Jugend und Politik - Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend

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Dipl.-Päd. Wibke Riekmann
August 2006
Politik lernen? Demokratisch handeln!
Strukturbedingungen demokratischer Jugend(verbands)arbeit
Von der Organisation eines Zeltlagers über die Konstruktion eines Baumhauses bis zu
Präsentationstechniken sind die Möglichkeiten des Kompetenzerwerbs in der
Jugendarbeit praktisch unbegrenzt. Erlangt werden die Kompetenzen, in dem man den
Kindern und Jugendlichen diese Kompetenzen bereits zutraut und ihnen Freiraum zum
Handeln gibt. Dies gilt auch für den Bereich der politischen Bildung. In diesem Beitrag
geht es um die Bedingungen, die in der Jugendarbeit gelten müssen, damit nicht nur
etwas über Politik gelernt wird, sondern vor allem auch demokratisch gehandelt werden
kann. Zusammenfassend vorweg: Jugendarbeit bereitet Kinder und Jugendliche nicht
nur auf etwas vor, was vielleicht in ihrem späteren Leben einmal relevant wird.
Jugendarbeit ist ein Lern- und Handlungsfeld, in dem Demokratie konkret gestaltet
werden kann.
Wenn seit einigen Jahren wieder vermehrt danach gefragt wird, wo Jugendliche Demokratie
lernen können, steht dahinter meistens die Sorge der älteren Generationen, ob die heutigen
Jugendlichen die künftige bundesrepublikanische demokratische Ordnung aufrechterhalten
werden und wollen. So liegen die Schwerpunkte von Jugendstudien nicht selten im Bereich
der politischen Orientierungen. Die nächsten drei Tabellen zeigen einen Ausschnitt der
Ergebnisse zu den Einstellungsfragen zur Demokratie. Sie sind der Shell-Studie: „Jugend
2002“ und dem 2. DJI-Jugendsurvey: „Unzufriedene Demokraten“ entnommen. Zunächst
geht es um die ganz allgemeine Zustimmung von Jugendlichen zur Idee der Demokratie (vgl.
Tab. 1), dann geht es um die Akzeptanz der Demokratie als Staatsform (vgl. Tab. 2) und
schließlich um die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland (vgl. Tab. 3). Da die
zweite Tabelle aus der Shell-Studie 2002 stammt, sind alle drei Tabellen nur in ihren
Tendenzen miteinander vergleichbar, da die Shell-Studie eine andere Altersstufe befragt hat
(12-25 Jahre) als der Jugendsurvey (16-29 Jahre).
Allen erwachsenen Leserinnen und Lesern möchte ich ans Herz legen, sich durch die
folgenden Ergebnisse auch angesprochen zu fühlen. Denn dass Erwachsene sich in ihren
Einstellungen maßgeblich von Jugendlichen unterscheiden würden, ist in den meisten Fällen
gar nicht gegeben – man hat sich nur stillschweigend darauf geeinigt, viele Einstellungen und
Kompetenzen mit dem Erreichen des Erwachsenenalters nicht mehr zu überprüfen, sondern
sie von da an vorauszusetzen.
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Tab. 1
August 2006
Zustimmung zur Idee der Demokratie 1992 und 1997
Jugendliche im Alter von 16-29 Jahren, Angaben in Prozent
1992
Zustimmung zur Idee der Demokratie
West
90
1997
Ost
81
West
84
Ost
71
aus: Gille/ Krüger/ Rijke 2000: 221 (2. DJI-Jugendsurvey: „Unzufriedene Demokraten“), bei der sechsstufigen
Antwortskala wurden die Werte „sehr für“ und „ziemlich für“ zusammengefasst
Die Zustimmung zur Idee der Demokratie liegt mit 84 % für 1997 im Westen deutlich über
den 71 % im Osten, gegenüber 1992 sind die Ergebnisse aber in beiden Landesteilen um
mehrere Prozentpunkte zurückgegangen.
Tab. 2:
Akzeptanz der Demokratie als Staatsform
Jugendliche im Alter von 12-25 Jahren, Angaben in Prozent
Demokratie ist …
eine gute Staatsform
Eine nicht so gute Staatsform
Weiß nicht/ keine Meinung
West
74
8
18
Ost
59
17
23
aus: Schneekloth 2002: 103 (Shell-Studie: „Jugend 2002“)
Wie erwähnt, bezieht sich diese Tabelle auf eine etwas andere Altersgruppe. Eine Gewichtung
nach Alter würde vermutlich vor allem die Prozentpunkte in der Weiß nicht/keine Meinung
Kategorie zurückgehen lassen, wahrscheinlich aber würde die Tendenz in den Ergebnissen
bestehen bleiben. Man kann also sehen, dass die Akzeptanz der Demokratie als Staatsform
schon sehr viel geringer ausfällt als die Zustimmung zur Idee der Demokratie. So werden bei
jeder weiteren Konkretisierung einige Prozentpunkte eingebüßt – so auch bei der letzten
Tabelle, wo es um die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland geht.
Tab. 3:
Zufriedenheit mit der Demokratie 1992 und 1997
Jugendliche im Alter von 16-29 Jahren, Angaben in Prozent
1992
Sehr/ziemlich zufrieden
Etwas zufrieden
Etwas unzufrieden
Ziemlich/sehr unzufrieden
West
50
26
14
11
1997
Ost
31
31
20
19
West
47
32
13
9
Ost
22
33
22
23
aus: Gille, Krüger, Rijke 2000: 231 (2. DJI-Jugendsurvey: „Unzufriedene Demokraten“)
Was die Jugendlichen mit dem Begriff Demokratie in Verbindung gebracht haben, als sie
diese Fragen beantworteten, kann man natürlich nicht aus den Tabellen herauslesen. Insofern
lassen die Ergebnisse breite Interpretationsmöglichkeiten zu. Man könnte es zum Beispiel
ausreichend finden, dass fast 50 % der Jugendlichen im Westen mit der Demokratie zufrieden
sind; man könnte erstaunt sein über die hohe Zustimmung zur Idee der Demokratie oder man
kann erschreckt sein über die teilweise große Differenz zwischen ost- und westdeutschen
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Jugendlichen und dass nur 59 % der Jugendlichen in Ostdeutschland die Demokratie für eine
gute Staatsform halten.
Mir ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die relativ hohe Zustimmung zur Idee der
Demokratie zu bröckeln scheint und dass Jugendliche offensichtlich zu wenig gute
Erfahrungen mit der Demokratie machen, weswegen sie mit der konkreten Ausgestaltung der
Demokratie weniger zufrieden sind. Und das Ergebnis, dass 26 % der Jugendlichen im
Westen und 40 % der Jugendlichen im Osten die Demokratie für eine nicht so gute Staatsform
halten oder dazu keine Meinung haben, kann meiner Ansicht nach auch nicht dadurch
relativiert werden, dass auf die „prekären Lebensverhältnisse“ der Jugendlichen in den
Jugendstudien hingewiesen wird. Ich möchte nicht verharmlosen, dass Jugendliche sich
offensichtlich ökonomisch abgehängt fühlen – wenn sie ihre Antwort aber hauptsächlich von
ihren ökonomischen Lebensverhältnissen abhängig gemacht haben sollten, stellt sich noch
viel dringender die Frage, wo Jugendliche positive Erfahrungen mit demokratischen
Verfahren machen können. In diesen Zusammenhang gehört sicher auch die Diskussion um
ein Wahlrecht ab 16, aber auch jenseits von Parteienpolitik bedarf es der Erfahrung, dass es
Sinn macht, sich der Anstrengung und dem Aufwand eines demokratischen Verfahrens
auszuliefern.
Vielleicht wäre es interessant auszuwerten, ob Jugendliche, die in einem Jugendverband
Mitglied sind, auf die obigen Fragen anders geantwortet haben. Würden Jugendliche
überhaupt ihre Erfahrungen in ihrem Jugendverband mit Demokratie in Verbindung bringen?
Machen wir uns nichts vor: Wahrscheinlich nicht.
Im Forschungsprojekt an der Universität Hamburg zu Demokratie und Verein antworten
Jugendliche aus Jugendverbänden auf die Frage, ob sie ihr Engagement mit Demokratie in
Verbindung bringen zum Beispiel:
„Also im Prinzip nicht Demokratie, also Demokratie steht sogar in der Konzeption,
aber Demokratie ist nicht das, was uns einfällt.“ (Ehrenamtliche, 23 Jahre)
Oder auch:
„Ich denke, das spielt eher so eine untergeordnete Rolle. Das läuft irgendwie so
nebenher.“ (Ehrenamtliche, 22 Jahre)
Dies sind nur zwei Beispiele, aber die Wahrnehmung von Jugendverbänden als Orte
demokratischen Handelns ist bei den Mitgliedern und Ehrenamtlichen vermutlich generell
nicht weit verbreitet. Wo also liegt das Potenzial der Jugendverbände für demokratisches
Handeln? Der Bereich, auf den ich im Folgenden eingehen werde, bleibt meistens im
Verborgenen oder er wird im Zweifelsfall als „lästig“ empfunden: Es geht um die Strukturen
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von Jugendverbandsarbeit. Dazu gleich mehr – zunächst noch ein paar Vorbemerkungen zum
Demokratiebegriff:
Dass Demokratie mehr ist als eine Staatsform, nämlich eine Form des Zusammenlebens und
der gemeinsamen und geteilten Erfahrung, hat der Philosoph John Dewey bereits in seinem
1916 erschienen Buch „Demokratie und Erziehung“ geschrieben:
„Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form
des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung.”
(Dewey 1916/2000: 121)
Dewey ist der Überzeugung, dass es im Leben der Menschen um das Wachstum der
Erfahrung geht, um die individuelle Selbstverwirklichung. Dies kann aber nur im
gemeinschaftlichen Handeln verwirklicht werden, der Mensch ist somit ein soziales Wesen,
das seinen eigenen Charakter und seine eigenen Wünsche erst im Zusammenleben mit
anderen Menschen herausbilden und fortentwickeln kann. Je demokratischer nun die
jeweiligen Sphären organisiert sind, desto größer ist die Chance, in Auseinandersetzung mit
anderen Menschen an Erfahrungen hinzuzugewinnen. Dewey arbeitet zwei Kriterien heraus,
an denen sich demokratische Institutionen aber auch jede soziale Gruppe messen kann: „How
numerous and varied are the interests which are consciously shared? How full and free is the
interplay with other forms of association?” (Dewey 1916: 83). Die direkte Übersetzung würde
vielleicht etwas hölzern klingen, sinngemäß geht es aber darum, dass Gruppen als
demokratisch verstanden werden können, wenn sie möglichst viele verschiedene Interessen
vereinigen und sie mit weiteren Gruppen im Austausch und Kontakt stehen. Auf
„jugendverbändlerisch“ geht es um die Fragen, wie sich die Mitgliederstruktur zusammensetzt
und wo der Verband in Kontakt mit anderen Verbänden und/oder Organisationen tritt.
Und damit bin ich bei den erwähnten Strukturbedingungen der Jugendarbeit. Sturzenhecker
machte in einem Vortrag mit dem Titel: „Wir machen ihnen ein Angebot, das sie ablehnen
können“, auf die nichtmafiösen Strukturbedingungen der Institution Jugendarbeit und ihre
Bildungsfunktion aufmerksam und bezeichnete die Entwicklung der Fähigkeiten einer
eigenverantwortlichen Persönlichkeit und eines demokratischen Staatsbürgers aufgrund dieser
Strukturen als das „heimliche Curriculum“ der Jugendarbeit. Jugendarbeit sei ein
pädagogischer Frei-Raum, der so offen wie möglich und so gerahmt wie nötig sei (vgl.
Sturzenhecker/Lindner 2004).
Rechtlich gesehen sind die meisten Jugendverbände – so auch die Arbeitsgemeinschaft der
evangelischen Jugend e.V. (aej) – Vereine. Aber auch die Jugendarbeit in der lokalen
Kirchengemeinde oder der Pfadfinderstamm kann als Verein aufgefasst werden, wenn sie
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weitestgehend selbständig organisiert sind. Meistens allerdings, wenn wir an Vereine denken,
denken wir spontan an Hierarchie, politische Passivität und Vereinsmeierei; auch Mitglieder
von Jugendverbänden stehen ihrer eigenen Organisationsstruktur oft skeptisch gegenüber –
welche Funktion könnten Vereine also in einer Demokratie erfüllen?
Die so genannten Vereinsprinzipien, die den Vereinen und Jugendverbänden ein
demokratiebildendes Potenzial geben, sind folgende: Das erste Prinzip ist die Freiwilligkeit
der Teilnahme. Diese ist ein Synonym dafür, dass Jugendarbeit als ein echtes Angebot an
Kinder und Jugendliche zu verstehen ist. Als ein Angebot, das abgelehnt werden kann.
Einmal angefangen, können Jugendliche aber auch jederzeit wieder aufhören und die
Jugendarbeit verlassen – auch das sichert das Freiwilligkeitsprinzip. Das unterscheidet die
Jugendarbeit von der Schule und der Familie – den beiden anderen wichtigen pädagogischen
Institutionen für Jugendliche.
Das zweite Prinzip ist die Mitgliedschaft. Jugendliche sind Mitglied der Institution
Jugendarbeit bzw. der Jugendverbände und gestalten diese mit. Die Kommunikation
untereinander ist durch lebensweltliche Verständigung gekennzeichnet und basiert nicht auf
systemischen Prinzipien, wie Macht oder Geld. Die Teilnehmenden müssen immer wieder
untereinander und ggf. mit den Hauptamtlichen aushandeln, was, mit wem, wie, wozu, wann,
wo geschehen soll. Das heißt, Jugendarbeit setzt eine Beziehung voraus, damit sie
funktioniert.
Das dritte Prinzip, das Ehrenamt, ist an die Mitgliedschaft gekoppelt. Hier geht es um die
Mitgestaltung des Vereins und des Verbandes. Gerade in ehrenamtlich organisierten
Jugendorganisationen haben Jugendliche die Chance, selbstbestimmt und selbstorganisiert zu
arbeiten, sich ihre eigenen Ziele zu setzen und nach Wegen dorthin zu suchen. Dieses
Ausprobieren ist oft mit Scheitern verbunden – aber stets mit einem Zugewinn an Erfahrung,
Motivation und Wissen. Hier werden Verfahren eingeübt, wird Verantwortung für das eigene
Handeln übernommen, ist Teilhabe konkret erlebbar. Wenn Projekte scheitern, sich Gruppen
auflösen, nicht nach Qualitätskriterien gearbeitet oder Fehler gemacht werden, wird dies
leider gerne zum Anlass genommen, die Effektivität von ehrenamtlicher Arbeit in Frage zu
stellen oder in der Folge auch Gelder zu kürzen. Ein – in der Tat schwer messbarer – Erfolg
dieses sich Ausprobierens in der Jugendarbeit ist aber, dass viele so gesammelte Erfahrungen
dann nicht erst später, gar nicht oder zu weitaus höheren Kosten gemacht werden.
Das vierte Vereinsprinzip ist die lokale Organisationsstruktur. Diese weist auf das hin, was
Vereine mal waren: Organisationen der jeweiligen Gemeinde oder Kommune. In heutigen
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Großstädten etwa vergleichbar mit der Größe der Stadtteile. Die Chance, sich dieser Lokalität
wieder zu erinnern, liegt darin, dass sich auf diese Weise Vereine in den Stadtteil oder die
Gemeinde integrieren, in dem sie sich als Öffentlichkeit des Stadtteils verstehen. Sie sind
praktisch „ein Spiegel des Stadtteils“. Solidarisches Handeln bedarf nämlich um der
Identitätsbildung willen eines ersten Raumes, einer „Verortung“ der betroffenen Zielgruppen.
Durch die lokale Orientierung besteht die Chance, die gemeinschaftlichen Beziehungen über
die kulturelle Integration des Bevölkerungsspektrums zu vergesellschaften. Dies kann sich
zum Beispiel in der Mitgliederstruktur manifestieren. Ein ganz interessantes Experiment für
die aej-Jugendarbeit vor Ort: Welche Jugendlichen leben eigentlich in unserem Stadtteil oder
unserer Gemeinde und welche Jugendlichen sind bei uns Mitglied? Sind wir als Jugendarbeit
ein „Spiegel des Stadtteils?“
Das fünfte und letzte Vereinsprinzip ist die Öffentlichkeit. Eng mit der lokalen
Organisationsstruktur verknüpft, sichert das Prinzip der Öffentlichkeit die Erweiterung des
partikularen Vereins oder Verbandes in die Gesellschaft hinein. Vereine nehmen im Grunde
eine ständige Gratwanderung zwischen der familiären und der staatlichen bzw.
wirtschaftlichen Sphäre vor. Diese Balance einer demokratischen Öffentlichkeit ist manchmal
schwer zu halten. Wege zur Herstellung von Öffentlichkeit in Vereinen sind sowohl
Vereinszeitungen, als auch die Beteiligung an Stadtteilfesten oder kommunalen Initiativen,
Diskussionsrunden oder Stellungnahmen zu relevanten Fragestellungen des Gemeinwesens.
Aber auch in der interpersonalen Kommunikation konstituiert sich bereits ein Stück
Öffentlichkeit, wenn einzelne Personen als VereinsvertreterInnen agieren.
Zwischenfazit
Jugendarbeit in Vereinen besitzt aufgrund der Vereinsprinzipien ein hohes Potenzial,
demokratiebildend tätig zu sein. Dabei geht es nicht nur um die Funktion einer „Schule der
Demokratie“ oder die Vorbereitung auf etwas, was dann im „wirklichen Leben“ relevant
wird. Es geht nicht nur darum, etwas über Politik oder Demokratie zu lernen. Vereine und
damit Jugendarbeit verwirklichen demokratisches Handeln bereits in der Lebenswelt, weil sie
selber demokratisch sind. Die Vereinsprinzipien sichern die demokratische Struktur, denn
Demokratie ist „nur“ ein Formprinzip, das der inhaltlichen Ausgestaltung bedarf. Wie also die
Vereinsprinzipien gefüllt werden – das muss und kann immer wieder neu ausgehandelt
werden.
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Nun könnte der Beitrag an dieser Stelle enden und er könnte bei den Leserinnen und Lesern
vielleicht das gute Gefühl hinterlassen, dass Vereine und Verbände vielfältige Kompetenzen
vermitteln und Orte sind, an denen Demokratie konkret werden kann. Der Schlusssatz wäre an
dieser Stelle möglich, wenn ich nicht bewusst von Potenzialen gesprochen hätte. Und das
heißt, es gibt die Möglichkeit, dass Vereine als demokratiebildende Institutionen fungieren.
Leider aber kann man etwa in den letzten zehn Jahren Entwicklungen in den Jugendverbänden
beobachten, die drohen, diese Potenziale zu zerstören, in dem sie die Vereinsprinzipien
unterlaufen. Und deswegen geht der Beitrag an dieser Stelle weiter:
1.
Entwicklung
vom
Ehrenamt
zum
freiwilligen
Engagement:
Seitdem
die
Zivilgesellschaft wieder verstärkt öffentliches Interesse weckt, haben sich in den letzten
Jahren zusätzlich zum Ehrenamtsbegriff die verschiedensten Bezeichnungen für ein
Engagement herausgebildet: Gemeinwohlorientierte öffentliche Arbeit, Selbsthilfe, Bürgeroder Freiwilligenarbeit, politisches, soziales, bürgerschaftliches und zivilgesellschaftliches
Engagement, sind nur einige der verwendeten Bezeichnungen. Häufig wissen wir in diesem
Durcheinander überhaupt nicht mehr, wovon geredet wird. Ich möchte dafür plädieren, dass
wir, wenn wir von der Förderung der Demokratie im speziellen und nicht nur allgemein von
Zivilgesellschaft reden, wissen sollten, worüber wir reden. Denn ein Engagement fördert zwar
meistens den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft, aber trägt nicht unbedingt konstitutiv
zur Demokratie bei. Wenn der Bürgermeister einer Stadt zur Aktion „saubere Stadt“ aufruft
und engagierte Bürgerinnen und Bürger mit ihm den Dreck wegräumen, ist das soziales
Engagement, aber noch keine Stabilisierung von Demokratie. Auch in einer Diktatur kann es
einen hohen Prozentsatz an sozialem Engagement geben. Das Bewusstsein und auch das
Leben eines demokratischen und nicht nur sozialen Miteinanders können meines Erachtens
nur in demokratischen Strukturen entstehen. Meine Zweifel beziehen sich also auf die
Gleichsetzung von jeglichem sozialem oder freiwilligem Engagement mit dem Ehrenamt. Ein
demokratisches Ehrenamt wäre demnach eine freiwillige Tätigkeit in einer auf den
Vereinsprinzipien beruhenden Organisation, die durch Wahl auf eine bestimmte Dauer
legitimiert ist. Die Tätigkeit sollte gemeinnützig und grundsätzlich unentgeltlich sein,
allerdings Aufwandsentschädigungen oder vergleichbare Honorierungen nicht ausschließen.
Diese Definition des demokratischen Ehrenamtes ist sehr einschränkend. Wenn es aber um
eine Förderung der Demokratie geht, müssen wir uns vergewissern, welcher Kriterien es dazu
bedarf.
2. Vereine werden zu Ersatzfamilien: Die Familiarisierung ist im Grunde ein Aspekt der
Vereinsmeierei, die ich schon oben angesprochen habe. Wenn Vereine nur noch aus
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Menschen eines bestimmten Alters, Geschlechts oder/und sozialer Schicht bestehen oder
wirklich auf verwandtschaftlichen Beziehungen aufruhen, wird ihr demokratisches Potenzial
unterlaufen. Die Chance nämlich, durch die Stadtteilorientierung Fremdheit zu überwinden
und nicht nur die eigene Subkultur zu stärken.
3. Vereine werden zu zentralisierten Verbänden. In den Verbänden ist eine Abkehr von
den lokalen Organisationsstrukturen zu beobachten und damit eine zunehmende
Zentralisierung. Diese wird u. a. ausgelöst durch die veränderte Mittelvergabe – immer
häufiger wird eine Projektförderung betrieben, die die Verbände zur Zentralisierung zwingt.
Durch diese veränderten Aufgaben entsteht der Bedarf nach mehr Hauptamtlichkeit, denn das
Know-how für die Projektvergabe besitzen eigentlich nur noch Hauptamtliche.
4. Vereine werden zu Betrieben. Wenn Vereine nur noch von Hauptamtlichen geleitet
werden, läuft etwas schief. Ein Signal dieser Entwicklung, wodurch der Bedarf nach mehr
Hauptamtlichkeit entsteht, ist die Abkehr vom Ehrenamt und die Hinwendung zum
freiwilligen Engagement. Dieses unverbindlichere Engagement bedarf der Absicherung durch
Hauptamtliche, um Kontinuität zu sichern. Wenn alle nur noch projektorientiert arbeiten,
muss ja jemand da sein, der ihnen erzählt, wie das geht. In der Hinwendung zum freiwilligen
Engagement aber die Lösung des Problems zu sehen, dass Jugendliche sich nicht mehr
längerfristig durch ein Ehrenamt binden lassen, ist problematisch, da es eine Unterhöhlung
der gesamten Organisationsstruktur bedeutet. Denn wird das dauerhafte durch ein situatives
Engagement ersetzt, so wird das Ehrenamt zum Auslaufmodell und das Hauptamt zur
Grundlage. Damit aber verliert der Verein sein Fundament und wird zum Betrieb und
Mitglieder werden zu Kunden. Wenn sich also Kinder- und Jugendarbeit zunehmend als
Dienstleistung versteht, sehe ich die Gefahr, dass hier ein Ort verloren geht, wo Kinder und
Jugendliche jenseits von Marktprinzipien, familiären Bindungen oder Leistungsdruck
verständigungsorientiert miteinander umgehen können.
Mit diesen Hinweisen kann der Beitrag nun enden. Sturzenhecker formulierte es so:
„Demokratie kann nur entstehen, wenn sie zugemutet wird.“ Ich habe in diesem Beitrag
versucht zu zeigen, welche Potenziale in den häufig nicht beachteten oder als störend
empfundenen Strukturen von Jugendverbänden stecken und warum es als sehr positiv gesehen
werden kann, dass die meisten Jugendverbände Vereine sind. Sichern wir also die Strukturen
der Verbände, damit es überhaupt eine Möglichkeit gibt, demokratisch und nicht nur sozial
sozialisiert zu werden. Bildung zur Demokratie kann eben nur in Demokratie stattfinden.
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Literatur:
Deutsche Shell (Hrsg.) (2002): Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und
robustem Materialismus. Frankfurt am Main.
Dewey, John (1916): Democracy and Education. An Introduction to the Philosophy of
Education. New York.
Dewey, John (1916/2000): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische
Pädagogik. Aus dem Amerikanischen von Erich Hylla. Herausgegeben von Jürgen
Oelkers. Weinheim.
DJI-Jugendsurvey: Gille, Martina/ Krüger, Winfried (Hrsg.) (2000): Unzufriedene
Demokraten. Politische Orientierungen der 16- bis 29jährigen im vereinigten
Deutschland. Opladen.
Sturzenhecker, Benedikt / Lindner, Werner (Hrsg.) (2004): Bildung in der Kinder- und
Jugendarbeit – vom Bildungsanspruch zur Bildungspraxis. Weinheim/München.
Dipl.-Päd. Wibke Riekmann
Wibke Riekmann, geboren 1973, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion für
Schulpädagogik, Sozialpädagogik in der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie
und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind:
Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit, Ehrenamt und freiwilliges Engagement, politische
Bildung und Partizipation von Kindern und Jugendlichen.
Kontakt: [email protected]
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