hebamme gilt, gilt auch für den Vater: Was fehlt ist der Vater als motivierender einfühlsamer Partner; der Vater, der eine gute Hebamme ist, wie ich das in meiner Berufspraxis erleben konnte. Da Väter erst seit ca. Mitte der 70er Jahre in den Kreißsälen zugelassen sind, braucht es vermutlich noch eine Weile, bis positive Vaterfiguren sich auch in der Literatur durchsetzen. Wenn ein nicht als Vater beteiligter Mann hilfreich ist, dann gleich wieder als aktiver „Macher“, als Geburtshelfer, vgl. GORKI Ein Mensch wird geboren. (BRONNEN 1994, S. 137) Die Gebärende rangiert unter „ferner liefen.“ Dass die Gebärende kaum Erwähnung findet, so könnte man argumentieren, liegt an der Form der Autobiographie und der damit verbundenen Erzählperspektive. Dass trotz dieser Form der Gebärenden eine Hauptrolle zugewiesen werden kann, zeigt ROLF ZACHER in seinen 2002 erschienen Erinnerungen Endstation Freiheit: „Berlin - Lichterfelde, am 28. März 1941, Fridolinstraße in Richtung Rittberg - Krankenhaus. Der Taxifahrer gibt alles, doch mein Kopf lugt schon zwischen den Beinen meiner Mutter hervor. Niemand hatte mich gefragt, ob ich überhaupt hier landen wollte mitten im Krieg eines Irren. Aber an diesem Tag hatte meine Mutter Gertrud die Regie übernommen. Und so kam ich auf die Welt zwischen Taxi, Asphalt und Krankenhaus.“ (Zacher 2002, S. 11) Im Sinne eines Urbildes am markantesten, sind meiner Meinung nach, die Beziehung zwischen Tod und Geburt und die skurrile Hebamme. Diese zwei Elemente waren in meinen Texten am dominantesten. Die Bedrohung durch Todesgefahr könnte die Bedeutung des Protagonisten hervorheben, so dass die Nachwelt sich glücklich schätzen kann, dass er überhaupt lebt. (vgl. GOETHE) Die Hebamme in ihrer Funktion als Sündenbock liefert die Erklärung für den erschwerten Eintritt in die Welt. In diesem Spannungsfeld braucht es einen Retter, den Arzt, der überflüssig wird, wenn der Säugling „kompetent“ ist: 8 Vgl. BIRGIT REIME: Wohl und Weh der Schülerin. In: Deutsche Hebammenzeitschrift 6/2000, S. 342 f. 3 Die Darstellung der Geburt in der Literatur rückt damit in die Nähe anderer menschlicher Extrembereiche wie die der Liebe und des Todes, die dramatisch dargestellt werden. Das kann in didaktischer Umsetzung als kreativer Aspekt genutzt werden, z.B. durch das Nachspielen von Geburtsszenen im Unterricht. Als Nebenprodukt zeigt sich ein gewisses tradiertes geburtshilfliches Wissen in den Texten: STRUCK stellt bestimmte „empirische Regeln“ auf, die auf lebensweltlichem Wissen basieren: „Bei Vollmond Geburten. Bei Gewitter haufenweise Blasensprünge und vorzeitiger Wehenbeginn. Bei Muttermund von fünf Zentimetern Erbrechen.“ (STRUCK 1975, S. 233.) BACHMANN greift die im Volksglauben verankerte „Glückshaube“ als Motiv auf. GRASS betont, dass die Kopflage, die von allen Beteiligten bevorzugte Position sei und dass der Dammriss „obligat“ sei9. EICHENDORFF kommt mit den Füßen zuerst und hebt diese seltene „Beckenendlage“10 als besonders ungewöhnlich hervor. Bei dem aktuellsten Text von MISCHKULNIG hat der Einlauf meiner Ansicht nach eher eine „literarische Funktion“, denn ein Einlauf wird heute nur noch selten verabreicht. Die wissenschaftliche Bedeutung dieser Arbeit sehe ich in zweierlei Hinsicht. Zum einen bietet sie Grundlagenforschung zur Darstellung der Geburt in der Literatur. Sie schafft somit einen Fundus an Material der sowohl im didaktischen als auch im literaturwissenschaftlichen Kontext sinnvoll genutzt werden kann 11. Im Zeitalter von Technisierung und Wunschsektio bietet Literatur eine wichtige Quelle der Konservierung lebensweltlichen Wissens. (vgl. DUDEN 2000/ SCHÜCKING 2001;2003/ SCHWARZ 2001) Aus der dabei gewählten Methodik der Hermeneutik generieren sich neue Fragen: Woran liegt es, dass die Hebammen „so schlecht wegkommen“ oder dass die Geburten so dramatisch dargestellt werden? Lassen sich Unterschiede im internationalen Vergleich finden, wie z.B. in Ländern, in denen die Geburt in einem anderen soziokulturellen Kontext steht? Wie sieht das im Bereich anderer Medien, z.B. im Fernsehen aus? Läßt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen Darstellung der Hebammen in den Medien, gesellschaftlich wahrgenommener Realität und den Professionalisierungsbestrebungen 12? In gesellschaftspolitischer Hinsicht stellt sich die Frage, welcher strukturellen Bedingungen es bedarf, damit Hebammenschülerinnen künftig wieder ihre Erfahrungen in der Praxis und nicht nur durch Buchwissen erlangen? Zum anderen stellt meine Arbeit den Versuch dar, aus einer intensiven literarischen und geistigen Auseinandersetzung zur konkreten didaktischen bzw. curricularen Verwertbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse zu führen. 3. Goethe im Kreißsaal? – Vorschläge für ein Curriculum Literaturdidaktik Geburt Jeder Geburtsakt erfordert Mut, etwas loszulassen, den Atem loszulassen, den Schoß loszulassen, die Hand loszulassen, letztlich alle Sicherheiten loszulassen und sich auf seine eigene Kraft zur Bewußtwerdung zu verlassen, und mit eigener Kreativität darauf zu antworten. Kreativ zu sein heißt, den ganzen Lebensprozeß als Geburtsprozeß und kein Stadium als letztes anzusehen. Erich Fromm (NOBLE 1996, S. 45) Gegenwärtig ist die Hebammenausbildung eine schulische dreijährige Ausbildung in Hebammenschulen, die an Krankenhäusern angegliedert sind. Die Ausbildung umfasst 1600 Stunden Theorie und 3000 Stunden praktische Ausbildung. Dem Berufsverständnis der Hebammen widerspricht der „obligate Dammriss“; eine ihre Aufgaben ist es, den „Damm“ zu schützen! Nur ca. 5% der Kinder kommen mit dem Steiß oder den Füßen zuerst. (MARTIUS 1990, S. 459) Erste Versuche, Literatur zu hebammenspezifisch relevanten Themen zu sammeln, finden an der Universität Osnabrück mit der dort eingerichteten Hebammenbibliothek statt. 12 Vgl. Hebammenausbildung an die Fachhochschulen Positionspapier des Pädagogischen Fachbeirates im Bund Deutscher Hebammen e. V. vom März 2004, veröffentlicht auf der Homepage des Bund Deutscher Hebammen, www.bdh.de 9 10 11 4 Es gibt keine allgemeinbildenden Fächer. MONIKA ZOEGE hat sich sehr ausführlich mit Reformvorschlägen der Hebammenausbildung beschäftigt. Lösungen, die Ausbildung in Angleichung an EU-Richtlinien an die Fachhochschule zu bringen, mit Bachelor Abschluss, oder die Ausbildung in abgewandelter Form ins Duale System zu integrieren, sind angedacht. (vgl. PEHLKE-MILDE, ZOEGE) Mein Vorschlag ist es, im Rahmen einer Projektwoche einen Unterrichtsversuch zum Thema Geburt in der Literatur zu machen.13 Zu einem Curriculum gehört die Ermittlung von Bildungszielen. Mögliche Lernziele einer „Literaturdidaktik Geburt“: Hebammenschülerinnen sollen im Rahmen von Berufskunde Hebammenpersönlichkeiten kennen lernen. Bei Hebammenschülerinnen soll die Freude am Lesen durch literarische Geburtsdarstellungen geweckt werden. An dem Beispiel kreativen Schreibens sollen sie für Copingstrategien mit Stress in der Ausbildung sensibilisiert werden und im Verlauf der Ausbildung eigene Ressourcen erkennen und entwickeln lernen. Sie sollen über die Darstellung von Geburten in den Medien informiert sein und lernen sich kritisch damit auseinandersetzen zu können, um eine eigene Position zu finden. Sie sollen eine Sensibilität für das „Instrument“ Sprache entwickeln lernen und ihr Sprachverhalten gegenüber den ihnen anvertrauten Personen reflektieren können. Konkret im Lehrplan ist das nach der heutigen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung in den Fächern: Grundlagen der Hebammentätigkeit, Psychologie, Soziologie, Sprache und Schrifttum, und Berufskunde zu verankern. Phasen eines solchen Projektes könnten sein: 1. Lesen von biographischer Literatur (Inspiration) 2. Auswahl von Texten gemeinsam (die intensiver besprochen werden sollen) 3. Besprechung von eigenen Hebammentagebüchern 4. Schreiben, Malen, Interviewen und Filmen, Drehbuch schreiben (Hebammenschülerinnen können z.B. einen kleinen Film über ihre ortsansässigen Hebammen drehen, oder über Familien, wie sie die Geburt erlebt haben oder über ihre Situation in der Ausbildung, oder einen Videoclip, „Goethe und Co im Kreißsaal“, etc.) 5. Nachspielen von Szenen 6. Präsentation (z.B. Veröffentlichung in der Hebammenzeitung, beim Examens- oder Kursfest, kleine Ausstellung ) 7. Reflexion Hebammenschülerinnen können angeregt werden, eigene Gedichte vorzulesen, man kann sie fragen, wie sie ihre erste Geburt erlebt haben. Vielleicht hat es sie zu literarischer Verarbeitung angeregt. In einigen Hebammenschulen wird Supervision angeboten (vgl. ZOEGE 1997). Im Rahmen dieser Supervision könnten auch Gedichte von Hebammenschülerinnen als Gesprächsgrundlage mit einfließen, z.B. über besonders einschneidende Erlebnisse wie Totgeburten, etc. (vgl. SCHNETTLER 2002) Die in der Mikro- und Makoanalyse vorgestellten Texte bieten meiner Meinung nach viele Möglichkeiten für eine literarische Auseinandersetzung und Bearbeitung z.B. durch Provokation : 13 Nicht zuletzt um meine Idee in der Praxis ein wenig zu fundieren, wäre ein Experiment im Sinne eines Unterrichtsversuchs oder eines Fragebogens bei den Hebammenschülerinnen nötig: 1. Hatten Sie Lust, die Texte zu lesen? 2. Welche Gefühle stellten sich bei Ihnen ein? Langeweile, Ärger, Lust auf Mehr, Neugier, Betroffenheit, Belustigung etc.? 3. Können Sie sich vorstellen, ein literarisches Hebammentagebuch zu führen? 4. Halten Sie es für sinnvoll, diese Texte im Hebammenunterricht zu lesen? 5 Die Art und Weise, wie STRUCK in der Mutter die Hebammenschülerinnen skizziert, muss diese provozieren:14 Die Texte können anregen durch das Bedürfnis zu widersprechen. Bei SCHLUNDT geht es mir weniger um ihre Intention, der „Richtigstellung“ eines historischen Sachverhaltes, sondern um den Beweis, dass ein literarischer Text Hebammen inspirieren, sie zu kreativen Schreiberinnen machen kann. Sie schreibt in ihrem Versuch einer Ehrenrettung für Goethes Hebamme, wie es gewesen sein könnte und spielt mit ihrer Phantasie und ihrer Handschrift. Die folgenden Textbeispiele sollen ansatzhaft zeigen, wie durch das Verfahren der Nachahmung und Verfremdung kreative Produkte von Hebammenschülerinnen aussehen könnten: Mit dem Glockenschlage zwei verließ ich den Kreißsaal, ich hatte fünf Frauen betreut, den Plazenteneimer gelehrt, keine Pause, den Dammschutz um ein Haar verpaßt. (GOETHE/EICHENDORFF) Sehr geehrter Dr. X Sie erwarten von mir die Übermittlung von Daten Ihrer Patientin. Ich möchte Ihnen mitteilen, wie potent ich Frau XY im Kreißsaal erlebt habe. Als sie ihre Tochter geboren hatte, stellte der Vater eine CD an und sang leise dazu mit. Es war eine ganz normale Geburt und doch etwas besonderes, weil ich nicht noch zwei andere Frauen betreuen musste, sondern Zeit hatte, einfach dabei zu sein... Eine unbekannte Hebammenschülerin, die vieles unzumutbar findet und Ihnen diesen Brief zumutet... (BACHMANN) Der Text von STRUCK könnte vorgelesen werden mit der Frage, wann er spielt. Ich bin sicher, dass es die Schülerinnen erstaunen wird, wenn sie das Entstehungsjahr (1975) hören. Er hat an Aktualität nichts eingebüßt. Außerdem kann man sehr kreativ mit den Texten umgehen, z.B. im fächerübergreifenden Unterricht: Die Verbindung von Literaturdidaktik, Wahrnehmungsschulung und Geburtshilfe. Im Text von REUTER können Hebammenschülerinnen gefragt werden, was sie denken, was das geburtshilfliche Problem der Protagonistin Cornelie sein könnte ? (z.B. Erstgebärende; Angst, großes Kind, lange Austreibungsphase, Erschöpfung der Mutter, geburtshilfliche Intervention). Neben literarischen Meisterleistungen spiegeln die Texte auch ein Stück geburtshilfliche Geschichte wieder: Wir erfahren etwas über die Praktiken von Narkotisierung bei Durchtritt des Kindes. (vgl. REUTER 1909, 224). Sie entführen uns in die Zeiten, in denen es noch keinen Ultraschall gab, in denen das Überleben von Mutter und Kind keine Selbstverständlichkeit war. Sie sind Zeugnisse für die Unberechenbarkeit von Geburt und Tod und können eine wichtige Ergänzung zum Lehrbuchwissen sein. Themen wie Nationalsozialismus werden gestreift. Im Unterricht mit Hebammenschulerinnen könnte man anhand von WILKOMIRSKIS Text auf die Problematik des Nationalsozialismus zu sprechen kommen und welche Rolle Hebammen darin gespielt haben. 14 Die Hebammenschülerin Maja sagt, sie habe ihren ersten Beruf als Diplompsychologin aufgegeben, denn als Hebamme habe sie >unmittelbar das Objekt greifbar, könne es dirigieren<... (STRUCK 1975, S. 234) „Die Hebamenschülerin Maja hat ihre eigene Geburt vergessen. Wenn ich sehe, daß durch die Geräte alles in Ordnung ist, dann ist das die Voraussetzung, mit der Frau zu reden, sagt die Hebammenschülerin Maja. Aber sie spricht kaum mit den Frauen.“ (ebd., S. 234) „Und kaum war das Kind heraus, standen die Laborantinnen und Hebammenschülerinnen wie vor einem Grab vor der Frau und zogen an der aus dem Leib hängenden Nabelschnur.“ (ebd., S. 236) 6 In den literarischen Geburtsdarstellungen verleihen die Autorinnen und Autoren dem Kind eine Stimme in der Rolle des kompetenten Säuglings. (vgl. GRASS; NÖSTLINGER) Diese kann beim Lesen dazu dienen, sich zu verdeutlichen, das das Kind unter der Geburt mitfühlt. Die Verbindung von Geburt und Tod spiegelt sich im Erfahrungshorizont der Hebammenschülerinnen weniger in der Müttersterblichkeit wieder. Heute sind Hebammenschülerinnen mit der Betreuung von Paaren bzw. Frauen mit nichtlebensfähigen oder unerwünschten Kindern im Rahmen von Pränataldiagnostik konfrontiert. Mitte der neunziger Jahre fassten Hebammen den Mut, ein eigenes Lehrbuch zu gestalten. (vgl. MÄNDLE u.a. Das Hebammenbuch, GEIST u.a. Hebammenkunde) Wünschen würde ich mir für ein zukünftiges Hebammenlehrbuch, das neben dem historischen Abriss der Hebammengeschichte das Thema Geburt in der Kunst und Literatur einen Platz darin findet und dass bei einem künftigen Curriculum für die Hebammenausbildung musische, künstlerische Methoden Berücksichtigung finden. Zur Zeit sind von 1600 Theoriestunden 30 für Sprache und Schrifttum vorgesehen. Die Hebammenausbildungs- und Prüfungsverordnung in der Fassung vom 16. März 1987, zuletzt geändert am 27. April 1993, sieht als festgeschriebene Unterrichtsinhalte vor: Vortrag und Diskussion, mündliche Berichterstattung, Benutzung und Auswertung deutscher und fremdsprachiger Fachliteratur und die Einführung in fachbezogene Terminologien. (vgl. ZOEGE 1997, S. 154) Das alles sind wichtige Unterrichtinhalte, sie könnten meiner Ansicht nach um Reflexion über Sprachverhalten und kreativen Umgang mit Sprache und Literatur ergänzt werden. Natürlich muss eine Hebammenschülerin in erster Linie eine gute Hebamme, eine gute Handwerkerin, eine Fachfrau sein. Es nützt der Frau unter der Geburt herzlich wenig, wenn die Schülerin GOETHE zitieren, aber einen geburtshilflichen Notfall nicht erkennen kann. Mir ist klar, dass es bei einer Umstrukturierung der Ausbildung dringlichere Fragen zu klären gibt, als mein Anliegen. Aber: Hebammenarbeit ist auch eine Kunst, auf frz. heißt das Wort Hebamme sage femme - weise Frau und Grenzgängerin. Wenn Literaturdidaktik mit dazu beitragen kann, dass komplexe Zusammenhänge, die sich bei einer Geburt ereignen, wie Unberechenbarkeit und die Verwobenheit in Metaphysisches, transparenter werden können, und Hebammenschülerinnen mit den wichtigen Instrumenten ihres Körpers, den Händen und der Sprache sensibel umgehen lernen, dann erreicht sie ihr Ziel. LITERATUR: DUDEN, BARBARA: Die Ungeborenen. Vom Untergang der Geburt im späten 20. Jahrhundert. In: Hebammenforum. Heft 1/2000, S. 8-18 BRONNEN, BARBARA (Hrsg.): Geburt. Ein literarisches Lesebuch. München 1994 GEIST, CHRISTINE u.a. (Hrsg.): Hebammenkunde. Lehrbuch für Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Beruf. Berlin 1995 GILL, DEREK: Elisabeth Kübler-Ross. Wie sie wurde, wer sie ist. Aufgezeichnet von Derek Gill. mit einem Nachwort von Elisabeth Kübler-Ross. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Schaup. Stuttgart, Berlin 1981 GORKI, MAXIM: Autobiographische Romane. Aus dem Russischen übersetzt von Georg Schwarz. Mit einem Vorwort zur Gesamtausgabe und einem Nachwort von Helene Immendörffer. München 1972 7 GRASS, GÜNTER: Die Blechtrommel. Roman. Franfurt am Main 1974 MÄNDLE, CHRISTINE u.a. (Hrsg.): Das Hebammenbuch. Lehrbuch der praktischen Geburtshilfe. Stuttgart 1995 MISCHKULNIG, LYDIA: Sieben Versuchungen. Stuttgart 1998 NATIONALE FORSCHUNGS- UND GEDENKSTÄTTEN DER KLASSISCHEN DEUTSCHEN LITERATUR IN WEIMAR (Hrsg.): Goethes Werke in zwölf Bänden. Achter Band. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster und Zweiter Teil. Weimar 1981 (KLASSIKER) NATIONALE FORSCHUNGS- UND GEDENKSTÄTTEN DER KLASSISCHEN DEUTSCHEN LITERATUR IN WEIMAR (Hrsg.): Jean Pauls Werke in zwei Bänden. Erster Band. Selberlebensbeschreibung. Rektor Fälbel. Schulmeisterlein Wutz. Quintus Fixlein. Die wunderbare Gesellschaft. Weimar 1984 (KLASSIKER) NOBLE, ELISABETH: Primäre Bindungen. Über den Einfluß pränataler Erfahrungen. Frankfurt am Main1996 PEHLKE-MILDE, JESSICA: Curriculum für Hebammenausbildung, Stand des Forschungsprojektes. In: Hebammenforum. Das Magazin des Bundes deutscher Hebammen. EV. August 2002 REIME, BIRGIT: Wohl und Weh der Schülerin. In: Deutsche Hebammenzeitung.6/2000, S. 342- 345 REUTER, GABRIELE: Das Tränenhaus. Roman. Berlin 1908 ROTH, ASTRID (Hrsg.): Therese Schlundt. Geschichten einer Kölner Hebamme. Köln 2003 RUHE, HANS GEORG (Hrsg.): Geburt. Ein Lesebuch. München 1988 RÜHMKOPF, PETER: Die Jahre die Ihr kennt Anfälle und Erinnerungen. Hamburg 1972 SCHLUNDT, THERESE: Der Versuch einer Ehrenrettung für Goethes Hebamme. Vortrag anlässlich des 100 jährigen Jubiläums des Kölner Hebammenvereins am 29. 11. 1989. In : Die Hebamme 1995, Heft 8, S. 181-183 SCHNETTLER, HEIDI: Sind Hebammen kreativ? In: Deutsche Hebammenzeitschrift 9/2002, S. 43-45 SCHÜCKING, BEATE und SCHWARZ, CLARISSA: Technisierung der normalen Geburt. Zusammenfassung (Unveröffentlichtes Manuskript) der Ergebnisse. November 2001. SCHÜCKING, BEATE und SCHWARZ, CLARISSA: Die Entwicklung der” normalen” Geburt 1984 - 1999. Erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes. In Zentrum für Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen (Hrsg.). NPExtra 1999 Version 1.0 Niedersächsische und Bremer Perinatal- und Neonatalerhebung. Hannover. 2001 SCHÜCKING, BEATE und SCHWARZ, CLARISSA: "Technisierung der 'normalen' Geburt". Interventionen im Kreißsaal. In: Das Gesundheitswesen, 63. Jahrgang, A1 - A 88; Sonderdruck: Georg Thieme Verlag Stuttgart: A 10 - A 11 8 SCHÜCKING, BEATE A. (Hrsg.): Selbstbestimmung der Frau in Gynäkologie und Geburtshilfe. Frauengesundheit. Göttingen, Vandenhoek und Rupprecht. 2003 STRUCK, KARIN: Die Mutter. Frankfurt am Main 1975 WILKOMIRSKI, BINJAMIN: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948. Suhrkamp Taschenbuchverlag 1998 WIMSCHNEIDER, ANNA: Herbstmilch. Lebenserinnerungen einer Bäuerin. München 1984 ZACHER, ROLF: Endstation Freiheit. Erinnerungen. Berlin 2002 (?) ZOEGE, MONIKA: Bestandsaufnahme der qualitativen und äußeren Rahmenbedingungen der Hebammenausbildung in Deutschland. Hannover 1997 ZOEGE, MONIKA: Hebammenausbildung- Eine Untersuchung zur Qualifizierung von Hebammen vor dem Hintergrund der soziologischen Professionalisierungsdebatte. Dissertation, Universität Hannover 2002 9