lycee denis-de-rougemont

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LYCEE DENIS-DE-ROUGEMONT
NEUCHATEL ET FLEURIER
ALLEMAND
TEXTVERSTÄNDNIS
Das Ende des Clochards
Fredy Gsteiger
In der Bürokratensprache heißen Clochards "sans domicile fixe". Doch ein Dach über
dem Kopf haben sie noch immer nicht. Sie stören die feinen und mächtigen Pariser.
Deshalb werden sie vor die Tore der Stadt nach Nanterre gebracht. Dort werden sie wie
Kartoffelsäcke abgeladen: Routine des Elends in einer Metropole mit 50'000
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Obdachlosen.
Bis zu 400 Obdachlosen werden Tag für Tag, Nacht für Nacht hierhergebracht. Von
Clochardromantik ist nichts zu spüren. Zwischen schmutzigen Mauern stehen
Containerbaracken. An einer hängt ein Schild: "Consultation Dr. Emmanuelli". Der
Doktor strahlt trotz einer leisen Stimme eine unglaubliche Energie aus. Er stammt aus
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Korsika und ist 56 Jahre alt. Manche seiner Ärztekollegen halten ihn für verrückt. Sein
Tätigkeitsfeld war immer die Schattenseite der Gesellschaft. "Wenn ich von einer Sache
etwas verstehe", meint er, "dann von der Not." In den siebziger Jahren war er
Mitbegründer der Médecins sans frontières, Ende der achtziger Jahre auch Gefängnisarzt.
Seit einigen Monaten kümmert er sich um die Obdachlosen von Paris. Gibt es für kranke
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und verletzte Obdachlose nicht die Krankenhäuser? Im Prinzip ja, im konkreten Fall
selten. "Wer illegal im Land wohnt, wer nicht sozialversichert ist, wer stinkt, betrunken
ist, wird von den Krankenhäusern abgewiesen", weiß Xavier Emmanuelli. "Das ist zwar
gegen das Gesetz, aber es ist üblich. Das Krankenhaus ist krank.
Emmanuellis Mittel sind bescheiden: ein Barackenlager mit notdürftiger Ausrüstung,
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Emmanuelli selber, vier freiwillige Hilfsärzte, acht Krankenschwestern bilden das Team.
Obdachlosen, die am Ende ihrer Kräfte sind, kann Emmanuelli nun einige Tage
Obdach, Verpflegung und saubere Kleider bieten. Wenn er die Tür zum kleinen
Wartezimmer öffnet, drehen sich graue, zerfurchte Gesichter zu ihm hin. Mißstrauische
Augenpaare mustern ihn. Vielen sieht man an, daß sie schon lange alle Brücken zur
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Gesellschaft abgebrochen haben, einige sind aidskrank, andere drogensüchtig, viele
Alkoholiker. Immer mehr leiden an Tuberkulose. "Nie sind sie es, die zu sprechen
beginnen. Zuerst muß immer ich reden und versuchen, einen Kontakt aufzubauen", sagt
Emmanuelli. "Viele sind sich ihrer Leiden gar nicht bewußt. Ihr ganzer Körper, ihr
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ganzer Geist ist ein einziges Leid. Nicht ihre Stimmen sprechen häufig z u mir,
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sondern ihre Haut, voller blauer Flecken und offener Wunden. Ihre Körper berichten
von Gewalt, von Aggression. "Der einzige Politiker, der gekommen ist, ist eine Frau,
Martine Aubry. Sie hat das Problem der "Ausgeschlossenheit" in seiner Dramatik
begriffen.
Xavier Emmanuelli ist über die Missachtung der Politiker nicht einmal besonders traurig:
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"Zu den Obdachlosen würden sie keinen Kontakt finden. Ich selbst, verlangt der Christ
Emmanuelli - und gesteht-, dass ihm das häufig nicht gelingt. Er erzählt, wie schwer es
sei, mit diesen zerstörten Menschen zu reden, die nicht mehr logisch argumentieren
können, die ihren Status als Menschen verloren haben. Wer Dankbarkeit erwarte, werde
mit Sicherheit enttäuscht. "Die Straße ist ein Dschungel. Wer in ihm überlebt, ist hart
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geworden." Hier in Nanterre sieht er eine kleine, vorübergehende Linderung für einige
Obdachlose. Eine Antwort auf das Problem ist das nicht. Die Ursachen werden damit
nicht bekämpft. "Früher hat man nur die Leprakranken vor die Stadttore verbannt. Heute
grenzt man Kranke aus, Arme, Arbeitslose, Alte, Ausländer, Behinderte. Sie alle gelten
als Parasiten. Und wir leben weiter, als wäre nichts geschehen. Wir merken nicht, daß wir
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allmählich zur Minderheit werden.
Nach Fredy Gsteiger, Die Zeit, 27. I. 1995
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