Vorstellung:

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Seminarreihe „Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts in Polen und Deutschland“
Veranstalter: das Stefan-Starzynski-Institut (Warschau) und der Verein „Jugend bewegt Europa e.V.“
Tim Völkering
Ein neues Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum in Berlin
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die Genese des „Sichtbaren Zeichens gegen Flucht und Vertreibung“
1.
Projektskizze des „Sichtbaren Zeichens gegen Flucht und Vertreibung“
Im März 2008 verkündete der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien Bernd Neumann nach über
zweijähriger Verhandlung das Konzept für das „Sichtbare Zeichen gegen Flucht und Vertreibung“,
welches zu planen sich CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vom November 2005
vorgenommen hatten.
Aufgaben, Ziele, Inhalte, Methoden sowie institutioneller Rahmen dieser neuen Institution des
Gedenkens finden sich unter http://www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/BKM/2008-04-09sichtbares-zeichen-konzeption-barrierefrei,property=publicationFile.pdf. Wenngleich einige Details
schon feststehen, so wird meines Erachtens noch einige Zeit vergehen, bis das „Sichtbare Zeichen“ mit
der geplanten Dauerausstellung eröffnet wird.
2.
Die Genese
Der Initiierung des „Sichtbaren Zeichens“ ging eine lange Debatte voraus, die nicht nur innerhalb der
deutschen Politik und Wissenschaft geführt wurde, sondern auch in Polen hohe Wellen schlug.
Insgesamt lässt sich der Werdegang mit folgender Stichwortartiger Chronologie zusammenfassen: Von
der Idee eines deutschen Interessenverbandes über europäische Konkurrenzkonzepte zu einer deutschen
Stiftung, die mit europäischen Partnern zusammenarbeitet.
Das Thema „Flucht und Vertreibung“ war in der deutschen Gesellschaft immer präsent, allerdings
unterlag es unterschiedlichen Erinnerungskonjunkturen. Seit Ende der 1990er Jahre erlangte es wieder
eine höhere Aufmerksamkeit. Faktoren für seine gesellschaftliche und mediale Verbreitung waren u.a.
die ethnischen Säuberungen während der Bürgerkriege auf dem Balkan, historische
Fernsehdokumentationen und eben die Gründung eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ durch den
Interessenverband Bund der Vertriebenen.
Spätestens im Sommer 2002 entbrannte eine heiße Debatte über das Projekt des Interessenverbandes, der
neben anderen Vertreibungsschicksalen das Leid der deutschen Zivilbevölkerung im und nach dem
Zweiten Weltkrieg darstellen sowie die Integration der Vertriebenen in die bundesdeutsche Gesellschaft
würdigen wollte. In Wissenschaft und Politik wurden verschiedene institutionelle Alternativen dieser
vermeintlich deutschen „nationalen Nabelschau“ entgegengesetzt, die vor allem von CDU/CSUPolitikern unterstützt wurde: ein europäisches Zentrum (vor allem SPD-Politiker), gar kein Zentrum
sowie ein europäisches, dezentrales Netzwerk (Vertreterin der damaligen rot-grünen Regierung).
Obwohl Anfang 2005 nach einer deutsch-polnischen Regierungsinitiative unter der Beteiligung
ungarischer und slowakischer Politiker und Wissenschaftler das „Europäische Netzwerk Erinnerung und
Solidarität“ gegründet wurde, das das Leid der Zivilbevölkerungen in den Kriegen und unter den
Diktaturen des 20. Jahrhunderts aufarbeiten soll, war der Komplex „Flucht und Vertreibung“ sowie das
„Zentrum gegen Vertreibungen“ weiterhin ein kontroverses Thema, mit dem auf beiden Seiten der Oder
Geschichtspolitik und Wahlkampf betrieben wurde.
Einen Höhepunkt stellte in dieser öffentlichen Auseinandersetzung vor allem der in Deutschland und
Polen kontroverse Streit über zwei historische Ausstellungen dar. Einerseits veranstaltete die
Bundesinstitution Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dreijähriger Vorbereitung
die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“. Andererseits führte das „Zentrum gegen
Vertreibungen“ im Spätsommer 2006 zeitgleich eine Probeausstellung mit dem Titel „Erzwungene
Wege – Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts“ durch.
3.
Fazit: Europäisierung der Erinnerung?
Die erstgenannte Ausstellung soll nun die Grundlage des geplanten „Sichtbaren Zeichens“ sein. Trotz
dessen vor allem polnische Konservative gegen einen solch neuen Gedenkort in Berlin sind, scheint die
Institutionalisierung nun weitgehend akzeptiert und ist wohl auch nicht mehr abwendbar.
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Gleichwohl bleibt die Frage nach einer Europäisierung der Erinnerung bestehen, die viele
Debattenteilnehmer – in diesem Fall waren sie zumeist gegen das Projekt des „Zentrums gegen
Vertreibungen“ eingestellt – in den letzten Jahren gefordert hatten.
Eine Einschätzung des Osteuropa-Historikers Stefan Troebst soll als Gedankenanstoß dienen: „Bei
diesem mühsamen Ingangkommen ist natürlich der alles in allem ungewöhnliche Umstand zu
berücksichtigen, dass ein so konfliktbeladenes Thema wie ethnopolitisch motivierte Zwangsmigration
überhaupt zum Gegenstand grenzüberschreitender Gedächtnisdiskurse in Zentraleuropa, gar für
europaweite Institutionalisierungsinitiativen genommen wurde. Denn die Erinnerungskulturen ganz
Europas sind weiterhin national segmentiert und damit nur ausnahmsweise kompatibel. Auch im
erweiterten Europa der sich zunehmend rechtlich, monetär, sozial, ökonomisch und infrastrukturell
integrierenden Europäischen Union bestimmt in der Regel also nationale Geschichtspolitik nicht nur
immer noch, sondern in zunehmendem Maße neben der Innenpolitik zugleich die Außenpolitik. Dies
gilt nicht nur für traditionelle Sonderfälle wie Frankreich oder Griechenland, sondern mittlerweile
auch für die vormaligen versöhnungspolitischen Musterknaben Deutschland und Polen. Die zentrale
Frage, die sich dabei stellt, ist natürlich, ob es sich hier um einen kurzfristigen konjunkturellen
Ausschlag handelt, der durch aktuelle innen- und parteipolitische Konstellationen in den jeweiligen
Staaten bedingt ist, oder ob es sich um eine langfristige und damit unmittelbar kaum beeinflussbare
Entwicklung handelt – eine Entwicklung, die möglicherweise in kausalem Zusammenhang mit der
eben vertieften Integration EU-Europas steht: nationale Selbstvergewisserung durch
Abstoßungsreaktion“ (Troebst (2007), S. 798).
Auswahlliteratur
 Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien: Konzeption – „Sichtbares Zeichen gegen
Flucht und Vertreibung“ – Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum in Berlin,
19.03.2008 (als pdf-Dokument bei www.kulturstaatsminister.de (siehe oben)).
 Völkering, Tim: Flucht und Vertreibung im Museum. Zwei aktuelle Ausstellungen und ihre
geschichtskulturellen Hintergründe im Vergleich, Berlin 2008 [Zeitgeschichte – Zeitverständnis,
Band 17].
 Troebst, Stefan: Schwere Geburt. Die Gründung des Europäischen Netzwerks Erinnerung und
Solidarität, in: Deutschland Archiv 40 (2007), Heft 5, S. 791-798.
 Troebst, Stefan (Hrsg.): Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerungskultur. Deutsch-polnische
Initiativen zur Institutionalisierung. Eine Dokumentation, Osnabrück 2006.
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