Das vergessene Universum der Musik [Leseprobe] Marga Auwald Stell dir vor, du erwachst eines Tages und dein ganzes Leben ist verschwunden. Nichts mehr da. Kein Name, keine Erinnerung, kein Gefühl. Was würdest du tun? Versuchen, das alte Leben wiederzufinden und dich diesem anpassen oder würdest du einen Neubeginn machen? Beim einen verlierst du vielleicht dich selbst, beim anderen verlieren dich die Menschen, die dich bisher geliebt haben und die nun Fremde für dich sind. Wem würdest du vertrauen, wenn alle behaupten, dass sie dich kennen und es gut mit dir meinen? Wem glaubst du? Was ist mit den Menschen, die dich nicht mögen? Gehst du ihnen aus dem Weg oder versuchst du, durch dein erinnerungsloses Ich neu mit ihnen in Beziehung zu treten? Wer bist du wirklich? Noch bevor sie vollkommen aufgewacht war, spürte sie bereits diesen stechenden und alles einnehmenden Schmerz im Kopf. Während sie die Hände um ihren Schädel legte und die Augen zusammenkniff, stöhnte sie: „Ohh! Gott!“ War sie gestürzt, war etwas auf sie drauf gefallen? Woher kam nur dieser Schmerz? Langsam öffnete sie die Augen. Ihre Umgebung schien sich zu bewegen. Hatte sie einen Kreislaufzusammenbruch oder einen Schlaganfall? Langsam nahm sie durch den explodierenden Kopf hindurch wahr, dass sie in einem Zug sitzen musste. Vor ihr war ein Tisch und ihr gegenüber sah sie zwei graue, neu erscheinende leere Sitze. Immer noch hatte sie die Hände am Kopf und ihr Gesicht war schmerzverzerrt, doch sie blickte sich langsam um. Kein Mensch saß in ihrer Nähe, kein Schaffner in Sicht und die Landschaft flog nur so an ihr vorüber. Auf dem Sitz neben ihr lag eine große hellbraune Handtasche und eine helle Ledertasche, die vermutlich einen Laptop oder andere Arbeitsmittel enthielt. Mit jedem Atemzug verebbten die Kopfschmerzen ein klein wenig, doch das bemerkte sie kaum. Zu sehr war sie von ihrer Umgebung eingenommen. Von einer Umgebung, die ihr vollkommen neu war. Wo war sie? Was machte sie hier? Mit dem Erstaunen ließ sie die Arme sinken, nur um die Hände in derselben Bewegung wieder zu heben und vor ihr Gesicht zu halten. Diese Finger! Diese Hände! Sie war sich sicher, dass sie sie noch niemals gesehen hatte. Die Fingernägel waren lang und professionell manikürt. Ein rohweiß-beiges Muster war darauf gezeichnet und an manchen Nägeln waren kleine Steine eingearbeitet. Es waren lange, schön geformte Finger und sie sahen aus, als würden sie regelmäßig mit teuren Cremes gepflegt. Aber sie kannte diese Hände nicht. Diese Erkenntnis sickerte langsam in ihr Bewusstsein. Plötzlich saß sie aufrecht in ihrem Sitz und sah an sich hinunter. Sie trug eine helle Stoffhose mit einem schmalen dunkelbraunen Gürtel. Hände und Blick wanderten zu ihrem Bauch. Das Oberteil war eine schlichte, weiße Bluse, die sich angenehm leicht anfühlte. Noch weiter wanderte sie nach oben, berührte die schwarzen Steine der Kette, nahm beide Brüste in ihre Hände. Nichts davon, absolut gar nichts kam ihr bekannt vor. Sie trug mehrere goldene Ringe. Einer hatte eine Perle obenauf, ein anderer kleine Brillanten und an einem Finger betrachtete sie wie eine Fremde zwei glänzende Ringe übereinander. Jeden einzelnen Ring hatte sie kurz berührt, doch es kam ihr vor, als wäre sie eine Forscherin, die eine neue Ameisenspezies entdeckt hat und es kaum glauben konnte. Unter dem Tisch lagen zwei dunkelbraune, sehr hohe Pumps, an ihren Füßen trug sie Seidenstrümpfe und die durchscheinenden Nägel sahen dunkel gefärbt aus. Mit fragendem Gesicht sah sie um sich. Hier war nur sie alleine und sie hatte keine Ahnung, wer sie war. Sie wandte sich nach rechts und erstarrte. Im Spiegelbild der Fensterscheibe erblickte sie ihr Gesicht. Keine Blessuren, keine Verletzungen deuteten darauf hin, dass etwas mit ihr passiert war. Die dunklen, glatten Haare umrandeten ihr rundes Gesicht perfekt. Sie näherte sich der Scheibe, betastete die Nase, den Mund und fasste sich sogar kurz in ein Auge. Ja, das war real. Alles war echt. Und doch: Sie hatte diese Frau, die sie vor sich sah, noch nie gesehen. Wo war sie? Wer war sie? Mit geschlossenen Augen ließ sie sich zurück in ihren Sitz sinken. „Durchatmen, noch einmal von vorne!“, murmelte sie, als könne sie durch ein Zurückgehen in die Haltung, aus der sie vor einer Viertelstunde erwacht war, ein Reset erreichen und alles würde Sinn machen und ihr Kopf würde wieder normal funktionieren. In dieser Haltung bemerkte sie, dass auch ihr 2 Körperempfinden völlig neu war. Ihr Nacken war leicht verspannt und ihr Rücken fühlte sich steif an. Ihre Hände und ihre Füße waren warm, sie verspürte leichten Hunger und ihren Bauch empfand sie so, als würde sie ihn eingezogen halten. Über alledem thronten die noch immer vorhandenen Kopfschmerzen, doch diese ignorierte sie. Sie atmete aus und öffnete die Augen wieder. Nichts. Keinerlei Anhaltspunkte waren aufgetaucht. Irgendwie musste sie herausfinden, was das hier sollte. Ihr kam die errettende Idee: die Handtasche. Sicher konnte sie sich nicht sein, doch es sah so aus, als gehörte die Tasche neben ihr auch zu dieser Frau, in der sie steckte. Noch einmal blickte sie sich im Waggon um. Immer noch war sie alleine, also nahm sie die Tasche auf den Schoß und zog als erstes die Geldtasche heraus. Es war eine längliche Börse, die mit einem Druckknopf verschlossen war. Eine Visitenkarte war das erste, was sie hinter dem durchsichtigen Fenster, in dem meistens Bilder der Kinder oder Partner zu finden waren, erblickte. Berkinger Immobilien Holding Melinda Berkinger Pietachstraße 458 8001 Zürich SCHWEIZ Gehörte nun diese Tasche einer Melinda Berkinger oder hatte die Inhaberin diese Visitenkarte hier versorgt? Sie atmete tief aus. Das war gar nicht so einfach. Immerhin, registrierte sie nebenbei, dass die Augen dieses Körpers zu funktionieren schienen. Sie trug keine Brille, musste nichts auf Armlänge halten und sah trotzdem scharf. Nach und nach durchsuchte sie die Geldtasche, fand vor allem Euroscheine, was ihr in Bezug auf die Visitenkarte keine neuen Antworten gab. Es war ziemlich viel Bargeld, fand sie. Daneben enthielt die Börse zahlreiche Kundenkarten, zwei Kreditkarten, eine Bankomatkarte und einen Führerschein. Alle waren sie auf Melinda Berkinger ausgestellt und als sie das Foto auf dem Führerschein inspizierte, war sie sich fast sicher, dass es das Bild der Frau in der Fensterscheibe war. Vielleicht war ja ein Spiegel in der Handtasche, dachte sie, und wühlte weiter. Tatsächlich fand sie ein kleines Täschchen, das neben allerlei Make-up-Utensilien einen kleinen Spiegel enthielt. Sie öffnete ihn und betrachtete ihr Gesicht – zu dieser Erkenntnis war sie bislang gekommen, dass das hier IHR Gesicht war. Dunkelbraune Augen, die skeptisch und rotgeädert waren, sahen ihr entgegen. Eindeutig hatte sie Make-up aufgelegt. Viel Mascara, Eyeliner, etwas Lidschatten, daneben noch Grundierung, Rouge und gemalte Lippen inklusive einer Kontur. Und so viel war sicher: Ja, sie war diese Frau auf dem Führerschein. „Melinda Berkinger“, sagte sie leise vor sich hin, als ob das Hören dieses Namens eine Erinnerung bringen sollte. Stattdessen war sie erstaunt über den Klang ihrer Stimme. Irgendwo, ganz entfernt, da war vielleicht der Hauch eines bekannten Gefühls. Doch als sie den Namen wiederholte, war da nicht mehr, als eine vage Empfindung, die sie nicht zu fassen bekam. Bedeutete das, dass sie tatsächlich diese Frau war? Dass hier kein Fehler, kein Traum oder irgendein NASA-Projekt ablief, sondern sie nur eine Frau war, die sich selbst nicht mehr erkannte? Im nächsten Moment vernahm sie leise Musik. Wieder war es, als würde tief in ihrer Brust etwas berührt, doch es war zu weit weg, zu fremd und sie hatte keine Chance es ins Bewusstsein zu bringen. Dann griff sie hektisch nach der Handtasche und wühlte mit weit aufgerissenen Augen darin herum, als würde ihr Leben davon abhängen. Vielleicht tat es auch genau das. „Bitte bleib dran, bitte bleib dran!“, betete sie vor sich hin, bis sie endlich die Handyhülle in der Hand hatte. Erst versuchte sie das Gerät mit den Fingern herauszuziehen, was aufgrund der langen Nägel gar nicht so leicht war. Sie drehte die Hülle um und wollte es herausschütteln, als das Klingeln erstarb. Nun, da sie keinen Stress mehr hatte, legte sie die weiße Lederhülle vor sich auf den Tisch. Was ihr vorher entgangen war, das war nun ganz klar: Wenn sie an der kleinen Lasche zog, dann glitt das Handy wie von alleine in ihre Hand. Sie berührte das Display, doch es tat sich 3 nichts. Lediglich ihr Nagel verursachte ein stilles Klickgeräusch. Noch einmal hielt sie alle Finger hoch und sah sich die perfekt manikürten Nägel mit einer hochgezogener Braue an. Offensichtlich hatte sie keine Ahnung, wie man mit diesen Dingern umging. Sollte so etwas nicht im Körpergedächtnis gespeichert sein, fragte sie sich. Beim zweiten Versuch konnte sie das Handy aktivieren. Es gab kein Foto oder sonstige Gestaltung auf dem Hintergrund, nur eine einfache blaugrüne Fläche. Während sie noch versuchte sich auf dem Smartphone zu orientieren, läutete es ein weiteres Mal. Martin stand da. Für das Abheben benötigte sie drei Versuche, diese Nägel waren ihr wirklich im Weg. „Hallo?“ „Ich wollte nur wissen, ob du pünktlich ankommst.“ Keine Begrüßung, kein Name, doch diese Person kannte sie offensichtlich. Diese Chance musste sie nutzen. „Ähm, mit wem spreche ich, bitte?“ Stille. „Na mit mir. Habe ich dich geweckt?“ Das war etwas kompliziert. Wie sollte sie das Ganze angehen? Sie nahm tief Luft und schüttelte den Kopf. Es gab keinen anderen Weg als ehrlich zu sein. „Ähm, ich… es tut mir leid, aber ich weiß im Moment gerade gar nichts. Ich sitze mit Kopfschmerzen im Zug, halte ein fremdes Handy am Ohr und kann mich an gar nichts erinnern.“ „Ist das ein Scherz?“ „Nein. Ich weiß, das klingt unglaublich. Ich kenne mich ja selbst nicht aus. Ich weiß nicht was ich hier mache und auch nicht wer…“ Am anderen Ende der Leitung hörte sie ein Geräusch, als würde ein Stuhl auf dem Boden zurückgeschoben, dann eine Türe, die geschlossen wurde. „Melinda, was soll das? Kommst du nun oder nicht?“ „Melinda. Genau. Melinda Berkinger, das bin ich, oder?“ „Hör auf damit!“, er schien wütend zu werden. „Du warst diejenige, die uns alle hierher bestellt hat. Verdammt, du wirst dich jetzt nicht aus der Affäre ziehen!“ Etwas verzweifelt entgegnete sie: „Wirklich, das ist kein Scherz. Ich erinnere mich an absolut gar nichts. Ich wühle hier durch eine Tasche, um überhaupt einen Anhaltspunkt dafür zu bekommen, wer ich sein könnte.“ Es war still. Sie fürchtete ihn zu verlieren. Die nächste Frage sollte ihm verdeutlichen, wie ernst es ihr war. „Darf ich fragen, wer Sie sind?“ Am anderen Ende wurde aufgelegt. Da dieser Martin, als den ihr Handy ihn ausgewiesen hatte, offensichtlich nicht gut auf sie zu sprechen war, beschloss sie, ihn nicht sofort zurückzurufen. Was hätte sie ihm auch anderes sagen können, als sie es gerade getan hatte? Stattdessen nahm sie sich noch einmal der Handtasche an. Darin fand sie ein Zugticket. „Au ja!“, rief sie aus und öffnete es gespannt. Immerhin würde sie nun erfahren, wohin sie unterwegs war. <<Wien --- Budapest>> stand da. Budapest? Sie blickte nachdenklich nach oben. Nein, auch da klingelte nichts. Ebenso wenig, wenn sie Wien als Suchbegriff durch ihre Hirnwindungen schickte. Das Ticket war bereits abgestempelt, also hatte der Schaffner sie auch schon gesehen. Wieder sah sie sich um und dieses Mal blieb ihr Blick am Koffer und an der Reisetasche hängen, die sich schräg hinter ihr auf der Gepäckablage befanden. Sie stand in ihren Strümpfen auf. Groß fühlte sie sich. Auf beiden Seiten hielt sie sich an den Kopfstützen der Sitze fest und konzentrierte sich noch einmal auf ihren Körper. Sie war schlank und groß. Ihre Schultern waren tatsächlich verspannt und ihre kleinen Zehen schmerzten. Am Gepäck war jeweils ein Namensschild angebracht. Ja, diese beiden gehörten zu ihr. Beziehungsweise zu Melinda Berkinger, ergänzte sie in Gedanken. Da sie noch nicht einmal mit der Handtasche durch war, war es jetzt sicher nicht an der Zeit ganze Koffer zu öffnen. 4 Zumal dieser hier riesengroß war und ziemlich schwer aussah. Beide Gepäckstücke waren in demselben Design und sahen sehr teuer aus. Zumindest vermutete sie das. Wieder läutete das Telefon und sie beeilte sich, zu ihrem Sitz zurückzukehren. Martin machte noch einen Versuch. „Hallo?“, meldete sie sich. „Und? Kommst du pünktlich?“ Er hatte sie nicht ernst genommen. Verärgert klang er und so, als würde er sofort wieder auflegen, wenn sie etwas Falsches antwortete. Trotzdem, was konnte sie anderes tun, als zu sagen: „Das ist kein Scherz. Ich habe gerade erst eine Zugkarte nach Budapest gefunden. Das ist im Moment alles, was ich Ihnen sagen kann!“ Er atmete in den Hörer: „Melinda, ich…“ „Das ist mein voller Ernst! Wäre ich denn die Person, die solche Späße macht?“, unterbrach sie ihn rasch. Es blieb still. Immerhin hatte er nicht aufgelegt. „Mein ganzes Gedächtnis scheint weg zu sein“, begann sie langsam. „Ich weiß meinen Namen nicht, ich erkenne mich nicht im Spiegel und ich habe keine Ahnung, was ich in diesem Zug soll.“ „Du spinnst!“, sagte er knapp. „Nein, ich habe Kopfweh.“ Wieder ließ er sie auf eine Antwort warten. „Das ist also dein voller Ernst?“ „So ist es.“ Sie war erleichtert, dass er ihr endlich zu glauben schien. „Du hast keine Ahnung warum du nach Budapest fährst?“ „Keinen blassen Schimmer.“ „Wann bist du hier?“ „Wie soll ich das wissen? Auf dem Ticket steht keine Uhrzeit und es sitzt keine einzige Person mit mir im Waggon.“ Es dauerte eine Weile, in der er nachzudenken schien. Dann erklärte er ihr, dass sie laut Plan um 16:45 Uhr in Budapest ankommen würde. Auf alle Fälle käme er, um sie zu holen und dann würden sie ins nächste Krankenhaus fahren. Sobald ein Schaffner zu sehen sei, solle sie ihn fragen, ob der Zug pünktlich sein würde und es ihm dann mitteilen. Melinda war einverstanden und sehr froh, dass es jemanden gab, der ihr half die ganze Geschichte auf die Reihe zu bringen. Nun, da er nicht mehr wütend auf sie war, konnte sie ihn auch duzen, so wie er es mit ihr von Anfang an getan hatte. „Martin?“, sprach sie ihn deshalb noch einmal an. „Ja?“ „Sagst du mir noch, wer du bist? Woher kennen wir uns?“ Unendliche Sekunden lang sagte er nichts, doch dann antwortete er: „Ich bin dein Mann“, und legte auf. An diese Möglichkeit hatte Melinda bisher noch gar nicht gedacht. Wie sie den Ring an ihrer linken Hand nicht als Ehering hatte erkennen können, schien ihr plötzlich unerklärlich. An diesem Finger trug sie zwei Ringe. Der untere war etwas breiter, hatte einen ganz schmalen, fein glänzenden Streifen rundherum und einen breiteren Streifen, der in Mattgold gehalten war. In diesem war ein weiß glitzernder Stein eingelassen. Vor diesem Ring trug sie einen schmäleren Goldring mit zwei kleinen Steinen. Sie zog beide Ringe aus und betrachtete sie genauer. Im Ehering selbst waren der Name Martin und ein Datum eingraviert. Sie vermutete, das war das Hochzeitsdatum. Somit war sie seit vier Jahren mit diesem Mann verheiratet. Der Schaffner kam eine halbe Stunde später durch ihren Waggon. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits alle Sachen ihrer Handtasche auf dem Tisch ausgebreitet. Ein dicker Filofax lag da, das Zugticket, das Smartphone, ein kleines Etui mit drei Stiften, eine Schachtel Slim Line Zigaretten, ein Zippo Feuerzeug mit ihren Initialen, zwei Geldbörsen, eine Sonnenbrille, ein Moleskine-Notizbuch, Taschentücher, das Täschchen mit Schminkutensilien, ein Schal, Erfrischungstücher, zwei Schlüsselbünde, ein Autoschlüssel, Halsbonbons und eine 5 Handcreme. Gerade wollte sie sich dem Notizbuch zuwenden, als der Bahnbeamte an ihr vorbei kam. Von ihm erhielt sie die Information, dass sie mit einer Viertelstunde Verspätung in Budapest ankommen würden. In einer halben Stunde wären sie bereits dort. Dann warf er noch einen leicht irritierten Blick auf den belegten Tisch und ging weiter. Melinda nahm das Telefon und nach ein paar Versuchen hatte sie herausgefunden, wie sie Martin zurückrufen konnte. Bis dahin hatte sie auch schon die Entscheidung getroffen, dass sie diese langen Nägel würde loswerden müssen. Auf die Zuginformation hin antwortete Martin lapidar: „Das ist jetzt auch schon egal. Ich bin bereits unterwegs.“ Fast hätte sie fragen wollen, wie sie ihn erkennen würde, doch so wie es aussah, würde ja er sie erkennen und das musste genügen. Nachdem er auf ihre letzte Frage hin so kurz angebunden gewesen war, wollte sie ihn jetzt nicht zusätzlich erregen. Schon bald würde sie den Bahnhof erreichen und so verstaute sie alle Stücke wieder in der Handtasche. Ob sie immer eine so schwere und volle Tasche dabei hatte? Vielleicht würde Martin ihr das beantworten können. Oder, und das wäre noch besser, im Krankenhaus würden sie sofort eine Behandlung beginnen, die ihrem Gedächtnis wieder auf die Sprünge half. Beim Anziehen der Pumps wusste sie, warum ihre kleinen Zehen beleidigt waren. Die Schuhe drückten, passten aber zweifelsfrei und optimal zum Outfit. Neben dem Fenster hing eine kamelfarbene Strickjacke und wie selbstverständlich nahm sie diese und zog sie an. Wem sonst hätte sie gehören sollen? Wenig später wuchtete sie den riesigen Koffer aus der Ablage. Sie hatte sich nicht getäuscht. Er sah nicht nur schwer aus, er war es auch. Vermutlich hatte sie vor, längere Zeit in Budapest zu bleiben. Erst als sie am Ausstieg darauf wartete, dass sie in den Bahnhof einfuhren, traf sie auf andere Menschen. Diese kamen aus dem nächsten Waggon und mit einem Blick erkannte sie, dass sie in der ersten Klasse gefahren war. Dankbar nahm sie beim Aussteigen die Hilfe eines jungen Mannes an. Um ehrlich zu sein hatte sie mit diesen Schuhen schon genug zu tun. Ihr Gang fühlte sich alles andere als sicher an. „Körpergedächtnis“, sprach sie in Gedanken mit sich selbst, „zumindest du dürftest deinen Anteil erledigen!“ Der große Koffer wurde neben ihr abgestellt und der Helfer verabschiedete sich mit einem Lächeln. Kurz sah sich Melinda um. Vermutlich war es das Beste, wenn sie einfach dem Menschenstrom folgen würde. Es konnte ja nicht anders sein, als dass diese zum Ausgang gingen, oder? Sie atmete tief durch, schulterte die Reisetasche auf der einen, die Laptop- und Handtasche auf der anderen Schulter, zog den Griff des Koffers heraus und ging los. In der Schalterhalle war sehr viel los. Gruppen standen herum, eilende Menschen rannten an ihr vorbei und die Geschäfte waren gut besucht. Melinda hielt Ausschau nach Männern, die so aussahen, als würden sie jemanden abholen. Fast wäre sie auf einen zugelaufen, der dann in der letzten Sekunde bevor es peinlich geworden wäre, von einer anderen Frau umarmt wurde. Nach diesem Erlebnis stellte sie ihr Gepäck neben dem Eingang eines Buchgeschäftes ab und wartete. Er würde ja sie kennen, dann musste sie nicht alle möglichen fremden Männer ansprechen. Was mag ich, was mag ich nicht? Trinke ich Kaffee und wenn ja, wie? Wer meint es gut mit mir? Wer will mich nach seinen Vorstellungen formen? Darf ich neue Hobbies haben oder sollte ich versuchen, die alte Routine wiederaufzunehmen? Wie lange soll ich hoffen und warten, dass meine Erinnerungen zurückkommen? Wer bin ich wirklich? Vor all diese Fragen (und noch viele mehr) wurde ich gestellt. Und darum habe ich auch begonnen zu schreiben. Jeden Tag ein bisschen. Gedanken, Fragen, Beobachtungen. Einfach nur, damit ich das nächste Mal etwas in der Hand habe, das mich mir selbst vorstellt. Etwas, woran ich anknüpfen kann. Nicht, dass ich begründeten Verdacht dazu hätte, dass es noch einmal passiert. Aber ich habe es erlebt und was einmal passiert, das kann auch wieder geschehen, oder? Für einen 6 solchen Fall hinterlasse ich Brotkrumen. Und ich hoffe, dass mir dann gefallen wird, was ich finde. Matin war natürlich vorzeitig am Bahnhof angekommen. Er wusste noch immer nicht, wie er Melindas Verhalten deuten sollte. Ganz sicher war sie keine Person, die solche Scherze machte. Melinda und Humor, er schnaubte, das an sich war unvorstellbar. Aber dass sie keinerlei Erinnerungen mehr haben sollte, das hörte sich, ja wie? Das hörte sich an, wie aus einem schlechten Film. Von so etwas hatte er noch nie gehört. Zuerst hatte er vermutet, dass sie nicht kommen wollte und irgendetwas erfand. Als er mit Gil und Romy darüber sprach, hatten sie sich aber Sorgen gemacht und ihn überredet, dass er mit ihr sofort in ein Krankenhaus fahren sollte. Nun stand er also hier und wartete auf seine Frau. Nachdem der Zug angekommen war, strömten hunderte Menschen in die Schalterhalle und auf den Ausgang zu. Er hielt die Augen offen, konnte sie aber nicht entdecken. Erst später, als er schon meinte, sie verpasst zu haben, kam sie langsam und schwer bepackt in die Halle. Der Anblick stimmte ihn nachdenklich. Melanie die Taschen schleppte und einen Koffer zog? Alles hätte er darauf gewettet, dass dieser Koffer hundert Kilo wog und dann kamen noch die drei Taschen dazu. Nein, Mel hätte das nie geschleppt. Sie sah müde aus und ihr Blick wanderte suchend umher. Plötzlich ging sie zielgerichtet los, blieb dann abrupt stehen. Hatte sie auf diesen Mann zugehen wollen, der jetzt von einer Frau umarmt wurde? Sie stellte sich auf die Seite und legte alles Gewicht ab. Noch immer blieb er auf der Galerie stehen, lehnte lässig am Geländer und beobachtete sie unauffällig. Nach einigen Minuten wurde ihm klar, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Unter normalen Umständen wäre sie keine fünf Minuten stehen geblieben, ohne sich sofort eine Zigarette anzustecken. Das war die Erkenntnis, die ihn sich aufrichten und nach unten gehen ließ. Melinda fragte sich, ob ihr Mann nicht schon hier sein müsste. Er war doch schon im Auto gesessen und das, als er von der Verspätung noch nichts gewusst hatte. Ihr Platz schien ihr gut gewählt, weil sie von hier aus praktisch die ganze Halle überblicken konnte und auch von der Galerie oben leicht erkannt werden konnte. Es gab keinen anderen Weg, Martin musste sie finden. Umgekehrt war es nicht möglich. Sie beobachtete, wie eine Frau mit feuerroten Haaren, einem kleinen Hund auf dem Arm und einem Trolley im Schlepptau zu den Rolltreppen hetzte. Kurz bevor sie die Treppen erreichte, fiel ihr der Koffer aus der Hand und als sie sich bückte, rutschte die Handtasche über ihre Schulter. Mit einem Mal waren tausend Dinge auf dem Boden verstreut, doch alle Menschen gingen in engem Bogen an ihr vorbei. Fast hätte Melinda ihren Posten verlassen, um der Frau zu helfen, als gerade ein Mann die Stiege herunterkam und sich der gestressten Frau mit dem Hund im Arm zuwandte. An einer anderen Ecke begannen Kinder Fangen zu spielen, was viele Reisende mit missbilligenden Blicken beobachteten. Die meisten schienen es einfach nur eilig zu haben und wollten möglichst schnell von A nach B kommen. Sie zweifelte daran, dass der Bettler, der an eine Säule gelehnt am Boden saß, hier viele Spenden sammeln konnte. Gerade wollte sie den Blick wieder nach links wandern lassen, als ihr auffiel, dass ungefähr zehn Meter von ihr entfernt ein Mann stand, der sie geradewegs ansah. Zwischen ihnen gingen ständig Menschen hin und her, doch er bewegte sich nicht. Mit den Händen in den Hosentaschen und einem undefinierbaren Gesichtsausdruck stand er einfach da. Es war jener Mann, der der rothaarigen Frau vor einigen Minuten mit ihrer heruntergefallenen Tasche geholfen hatte. Er war groß und schlank, hatte schwarze Haare und eine markante Nase. Sein hellblaues Hemd hatte er in die Jeans gesteckt und er trug Turnschuhe. So wie er dastand und sie musterte, musste das Martin sein. Gerade überlegte sie, ob sie ihm zum Gruß winken oder einfach zu ihm gehen sollte, als er aus seiner Starre erwachte und auf sie zu kam. „Du erkennst mich wirklich nicht, oder?“, wollte er wissen. Dabei legte er den Kopf leicht schief, als wolle er abschätzen, ob sie tatsächlich die Wahrheit sprach. Die Hände hatte er immer noch in seinen Hosentaschen. Martin war aufgefallen, dass Melinda die rothaarige Frau beobachtet hatte. Dass er sich zu ihr gebeugt und ihr geholfen hatte, war nicht zuletzt ein Test gewesen. Er wollte sehen, ob 7 Melinda auf ihn reagieren würde. Doch als er aufgeblickt hatte, war ihre Aufmerksamkeit schon an einer anderen Stelle gewesen. „Es tut mir leid“, sie zuckte mit den Schultern und machte ein unschuldiges Gesicht. Nach einem kurzen Moment nahm Martin schließlich den Koffer und sagte: „Na dann gehen wir besser ins Krankenhaus.“ Melinda wunderte sich, dass es keine Begrüßung und keine Fragen zu ihrem Befinden gegeben hatte, trottete ihm aber folgsam nach. Dieser Mann war schließlich der einzige Anhaltspunkt, den sie hatte. Martin war hin und her gerissen von seinen Emotionen. Zum einen hatte er deutlich gesehen, dass mit Melinda etwas nicht in Ordnung war. Sie bewegte sich anders, ihr typisches Verhalten fehlte und das ließ ihn tatsächlich Sorge um sie tragen. Fast war er ein bisschen überrascht darüber. Schlaganfall und Gehirntumor waren die beiden Erklärungen, die er sich vorstellen konnte. Beides würde er weder ihr noch sich wünschen. Doch dann stand auch diese Frau vor ihm, die er geheiratete hatte und die der Grund war, warum sie jetzt alle in Ungarn waren. Er wollte ihr bestimmt nichts Schlechtes, doch er hatte sich gewünscht, dass sie die Dinge endlich bereinigen und er sein Leben weiterführen konnte. Außerdem hatte er es versprochen. Nach einem intensiven Zusammensein hier wäre er endlich frei gewesen. Er wusste, dass Mel zornig gewesen wäre und es viele Verhandlungen gegeben hätte, doch er war bereit gewesen, das auf sich zu nehmen. Und nun trottete eine Frau hinter ihm her, der er nicht die Meinung sagen konnte, die er nicht anschreien konnte, die vermutlich krank war und die ihn nicht einmal kannte. Das musste er erst noch verarbeiten. Zwei Stunden später schon trug sie ein typisches Krankenhausshirt, das hinten nur von Bändern zusammengehalten wurde und lag in einem Krankenhausbett. Es war geplant, noch an diesem Abend mit den Tests zu beginnen. Sie hörte, wie Martin auf dem Flur mit einem Arzt sprach. Überhaupt hatte bisher alles er erledigt. Er hatte die Papiere ausgefüllt, hatte die Versicherung angerufen, hatte nach dem Chefarzt gefragt und dieses Einzelzimmer organisiert. Was er nicht getan hatte, was er geradezu zu vermeiden schien, das war, mit ihr Zeit zu verbringen. Sie musste ihn schwer beleidigt oder verletzt haben, schloss Melinda aus diesem Verhalten. Was immer es gewesen war, sie konnte jetzt nichts für ihn tun. Es galt herauszufinden, was bei ihr nicht stimmte. So lange musste er warten. Martin kam zu ihr ins Zimmer. „Ich schätze, du bist hier gut aufgehoben. Sie werden gleich nachher mit einigen Untersuchungen anfangen. Brauchst du noch irgendetwas?“ Sie strich das Laken glatt, wollte nicht, dass er sah wie nervös sie in Wirklichkeit war. „Nein danke. Ich habe wohl alles, was ich brauche.“ „Ich komme dann morgen wieder her.“ Er drehte sich halb zur Tür, blieb aber noch stehen und sah sie an. „Du machst das schon“, sagte er, als er kurz ihre Hand streichelte, dann ging er in raschen Schritten aus dem Zimmer. Leise Panik stieg in ihr hoch. Was, wenn er nicht zurückkommen würde? Er war der einzige, der ihr etwas über sich erzählen hätte können und doch hatte sie bislang nichts erfahren. Sie fühlte sich verloren und orientierungslos. Am liebsten wäre sie im nachgerannt und hätte ihn gebeten bei ihr zu bleiben. Tief sog er die kühle Frühlingluft in seine Lungen. Er murmelte „Oh, Mann“ und fuhr sich durch die Haare. Diese Frau hatte ihn ja fast ihre ganze Ehe lang verrückt gemacht, doch das war wirklich ein Hammer. Gedächtnisverlust oder Krankheit. Was es auch sein würde, seine Pläne für die nähere Zukunft konnte er jetzt vergessen. Oder konnte er sie einfach sich selbst überlassen? Wenn sie ihn nicht kannte, dann wäre es ja noch einfacher zu verschwinden. Nein, stoppte er sich selbst, so einer war er nicht. Es ging schließlich auch um die Kinder. Zwei Wochen lang hatte er Urlaub, doch niemals hatte er vorgehabt, die ganze Zeit in Ungarn zu verbringen. Vielmehr hatte er damit gerechnet, dass er morgen, spätestens übermorgen wieder abreisen würde. Im Moment sah es nicht so aus. 8 Martin zog das Handy aus der Hosentasche. Zwei unangenehme Anrufe hatte er zu erledigen. Mit welchem sollte er beginnen? Schließlich entschied er sich für Melindas Vater. Dieses Gespräch würde vermutlich kürzer ausfallen und er musste sowieso informiert werden. Dann konnte er es auch gleich jetzt machen. Die Assistentin leitete den Anruf erst weiter, als Martin erklärte, dass es um Melinda ging. „So ist es, wenn man mit wichtigen Männern zu tun hat und nur der ungeliebte Schwiegersohn ist: Man braucht einen wirklich guten und triftigen Grund“, dachte er, während leise Musik ihm die Wartezeit verkürzte. „Was gibt es?“ „Hallo Ferdinand, hier ist Martin.“ „Es geht um Lynn?“ Ja, um die ging es und so erzählte Martin, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte. Lange musste Ferdinand nicht überzeugt werden. Alleine die Tatsache, dass sein Schwiegersohn ihn anrief, konnte nur bedeuten, dass es etwas Ernstes war. Sofort ließ der Firmenchef alle seine Tätigkeiten stehen und liegen und kümmerte sich darum, dass er mit dem Verwaltungsvorstand der Klinik in Budapest in Kontakt treten konnte. Wenn es um seine Tochter ging, dann würde nur das Beste gut genug sein. Es reichte, dass sie in Ungarn lag. Das sollte schnellstmöglich geändert werden. „So“, atmete Martin aus, „dieses war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich.“ Er lehnte sich an einen Baum im Park und wartete, bis sie abnahm. „Ja“, Martin blickte sich um und verzog das Gesicht, „ich bin im Krankenhaus.“ Auf die nächste Frage antwortete er: „Bei mir ist alles okay. Ich habe Mel gerade hierher gebracht.“ „Ich?“, rief Martin über die Reaktion erstaunt aus, hielt das Handy vor sich hin und sah es fragend an, „gar nichts. Wie kommst du denn auf so etwas?“ Er hörte sich an, was sie dazu sagen wollte. „Jetzt mal halblang. Soweit sind wir gar nicht gekommen. Melinda ist aus dem Zug ausgestiegen und sie hat absolut keine Erinnerungen mehr. Weiß nicht wie sie heißt oder was sie hier soll.“ Er wurde unterbrochen. Wie erwartet würde er jetzt nicht mehr viel sagen können. Mit dem Kopf an den Stamm gelehnt hörte er sich an, was er in der letzten Zeit in ähnlicher Weise oft gehört hatte. Was immer er einwandte oder antwortete, aussprechen ließ sie ihn jetzt nicht mehr. Als das Gespräch schließlich geendet hatte, griff er sich an die Nasenwurzel und mit einem Mal schien es fast schon verlockend, das Gedächtnis zu verlieren. Seufzend stieß er sich vom Baum ab. Es war dunkel geworden und alle würden bereits auf seine Rückkehr warten. Gerade noch hörte sie auf dem Gang den Arzt mit einer Schwester darüber sprechen, dass sie die Patientin zur Computertomographie bringen sollte, dann trat er in Melindas Zimmer und fragte, wie es ihr gehe. Sie antwortete kurz, dass sie sich wohl fühlte. Als er dann aber weitersprach und ihr erklärte, welche Untersuchung jetzt auf sie zukam, da hörte sie schon nicht mehr zu. In ihrem Kopf arbeitete es. Konnte es sein, dass sie in Ungarn aufgewachsen war? Dem Namen nach nicht, doch sie konnte es nicht ausschließen. Jedenfalls war sie sich sicher, dass der Arzt mit der Krankenschwester Ungarisch gesprochen hatte, mit ihr Englisch und beides hatte sie ohne Probleme verstanden. Während Melinda im Rollstuhl in das fünfte Geschoss gebracht wurde, achtete sie weiterhin auf die Stimmen in ihrer Umgebung. Es bestand kein Zweifel: Sie verstand ungarisch perfekt und als sie auf die harte Liege gelegt wurde, versuchte sie es und meinte zum Pfleger, dass es hier ganz schön kühl sei. Auf Ungarisch! Er lächelte und meinte, dass er ihr gleich eine Decke bringen würde. Morgen wollte sie Martin unbedingt fragen, ob sie das immer schon gekonnt hatte. Es war schwierig für sie, während der Untersuchung ruhig liegen zu bleiben, denn die Überlegungen führten sie noch weiter und gerne hätte sie den Kopf schief gelegt oder ihre Hände zum Gesicht geführt. Welche Sprache hatte sie mit Martin gesprochen? Sie war sich 9 ziemlich sicher, dass es ebenfalls Englisch gewesen war. Das wäre auch eine Erklärung dafür, warum der Arzt sie in dieser Sprache angeredet hatte. Als sie zurück ins Zimmer kam, musste sie auf die Toilette. Beim Waschen der Hände stand sie das erste Mal an diesem Tag vor einem großen und klaren Spiegel. Sie strich sich über ihr Gesicht und ihre Haare. Dunkle Augen hatte sie und ebenso dunkle Haare. Ihr Gesicht war nicht ganz so rund, wie sie es im Zugfenster vermutet hatte. Als sie die Lippen schürzte, sah sie zwei Reihen weißer, perfekt angeordneter Zähne. Sicher gebleicht, überlegte sie sich und vermutlich hatte sie einmal eine Zahnspange getragen. Sie löste die Bänder des dünnen Shirts hinter ihrem Nacken und weiter unten im Rücken. Schließlich zog sie ihren Slip aus und betrachtete ihren nackten Körper. Dünn war sie und sie konnte ihre Rippen sehen. Fast ein bisschen zu deutlich, fand sie. Wenn sie raten müsste, würde sie vermuten, dass sie trainierte und Wert auf einen flachen Bauch legte. Er sah ziemlich muskulös aus. Auf ihr Gesicht trat ein nachdenklicher Ausdruck. Zuerst war sie ganz vorsichtig, dann etwas mutiger und drückte und presste dagegen. Sie war keine Expertin, oder vielleicht doch, ergänzte sie in Gedanken, aber diese Brüste passten doch nicht wirklich zum Rest. Tastend fragte sie sich, ob sich so Silikon anfühlte. Etwas groß schienen sie ihr und von eher unnatürlichem Aussehen. Zu fest und zu kompakt, war ihr abschließendes Urteil. Doch damit würde sie leben können. Priorität hatte das nicht wirklich. Melinda hörte, dass jemand ins Zimmer gekommen war, rief „einen Moment!“ und beeilte sich, den Kittel wieder anzuziehen. Ein junger Pfleger stand da und wartete mit Papier und Stift in der Hand auf sie. „Guten Abend, Frau Berkinger. Ich wollte nur fragen, was Sie morgen in der Früh gerne zum Frühstück hätten. Kaffee? Tee?“ Er lächelte sie an. Woher sollte sie wissen, was sie zum Frühstück wollte? „Ähm, ich bin die mit Amnesie“, stammelte sie als Antwort. Er ließ sich nicht beeindrucken. „Also beides. Gut. Dann muss ich wohl auch nicht wegen Unverträglichkeiten fragen, oder?“ Melinda zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. Der Mann lachte und verabschiedete sich. Bei all den Fragen, die sich mir stellten, war eines bald klar: Einen kompletten Neubeginn, den konnte ich nicht machen. Es war undenkbar, dass ich alle Menschen zurückließ. Was das aber für Folgen hatte, das konnte ich anfangs nicht ahnen. Denn wenn du die einen in dein Leben lässt, dann zieht das automatisch auch andere mit hinein. Wir alle sind Teil eines Netzes und was immer mich mit dir verbinden mag, das verbindet mich darüber hinaus mit allem, an dem du hängst. Vielleicht nicht ganz so direkt, doch immerhin stark genug, dass es auch noch Auswirkungen auf mich hat. Manches mehr, manches weniger. Am Morgen stellte Melinda fest, dass keine neuen Erinnerungen dazu gekommen waren und sie nach wie vor so ratlos wie gestern war. Immerhin, konstatierte sie, war auch nichts verschwunden. Alles, was sie seit gestern Nachmittag erlebt hatte, konnte sie im Detail abrufen. Das war es auch, was die Ärzte gleich als erstes wissen wollten. Wenig später fanden noch vor dem Frühstück Untersuchungen statt und Melinda ließ alles mit sich geschehen. Sie hatte keine Ahnung, was jeweils untersucht wurde. Worüber sie sich allerdings Gedanken machte war, ob ihr Mann heute wiederkommen würde oder nicht. Er war nicht sehr freundlich gewesen und etwas passte ihm absolut nicht. Vielleicht ließ er sie tagelang hier liegen ohne sich zu melden. Was würde sie dann tun? Sie saß vor den Resten des Frühstücks, als es an der Tür klopfte und Martin hereintrat. Erleichtert lächelte sie ihn an. „Hallo! Schön, dass du kommst.“ „Ja, klar“, er fühlte sich sichtlich unwohl. „Und? Irgendetwas Neues?“ „Nein, nichts. Ich bin immer noch blank.“ Er zog einen Sessel zum Bett und setzte sich. Sein Blick war auf das Frühstücksgeschirr gerichtet. 10 Mit einer Hand berührte sie das Tablett. „Kannst du mir sagen ob ich Kaffee oder Tee zum Frühstück trinke? Ich habe beides probiert, doch es schmeckt nicht wirklich.“ Martin blickte sie mit leerem Gesicht an. „Du trinkst meist Cappuccino und Orangensaft.“ Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, also schwieg sie. Das hier war schwieriger, als er gedacht hatte. Die ganze Situation überforderte ihn. Er hatte sich auf Streitgespräche, auf Beschimpfungen, auf eine ehrliche Aussprache eingestellt und nun behauptete diese Frau, die seine Melinda war, sie wisse nichts mehr von ihm und von allem, was gewesen war. Er fühlte sich darum betrogen, endlich reinen Tisch machen zu können. „Vermutlich ist der Kaffee hier einfach nicht gut“, versuchte er die Stille zu brechen. „Ja, das kann sein. Weißt du“, fiel ihr die Entdeckung vom gestrigen Abend wieder ein, „ob ich immer schon Ungarisch verstanden habe?“ Sein Blick scannte ihr Gesicht und sie hatte das Gefühl, als sollte sie die Antwort kennen. „Klar sprichst du Ungarisch.“ Er wirkte müde. „Du bist gut in so etwas.“ „Was immer das heißen soll“, dachte sie, doch sie getraute sich nicht es auszusprechen. Martin war komisch. Er sprach nur das Nötigste und sah so aus, als ob er lieber woanders wäre. Unruhig strich sie das Laken glatt. Endlich fiel ihm ein, wie er die sich seltsam anfühlende Zweisamkeit beenden konnte. Mit dem Daumen zeigte er hinter sich zur Tür. „Es ist Besuch für dich da. Wenn du willst. Deine Mutter…“ Er ließ den Satz unbeendet. „Ja“, Melinda setzte sich aufrecht hin, „ich würde sie gerne sehen.“ Stumm nickte Martin, erhob sich einen kurzen Moment später und mit einer raschen Geste winkte er eine Frau herein. Neugierig erschien ihr Lockenkopf in der Tür. Sie lächelte schüchtern und kam auf sie zu. „Na, wie geht es meiner Kleinen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm sie Melinda in den Arm und strich ihr über den Kopf. Das war das Angenehmste, das sie bisher erlebt hatte. „Mir geht es gut. Denke ich.“ „Und du erkennst mich gar nicht?“, fragte ihre Mutter unverhohlener Neugier. Sie setzte sich nun in den Sessel beim Bett. Martin stand mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtete die beiden Frauen. „Nein“, Melinda lächelte entschuldigend, „tut mir leid.“ „Ach, du kannst ja nichts dafür“, tätschelte ihr die Mutter die Hand. Im nächsten Moment öffnete sich wieder die Tür und ein kleiner Junge betrat das Zimmer. „Mama!“, rief er und lief auf Melinda zu. Diese sah fragend zu Martin, der einen erschrockenen Gesichtsausdruck hatte. Beim Anblick der zu ihr ausgestreckten Hände konnte Melanie aber nicht anders, als den Buben zu sich auf das Bett zu heben. „Hey du“, strich sie ihm über die Haare. „Wie geht es dir?“ Martin kam in zwei Schritten zum Bett und wollte das Kind herunterheben. „Komm, Aaron, Mama braucht noch Ruhe.“ Kurz schreckte Melinda auf, doch sie konnte nichts sagen, denn wieder öffnete sich die Tür und ein Mann kam mit einem Mädchen auf dem Arm ins Zimmer. Auch Martin war abgelenkt und ließ seinen Sohn auf dem Bett sitzen. „Tut mir leid“, erklärte der Mann, „er ist mir einfach davongerannt.“ Melinda sah von einem zum anderen. Das war alles mehr als komisch. „Mama, bist du krank?“, sprach Aaron als erster. Sie ließ sich gerne von ihm ablenken und lächelte ihn an. „Nur ein bisschen. Aber die Ärzte machen mich wieder gesund, okay?“ „Weißt du was, Aaron?“, nahm Melindas Mutter das Kind in ihre Arme und stand auf. „Wir sehen jetzt nach, ob wir für dich etwas zu trinken finden. Hört sich das gut an?“ Der Junge ließ sich schnell ablenken und so verließen die älteren Erwachsenen mit den Kindern das Zimmer. „Also gut“, Melinda strich sich die Haare hinter die Ohren und sah Martin an, „ich brauche ein paar Antworten.“ Stumm nickte er, blieb aber ungerührt stehen. 11 Dieses Verhalten irritierte sie und so begann sie mit einer Feststellung anstelle einer Frage. „Du kannst mich nicht besonders leiden.“ Erstaunt sah er sie an, so als ob er ertappt worden wäre. Um Zeit zu gewinnen, ging er um das Bett herum und setzte sich wieder in den Stuhl. „Das ist kompliziert.“ „Aber du wärst gerne woanders?“, bohrte sie nach. „Wir sind in einem Krankenhaus“, lachte er nervös und hob die Hände, „wer wäre da nicht gerne woanders?“ Er war ausgewichen und ihr war das deutlich bewusst. Sie studierte sein Gesicht, doch er bemühte sich gefasst zu wirken und gab nichts weiter preis. Melinda beschloss, dieses Thema auf ein anderes Mal zu vertagen. „Also gut“, gab sie nach, „dann etwas anderes.“ Martin lehnte sich im Sessel zurück und schien sich zumindest ein bisschen zu entspannen. „Wir haben also Kinder?“ „Ja“, er blickte lange zur Tür. Wieder ihr zugewandt ergänzte er: „Aaron ist drei und Tonia gerade ein Jahr alt geworden.“ „Und wo leben wir?“ „In Zürich.“ „Und wir sprechen verschiedene Sprachen.“ Das war es, was ihr vorhin schlagartig klar geworden war. Mit ihrer Mutter und dem Sohn hatte sie deutsch gesprochen, mit Martin englisch. Er nickte. Sie fragte sich, warum es ihm so schwer fiel Antworten zu geben. Jedes Mal musste sie zwei, drei Atemzüge lang warten. Martin sah ihr ungerührt in die Augen. „Ich komme aus London, du aus Innsbruck. Wir sprechen mit den Kindern jeweils in unserer Muttersprache.“ „Okay“, ließ sie diese Information sinken. „Und warum kann ich Ungarisch?“ „Weil deine Mutter hier lebt.“ Sie ließ die Augen nach oben wandern und dachte nach. „Und das bedeutet, dass ich Ungarisch kann, oder was?“ Seine Antwort hatte für sie keinen Sinn gemacht. Nun senkte er seinen Kopf, fuhr sich durch die Haare und kniff die Augen zusammen. „Mel“, er blickte er sie wieder an, „du bist ziemlich gut in Sprachen. Du sprichst alles Mögliche und wenn du eine zeitlang in einem Land bist, dann saugst du das auf wie ein Schwamm. Darum…“ Er brach ab und blickte zum Nachtkasten, auf dem nur eine Flasche Wasser stand. „Darum was?“, wollte sie ihn zum Weitersprechen bringen. Sie hätte ihn schütteln wollen. Warum tat er sich so schwer ihr einige Fragen zu beantworten? Das war ja wohl kein Staatsgeheimnis, oder? Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bevor Martin weitersprach. „Darum hast du auch den Job, den du hast.“ „Und welcher ist das?“ In Gedanken fügte sie noch einen ungeduldigen Fluch hinzu. Er leckte sich die Lippen und faltete die Hände in seinem Schoß. „Du arbeitest in der Firma deines Vaters, übersetzt Verträge und bist vor allem für die Betreuung der Auslandskunden zuständig.“ „Und was für eine Firma ist das?“ „Immobilienhandel.“ Eine Schwester kam ins Zimmer und kündigte an, dass die nächsten Untersuchungen anstehen würden. Melinda wurde gerade aus dem Zimmer geschoben, als sie sich noch einmal umdrehte. „Martin?“ „Ja?“ „Mit dir ist es ganz schön schwer, etwas über sich selbst herauszufinden, weißt du das?“ 12