(A) Wie hängen Diagnostik und "Normalität" zusammen?

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Zwischen Widerstand und
Kooperation
Umgang und Gespräche mit Eltern
DDR. ALAIN SCHMITT
Inhalt
ErzieherInnen kommen immer wieder in die Lage, Gespräche mit
Eltern führen zu wollen oder zu müssen. Selten sind es „gute
Nachrichten“, die ausgetauscht werden sollen – im Gegenteil,
häufig werden solche Gespräche zwingend nötig, weil die ErzieherInnen ein
Kind als verhaltensauffällig, schwierig, originell, retardiert,
zurückgezogen, unkooperativ, von Gewalt bedroht, hyperaktiv o.ä.
einschätzen, oder/und der Unterricht durch das Kind deutlich
beeinträchtigt ist. Nahezu 10% aller Kinder werden von ErzieherInnen als „problematisch“ eingeschätzt, Tendenz steigend seit zwei
Jahrzehnten.
Bei
Schülerproblemen
ist
immer
wieder
folgende
erstaunliche
Beobachtung möglich: Diskutiert man mit ErzieherInnen, neigen
diese dazu, die Ursachen vieler Übel bei den Eltern zu suchen; die
Eltern
machen
zu
Hause
alles
Mögliche
verkehrt,
was
die
LehrerInnen in der Schule dann ausbaden müssen. Spricht man mit
Eltern,
ist
es
genau
umgekehrt.
Es
gibt
viele
Klagen
über
LehrerInnen, die in der Schule wieder einreißen, was man zu Hause
mühsam
aufgebaut
hat.
Beides
kommt
vor
und
es
ist
gerechtfertigt, Verantwortlichkeiten und Ursachen zu suchen; oft
verfehlen diese gegenseitigen Vorwürfe aber auch den Kern des
1
„Schülerproblems“ und drehen weitgehend um Vorurteile, die von
Ängsten und Missverständnissen motiviert sind.
Dieser u. a. „Kommunikationsknoten“, die letztlich dazu führen,
dass der Umgang miteinander im gegenseitigen Widerstand endet
und das Schülerproblem aus dem Blick gerät, sollen im Kurs
vorgestellt
werden.
nikationsknoten“
Beispiele
sind
anderer
kulturelle,
möglicher
ethnische
„Kommu-
oder
soziale
Unterschiede zwischen ErzieherInnen und Eltern, die verschiedene
Wert- und Erziehungsvorstellungen bedingen.
Ziel ist es, Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten, die helfen, die
Kooperation im Interesse aller Beteiligten, und nicht zuletzt im
Interesse des betroffenen Kindes/Jugendlichen, aufzubauen und
aufrechtzuhalten. Mögliche weitere Themen dabei sind: Die Angst
der Eltern vor den LehrerInnen und die Angst der LehrerInnen vor
den Eltern – Der Zeitmangel und die zusätzliche Belastung –
„Diagnostizieren“, die Frage der „Schuld“ und wo Verständnis
Grenzen
hat
–
Gesprächsführung,
Konflikt-
und
Eskalationsmanagement – Vernetzung und Aufbau persönlicher Ressourcen.
Dauer
1.5 Tage, 9.5 Einh. à 50 min (z.B. Di 15-18, Mi 8:30-12, 13:3016:30)
Ablauf
Vortrag und Kleingruppenarbeit zu etwa gleichen Teilen;
Selbsterfahrungselemente, Rollenspiele. Unterlagen werden zur
Verfügung gestellt.
2
Inhalt/Zeit
Dauer
Tag 1, Nachmittag, 15:00-18:00
A
Überblick über Kurs
30 min
B
Kennenlernrunde: Wer bin ich? Erwartungen.
30 min
C
Selbsterfahrung I: Widerstand und Kooperationbereitschaft
60 min
Pause
20 min
Vortrag „Normales Verhalten bei Kindern/Jugendlichen“
40 min
D
Am Abend zu Hause: Bitte Arbeitsblätter „Kommunikation“, „Partnerorientiertes
Gespräch“ und „Gespräch“ ausfüllen und auswerten (Selbsterfahrung II, 25 min)
Tag 2, Vormittag, 8:30-12:00
Vortrag „Diagnostizieren: Wie geht das und was teile ich wem wie mit?“
30 min
Pause
10 min
F
Vortrag „Gesprächsführung – Selbsttestungen (Selbsterfahrung II)“
30 min
G
Selbsterfahrung III: Aktives Zuhören und Trittbretter
80 min
Pause
15 min
Selbsterfahrung IV: Der Ton macht die Musik – Kleines Theater
45 min
E
H
Tag 2, Nachmittag, 13:30-16:30
I
Selbsterfahrung V: Gesprächsvorbereitung in konkreten Fällen
J
Literatur
K
Materialien
120 min
Abbildung und Arbeitsblatt „Kommunikation“(Einschätzung des eigenen Stiles)
Arbeitsblatt „Partnerorientiertes Gespräch“ (Einschätzung der eigenen Orientierung)
Arbeitsblatt „Gespräch“ (Selbstreflexion darüber, was ich wünsche oder befürchte)
Lehrerfragenbogen zum Verhalten von Kindern/Jugendlichen (Einschätzung des schwierigen,
auffälligen Schülers)
3
persönlicher, institutioneller
und gesellschaftlicher
Zwischen Widerstand und Kooperation
Hintergrund
Umgang und Gespräche mit Eltern
+
Vorbereitung im
konkreten Fall:
Allgemeine Vorbereitung
auf Umgang/Gespräche:
+
+
Selbstreflexion
eigene "Falldiagnose(n)”
eigene Lösung(en)
Hilfeplan, Vernetzung
HypothesenGesprächsverlauf
Ziel(e) des Gespräches
Selbsterfahrung
Vernetzung/Ressourcen
Wissen
"Diagnostizieren"
Gesprächsführung
Hilfeplanung
+
+
+
+
+
Supervision, Intervision
interne Psychologen u.a.
externe Psychologen u.a.
externe Hilfsinstitutionen
Amt für Jugend u. Familie
+
Lesen z.B. Trapmann & Rotthaus (2003)
Auffälliges Verhalten im Kindesalter.
Ein Handbuch für Erzieher und Eltern.
allgemeine Fortbildung z.B.
"Es gibt keine Kindertherapie ohne
Einbeziehen von Bezugspersonen"
+
+
+
+
+
4
Joining
Humor
Umgang mit Kritik
Fehlermanagement
(De)Eskalation
Zuhören und Trittbretter
Ressourcen, Ausnahmen
und Defizite
Gesprächsführung
+
+
+
+
+
+
+
Was ist normal?
Leistung, Psyche und
soziales Umfeld (Familie, Kultur)
soziale Verträglichkeit (Schule,
Schulklasse, LehrerInnen)
Ressourcen, Ausnahmen, Defizite
Ursachen-Ideen
Normalisieren / Pathologisieren
und die Situation der Eltern?
"Diagnostizieren"
+
+
Wissen
Rahmen: Raum, Zeit, Atmosphäre
+
Selbsterfahrung I zum Thema
„Widerstände und Kooperationsbereitschaft von LehrerInnen und
Eltern angesichts eines gemeinsamen Gesprächs“
2 Gruppen à 6 Personen.
Jede Gruppe macht ein Plakat nach folgendem Schema (30 min); anschließend
Austausch in der Großgruppe (30 min).
Bereitschaft zum Gespräch
Eltern
Gefühle
Irgendetwas passt nicht in der
LehrerInnen
Angst/Besorgnis Ich muss, weil der Schüler
Schule.
Ich bin verpflichtet mich regelmäßig
Schuld
Gefühle
Angst?
unterrichten verunmöglicht.
Zorn?
Ich bin verpflichtet …
Schuld
Ich will, weil mir das Kind leid tut.
Mitleid
zu kümmern …
Usw.
Widerstände gegen ein Gespräch
Eltern
Keine Zeit. Keine Lust.
Gefühle
LehrerInnen
Angst?
Eigentlich will ich nicht – wie
Wut?
komme ich dazu, mich mit so
einem Problem zu beschäftigen.
Ich bin in der Erziehung überfordert. Resignation,
Ich bin Pädagoge und nicht
Therapeut …
Angst
Usw.
5
Gefühle
Wut/Zorn
„Normales“ Verhalten bei Kindern/Jugendlichen
Warum ist „Normalität“ überhaupt in so einem Kurs wichtig?
a) Sie brauchen vor einem Gespräch mit Eltern eine beschreibende Einschätzung von
dem was passt oder nicht, also eine Art „Diagnose“. Dabei wiederum ist es wichtig, zu
bedenken, was normal ist und worin die Abweichung genau besteht. Die
Hauptbegriffe, um die es bei Eltern-Lehrer-Gesprächen geht, sind
Verhaltensauffälligkeiten (oder –störungen oder –abweichungen von der Norm) und
Leistungsdefizite (also wieder Abweichungen von der Norm). Lehrer stellen sich
letztlich ständig inituitiv oder ausdrücklich die Frage nach der Normalität ihrer Schüler
und/oder Klasse.
b) Im Gespräch selbst ist es die Einschätzung und Bewertung von „Normalität“ und
Abweichungen davon sehr wichtig. Eine der häufigsten Fragen in den Erstgespächen
in der psychologischen Praxis ist jene danach, ob das Kind oder die Familie oder man
selbst als Eltern „normal“ sei. Hier gibt es große Ängste und Unsicherheiten. Sie
müssen wissen, dass dies eine ausgeprochene oder unausgesprochene wichtige
Dimension von Elter-Lehrer-Gesprächen ist. Eltern stellen sich laufend die Frage, ob
sie oder ihre Kinder oder Familie „normal“ sind.
Was ist "normal"? "Normal" ist das ..
o statistischer Mittelwert, idealtypisches Beispiel
.. was im Lehrbuch als statistisches Mittel oder als (paradigmatisches) Beispiel oder Möglichkeit
angeführt ist (Kinder lügen ziemlich oft) oder
o Referenzgruppen
.. was ich in meiner Umgebung – im Klassenzimmer, zu Hause usw. - öfters oder am häufigsten
wahrnehme, erlebe, was alle tun/sind/haben (Kinder lügen mitunter)
o Biografie
.. was ich in meinem Leben erfahren habe (Ich war immer brav und habe nie gelogen), und für den
Anderen das, was sie/er in seinem Leben erfahren hat (sie/er ist in einer sozialen Umwelt
aufgewachsen, die sie/ihn dazu (ver)führte oder zwang, oft zu lügen)?
o Werte
.. was meinen und allgemeinen Gesetzen, Idealen, Werten, Normen entspricht (Du sollst nicht lügen!)
6
Normal kann also vielerlei und vieles sein; es bedarf einer sozialen Konsensbildung und
viel Wissens, um z.B. herauszufinden, was an einem bestimmten Verhalten oder einer bestimmten Kinderzeichnung sexualisiert ist, was (un)typische Kinder- oder Jugendlichenkultur ist. Es gibt einen persönlichen Begriff von Normalität und einen durch die soziale
Gruppe bestimmten Begriff, der
(a) allgemein kulturell sein kann (religiös, wissenschaftlich, rechtlich usw.), oder
(b) etwas enger durch die Referenzgruppen bestimmt (Familien, Sportgruppen, peer-goups, Kindergärten,
Berufsgruppen usw. haben alle bestimmte Normen) oder auch
(c) sehr speziell (psychiatrisch-medizinisch, klinisch-psychologisch usw.) sein kann.
Letztere interessieren uns hier besonders und sind hauptsächlich durch statistische Ideen und durch
idealtypische Beispiele geprägt, die sich eben in Lehrbüchern finden. Auf diese möchte ich zunächst
genauer eingehen, sage aber gleich dazu, dass wir es im Alltag immer mit einer Kombination von allen drei
Ebenen zu tun haben.
Kulturelle/historische/soziale Dimensionen
 sozial anerkannte oder sogar belohnte Anormalität: extremer Altruismus wie Mutter Theresa,
Exzentrizität wie gewisse Künstler Wharhol, aber auch Schamane, enthaltsam lebende Priester,
Heilige
 · kulturelle und historische Veränderung dessen, was als normal gilt (cf. Norbert Elias Beispiele im
Prozeß der Zivilisation, Spucken bei Tisch und andere Tischmanieren wie Besteckverwendung usw.,
aber auch Gesetze, die das Böse, Auszuschließende definieren (Beispiel Homosexualität in den
psychiatrischen Klassifikationen und Gesetzen).
Verschiedenste "Lehrbücher" mit unterschiedlichen Zugängen:
·
Statistik: Normalverteilung, Mittelwerte und Entwicklung/Veränderung (Wachstumskurve, Normen bei
Psycho-Tests, Epidemiologie: z.B. Wie viele Menschen bekommen im Laufe ihre Lebens in den USA
eine psychiatrische Diagnose? 52% keine, 21% eine Störung, 13% 2, 14% 3 oder mehr, die
häufigsten Störungen bei Kindern laut einer deutschen epidemiologischen Studie, s. später
Schlußfolgerung: Norm + Einzelfall betrachten
·
Universalien: Anthropologie, Biologie, Verhaltensforschung, Grundlagenuntersuchungen (was in allen
Kulturen vorkommt, z.B. die 5-6 Grundemotionen; was in vielen oder allen Kulturen vorkommt und im
Tierreich bei unseren biologisch nächsten Verwandten beobachtbar ist, Zungenkuß – Mund-zu-MundFütterung, Territorialität, Flirt mittels Pflanzen überreichen; oder was eindeutig genetisch festgelegt
und/oder angeboren ist, fünf Finger usw., Farbensehen und –Farbendummheit/blindheit,
Linkshändigkeit, optische Täuschungen; die Einteilung der Farben? Geschlechtsidendität?)
·
Psychologie: (Klinische P., Entwicklungspsychologie und –psychopathologie), Einteilung der
Persönlichkeiten nach Comer, GEO-Abbildung
·
Pathologie: Psychiatrie, ICD-10, DSM-IV-R, andere medizinische Lehrbücher, "übermäßig", "nicht
altersentsprechend", auch soziale Kriterien usw.; idealtypische Präsentation von bereits
kategorisierten Fällen, Symptomen, Syndromen usw.
·
Spezialliteratur, thematisch gegliedert: z.B. Paul Ekman "Warum Kinder lügen", 1985 Beispiel daraus:
Entwicklungspsychologie des Lügens, dazu auch Folie zu Kohlberg
·
Spezialfälle: z.B. Anzeigen und Prozesse bei Verdacht auf sex. Kindesmissbrauch; 10% der
Anzeigen entstehen durch Lügen von Kindern/Jugendlichen; wieviele % durch Lügen von
Erwachsenen ist nicht bekannt, es dürfte allerdings ein relativ hoher %-Satz sein; 6 von 7
7
Verdachtsfällen, die am AJF oder im KISZ landen sind Fehlalarme; aus meiner Praxis sind mir einige
Lügen-Fälle bekannt; in der Tendenz sind es die Mütter/Frauen, die falsch beschuldigen, und die
Männer/Täter, die abstreiten.
Lassen Sie mich noch einmal zum persönlichen Begriff von Normalität zurückkommen:
Welche psychologischen Momente (Gefühle, Gedanken, Verhalten) sind wichtig, wenn
man selbst oder andere mit Normalität oder Andersartigem in Berührung kommt?
Denken über (A)Normalität

soziologisch gesehen (be)urteilen wir innerhalb von Sekundenbruchteilen Geschlecht, Alter, Status
(über Kleidung, Gepflegtheit u.ä.) eines anderen Menschen und bilden so Vorurteile (die im Alltag ein
Muß sind, da sie Denken und Handeln vereinfachen; ohne Vorurteil wären wir überfordert von der
Menge und Komplexität der Information, die auf uns einströmt)

wir neigen zu Idealen, Ideologien usw. und damit zum Denken in Typologien, Kategorien,zur
abstrakten Verallgemeinerung; das Normalen und das Nicht-Normale wird idealtypisch dargestellt
(psychiatrielehrbücher sind genauso aufgebaut, dass sie das Pathologische idealtypisch beschreiben)
und übersehen dabei die Übergangsformen, Nuancen, Graubereiche, Zwischenstufen usw. Man
schätzt dass auf einen Lehrbuchfall 20 unscharfe, nicht ganz alle Kriterien oder nur einige Kriterien
erfüllende Fälle kommen, die dann keine Fälle mehr, sondern Verdachtsdiagnosen sind. Diese
Neigung zum Schwarz-Weiß-Denken oder zur Reduktion des Komplexen hat Vor- und Nachteile.

mit Diagnostizieren, Klassifizieren und mit Vorurteilen bekommen wir Macht über den anderen, wir
grenzen uns ab, meistens nach unten, d.h. wir setzen den anderen unter uns, werten ihn ab, so dass
wir uns sicherer fühlen
Moralische Dimension
 normal wird sehr oft mit gut, richtig, wahr, unschuldig assoziiert, anormal mit böse, schuldig usw.
Dabeisein: Konformität vs. Originalität
 wir wollen normal sein, dazugehören, Konformitätsdruck (vs. Individualismus) Gruppendynamik:
Experimente von Milgram, Ash und Sherif, s. Zimbardo4 :618ff
 bei Untersuchungen über Persönlichkeit, Verhalten usw. schätzen sich sehr viele der Befragten als
"durchschnittlich" und daher als normal ein
Gefühle/Verhalten dem Normalen resp. Anormalen gegenüber
 Masse & Macht. Canetti S. 1-2. "Nichts befürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch
Unbekanntes." (Häuser als Abgrenzung, in der Öffentlickeit, Individualdistanz usw.) "Es ist die Masse
allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann."
 Angst vor dem Anderen, Andersartigen, Fremden, Fremdartigen (vs. Neugier und Faszination des
Andersartigen), Angst vor Ansteckung und Übertragung der Abweichung auf das Normale
 Ekel, Ächtung, Ausstoßung, Bestrafung des Fremden, Kranken, psychisch Kranken, Behinderten usw.
(Psychiatrieentwicklung der letzten 200 Jahre, Faschismus im 20 Jahrhundert)
Pathologie der (A)Normalität
 veränderte Bewußtseinszustände
 Pathologie der Normalität: Schüchternheit, bin ich verrückt, Größenwahn- und
Minderwertigkeitsvorstellungen, also verschiedene Wahnvorstellungen, nicht normal zu sein, wie
8
schlecht zu riechen, deformiert zu sein .. die Frage, ob man nun normal sei oder verrückt beschäftigt
quasi alle Kunden irgendwann in einer Beratung/Psychotherapie, nicht selten ist es sogar das
Hauptanliegen des Erstgespräches. Offensichtlich ist das bei gesellschaftlich eher tabuisierten
Themen wie psychotischen Zuständen, schweren Zwangsgedanken oder sexuellen Störungen. Wenn
diese Frage fehlt oder gar die Kunden angeben, die Welt in ihrem Sinn verändern zu wollen (bei
schweren paranoiden Zuständen wird die gesamte Welt als deformiert betrachtet, so manche
Pädophile, die für eine Liberalisierung der Gesetzgebung usw. eintreten, dann gilt dies eher als ein
Zeichen besonderer Schwere der Abweichung; die Krankheitseinsicht und die Einsicht, nicht normal
gehandelt zu haben, ist auch ein wichtiges Kriterium bei der Unterscheidung zw. Neurose und
Psychose und bei der psychiatrisch-forensichen Beurteilung ob ein als geistig-abnorm eingestufter
Straftäter entlassen werden kann oder nicht)
9
Der "normale" Jugendliche in Beispielen
Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie in
Beispielen
Probleme bei den existierenden Daten: (A) große Streuungsbreite, große Unsicherheit der
Daten, (B) wenig aktuelle Daten usw. Dennoch: Einige Prinzipien lassen sich ableiten; ich
versuche bei Beispielen immer wieder den Bezug zur Schule herzustellen
 Sprache & Sprechen - Mehrsprachigkeit und Dysgrammatismus
 Intelligenz(tests) - IQ-Normen, Projektive Tests
 Denken (Glas-Wasser-mit Zucker-Experiment Piaget 1964)
 Moralische Entwicklung (Kohlberg)
 Wenn Kinder erwachsen werden: Schritte auf dem Weg in die Autonomie
 Psychische Störungen bei Kindern/Jugendlichen
 Gefühle - Reaktionen von Kindern/Jugendlichen (Wut, Angst, Schuld &
Scham, Trauer) bei Trennung der Eltern
 Gewalt:
Grunddaten
Elternstrafen – Lehrerstrafen
Sexuelle Entwicklung, sexueller Missbrauch und die Folgen,
sexualisiertes Verhalten, Medienberichte
 Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, oppositionelles
Trotzverhalten
10
 Intelligenz(tests) - IQ-Normen von genial über normal zu schwerstgradig geistig
behindert (idiotisch), IQ-Messungen kaum jemals kultur- oder bildungsfrei möglich, der
aktuellste genormte Test für Intelligenzmessung bei Kindern und Jugendlichen ist der
AID-2 (von Kubinger et al. entwickelt, Wien) gilt bereits als "alt" (er wurde zw. 1995 und
1997 genormt)
 Projektive Tests (Kinderzeichnung, Sceno, Familie in Tieren, CAT/TAT, Rorschach,
Familienbrett) Merksätze:
(1) Außer für die Kinderzeichnung gibt es weder für Erwachsene Normen noch für
Kinder/Jugendliche Entwicklungsnormen.
(2) Es kann prinzipiell keine Normen geben, da Projektionen hochgradig individuell
sind; es sind stets die Kommentare des Projezierenden in seinem Lebenskontext zu
interpretieren (Freuds "Es gibt keine Traumdeutung ohne die Einfälle des
Träumenden" ist unbedingt analog zu verwenden.)
 Moralische Entwicklung (Kohlberg)mit drei Ideen: erstens dass es vom Alter und vom
moralischen Entwicklungsstand abhängt, welche Sanktionen sinnvoll sind; zweitens
dass bei der Entwicklung von Verhaltenskatalogen ideale Vorstellungen davon, wie
SchülerInnen sein sollten meistens von konventionellen oder sogar eher noch von
postkonventionellen Bildern ausgehen, man glaubt z.b. dass es ja von Innen kommen
sollte, dass ihr Gewissen oder ihr Respekt so weit gediehen sein sollten, dass ..;
drittens, dass man auch über Belohnungssysteme, und nicht nur über
Bestrafungssysteme nachdenken sollte bei der Erstellung von Verhaltensregeln und –
sanktionen. Daten: siehe nächste Seite
 Wenn Kinder erwachsen werden: Schritte auf dem Weg in die Autonomie
Entwicklungsschritte auf dem Weg
zur Unabhängigkeit von den Eltern
Männer
Frauen
14.7
Essen machen
13.9
Aussehen selbst
bestimmen
15.6
15.1
heimkommen,
wann man will
17.4
17.9
eigenes Geld
verdienen
20.5
Auszug aus
dem Elternhaus
20.6
20.7
22.2
0
5
10
15
Alter (Jahre)
11
20
25
 Psychische Störungen bei Kindern/Jugendlichen: produktive vs. unauffällige Störungen,
Äquifinalität, Äquipotentialität, Komorbiditäten
Aquifinalität: Ein- und dasselbe Symptomenbild kann verschiedenste Ursachen haben.
Also z.B. eine Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung kann entweder durch
Scheidung der Eltern oder einen Autounfall oder eine unglückliche Liebe o.a.
ausgelöst/verursacht werden.
Aquipotentialität: Jedes Ereignis (..) kann ganz verschiedene Symptomenbilder auslösen.
Komorbidität: gerade bei Kindern und Jugendlichen sind das gemeinsame Auftreten
verschiedenster Symptomenbilder sowie unklare Symptomenbilder typisch. In 50% der
Fälle liegt neben der offensichtlichen Diagnose noch eine andere vor, besonders häufig
sind die verdeckten Störungen Angststörungen.
Prävalenz (%)
psychische Störungen
SchülerInnen 14-18a
Zeitpunkt
Untersuchung
Lebenszeit
3.2
8.8
Paniksyndrom
0.35
0.82
Agoraphobie
0.41
0.70
Sozialphobie
0.94
1.46
Spezifische Phobie
1.40
1.99
Zwangssyndrom
0.06
0.53
Trennungsangst
0.18
4.21
Überängstlichkeit
0.47
1.29
2.9
20.3
schwere Depression
2.57
18.48
dysthymesSyndrom
0.53
3.22
Aufmerksamkeits- und
expansive Verhaltensstörung
1.8
7.3
Unaufmerksamkeit & Hyperaktivität
0.41
3.10
oppositionellesTrotzverhalten
0.94
2.46
Dissozialität
0.13
3.22
10%
37%
Angststörungen
Unipolare Depression
irgendeine Störung
12
 Gefühle - Reaktionen von Kindern/Jugendlichen (Wut, Angst, Schuld & Scham, Trauer)
bei Trennung der Eltern. 80% (!!) der Kinder und Jugendlichen wachsen bei einem
Elternpaar auf, die anderen bei Alleinerziehenden; Scheidungs- und Trennungsraten
steigen seit Jahrzehnten, aber vor allem bei kinderlosen Paaren.
Reaktionen auf Trennung/Scheidung der Eltern (nach Fthenakis
1995, Familiendynamik 20)
Lebensalt
"Normale, übliche, häufige"
er
Verhaltensäußerungen
Nachtangst, Schlafprobleme, sozialer Rückzug
bis 3
(bis 2)
Regression (Trennungsangst, Rückschritte in
Sauberkeit, Wiedereinführen von
Ersatzobkjekten), Irritierbarkeit, Ängstlichkeit, Wut, Trotz, oppositionelles Verhalten,
Schlafstörungen, Verlangsamung des
Identitätsfindungs- und Individuationsprozesses, Verlangen nach physischer Nähe
Aggressivität (geschlechtstypische
3 und 4 Internalisierung bei Mädchen und
Externalisierung bei Buben, d.h. Mädchen
richten die Wut gegen sich selbst, Buben
richten sie gegen die Umwelt), Irritierbarkeit,
vermindertes Selbstwertgefühl, (Ur)Misstrauen, Trauer, Einsamkeit, Gehemmtheit in
Spiel, Fantasie und Verhalten, Selbstbeschuldigungen wegen dem Zerfall der
Familie
13
5 und 6 Aggressivität, Ängstlichkeit, Ruhelosigkeit,
(ähnlich
vorher,
verschärft)
Irritierbarkeit, Trennungsprobleme,
Wutanfälle, sozialer Rückzug und
Depressivität, Schlafstörungen, Phobien,
Zwänge, Schuldgefühle
7 und 8 anhaltende Traurigkeit - Depressivität,
existentielle Ängste, Leistungdefizite,
Loyalitätskonflikte, Schulprobleme
psychosomatische Erkrankungen, Depression,
9 bis 13 Pseudoreife, Zorn, Angst, Einsamkeit, Scham,
Identitäts- und Loyalitätskonflikte, Selbstwertprobleme, Schulschwierigkeiten,
existentielle Ängste, Ohnmachtsgefühle
(zunächst sehr heftige, dann angepasstere
14 bis 19 Reaktionen): Zorn, Trauer, Schmerz, Zweifel
an eigener Beziehungsfähigkeit, abrupte
Ablösung vom Elternhaus, Flucht in
Fantasiewelten
14
 Gewalt: Grunddaten, Elternstrafen – Lehrerstrafen
gewalt gegen kinder ist sehr verbreitet
Trotz vieler gesetzlicher Verbesserungen - 1974 wurde in Österreich die körperliche
Züchtigung in der Schule verboten, 1977 das seit 1811 bestehende Züchtigungsrecht der
Eltern abgeschaft - sind heute immer noch viele Kinder von personaler und struktureller
Gewalt betroffen.
Zu ersterer rechnet man Gewalt in der Familie (sexueller Missbrauch, physische und
psychische Misshandlungen und Vernachlässigung durch Verwandte, nahe Bekannte), in
der Schule (durch Erzieher, Mitschüler, peers) und durch Fremde im (halb)öffentlichen
Raum. Personale Gewalt z.B. durch ErzieherInnen ist in den letzten 25 Jahren stark
zurückgegangen, dennoch gaben 1995 in Ö 16% der Jugendlichen an, in der Grundschule
öfters geschlagen worden zu sein. 25% berichten von keinerlei negativen Erfahrungen.
Auch miteinander gehen Kinder nicht friedlich um: In Kindergarten und Schule sind sie in
der freien Spielzeit ca. alle 20 min in einen Konflikt verwickelt, wovon jeder zehnte mit
massiveren Gewaltformen einhergeht.
Strukturelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche findet sich in den Massenmedien
(internet, Film, Nachrichten, reality TV - mit 12 Jahren haben sie z.B. 14 000 Totschläge
oder Morde in Bildmedien "erlebt"), in "Spielen" (Comics, Computergames), aber auch in
der Arbeitswelt (Kinderarbeit) und in Kriegsgebieten. Schließlich enthalten unsere
Ideenwelten (wie Rechtssysteme, pädagogische Theorien) Gewaltelemente. Diese
verändern sich nur langsam: Die Vorstellung der Erbsünde begleitet uns seit Jahrtausenden, seit dem Mittelalter gibt es so etwas wie Kindheit, im 19. Jhdt. war die Hochblüte der
Schwarzen Pädagogik, die davon ausging, dass Kinder von Geburt an schlecht seien und
zum Guten und zur Wahrhaftigkeit erzogen werden müssten; die UN-Charta für Kinderrechte entstand 1989.
innerfamiliäre gewalt ist bedeutsam
Da innerfamiliäre Gewalt im Rahmen enger, lebenswichtiger Beziehungen passiert, ist sie
ein deutliches Entwicklungsrisiko und kann nachhaltige, mitunter über Generationen
dauernde Folgen haben.
epidemiologie: 5-10% der Kinder regelmäßig betroffen
Insgesamt hat (in Österreich) Gewalt gegen Kinder in ihrer objektiven Schwere eher ab15
als zugenommen. Dies betrifft v.a. Gewalterfahrungen als direkte Folge materieller
Notlagen (z.B. Kindesweglegung, Kinderarbeit) u. die Anwendung körperlicher Gewalt.
Vorsichtige Schätzungen ergeben, dass 5-10% aller Kinder/Jugendlichen in Ö regelmäßig
von innerfamiliärer Gewalt betroffen sind – das sind 85-190 000 Menschen.
Es gibt keine verlässlichen Daten über Vernachlässigung und psychische Misshandlung.
Die Deutsche Jugendhilfe schätzt, dass 6-7% aller Kinder vernachlässigt sind - 10% davon
seien schwer betroffen.
Körperliche Gewalt ist ein nicht selten angewendetes Mittel der Erziehung: 10% der Eltern
verzichten ganz darauf, 1/3 geben häufiger Klapse und Ohrfeigen, 1/3 greifen ab und zu,
5-7% sogar häufiger zu schwereren Gewaltmitteln, d.h. sie verabreichen eine Tracht Prügel oder schlagen mit Gegenständen.
Beschränkt man sich auf gravierendere Formen sexueller Übergriffe, so zeigt sich, dass
ca. 9% der Mädchen und 3.5% der Buben zu Masturbation oder genitalen Berührungen
vor oder mit anderen verführt oder gezwungen wurden. Bei ca. 5% der Mädchen und 1.5%
der Buben ist es genitaler, oraler oder analer Geschlechtsverkehr. 2/3 der betroffenen
Mädchen und 3/4 der betroffenen Buben erleben diese Übergriffe nur einmal. In 25% aller
Fälle stammen die Täter aus dem Familienkreis; es sind Onkel, Väter, Brüder etc. Die
meisten Übergriffe (50%) passieren im Bekanntenkreis, hier zur Hälfte von Seiten anderer
Jugendlicher. In 25% der Fälle sind die Täter Fremde.
16
Elternstrafen – Lehrerstrafen, N=3000 Jugendl, N=3000 Erwachsene, 1995
Anteile SchülerInnen (%, 12 und 16 Jahren, BRD)
haben zumindest einmal im Leben erfahren durch ..
-
Eltern
%
LehrerInnen
%
Ohrfeige
81
Ohrfeige
15
Fernsehverbot
67
Freiheitsstrafe Nachsitzen
68
Ausgehverbot
64
Rausgehen aus Klasse
19
Niederbrüllen
52
deftige Ohrfeige
44
Schweigen/Ignorieren
36
Strafarbeiten
Schreiben
Mensadienst (sozial)
Hausmeisterdienste
Taschengeldentzug
34
Tracht Prügel
31
Tracht Prügel
mit Gegenstand
15
Schläge
mit Gegenstand
2
nie erlebt
10
nie erlebt
7
(mehrmals 6%)
Fremde
(Nachbarn usw.)
19
56
31
die Akzeptanz von körperlichen Strafen in der Erzeihung sinkt allgemein seit
Jahrzehnten, sowohl rechtilich wie informell
-
Gewalt wird von 75% der Eltern nicht als adäquates Erziehungsmittel angesehen,
die körperlichen Strafen werden als affektive Reaktion auf Ohnmachsgefühle oder
Hilflosigkeit beschrieben
-
je häufiger Kinder zu Hause Körperstrafen erfahren,
o umso mehr nehmen sie dieses als Norm und
o umso mehr akzeptieren sie dieses als angemessen und befürworten sie
diese als Erziehungsmittel (statistische und Gewohnheitsnorm wird zur
ethischen und Zielnorm) und
o umso wahrscheinlicher ist es, dass sie auch in der Schule und von Fremden
körperliche Gewalt erfahren (weil sie keine anderen Grenzen kennen, weil
sie verhaltensauffäliger sind ..??)
17
Sexueller Kindesmissbrauch
Wollte man so etwas wie ein Minimalsyndrom kurz- u. mittelfristiger Folgen herausarbeiten und
vergleicht man sexuell missbrauchte Kinder mit Kontrollgruppen, zeigen erstere in einem Drittel der
Fälle eine höhere Symptombelastung in den Bereichen
Aggressivität
sexualisiertes Verhalten
Angst
sozialer Rückzug
Depressivität
Äußerst wichtig ist, dass zum Zeitpunkt der Untersuchung im allgemeinen nur ein Drittel der Kinder
überhaupt (diese) Symptome zeigen; nahezu die Hälfte erscheint völlig symptomfrei. Dies gilt auch
allgemeiner ab dem Ende eines Missbrauchs: ca. ein Drittel der Kinder zeigt gar keine Folgen, ein
Drittel leidet mittelfristig, durchlebt also eine mehrwöchige bis einige Monate währende Krise, und
ein Drittel ist nachhaltig, möglicherweise bis ins Erwachsenenalter hinein, beeinträchtigt. Alles
hängt entscheidend von der Intensität des sKM ab.
Ein ganz entscheidender Punkt ist, dass es bei innerfamiliärer Gewalt in der Regel weder klare
(pathognomonische) Symptome noch ein eindeutiges physisches oder psychisches Syndrom gibt.
Alle Aussagen sind Wahrscheinlichkeitsaussagen; die genannten Folgen können also auftreten,
treten auch im statistischen Mittel etwas häufiger auf als in Kontrollgruppen, aber kaum je in einem
Einzelfall gemeinsam - als Syndrom. Jedes Kind findet eine ihm eigene Form, um auszudrücken,
dass es an einer Misshandlung leidet.
Das sei an sexualisiertem Verhalten verdeutlicht. Damit sind gemeint sexualisiertes Spielen mit
Puppen, häufiges Anfertigen von Zeichnungen sexuellen Inhaltes, Einführen von Finger oder
Gegenständen in After oder Vagina, exzessives und/oder öffentliches Masturbieren, verführerisches Verhalten, Ersuchen um sexuelle Stimulation von anderen, sexuelle Belästigung anderer,
altersunangemessenes Wissen über Sexualität.
Es stimmt: Sexuell missbrauchte Kinder zeigen häufiger sexualisiertes Verhalten als nicht sex.
missbrauchte Kinder. Dieser Unterschied sinkt aber auf die Hälfte, wenn man missbrauchte Kinder
mit klinischen Populationen vergleicht, also mit nicht-missbrauchten Kindern, die in
psychotherapeutischer o. psychiatrischer Behandlung sind. In Zahlen: Nach sKM legen 30% der
Kinder sexualisiertes Verhalten an den Tag; 70% verhalten sich "normal". Zudem gelten diese
niedrigen Wahrscheinlichkeiten nur bis zu einem Alter von 6-7 Jahren. Sind die Kinder einmal
eingeschult, so unterscheiden sie sich kaum noch von nicht-missbrauchten. 5% aller Schulkinder
verhalten sich "sexualisiert", unabhängig davon, ob sie missbraucht wurden oder nicht.
Schlussfolgerungen: (1) Aus dem Auftreten sexualisierten Verhaltens allein lässt sich bestenfalls
ein Hinweis, aber sicher kein Beleg für sKM oder eine andere Gewalterfahrung ableiten. (2)
Kenntnisse über die Folgen sind unumgänglich, um fachlich begründet zu diagnostizieren; ebenso
wichtig ist aber zu wissen, was die Norm ist – z.B. jene der sexuellen Entwicklung -, von der das
beobachtete, "verdächtige" Verhalten abzuweichen scheint.
18
 Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, oppositionelles Trotzverhalten (ODD
oppositional deviant diaorder)
Noch einmal ein einfacheres Beispiel: Lehrbuchstandardsformulierungen, sowohl
Klinische Psychologie wie Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie wie die internationalen
Krankheitsklassifikationen ICD-10 oder DSM-IV wie Spezialliteratur sprechen von einem
unpassenden und nicht dem Entwicklungsstand entsprechenden Ausmaß ohne jemals
die unten angeführten Formulierengen quantitativ zu präzisieren.
ADHS
Unaufmerksamkeit
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Beachtet oft Einzelheiten nicht genau oder macht Flüchtigkeitsfehler bei schulischen Aufgaben, bei der Arbeit
oder bei anderen Tätigkeiten.
Hat oft Mühe, längerfristig aufmerksam zu sein bei Arbeit oder Spiel.
Scheint oft nicht zuzuhören, wenn direkt angesprochen.
Führt oft Anweisungen nicht vollständig aus oder beendet Arbeiten in der Schule, zuhause oder am Arbeitsplatz
nicht (nicht verursacht durch oppositionelles Verhalten oder weil Anweisungen nicht verstanden wurden).
Hat oft Mühe, Tätigkeiten planvoll abzuwickeln.
Vermeidet, übernimmt nur ungern oder verweigert oft Aufgaben, die anhaltende Konzentration erfordern (z.B. in
der Schule o. bei Hausaufgaben).
Verliert oft Dinge, die für Aufgaben und Tätigkeiten notwendig sind (z.B. Spielzeug, Hausaufgabenheft,
Schreibstifte, Bücher oder Werkzeug).
Wird oft leicht abgelenkt durch unwesentliche Reize.
Ist oft vergesslich bei Alltagstätigkeiten.
Hyperaktivität (1-6) und Impulsivität (7-9)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Zappelt oft mit Händen oder Füßen oder windet sich auf dem Stuhl.
Verlässt oft den Sitzplatz im Klassenzimmer oder in anderen Situationen, bei denen Sitzenbleiben erwartet
wird.
Rennt oft herum o. klettert überall hoch in unpassenden Situationen (bei Jugendl. kann sich dies lediglich in
Gefühlen der Ruhelosigkeit äußern).
Hat oft Mühe, bei Spiel und Freizeitaktivitäten keine Geräusche zu machen.
Ist oft umtriebig oder benimmt sich oft wie von einem Motor angetrieben.
Redet oft übermäßig viel.
Platzt oft mit der Antwort heraus, bevor Fragen komplett gestellt sind.
Hat oft Mühe zu warten, bis er/sie an der Reihe ist.
Unterbricht oder stört oft andere (mischt sich z.B. in Unterhaltungen oder Spiele ein).
ODD
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Verliert oft die Geduld, wird schnell ärgerlich, wütend. Hat für sein Entwicklungsalter ungewöhnlich häufige und
heftige Wutausbrüche.
Streitet oft mit Erwachsenen.
Trotzt oder weigert sich oft den Wünschen oder Regeln von Erwachsenen nachzukommen, widersetzt sich aktiv
gegen Anweisungen.
Stört oft vorsätzlich/absichtlich andere.
Gibt oft anderen die Schuld für das eigene Verhalten oder die eigenen Fehler.
Ist oft empfindlich/reizbar oder leicht von anderen gestört.
Ist oft wütend oder nachtragend.
Ist oft boshaft oder rachsüchtig.
19
Leider lassen sich in all jenen Lehrbüchern die wir konsultiert haben (s. Literatur), fast
keine Normen (Ausnahme s. Tabelle unten) für die hier relevanten Verhaltensweisen
finden. Dies bedeutet, dass jeder auf seine eigenen oder jene von "Experten" (Experten
können Psychologen, Psychotherapeuten, Ärzte, Erzieher mit besonderen Kentnissen
sein, die Erfahrung mit ADHS oder ODD-Kindern haben) zurückverwiesen ist.
Alter
(Jahre)
6-7
8-9
9-10
12
6-7
8-9
10-12
13-16
Konzentrationsfähigkeit
ohne Unterbrechung
15 Minuten
20 Minuten
25 Minuten
40 Minuten
nutzbringende tägliche Arbeitszeit
einschließlich Schule u. Hausaufgaben
3 Stunden
4 Stunden
6 Stunden
7 Stunden
nach Martin R (1978) Sind Hausaufgaben familienfeindlich? Klett-Cotta
20
„Diagnostizieren“ – Wie geht das und was teile ich wem wie mit?
Einleitung. Diagnose im weiteren Sinn
Leitsatz: Stellen sie fest, was ist und was nicht ist, oder sorgen sie dafür, dass festgestellt wird,
was ist und was vorliegt und was nicht, bevor gehandelt wird.
Diagnostizieren, also systematisches Beobachten und Erfassen von Verhalten, Gefühlen, Denken
und physiologischen Funktionen, dient dem Verstehen, Vorhersagen und Verändern,
insbesonders dadurch, dass es die Anwendung bereits vorhandenen allgemeinen Wissens über
ein Symptom oder ein Syndrom (eine spezielle Gruppe von Symptomen) erlaubt. Dabei wird nach
einem bestimmten Schema vorgegangen, wobei zunächst Daten erhoben werden und aus diesen
(i) eine Diagnose (z.B. "einfache Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADHS, hochgradig ausgeprägt"),
(ii) Differentialdiagnosen (z.B. es handelt sich NICHT um oppositionelles Trotzverhalten, NICHT
um eine Intelligenzminderung und auch NICHT um asoziales Verhalten), eine (iii) Prognose (z.B.
ADHS wächst sich üblicherweise nicht aus, führt oft zu einem Schulleistungsdefizit und in weiterer
Folge zu antisozialem Verhalten) und schließlich (iv) eine Differentialindikation abgeleitet wird, die
es im günstigsten Fall erlaubt, die nützlichste Hilfe einzuleiten (z.B. tiefenpsychologisch orientierte
Psychotherapie ist bei ADHS eher wenig wirksam, multimodale Verhaltens- und Familientherapie
unter Einbezug von Erziehern und Eltern ist die Methode der Wahl, sollte sie nicht wirken, sollte
auch ein Versuch mit Medikamenten unternommen werden).
(A) Wie hängen Diagnostik und "Normalität" zusammen?
-
Man kann nicht nicht diagnostizieren.
-
Diagnostik (gr.) bedeutet sowohl Erkennen wie Entscheiden, also Entscheidendes
Erkennen, noch genauer, Entscheidendes Wiedererkennen.
-
Wir "diagnositizieren" ständig im Alltag, und natürlich auch, wenn wir mit Schülern zu
tun haben und dann Hilfe planen. Dies passiert intuitiv.
-
Inituitiv "diagnositizieren" wir, in dem wir einschätzen, ob und wie sehr (mehr oder
weniger) normal ein Verhalten, Denken, Gefühl ist.
21
(B) Systemtheoretisch orientiertes Vorgehen beim „Diagnostizieren“
in der Schule
In der Regel ist es sinnvoll, vom individuellen Verhalten auszugehen und nach der Klärung
auf dieser Ebene die nächst“höhere“ zu betrachten. Dadurch erhält ein vorerst
„unerklärliches“ Verhalten möglicherweise einen neuen Sinn (hier sowohl als Bedeutung,
Erklärung und Ursache zu verstehen) und es entstehen Handlungsalternativen.
Individuelle Ebene
Es geht hier um die Beschreibung und Sammlung von dem was ist und von „erklärenden“
Hypothesen bezüglich der Schwierigkeiten und Ressourcen des einzelnen Schülers und
Lehrers. Daraus ergeben sich auf Schülerseite etwa Beschreibungen der
Leistungsfähigkeiten und –defizite, von psychischen Besonderheiten,
Begabungsschwerpunkten, Motivationszusammenhängen usw. Ebenso gehören familiärer
und kultureller Hintergrund dazu. Es ergeben sich dadurch Beschreibungen wie
Beispiel Beschreibung Schüler: Aggressiv im Mathematik- und Turnunterricht,
verträumt/unkonzentriert in Deutsch, allgemein ängstlich (Prüfungsangst?, Schulangst?)
und schweigsam, gute Begabung in Sprachen, bewegungsgehemmt, folgt Anforderungen
nur wenn autoritär vorgetragen, insbesonders bei männlichen Lehrern. Eltern
uninterressiert an Schule, serbo-kroatische Herkunft (Muttersprache!?), Mutter bisher
Ansprechpartnerin, Vater lebt in Familie, mehrere Geschwister.
Hilfsmittel und -personen sind Lehrer- und Elternfragebogen (s. Anhang), der Blick der
KollegInnen, andere Profis wie z.B. Logopäden (Sprache, Sprechen), Ergo- und
Physiotherapeuten (Wahrnehmung, Bewegung, Koordination), klinische und SchulPsychologen (Leistungen bei allgemeiner Intelligenz, bei Schreiben und Rechnen, bei
Konzentration; emotionaler Zustand/Entwicklung) und Psychotherapeuten (emotionaler
Zustand/Entwicklung, familiärer und lebensgeschichtlicher Hintergrund) sowie Ärzte
(Kinderärzte, Kinder- und Jugendpsychiater) oder eventuell für Spezialfälle (Verdacht auf
sex. Kindesmissbrauch oder andere Gewalt in der Familie) Sozialarbeiter oder
spezialisierte Psychologen/Psychotherapeuten.
Beispiele Hypothesen: Ursachen der Schwierigkeiten völlig unklar; sowohl
Sozialisationsmängel (Vater desinteressiert, Mutter überfordert?) wie
Entwicklungsrückstand (Unreife, Infantilismen) wie seelische Traumen (aus Kriegsgebiet
22
eingewandert?) kommen in Frage. Eine interessante Alternativhypothese ist oft jene, dass
Lernen und Schule an sich, ohne dass besondere Umstände gegeben sind, zu
Schwierigkeiten, Auffälligkeiten oder Störungen führen können.1
Beispiel Selbst- oder Fremdbeschreibung LehrerIn: Ambivalent zum Schüler, zw.
Sympathie und Antipathie wechselnd, ebenso abwechselnd sehr streng-autoritär, dann
laisser-faire, allgemein gerecht, lobt und anerkennt viel, teilweise unecht. Usw.
Bereits auf dieser Ebene ist es sehr wichtig, für suich selbst und in Gespräche sowohl eine
defizit- als auch eine ressourcenorientierte und wertschätzende Sprache/Denken zu
verwenden. D.h., es geht darum, die Defizite zwar klar zu beschreiben, aber ebenso
deutlich diese sprachlich positiv zu formulieren und dazu die Ressourcen und Ausnahmen
festzuhalten.
Beispiel ressourcenfossierender „Diagnostik“ bei ADHD (Hyperaktivität,
Impulsivität, Aufmersamkeitsstörung)
A defizitorientierte Beschreibung, B wertschätzende Beschreibung
A
Ausmaß der Aktivität
überhaupt
nicht
0
ein
wenig
1
ziemlich
stark
2
sehr
stark
3
1. ist unruhig und übermäßig aktiv
2. ist erregbar, impulsiv
3. stört andere Kinder
4. bringt angefangene Dinge nicht zu
Ende, kurze Aufmerksamkeitsspanne
5. ist ständig zappelig
6. ist unaufmerksam, leicht abgelenkt
7. Erwartungen müssen umgehend erfüllt
werden, ist leicht frustriert
8. weint leicht und häufig
9. zeigt schnellen und ausgeprägten
Stimmungswechsel
10. hat Wutausbrüche, explosives,
unvorhersagbares Verhalten
1
Beispiele dazu sind (1) das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen (Sprachbarrieren, religiöse
Differenzen …); (2) das Nebeneinander innerfamiliärer und äußerer, schulischer Regelsysteme (zu
Hause laisser-faire, in der Klasse autoritär), (3) emotionale Überempfindlichkeiten wie niedriges
Selbstvertrauen, das auf ortsübliche, „normale“ Anforderungen trifft (Schul- oder Prüfungsangst
können die Folge sein) oder große Schüchternheit (das Kind trifft auf viele neue Menschen und ist
überfordert; schließlich (4) leichte, bisher kaum bemerkte körperliche Defizite wie Farbenblindheit oder
eine Hörbeeinträchtigung, die verschiedenen Lernprozesse erschweren.
23
B
Ausmaß der Aktivität
kaum
0
wenig
1
viel
2
sehr viel
3
1. ist angemessen aktiv
2. kontrolliert Erregung, reguliert selbst
3. kooperiert mit anderen Kindern
4. beendet angefangene Dinge
5. ist ruhig
6. ist aufmerksam
7. kann abwarten
8. ist fröhlich
9. zeigt angemessene Stimmungen
10. zeigt Wut angemessen
Kommentar zu Defizite und Ressourcen festhalten, eigene und die des Betroffenen: Angesichts
wachsender Listen psychischer Störungen neigen Kliniker und möglicherweise Erzieher dazu, das Beobachtete eher
auf die Seite der Störungen und des Pathologischen als auf jene des Normalen zu stellen; v.a. Kliniker neigen dazu,
aus der Tatsache, dass jemand sie konsultiert, zu schließen, dass dieser Mensch eine Störung haben muss; weil
Kliniker also Störungen erwarten und suchen, neigen sie dazu, Beobachtungen, die für Störungen sprechen,
überzubewerten und solche, die dagegen sprechen, zu übersehen oder unterzubewerten. Dies wird manchmal als
"Hineinlesesyndrom" bezeichnet oder auch als "Defizitorientierung", die sowohl bei Ärzten wie Psychologen,
Pädagogen und Psychotherapeuten weit verbreitet ist. Die Orientierung am Defizit oder Problem versperrt den Blick
auf vorhandene Ressourcen und Stärken, die möglicherweise entscheidend zu Lösungen beitragen können. Weit
verbreitet ist auch, dass Beobachtungen der Eltern eher zu viel, Ansichten der Kinder eher zu wenig Beachtung
geschenkt wird.
Schließlich: Im allgemeinen schätzt man, dass auf ein klinisches Vollbild einer psychischen Erkrankung 10-20 Fälle
von subklinischen und anderen Verdünnungsformen vorkommen. Mit diesen unscharfen Phänomenen hat man
meistens im Alltag zu tun, nicht mit den klinischen Vollbildern wie sie im Lehrbuch idealtypisch vorgestellt werden.
Beziehungsebene Lehrer - Schüler
Diese ist als zusätzliche Ebene zur individuellen gedacht. Eine wichtige Frage ist, ob die
Interaktionen der zwei Individuen erst die Schwierigkeiten erklären und ob andere oder gar
keine Probleme vorliegen, wenn Schüler oder Lehrer mit Dritten interagieren. Aussagen
wie „Lehrer und Schüler sind sich gegenseitig nicht sympathisch. Das geht vor allem von
… aus.“ Auch ist zu beschreiben, wie dieser Schüler/Lehrer mit anderen Schülern/Lehrern
umgeht und in Beziehung tritt. Eine weitere Frage ist, welche Interaktionen vermindern
oder vermehren ein „Symptom“ wie „Wut- oder Weinanfall“. Hier ist die Suche nach
Ausnahmen sehr hilfreich.
24
Systemebene „Lehrer – Schüler – Klasse“
Zwischen Lehrern und Schülern und Schulklassen gibt es klare Grenzen und
Rollenzuweisungen und -aufteilungen. Insbesonders zu starre oder zu durchlässige
(diffuse) Grenzen und sog. Rollendiffussionen führen zu dysfunktionalen Interaktions- und
Beziehungsmustern. Diffus bedeutet etwa, wenn Schüler die Autorität des Lehrers nicht
anerkennen und ihm sehr „unhöflich“ begegnen. Koalitionen zwischen Lehrer und
bestimmten Schülern führt zu einer Erstarrung der Gruppenstruktur. Beschreibende
Aussagen wie „In dieser Klasse kann man nicht unterrichten“ oder „Eine fleißige Klasse“
oder „Den Lehrer ekeln wir raus“ sollten jedenfalls hinterfragt und in ihren Konsequenzen
mitbedacht werden.
Systemebene „Lehrer – Lehrerschaft – Direktor – Schule Schulen Schulsystem“
Dazu gehören die verschiedenen Schulklasse einer Schule, die unterrichtenden Lehrer
und der Direktor sowei die verschiedenen daranhängenden Aussensysteme
(Schulaufsicht, Politik, Elternverbände ..).
Schulklassen werden miteinander verglichen, „schwierige“ und „leichte“ Klassen entstehen
aus Sicht der Lehrer, abenso „harmlose“ und “doofe“ Lehrer aus Sicht der Schüler,
Klassen und Elternvertretungen, Cliquen im Lehrerkollegium bilden sich, der Direktor ist
„anwesnd und bemüht um die Schulführung“ oder „politisch unterwegs und selten da“ usw.
Es lohnt sich auch hier mitunter, beschreibende Aussagen zu sammeln und auf
Zusammenhänge zum vorliegenden „Schülerfall“zu überprüfen.
Schlussfolgerung
Diagnostizieren = Denken in Wahrscheinlichkeiten = komplexe Einschätzung des Einzelfalles
(Äquifinalität, Äquipotentialität, Komorbiditäten ..)
= Nutzen Sie das Wissen von (möglichst vielen) wirklich unabhängigen Expert/innen. Die
Psychodynamik von Fällen, die ihnen nahe gehen/stehen zieht sie in ihren Bann.
= Arbeiten Sie an einer komplexen Einschätzung der Lage. Berücksichtigen Sie, was dafür aber
auch, was dagegen spricht. Wiederholen Sie diesen Schritt oft und regelmäßig.
25
(C) Die Position der Eltern - oder wie und von wo aus Eltern in ein
Gespräch mit Lehrern einsteigen
Eltern haben Ängste, Befürchtungen
Werden sie in ihrer Kompetenz/Fähigkeiten als Mütter, Väter in Frage gestellt? Oder sind sie es bereits weil
es Schwierigkeiten mit ihrem Kind gibt? Eltern fürchten die (Vorwürfe der) LehrerInnen.
Sie fühlen sich ohnmächtig der Schule und deren VertreterInnen, dem System Schule usw. gegenüber. „Die“
sitzen am längeren Ast, können sie doch über die Schulkarriere/Berufschancen und so große Bereiche des
Lebens ihres Kindes wichtige Entscheidungen treffen (z.B. Noten vergeben). Eltern fühlen sich unterlegen.
Das Gespräch findet in der Schule, auf fremdem Territorium, in unvertrauter Umgebung usw. statt. Lehrer
führen viele solche Gespräche, sind es gewohnt, sind routiniert ..
Eltern haben alte Erfahrungen mit der Schule – möglicherweise unangenehme, die sie sich nicht in
Erinnerung rufen wollen, die aber unweigerlich durch die Schule (Geruch, Geräusche, Gebäude, Kinder
usw.) ausgelöst werden.
Eltern haben Schuld- und Schamgefühle
Eltern fühlen sich möglicherweise bereits seit langem in der Erziehung überfordert und stehen jetzt vor dem
lange befürchteten „Ergebnis“ ihrer „Bemühungen“ und „Unfähigkeiten“. Jetzt sind sie unsicher.
Eltern sind traurig, haben Mitleid, leiden mit
Sie haben in der Erziehung versagt oder wissen genau, dass es die Scheidung, eine Hörbehinderung, eine
Prüfungsangst oder eine anderer Hintergrund ist, der schulische Folgen hat. Sie bedauern und betrauern die
Situation ihres Kindes.
Eltern ist alles wurscht
Eltern freuen sich
Eltern freuen sich, Lehrer kennen zu lernen.
Eltern freuen sich, dass endlich ein kompetenter Pädagoge die Nöte ihres Klindes und ihre eigene
Ohnmacht demgegenüber erkannt hat und mit ihnen nach einer Lösung suchen will.
Eltern sind wütend/zornig oder mißtrauisch
Eltern fühlen sich bedroht, in ihrer Zuständigkeit in Frage gestellt. Wieso darf sich der/die einmischen? Was
passiert hinter meinem Rücken, auf dem Rücken meines Kindes? Ist das Jugendamt vielleicht informiert?
Eltern fühlen sich gezwungen zu kommen; sie sind widerspenstig, reaktant. Sie kommen dann aus bloßem
Pflichtbewußtsein, aus schlechtem Gewissen, weil Eltern dies eben tun zu müssen, oder aus dem Druck/ der
Angst heraus, dass andere, mächtigere Systeme aktiviert werden (Jugendamt, Pflegschaftsgericht usw.)
Eltern sind wütend auf ihr Kind, weil sie es voll verantwortlich/schuldig sprechen für das, was gerade abläuft.
Wieso kann der kleine Trottel nicht braver sein? Wieso tut das Kind mir das an?
Eltern wähnen sich im Recht, halten Lehrer und Schule für unfähig und wollen es denen zeigen.
Eltern ist alles wurscht und sind angefressen, dass sie kommen (müssen).
26
Die Position der Lehrer - oder wie und von wo aus Lehrer in ein
Gespräch mit Eltern einsteigen
Lehrer haben Ängste, Befürchtungen
Werden sie in ihrer Kompetenz/Fähigkeiten als Lehrer/Pädagogen in Frage gestellt? Oder sind sie es bereits
weil es Schwierigkeiten mit ihrem Kind gibt? Lehrer fürchten die (Vorwürfe der) Eltern.
Sie glauben, dass sie Misserfolge rechtfertigen müssen, dass sie möglicherweise als „schlechter“ Lehrer
beschimpft werden, dass sie ihre Verantwortung der Schulkarriere/ den Berufschancen des Kndesgegenüber
nicht genügend nachgekommen sind.
Die Lehrer sind oft nicht ausgebildet für Gespräche mit Eltern – sie fühlen sich hilflos und überfordert.
Lehrer haben mitunter Vorstellungen, dass sie unfehlbar seien oder von anderen so betrachtet werden;
daher befürchten sie, dass ihnen möglicherweise ein „Fehler“ nachgesagt oder nachgewiesen werden wird.
Lehrer haben Schuld- und Schamgefühle
Lehrer wissen mitunter, dass sie einiges unterlassen oder nicht rechtzeitig auf die Schwierigkeiten des
Schülers eingegangen sind oder die Eltern informiert haben. Sie wissen von anderen Fällen, dass sie nicht
unfehlbar sind. Jetzt sind sie unsicher.
Lehrer sind traurig, haben Mitleid, leiden mit
Lehrern bedauern und betrauern die Situation des Kindes, sehen seine Ängste, Behinderung, Verwirrung
u.ä.
Lehrern ist alles wurscht
Lehrer freuen sich
Lehrer freuen sich, Eltern kennen zu lernen.
Lehrer sind wütend/zornig oder mißtrauisch
Lehrer fühlen sich bedroht, in ihrer Zuständigkeit in Frage gestellt, oder sind hilflos oder von den Kindern in
Frage gestellt. Wieso muss ich mich mit scheinbar nicht-pädagogischen Dingen beschäftigen? Das
interessiert mich nicht, ich habe keine Zeit, bin sowieso schon überlastet und gestresst.
Lehrer fühlen sich gezwungen, das Gespräch zu führen; sie sind widerspenstig, reaktant. Sie führen dann
das Gespräch aus bloßem Pflichtbewußtsein, aus schlechtem Gewissen, weil Lehrer dies eben tun müssen,
oder aus dem Druck/ der Angst heraus, dass andere, mächtigere Systeme aktiviert werden (Direktor,
Inspektor, Jugendamt, Pflegschaftsgericht usw.)
Lehrer sind wütend auf den störenden Schüler, weil sie ihn/sie voll verantwortlich/schuldig sprechen für das,
was gerade abläuft. Wieso kann der kleine Trottel nicht braver sein? Wieso tut das Kind mir das an? Wieso
habe ich keinen ruhigeren Arbeitsplatz?
Lehrer wähnen sich im Recht, halten die Eltern für unfähig und wollen es denen zeigen.
Lehrer ist alles wurscht und sie sind angefressen, dass sie das Gespräch dennoch führen (müssen).
27
(D) Normalisieren und Pathologisieren, und „Placeboeffekte“
Diagnostizieren beinhaltet auch Gefahren. So kann es zu einer Etikettierung (Etiketten
neigen dazu, hängenzubleiben, zu kleben, man wird sie nicht mehr los nach dem Motto
"Einmal Verbrecher, immer Verbrecher") und Stigmatisierung führen (soziokulturelle und
gesellschaftliche Entwertung des diagnostizierten Menschen) sowie selbsterfülllende
Prophezeihungen einleiten. Letzteres sei am Beispiel "Geistige Behinderung" erläutert.
Diagnostische Kategorien werden allzu oft als Aussage über das allgemeine Verhalten
und Potential eines Menschen gesehen, also als über Zeit und Situationen hinweg stabile,
innere und wenig veränderbare Eigenschaften und Fähigkeiten. Dies kann dazu führen,
dass ein Mensch mit bestimmten Vorurteilen versehen wird ("das kann er bestimmt nicht
lernen"). Auch werden dementsprechende Anforderungen an ihn gestellt ("dieses Kind ist
behindert und darf immer spielen wenn wir mit den anderen das große Einmaleins üben").
Nach einer bestimmten Zeit kann dieser Mensch tatsächlich einiges nicht (mehr) und
glaubt möglicherweise auch selbst, so zu sein, wie er von Außen beschrieben und
behandelt wird (in unserem Beispiel "behindert", mit Lerndefiziten behaftet, und daher z.B.
weniger wert usw.).
-
Andererseits zeigt die therapeutische Erfahrung und die Literatur, dass das sog.
"Normalisieren" (also einem Menschen zu sagen, dass das, was er als krank und
abnormal an sich empfindet, normal sei), sehr entlastend wirken und Hoffnung auf
Veränderung machen kann. Entlastung und Hoffnung auf positive Veränderung sind zwei
sehr wesentlich unspezifische Wirkfaktoren von psychosozialer Hilfe.
Normalisieren als Intervention sehen: Kundenorientierung, heißt, Normalisieren
oder Pathologisieren/Diagnostizieren kann nützlich sein, im Einzelfall entscheiden;
grundsätzlich zunächst normalisieren und schauen, welche Reaktion kommt (alle sagen
immer, ich sei normal, aber ich fühle mich nicht so und ich fühle mich nicht ernst
genommen wenn alle das immer sagen usw.)
Diagnosen können also entlasten und belasten und man sollte bei ihrer Verwendung in der
Kommunikation mit den Betroffenen sehr vorsichtig und flexibel umgehen. Diagnostizieren soll
nicht die Suche nach Lösungen behindern, sondern sie unterstützen.
28
Gesprächsführung
Metakommunikation I: Grundhaltungen (v.a. Beziehungs- und
Selbstoffenbarungsebene)
Nützliche Haltungen/Vorgangsweisen

Rollenklärung. Lehrer & Moderator & Gesprächsführer & Mensch; Helfender (nicht
Richter, Beweissammler, Strafender …)

Ziele/Prinzipien, ethische Normen gegeneinander abwägen (Kindeswohl, Schuleswohl,
mein Wohl, Gruppen- = Klassenwohl usw.)

Gleichberechtigung Grundprinzip ist, dass verschiedene Fachleute ihr Wissen und
Erfahrung zusammentragen, mit dem Ziel, eine für das Kind optimale Lösung zu
entwickeln. Eltern sind Fachleute für das Kind als Ganzes, zu Hause, in der Freizeit, mit
Freunden in den Ferien, für seine Lebensgeschichte und familiären und kulturellen
Rahmen usw.; Lehrer sind schulpädagogische Fachleute, die das Kind in der Schule,
Klasse, bei seinen schulischen Leistungen usw. kennen und einen guten Vergleich mit
vielen Gleichaltrigen haben.

Differenzierte Kundenorientierung

Lösungssorientierung (weniger Problemorientierung)

Orientierung an der Lebenswelt des Gegenüber

Orientierung an Ressourcen, Können und Ausnahmen (weniger an Defiziten) =
Wertschätzung, Lob, Anerkennung

Gelassenheit. Entwickeln Sie Frustrationstoleranz gegenüber mehrdeutigen Situationen.
Nehmen sie sich Zeit, wirken sie keinesfalls unter Zeitdruck. Legen sie dennoch zu
Anfang den Zeitrahmen fest und machen sie ihn öffentlich.

Verständnis, Interesse. Jeder Fall ist einmalig, neu und anders.

Transparenz, Offenheit. Handeln Sie im Mitwissen und Einverständnis der Betroffenen.
Stellen Sie ein Gesprächsklima her, das Kooperation, Vertrauen und Mitwissen in den
Vordergrund stellt (nicht Kampf, Konkurrenz).

Freundlichkeit, Respekt, Kritikfähigkeit

Bemühen um Objektivität, Suche nach Verständigung, nicht nach Deutung/Interpretation
29
Wenig nützliche oder Fehlhaltungen (Mitschka 2002, S. 26)

Moralisieren, Kritisieren, Vorwürfe machen. Direkt oder indirekt bewerten (meistens
abwerten aus der Sicht der eigenen Wertvorstellungen).

„Diagnostizieren“. Fachterminologie (defizitorientiert, unverständlich, pathologisierend) in
übermäßigem Ausmaß anwenden; mitschwingt dabei oft die Demonstration eigener
Überlegenheit (verbaler „Gescheitheit“) oder Besserwisserei.

Generalisieren, Abstrahieren. Theoretisieren. Situationsunabhängige Statements, die
verallgemeinernd sind; Einzelerfahrungen oder situationsabhängige Zusammenhänge
werden ignoriert. Mit logischen Argumeten überfallen.

Bagatellisieren. Die persönliche und subjektive Sichtweise und Gefühlswelt des Gegnüber
wird nicht ernst genommen, verkleinert, verniedlicht.

Egozentrieren. Zu viel von sich reden oder die eigenen Erfahrungen, Verhaltensweisen,
Gefühle als Norm darstellen.

Interpretieren. Etwas aus den Mitteilungen oder dem Verhalten des Gegenüber
herausholen oder hineinlegen, wofür es nur wenige Hinweise, Beweise oder
Veranlassung gibt.

Ausfragen. Zu viele lineare (was hat wer wann wie getan) oder strategische und
suggestive (könnte nicht Folgendes ..) Fragen stellen, schlimmstenfalls mit übertriebener
Neugierde gepaart (aufdringlich, intime Fragen usw.). Besser: Offene (Wie meinen sie
das? Erzählen sie mir mehr von ..) oder zirkuläre (Was würde ihr Mann dazu sagen?)
Fragen stellen.

Sich in Details verlieren.

Belehren/Predigen. Von oben herab reden, etwas als unumstößlich hinstellen.

Ratschläge erteilen. Zu schnell und zu viel Lösungen anbieten und dabei Grenzen und
Möglichkeiten des anderen übergehen.

Rationalisieren. Theoretische Debatten, Überlegungen und Begründungen vorziehen und
(so) von persönlichen, eigenen oder anderen subjektiven (gefühlsmäßigen u.a.)
Zusammenhängen ablenken.

Ignorieren, Ablenken, Ausweichen. Bestimmte Gesprächsinhalte übergehen, überhören
(obwohl sie wiederholt da waren).

Warnen, Anordnen, Fordern, Ermahnen, Drohen

Killerphrasen: „Da könnte ein jeder kommen.“, „Man kann nicht ..“, „Das haben wir immer
(nie) so gemacht!“, „Das kommt nicht in Frage!“, „Man muss doch bloß ..“, „Das ist
lächerlich.“
30
Metakommunikation II: Strategien im Gespräch
Joining und Humor
Ein zentrale Ressource beim Joining und bei „schweren“ Gesprächen überhaupt ist der
Humor.
Fehlermanagement - Umgang mit Kritik
(u.a. nach Sachse 2003, Histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörungen, Hogrefe, Göttingen, S. 121-136)
Mit Fehlermanagement ist gemeint, dass man passierte Fehler, die man erkannt hat, oder die
man auch erst während dem Gespräch erkennt, als Verbesserungspotentiale betrachten
sollte. Konfuzius meint, einen Fehler begehen sei nicht das eigentliche Problem, sondern
nichts daruas lernen, das sei der eigentliche Fehler. Hier sind nicht nur persönliche Fehler
wie eine falsch verbesserte Prüfungsarbeit, sondern auch Fehler im System wie das
Einschalten des Jugendamtes hinter dem Rücken der betroffenen Familie, gemeint. Anders
gesagt: man muss mitunter auch Fehler anderer, zu dessen System man aus der Sicht des
Gesprächspartner gerechnet wird, auf die eigene Kappe nehmen und sich eventuelle für
andere oder das System entschuldigen.
Konkret heißt das, dass man fehlerfreundlich sein sollte, den Fehler anerkennen und klar und
deutlich benennen und beschreiben sollte. Sehr günstig ist es auch, nicht abzuwarten bis der
Gesprächspartner vielleicht von selbst drauf kommt – oder eben zu hoffen dass er/sie es
nicht anspricht oder nicht bemerkt – sondern „offensiv“ selbst davon zu reden. Deutliches,
konkretes, direktes Ansprechen und Beschreiben sowie eine Entschuldigung für den Fehler
wirken oft Wunder. Entschuldigungen werden quasi immer angenommen.
Durch diese Vorgangsweise wird nicht nur ein (potentielles) Hindernis aus dem Gespräch
geräumt, sondern überdies zeigt man sich fehlbar, dass man schwierigen Gesprächslagen
gewachsen ist, und dass man sich entschuldigen und lernen kann.
Wichtig dabei als Haltung im Gespräch ist es, als ganze Person zur Verfügung zu stehen (als
Mensch greifbar zu sein) und weder in der Rolle des Lehrers oder des Moderators o.ä. zu
bleiben. Diese Haltung ist ebenso wichtig bei einer anderen schwierigen Gesprächssituation,
nämlich dem Umgang mit Kritik.
In Gesprächssituationen, wo Kritik gegen einen selbst geäußert wird, sollte man Ruhe
bewahren und darauf abzielen, das Gesagte professionell und möglichst nicht persönlich zu
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nehmen, auch wenn es so gemeint ist. Gegenvorwürfe, Verteidigungen sind wenig nützlich.
Rechtfertigungen oder Darstellungen der eigenen Position (Stellungnahmen) sind erst dann
hilfreich und werden erst dann vom Kritiker gehört, wenn die Kritik zuerst gehört wurde.
Primäres Ziel ist es, das Gespräch wieder dorthin zu leiten, wofür es gedacht war.
Üblicherweise nutzt es also nichts, so zu tun, als habe man die Kritik überhört, sie
„auszusitzen“. Sie kehrt dann meistens Minuten später in ähnlichem oder ganz anderem
Gewande wieder.
Vielmehr ist Kritik als eine Krise im Gespräch zu verstehen, die unbedingt für alle Parteien
zufriedenstellend gelöst werden muß, bevor man mit dem eigentlichen Gespräch
weitermachen kann. Krisen in Gesprächen haben immer Priorität vor allen anderen Zielen.
Hilfreich ist hier zunächst das Standhalten, Anerkennen der Krise im Gespräch und die Bitte,
die kritischen Umstände genauer zu beschreiben.
Besonders kritisch für den Kritisierten ist das oben angesprochen Dilemma mit der
Professionalität. In der Kritik ist der Lehrer quasi immer als Person und ad personam
angesprochen. Einerseits heißt das, dass er auch nicht als Person zurückweichen darf,
sondern zeigen muss, dass er/sie der Situation gewachsen ist. Andererseits erfordert die
Grundposition Lehrer-Moderator-Gesprächsleiter, dass der Lehrer die Kritik nicht ganz
persönlich nehmen darf, sondern im Sinne eines professioneller Gesprächsführung reagieren
muss.
Sehr hilfreich ist es, die Kritik aufzugreifen und zu wiederholen und dabei einfliessen zu
lassen, dass es sich um die subjektive Sicht des Kritikers handelt: „Sie fühlen sich ungerecht
behandelt“, „Sie haben den Eindruck, dass ich ..“, Es erscheint ihnen als ob wir Lehrer ..“.
Offenes, schnelles, ehrliches, Ansprechen der „kritischen“ Situation lässt sie oft ebenso
schnell deeskalieren; ausweichendes, unpersönliches Drumherumreden lässt sie oft
eskalieren.
Man sollte also zusammenfassend versuchen, die Krise im Gespräch zunächst zu markieren,
d.h. als solche erkennbar zu machen und ihr Priorität geben, dann eine Klärung, d.h. eine
nähere Beschreibung versuchen, schließlich und dann erst eine eigene Stellungnahme dazu
abgeben, und schlußendlich, nachdem man die Erlaubnis des Gegenüber erfragt hat, zum
eigentlichen Gespräch zurückkehren. Das Überwinden einer Krise im Gespräch festigt noch
einmal die Gesprächsbasis.
(De)Eskalationsrichtlinie für die gesamte Kommunikation und Teile davon
(einzelne Gespräche)
Eine ganz entscheidende Perspektive ist jene, dass das eigene Handlen stets daraufhin
32
eingeschätzt werden sollte, wie sehr es neue Situationen schafft, die die Betroffenen unter
psychischen oder sozialen Druck setzen. Als Faustregel kann man sich merken, dass
eigenes Handeln so sein sollte, dass es den Druck bei allen Beteiligten möglichst reduzieren,
oder, wenn nicht anders möglich, in möglichst kleinen Schritten erhöhen sollte.
Richtlinie: Deeskalieren Sie Konflikte wenn möglich. Wenn nötig, eskalieren Sie Konflikte,
aber dann in möglichst kleinen Schritten. Das Äußerste kommt später.
Metakommunikation III: Sprechen und Zuhören, Pausen
Sprechen

Ordnen Sie ihre Gedanken bevor sie sprechen. Genehmigen sie sich notfalls eine
Pause, sogar draußen am Gang.

Das Gehörte verstehend zusammenfassen, bevor man den eigenen Standpunkt
erläutert. „Ihrer Meinung nach ..“, „Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, dann
meinen Sie ..“ „Sie haben das Gefühl ..“, „Sie denken/wollen dass ..“

Das Gehörte konkretisieren: „Das bedeutet also konkret, dass ..“, „Ich würde gerne
dieen Punkt besser verstehen ..“

Drücken sie sich genau (prägnant), einfach, kurz und konkret aus – machen sie kurze
Sätze, lassen sie irrelevante Details weg (Negativbeispiele sind die meisten Politiker
bei öffentlichen Aussagen). Bringen nicht zu viel in einer Aussage unter.

Entwickeln sie einen für den Gesprächspartner sichtbaren roten Faden für das
Gespräch und für die einzelnen Teile davon (Die Logik der Argumentation muss
stimmen). Bereiten sie sich den roten Faden und die einzelnen Argumentationen vor
dem Gespräch auf Papier vor und nehmen sie ihren Zettel mit ins Gespräch.

Beachten sie die Auffassungskapazität ihres Gegenüber.

Antworten sie direkt und möglichst bald auf die Beiträge ihrer Gesprächspartners. Falls
sie sich inzwischen etwas anderes überlegt haben, stellen sie dies hinten an, notieren
sie es notfalls, aber bringen sie es nicht deswegen ein, weil sie es gut finden oder den
Faden dorthin biegen wollen.

Reversible Sprache: „Meine Meinung dazu ist … was denken sie?“ „Ich weiß nicht, ob
Sie das so wie ich sehen.“ „Bitte sagen Sie ruhig Ihre Ansicht dazu; dazu sind wir ja da,
um zu verstehn ..“

„Ich“ anstelle von „man/frau“
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Zuhören

Hören sie mit ungeteilter Aufmerksamkeit und mit Interesse/Neugierde zu.

Denken sie nicht an eigene beabsichtigte Beiträge während der andere spricht. Das
kommt erst in den Gesprächspausen dran. Wenn sie zu viel eigene Beiträge planen,
während der andere spricht, wirken sie dann desorientiert oder egozentriert wenn sie
drankommen.

Versuchen sie, die wichtigen und wesentlichen Elemente dessen, was der
Gesprächspartner bringt, zu erfassen - den Gesamtsinn der Mitteilung - und darauf
einzugehen. Lassen sie die Details Details sein.

Denken sie auch die ihnen als Wiederholung vorkommenden Teile der Mitteilung nicht
selbst zu Ende und lassen sie den anderen stets ausreden. Führen sie nicht die
Gedanken des anderen für diesen zu Ende. Akzeptieren sie Unsicherheiten und zaghafte
Aussagen.
Eine Ausnahme ist, wenn der Gesprächspartner schwafelt und sie im Gespräch so
wertvolle Zeit verlieren; das sollte aber wirklich eine Ausnahme sein.

Versuchen sie, die Gedankengänge und das Weltbild ihres Gesprächspartner zu
verstehen. Vermeiden sie, dessen Argumentationen oder Ideen, die für sie neu sind, in ihr
eigenes Weltbild zu integrieren (pressen).

Aktives Zuhören. Aufnehmendes Zuhören („Aha! So!? Erzählen Sie mir mehr darüber.
Das finde ich sehr interessant.). Umschreibendes Zuhören, Spiegeln, mit eigenen Worten
wiedergeben (Sie meinen dass,..Es geht Ihnen um ..). Mitfühlendes Zuhören, in Worte
fassen was möglicherweise mitschwingt (Das scheint Ihnen besonders Sogen zu
machen).
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Gesprächspausen
Pausen gehören zum Gespräch. Sie können verschiedenes bedeuten, und mitunter ist es
günstig, die Beduetung im sinne von aktivem Zuhören anzusprechen.
Pausen können bedeuten
„Sie sind dran“, meistens begelitet von Blickkontakt oder kurzem Kopfnicken oder einer
fragenden Aufforderung an den anderen.
„Ich denke nach“, meistens begleitet von Blicken in die Ferne, am Gesprächspartner vorbei.
Der Redner braucht die Denkpause und hofft, dass das Gegenüber sie auch gewährt und
abwartet auf das, was folgt.
„Das ist mir peinlich“, meistens von gesemktem Kopf/Blick begleitet. Die Situation/Erzählung
ist dem Redner unangenehm, er schämt sich oder hat Schuldgefühle. Hier aknn es
besonders wichtig sein, zu sagen, dass man diese Pause versteht: „as ist Ihnene jetzt
peinlich“.
„Lass uns schweigen“, meistens mit Blick in die Ferne oder mit starkem Blickkontakt
assoziiert, weil oft der Redner das Gesagt unterstreichen oder nachklingen lassen will.
Das Bitten um oder Einfordern einer Pause kann schwierige Gesprächssituationen deutlich
entschärfen (s. oben das über Umgang mit Kritik Gesagte), da es die Wichtikeit einer
Gesprächsteiles deutlich herausstreicht. Formulierungen wie „Lassen Sie mich kurz
nachdenken“ oder „Ich brauche eine Pause zum Nachdenken“ oder „Ich will das für mich
ordnen“ sind hilfreich. Auch das Verlassen des Raumes ist möglich.
Pausen können für beide unagenehm sein und auch bedeuten, dass ein Tabu- oder
unangenehmes Thema ansteht, oder bloß dass alle müde sind und eine Erholungspause
brauchen. Das gilt es natürlich auch zu klären.
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Selbsterfahrung III: Aktives Zuhören und Trittbretter
4 Gruppen à 3 Personen.
Die Übung besteht für jede Gruppe darin, mindestens ein, besser zwei Lehrer-ElternGespräche zu führen. Dabei ist jeweils ein Teilnehmer Beobachter, einer in der Lehrer- und
einer in der Elternrolle. Ein kurzes Drehbuch steht zur Verfügung; es muss aber keineswegs
befolgt werden, d.h. es können auch eigene Fälle geprobt werden.
Insgesamt stehen 75 min zur Verfügung; jedes Gespräch soll etwa 15-20 min dauern; dann
soll es zu einem 15minütigen feedback-Runde kommen, bei der der Beobachter rückmeldet
und die zwei „Rollen“ erzählen, wie es ihnen gegangen ist.
Drehbuch
MUTTER (M) KOMMT, UM SICH BEI DER LEHRERIN (L) NACH DEM SCHULISCHEN FORTKOMMEN IHRES 9JÄHRIGEN SOHNES
TOM ZU ERKUNDIGEN. M HAT UM DEN TERMIN GEBETEN, WEIL SIE ZUNEHMEND UNSICHER WURDE BEZÜGLICH TOMS
LEISTUNG (ABNEHMEND SEIT EINIGER ZEIT) IN DER SCHULE. AUCH L HAT SCHON ÖFTERS AN EINE „VORLADUNG“
GEDACHT (BENEHMEN ZUNEHMEND AUFFÄLLIG, LEISTUNG ABFALLEND), ABER DEN ANRUF BEI DER FAMILIE IMMER
WIEDER VERSCHOBEN. NUN IST IHR M ZUVORGEKOMMEN.
LETZTE W OCHE WAR TOM BESONDERS AUFFÄLLIG, SOWOHL LEISTUNGS- WIE BENEHMENSMÄßIG; ER HAT W UT- UND
W EINANFÄLLE, SOBALD NEUES AUF IHN ZUKOMMT. DAFÜR WIRD ER VON DEN ANDEREN GEHÄNSELT – ALS HEULSUSE
UND FEIGLING. L IST NICHT SICHER, OB M DAVON WEIß.
ROLLENVORSCHRIFT L: ETWAS GENERVT, GEHETZT, ÜBERMÄßIG LÖSUNGSORIENTIERT
ROLLENVORSCHRIFT M: UNSICHER-ÄNGSTLICH, TOM IN SCHUTZ NEHMEND, KLAGEND
(DASSELBE DREHBUCH KANN MIT ANDEREN ROLLENVORSCHRIFTEN NOCH EINMAL GESPIELT WERDEN!)
Anweisung auf Metaebene.
Der Lehrer hat die Aufgabe, ein zielorientiertes Gespräch zu führen und alle Bereiche
„Joining“, „gemeinsame Diagnose“, „Lösungsvorschläge“, „Hilfeplan“ und Kooperation/nächste Schritte“ s. Abbildung S. 3) abzudecken. L darf sich 5 min vorbereiten. Der Elter
nimmt die vom Drehbuch vorgesehene Rolle ein; keine Vorbereitung.
Der Beobachter versucht darauf zu achten, wie „gut“ der Lehrer das Gespräch führt, wo er
sogenannte Trittbretter – Gelegenheiten, die der Elter in seinen Aussagen geboten hat, um
die Ziele des Gespräches aus Sicht des Lehrers zu erreichen – gesehen und genutzt hat,
und wo er Trittbretter übersehen und nicht genutzt hat. Die Rückmeldungen des Beobachters
sollen/müssen wertschätzend, am Können der Redner orientiert (an dem, was sie gut
gemacht haben), echt, konkret und anschaulich formuliert sein.
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Selbsterfahrung IV: Der Ton macht die Musik – Kleines Theater
Ziel: Aufzeigen, wie Einstellungen und Haltungen in einem Gespräch dieses verändern.
Setting
Großgruppe, Gesamtdauer 45 min. Zwei Durchgänge à ca. 10 min, bei dem jeweils drei
Personen auf der Bühne als Elter, Lehrer und „Kommuniaktionssupervisor“ sind. Alle
anderen sind Zuschauer/Beobachter.
Ablauf
Elter und Lehrer führen ein Gespräch, z.B. nach dem Drehbuch aus Übung II (s.u. für ein
weiteres Drehbuch), wobei der Lehrer immer auch der Moderator ist. Der Supervisor hat
einige (10?) Kartone mit jeweils einem Wort darauf zur Verfügung. Dieses Wort beschreibt
Einstellungen/Haltungen in einem Gespräch; die eine Hälfte soll positiv (freundlich,
bemüht, zuhörend/aufmerksam, ressourcenorientiert, ..) und die andere Hälfte negativ sein
(vorwurfsvoll, verärgert, uninteressiert, defizitorientiert, unterbrechend, unsicher …). Der
Supervisor steht in Durchgang 1 hinter dem Lehrer und zeigt in beliebiger Reihenfolge
dem Elter seine Kartone so, dass der Lehrer sie nicht sieht. Der Elter muss den
Anweisungen auf dem Karton folgen. Der Supervisor kann seine Kartone beliebig
einsetzen; die Rehenfolge ist ihm/ihr überlassen. In Durchgang 2 steht de Supervisor
hinter dem elter und zeigt dem Lehrer die Kartone; dieser befolgt jetzt die Anweisungen
darauf. Nach den Aufführungen Austausch in der Großgruppe.
Vorbereitung
(a)
Mögliche Einstellungen/Haltungen sammeln (s. z.B. Übung 1 „Widerstand und
Kooperationsbereitschaft“). Kartone vorbereiten.
(b)
Rollenverteilung. Supervisor bekommt von Zuschauern seine Kartons. Durchgang 1.
(c)
Neue Rollenverteilung. Supervisor bekommt Kartons. Durchgang 2.
(d)
Diskussion in Großgruppe.
Drehbuch. EIN 10JÄHRIGES MÄDCHEN TRAUT SICH IN DER SCHULE NIE ETWAS ZU SAGEN., SONDERN
SITZT IMMER STUMM AUF SEINEM PLATZ. DIE LEHRERIN DENKT: AN MIR KANN DAS NICHT LIEGEN, DENN
ICH BIN IMMER FREUNDLICH ZU DEN KINDERN. W AHRSCHEINLICH HABEN IHR DIE ELTERN ZU HAUSE
ANGST GEMACHT. DIE ELTERN DENKEN: ZU HAUSE IST PIA ÜBERHAUPT NICHT SCHÜCHTERN, SONDERN
NUR IN DER SCHULE. ALO MUSS DIE LEHRERIN IHR ANGST MACHEN. POTENTIELLE AUSWEGE: UNTER
WELCHEN BEDINGUNGEN TRAUT SICH PIA ZU SPRECHEN? W ANN NICHT? W IE KÖNNEN ELTERN UND
LEHRERIN IHR HELFEN, IHRE STÄRKEN (AN) ZU ERKENNEN UND IHR SELBSTVERTRAUEN ZU ERHÖHEN?
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Selbsterfahrung V: Gesprächsvorbereitung in konkreten Fällen
Ziel
Vorbereitung eines realen Lehrer-Eltern-Gespräches anhand von eigenen, konkreten
Beispielen. Üben der Vorbereitung in der Großgruppe, wobei der Seminarleiter einen
Elternteil nach Anweisung des Teams spielt.
Setting
Zwei Gruppen à 6 TeilnehmerInnen. 1 TelnehmerIn präsentiert ihren eigenen Fall und wird
vom Team der 5 anderen auf ein Gespräch vorbereitet, wobei das Schema der Abbildung
von Seite 3 des Skriptums sowie zum Bereich Wissen v.a. das Handbuch von Trapmann &
Rotthaus genutzt werden soll. Der Gruppenarbeit stehen 70 min zur Verfügung; in der
Großgruppe stehen für beide Übungsgespräche und Feedback zusammen 50 min zur
Verfügung.
Ablauf (70 min)
Der Fall wird präsentiert (10 min). Das Team bereitet die Lehrerin/den Lehrer auf das
Gespräch vor in den Kategorien
a) Selbstreflexion
(Wie geht es mir mit dem Fall?)
b) Falldiagnose - Hypothesen zu den Ursachen - Wissen
(Was liegt vor? Was sagt das Lehrbuch dazu? Eventuell Hilfsmittel
Lehrerfragebogen nutzen, s. Anhang)
c) Eigene Lösung(en) – Hilfeplan
(Wie stelle ich mir Veränderung/Hilfe vor?)
d) Vernetzung – Ressourcen
(Weiss ich, wer/was noch helfen könnte?)
e) Hypothesen zu dem zu erwartenden Gesprächshintergrund
(Wie werden die Eltern sein? Wer will was von wem? Was nicht?)
f) Ziel(e) des Gespräches – Wo, wann wird es sein?
(Was will ich erreichen – mindestens, optimalerweise)
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Literatur
Frick J (2001) Die Droge Verwöhnung. Huber, Bern
Gordon T (1977) Lehrer-Schüler-Konferenz. Wie man Konflikte in der Schule löst. Heyne,
München
Kret E (1997) Verhaltensauffällig – Was tun? Arbeitshandbuch für Schule und Familie.
Veritas, Wien
Mitschka R (2001) Sich auseinandersetzen – Miteinander reden. Ein Lern- und
Übungsbuch zur professionellen Gesprächsführung. Veritas, Wien
Schmitt A, Rehm E (2002) Hyperaktive, unaufmerksame und oppositionell-trotzige
Kinder/Jugendliche. Von Zappelphillipen und Traumliesen, Struwwelpetern und
Trotzköpfen. Psynfo2, Infomaterial Eigendruck, Wien
Schulz von Thun F (1981, 1989, 1990) Miteinander reden 1, 2 ,3. Rowohlt, Reinbeck bei
Hamburg
Schwäbisch & Siems (1974) Anleitung zum sozialen Lernen für Paare, Gruppen und
Erzieher. Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg
Trapmann H & W Rotthaus (2003, 10. Aufl.) Auffälliges Verhalten im Kindesalter.
Handbuch für Eltern und Erzieher. Modernes Lernen, Dortmund
Materialien
Abbildung und Arbeitsblatt „Kommunikation“mit Auswerteschema: Vier Ebenen sind
nahezu immer in kommunikative Prozesse eingebaut: Fakten, Beziehung, Appell und
Selbstdarstellung (Einschätzung des eigenen Stiles)
Arbeitsblatt „Partnerorientiertes Gespräch“ mit Auswerteschema (Einschätzung des
eigenen Kommunikationsverhaltens)
Arbeitsblatt „Gespräch“ mit Auswerteschema (Selbstreflexion darüber, was ich mir
optimalerweise von einem Gespräch/Gesprächspartner wünsche oder was ich bei
einem schwierigen Gespräch befürchte)
Lehrerfragenbogen zum Verhalten von Kindern/Jugendlichen (TRF) (Einschätzung des
schwierigen, auffälligen Schülers)
Elternfragebogen zum Verhalten von Kindern/Jugendlichen (CBCL)
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Arbeitsblatt „Kommunikation“ (Einschätzung des eigenen Stiles)
Sachebene/Fakten
FA
KT
EN
Selbstdarstellung
Selbstoffenbarung
Worüber informiert,
redet er/sie?
Welche Theorien,
Ursachen werden
dargestellt?
Was folgt daraus?
Was sagt sie/er über
sich selbst?
Wie geht es ihr/ihm?
Empfänger müssen
vier Ebenen "verstehen".
"Verstehen" ist
Interpretation und
Konstruktion.
Beziehung
Appell
Was hält sie/er von mir?
Wie redet er/sie mit mir?
Wer bin ich aus der Sicht?
Welche Beziehung
haben wir?
Waswill sie/er bewirken?
Was wird erwartet?
Was will sie/er von mir?
Was soll ich denken,
tun, fühlen?
Beispiel: „Für ein Gespräch ist das Ohr wichtiger als die Zunge“ (Thornton Wilder)
Ein einem lauen Sommerabend sitzt ein älteres Lehrerehepaar vor dem Fernseher. Er steht auf, geht in die
Küche, öffnet den Kühlschrank, knallt ihn wieder zu und sagt: „Da gibt’s kein Cola (Bier?) mehr!“
Wenn sie mit dem Sachohr (als auf die faktische Information im Text) gehört hat, dann antwortet sie: „Danke
für die Information, Schatz. Das habe ich nicht gewußt!“
Wenn sie mit dem Appellohr (also auf die potentielle Aufforderung) gehört hat, dann rennt gleich zur
Tankstelle oder ins Wirtshaus und organisiert das Getränk.
Wenn sie mit dem Beziehungsohr (also auf die potentiellen Vorwürfe) gehört hat, dann verteidigt sie sich z.B.
damit, dass sie auch arbeitet, die Kinder aus dem Kindergarten abholen musste, das gleiche Recht auf
Erholung und Versorgtwerden wie er hat usw., und bleibt angefressen sitzen.
Wenn sie mit dem Selbstdarstellungs-/offenbarungsohr (also auf die Gefühls- und Seelenlage ihres Mannes)
gehört hat, dann sagt sie: „Schatz, gell, du ärgerst dich, du bist durstig und dir gelüstet nach Bier und du
kannst jetzt keins trinken.“
Auflösung/Zuordnung zum Arbeitsblatt:
Wie oft haben Sie welche Antworten gegeben?
a) ................. Selbstdarstellung/-offenbarung
b) ................. Bezug zur Beziehung
c) .................. Sachebene – Austausch von Fakten
d) ................. Appellcharakter
Wenn ich z.B. am meisten (d)-Antworten gegeben habe, neige ich dazu, die Appelle in
diesen Gesprächen mehr wahrzunehmen.
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Arbeitsblatt „Partnerorientiertes Gespräch“
(Einschätzung des eigenen Kommunikationsverhaltens)
Auswertung des Arbeitsblattes. Tragen Sie die Nummer Ihrer Antwort zu jedem der
Gesprächsausschnitte in die Tabelle ein, in dem sie das dazugehörende Kästchen
schraffieren. Addieren Sie für jede Zeile A bis F die Anzahl der schraffierten Kästchen.
Anzahl
Fall 1
Fall2
Fall 3
Fall 4
Fall 5
Fall 6
Fall 7
Fall 8
Fall 9
2
4
6
1
3
5
1
3
5
4
6
2
5
1
6
3
4
2
6
5
1
3
2
4
3
2
1
4
5
6
3
4
5
6
2
1
6
2
5
1
4
3
2
6
4
5
1
3
5
1
3
6
2
4
AntwortFall 10 schraffierter tendenz
Kästchen
3
4
6
1
5
2
A
B
C
D
E
F
Jetzt sehen sie, welches Antworttendenz (A bis F) bei Ihnen dominiert. Von stark dominierender Tendenz spricht man, wenn sie mindestens 5 Kästchen in einer Zeile schraffiert
haben, von dominierender Tendenz bei 3-4 Kästchen. Sollten Sie 9 oder 10 Kästchen
einer Zeile schraffiert haben, dann spricht man von einer systematischen Haltung in
Gesprächen; dies deutet auch an, dass Sie wenig flexibel in der Gesprächsführung sind.
Die verschiedenen Antworttendenzen sind unten zusammenfassend beschrieben.
A
Ihre Antworten sind wertend, d.h. Sie implizieren einen moralischen Standpunkt und fällen ein
ablehnendes oder zustimmendes Urteil über Ihren Gesprächspartner.
B
Ihre Antworten sind Interpretationen. Sie verstehen, was Sie verstehen wollen. Sie betonen, was
Ihnen wichtig erscheint und Ihr Verstand sucht nach einer Erklärung. Sie verzerren die Aussage
des Gesprächspartners und verfremden seinen Gedankengang.
C
Ihre Antworten haben tröstenden Charakter und zielen auf eine Ermutigung, Beruhigung und
Kompensation ab. Sie empfinden Mitleid und glauben, dass man die Sache nicht noch stärker
dramatisieren sollte.
D
Ihre Antworten sind forschend. Sie bemühen sich, mehr zu erfahren und lenken das Gespräch in
die Richtung, die Ihnen wichtig scheint, verdächtigen dabei aber möglicherwiese den
Gesprächspartner, das Wichtigste zu verschweigen oder Zeit zu verschwenden.
E
Sie neigen dazu, in Ihren Antworten eine schnelle Lösung des Problems zu geben. Sie reagieren
durch Handeln und drängen zur Tat. Sie finden schnell die Lösung, die Sie geben würden und
warten wenig ab, bis Sie mehr erfahren haben.
F
Ihre Antworten zeigen Verständnis und spiegeln Ihre Bemühung wider, sich in die Problemlage
des Anderen zu versetzen. Sie wollen v.a. sicher gehen, das Gesagte richtig verstanden zu
haben. Diese vorurteilsfreie Haltung ermutigt den Gesprächspartner und stimuliert zu weiterer
Nachforschung.
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Arbeitsblatt „Wünsche & Befürchtungen angesichts eines Gespräches“
(Selbstreflexion darüber, was ich mir optimalerweise von einem Gespräch/Gesprächspartner
wünsche oder was ich bei einem schwierigen Gespräch befürchte)
Nehmen wir an, Sie haben eine Sorge oder ein Problem und
möchten gerne mit jemanden darüber reden.
Welche Eigenschaften wünschen Sie sich von Ihrem/Ihrer Gesprächspartner/in?
(Besipiele: zugewandt, aufmerksam, freundlich, …)
Welche Eigenschaften und Verhaltensweisen vom Gesprächspartner würden Sie stören?
(Beispiele: unsensibel, zynisch, abwertend …)
Was könnte Sie veranlassen, das Gespräch abzubrechen? (Beispiele: ungeduldig, wenn
er/sie starke Gefühle nicht aushält, unsympathisch …)
Was erleben Sie, wie fühlen Sie sich, wenn Sie mit einer relativ fremden Person ein
zielorientiertes Gespräch führen (müssen), von dem Sie vermuten oder sicher sind, dass
es schwierig/anstrengend u.ä. sein wird? (Beispiele: Anspannung, Angst, Ratlosigkeit …)
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