Schnee (auf 12 Seiten) Bachmann

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Schnee
Die Haarsträhne, die ihm ins Gesicht gefallen war beim Niesen,
strich er sich mit der Hand zurück hinters Ohr. Karl stemmte
seinen Rücken fest gegen die Lehne des Autositzes und wischte
sich unter der Nase durch. Ein gelber Himmel drückte tief gegen
die Landschaft, Schneegriesel hatte eingesetzt, obwohl es erst
Mitte Oktober war. Karl bekam Lust zu gähnen, er riß den Mund
auf und atmete genüßlich durch. Er zog die Lippen zurück und
zeigte sich die Zähne im Spiegel. Das hatte man ihm empfohlen,
Bleeching, und sein Umsatz würde sich verdoppeln; einem
schönen Lächeln nimmt man die größte Lüge nicht krumm, hatte
der Referent gesagt bei einer der Schulungen, der süß die Worte
perlen ließ zwischen seinen elfenbeinfarbenen Zähnen. Das
wollte er auch, er, Karl Müller, wollte sagen können: Mit Qualität
zum Erfolg, Allgemeinplätze, in perlenden Schimmer gerollte
Unwahrheiten, gebleechte Lügen
In langgestreckten Serpentinenkurven wand sich die Straße
hinauf ins Gebirge, Schneeflocken begannen immer heftiger
gegen die Frontscheibe zu wirbeln, die Scheibenwischer schafften
es kaum noch die Sicht frei zu halten. Zudem hatte die
Dunkelheit eingesetzt, die Straße war nur spärlich beleuchtet, und
die Laternen standen in weitem Abstand voneinander. Wenn Karl
an einem Licht vorbeifuhr, sah er nacktes, schwarzes Geäst mit
Fetzen von Schnee. Dann hörte die Beleuchtung ganz auf. Karl
schaltete die Scheinwerfer auf Fernlicht, doch der Schein wurde
beinahe vollständig verschluckt vom Schnee.
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Daß das Hotel weit außerhalb des Ortes lag, hatte ihm die Dame
vom Fremdenverkehrsbüro am Telefon erklärt. Aber wenn er den
weiten Fahrtweg nicht scheue, zudem sei die Pension familiär,
läge ruhig, von Wald umgeben, weshalb sie bevorzugt von
Touristen gebucht würde, die lange, ungestörte Spaziergänge in
einer unberührten Natur zu schätzen wüßten.
Immer weiter bergan führte der Weg, Karl hätte nicht sagen
können, wie lange er bereits so fuhr. Es war ihm, als hätte er
jegliches Gefühl für Raum und Zeit schon seit Stunden verloren.
Das Motorengeräusch des Fahrzeugs klang dumpf, nur manchmal
heulte der Motor auf, wenn nach einer Kurve die Steigung allzu
steil begann, dann zog das Getriebe wieder an, und in langsamer
Fahrt arbeitete sich das Auto den Berg hinauf
Dann plötzlich gabelte sich der Weg, Karl hielt am
Straßenrand, knipste das Licht an im Wageninneren und schaute
auf die Straßenkarte. Aber auf der Karte war keine Straße
eingezeichnet, nur die Abfahrt von der Autobahn in den Ort
hinein. Karl stieg aus dem Fahrzeug und geriet augenblicklich in
einen fauchenden Wind. Er lehnte sich gegen eine steile
Schieferwand, die ihm etwas Schutz gab, da sie an dieser Stelle
einen kleinen Überhang bildete. Armdicke Eiszapfen wuchsen
aus dem Gestein. Karl versuchte zu erkennen, welcher Weg wohl
hinauf zum Hotel führen würde, aber durch das noch immer
dichte Schneegestöber hatte er kaum Sicht. Er setzte sich zurück
ins Auto, ließ den Motor an und wollte auf gut Glück losfahren.
Da sah er, wie sich zwei Gestalten aus der Dunkelheit lösten,
kapuzenverhüllt, langsam bewegten sie sich durch das tobende
Weiß. Karl kurbelte das Fenster hinunter, streckte die Hand aus
dem Fahrzeug, und rief sie an: Bitte! Welches ist der Weg zum
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Hotel…?!, und hatte schon den ganzen Mund voller Schnee. Die
Gestalten aber hoben kaum den Blick, drückten sich nur eng
aneinander, und eine von ihnen streckte den Arm gegen eine
Richtung aus. Dann waren sie schon außer Sicht geraten in der
vom Schnee durchwirbelten Dunkelheit, so schnell, daß Karl
ihnen kaum einen Dank hinterherrufen konnte.
Der Weg, den ihm die beiden Wanderer gezeigt hatten, führte in
einem weiten, sachten Schwung höher hinauf ins Gebirge. Der
Schneefall hatte jetzt etwas nachgelassen, so daß Karl die
Scheibenwischer ausstellen konnte. Bald sah er schemenhaft ein
bernsteinfarbenes Licht durch das schwarze Geäst der Bäume
schimmern, und als er näher herankam, zeichneten sich vage die
Umrisse eines Gebäudes ab. Das mußte das Hotel sein, und Karl
erkannte jetzt das Schild: Zimmer frei! Nur ein einziger Wagen
stand auf dem Parkplatz, und am Kennzeichen sah er, daß das
Fahrzeug nicht zum Hotel gehörte. Karl parkte direkt daneben,
nahm den Mantel vom Beifahrersitz, das Aktenköfferchen, holte
die Reisetasche aus dem Kofferraum und ging hinüber zum
Eingang.
Er mußte klingeln, die Tür war verschlossen. Es dauerte eine
Weile, bevor ihm jemand öffnete. Ein großes, dünnes Mädchen in
einem grauen Wollpullover begrüßte Karl, der Busen des
Mädchens zeichnete sich deutlich ab unter dem Stoff. Sein
dichtes Haar trug es zu zwei strammen Zöpfen geflochten, die
ihm rechts und links etwas abstanden vom Kopf.
Als Karl in den Flur trat empfing in eine wohlige Wärme und
Helligkeit. Hatten Sie eine gute Reise?, fragte ihn das Mädchen,
und Karl wollte erst erzählen, wie er an der Abzweigung den
Weg nicht gewußt hatte, nickte dann aber nur. Das Mädchen
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begleitete ihn zur Rezeption, bat ihn einen Moment zu warten
und entfernte sich. Aus dem Hintergrund kam kurz darauf ein
großer, schwerer Mann schlurfend in Pantoffeln herbei. Am Zug
um das Kinn erkannte Karl, daß es wohl der Vater des Mädchens
war, und er erinnerte sich, daß die Frau im Fremdenverkehrsbüro
von ´familiärer Atmosphäre` gesprochen hatte, als sie ihm den
Namen des Hotels nannte. Der Hotelier trat hinter das Pult, nahm
den Stift aus dem Halter und blickte Karl an: Bitteschön!, sagte er
dann, und Karl nannte seinen Namen. Der Hotelier schlug ein
dickes Buch auf, suchte mit dem Zeigefinger darin, blieb an einer
Stelle hängen, und schob Karl das Buch hinüber, damit der darin
unterschreibe. Anschießend nahm der Mann einen Schlüssel vom
Haken und reichte ihn Karl über die Theke. Zweiter Stock, sagte
er, rechts gleich hinter der Glastür am Anfang des Ganges. Er
stützte die Ellenbogen auf das Pult, legte den Kopf in die Hände
und wartete, bis Karl sich entfernt hatte.
Über eine schmale Holztreppe gelangte Karl in den zweiten
Stock. Es roch streng nach nasser Wolle. Er bog auf einen Flur
ab. Seine Zimmernummer war die erste im Gang, wie der
Hotelier es beschrieben hatte, ein kleiner gemütlicher Raum im
ländlichen Stil. Ein Strauß frischer Blumen stand auf dem
Tischchen vor dem Fenster. Karl stellte seine Reisetasche neben
das Bett, das Aktenköfferchen, hängte den Mantel in den
Schrank, zog die Schuhe aus und warf sich genüßlich auf die
Matratze, die kurz nachfederte. Die Arme verschränkte er hinter
dem Kopf und schloß einen Moment die Augen. Da klopfte es an
der Tür. Karl schreckte hoch, als hätte man ihn bei etwas
Verbotenem ertappt. Ja, bitte!, rief er, und das Mädchen, das ihm
vorhin die Tür geöffnet hatte, trat ein. Wann möchten Sie morgen
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gerne frühstücken, Herr Müller?, fragte es, und schob schamhaft
die Schultern vor, um seinen für den schmalen Körper zu großen
Busen zu verstecken. Da bekam er plötzlich Lust, es an den
Zöpfen zu ziehen, ganz fest, wie er es als Kind immer getan hatte,
bis die Mädchen zu weinen anfingen. Konnte sich`s grad noch
verkneifen, legte seine Hände stattdessen auf die Knie, und sagte
nur: Gegen halb acht wäre es mir angenehm.
Als Karl zum Abendbrot in die Wirtsstube kam, war er der
einzige Gast. Hinter dem Schanktisch stand das junge Mädchen
und polierte Gläser mit einem Tuch. Karl setzte sich an einen
Ecktisch, legte die Fäuste darauf und streckte die Beine von sich.
Das junge Mädchen kam heran und gab ihm eine Speisekarte in
die Hand. Ein Bier, bitte, mein Fräulein!, sagte Karl, und das
Mädchen ging zurück zur Theke. Eine kleine, dralle Frau in
Kittelschürze betrat jetzt den Raum, sie stellte sich zu dem
Mädchen hinter den Schanktisch und sprach ein paar Worte mit
ihm. Die Frau machte eine Kopfbewegung in Karls Richtung,
worauf das Mädchen das gefüllte Bierglas auf ein Tablett
plazierte und zu ihm herüberkam. Es stellte das Bierglas vor ihn
hin, blieb eine Weile wie unschlüssig im Raum stehen, drückte
nur das leere Tablett gegen seine Brust, wie ein Schild. Sein
Blick war gesenkt. Karl dachte erst, es warte auf seine
Bestellung, und er beeilte sich mit dem Lesen der Karte. Aber da
zog das Mädchen einen der Stühle zurück und setzte sich zu ihm
an den Tisch. Meine Mutter läßt fragen, ob Ihnen das Zimmer
angenehm ist?, sprach es jetzt mit leiser Stimme. Karl merkte,
daß die Frau zu ihnen hinblickte. Sehr! Es ist mir sehr
angenehm!, antwortete er dem Mädchen, und schickte ein Nicken
zur Mutter hin. Sagen Sie, hob Karl wieder an, ist es nicht sehr
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einsam im Winter hier oben so ohne Gäste?, und er versuchte den
Blick des Mädchens aufzufangen. Einsam sei es manchmal
schon, sagte das Mädchen, sagte, daß ja jetzt er hier sei, und
blickte ihm nun gerade ins Gesicht. Ja, jetzt bin ja ich da,
entgegnete Karl, und erkannte ihre Augen, die gar nicht schön
waren, gelblich irgendwie, als litte sie an einer Leberkrankheit.
Auch der Vater hatte inzwischen die Gaststube betreten,
er sprach ein paar Worte mit seiner Frau, dann trat er zu Karl an
den Tisch. Haben Sie schon gewählt, Herr Müller? Karl hatte
während des Gesprächs mit dem Mädchen ganz vergessen sich
etwas auszusuchen. Jetzt blätterte er hastig in der Speisekarte,
und nannte das erstbeste Gericht. Vor Verlegenheit hatte er zu
schwitzen angefangen, nahm das Bierglas und trank in großen
Schlucken. Der Mann stellte sich hinter den Schanktisch, nahm
das Tuch, das seine Tochter hatte liegenlassen, und polierte an
ihrer Statt die Gläser, dabei behielt er den Tisch, an dem Karl saß,
im Blick. Karl nestelte nervös an der Papierkrempe, die um den
Stiel seines Glases lag.
Die einheimische Tierwelt ist hier sehr vielfältig…, begann
plötzlich das Mädchen, richtet sich gerade auf und schob seinen
großen Busen vor. Im Winter allerdings verkriechen sich viele
der Tiere vor der Kälte in Erdhöhlen oder Laubhaufen…, der
Siebenschläfer zum Beispiel oder die Haselmaus…, für
Greifvögel ist es dann besonders schwer Futter zu finden, da sind
die Bussarde und die Milane…, und dann zählte es alles auf, was
ihm einfiel. Wie ein dressierter Pudel, dachte Karl, und starrte auf
den Busen des Mädchens, er roch den leichten Zwiebelduft, der
seinen Achselhöhlen entströmte.
Soll ich mein Haar lösen?, fragte jetzt das Mädchen, und
schon griff es einen seiner Zöpfe, zog das Gummiband ab und
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entwirrte die Flechte, indem es mit den Fingern hineinfuhr. Das
Gleiche tat es auf der anderen Seite des Kopfes, und dann
schüttelte es sich, daß sein Haar sich nun gleichmäßig verteilte,
das nur farblos war und stumpf
Die Frau brachte einen Teller Salat, den sie vor Karl
hinstellte, den er nicht eigentlich mochte, aber vor Beschämung
mit der Gabel hineinstach und sich die Blätter zwischen die
Lippen schob, daß ihm die Soße aus den Mundwinkeln lief. Das
Mädchen saß nun schweigend da, spielte nur mit einem Ring, den
es an der Linken trug. Kauend nickte Karl gegen den Ring, fragte,
ob es denn schon einen Verlobten habe. Ja, sagte das Mädchen
hastig, einen Verlobten habe ich bereits. Er ist der Förster hier
oben im Wald. Deshalb weiß ich das alles, auch über die Tiere,
ganz genau erklärt hat mein Verlobter mir das, und dann nimmt
er mich manchmal mit auf seinen Hochstand, und wir beobachten
die Rehe und die Hirsche, und im Winter füllen wir ihre
Futterkrippen mit Kastanien und Mais oder mit Stroh…
Die Frau kam mit seinem Gericht, sie warf der
Tochter einen Blick zu, daß die wieder schwieg. Lassen Sie es
sich schmecken!, sprach sie, blieb noch eine Weile stehen am
Tisch und strich sich mit den Händen über ihre Schürze. Sie
müssen sehr hungrig sein, sagte das Mädchen als die Mutter
gegangen war und blickte Karl an, der hastig aß wie immer. Karl
spürte, wie ein Sodbrennen einsetzte, doch aß er immer hastiger,
wollte schnell die Gaststube verlassen, das stille Mädchen neben
ihm, die Eltern, die unentwegt zu ihm hinüberschauten. Vor
Anspannung schmerzte ihm schon der ganze Nacken. Kaum hatte
Karl den letzten Bissen hinuntergeschlungen, stand er auch schon
auf, und das Mädchen mit ihm. Karl sah, daß die Mutter eine
unwirsche Handbewegung machte, als wolle sie ihrer Tochter den
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Befehl geben, ihn aufzuhalten. Doch Karl öffnete nur den Mund
und gähnte, sprach: wie müde er doch bereits sei, das gute
schwere Essen, und morgen erneut eine lange Reise, dann lief er
in den Flur hinaus, als fürchtete er, man könnte ihm etwa
nachlaufen, um ihn zurückzuholen, auf ein Tänzchen vielleicht
oder ein Kartenspiel.
Als er auf seinem Zimmer war, merkte Karl, daß er tatsächlich
sehr müde war. Er wusch sich kurz durchs Gesicht und dann
wollte er noch einmal die Unterlagen für den nächsten Tag
durchsehen, doch ihm fielen bereits bald förmlich die Augen zu.
So löschte er das Licht und kroch tief hinein ins Bett. Keine zwei
Minuten lag er, da vernahm Karl plötzlich Schritte auf dem Gang.
Vielleicht einer der anderen Gäste…?, überlegte er. Doch die
Schritte blieben vor seiner Tür stehen. Karl hielt die Luft an. Er
war wieder hellwach. Stille. Stille. Dann entfernten sich die
Schritte, langsam, leise, wie auf Zehenspitzen, liefen in den Flur
hinein, die Treppenstufen hinunter, das Holz knarrte, bis Karl sie
nicht mehr hören konnte.
Am nächsten Morgen erwachte Karl in schweißnassen Laken.
Kaum hatte er schlafen können. Er hatte sich herumgewälzt auf
der Matratze, denn die ganze Nacht war da ein Klopfen in der
Wand hinter der Heizung gewesen, als schlüge Metall auf Metall,
ein ständiges Pochen, ein Rhythmus, wie der Rhythmus eines
Herzschlages, der Herzschlag des Hotels, und die Rohre waren
ein Geflecht aus Adern, Gefäße, die das Mauerwerk durchzogen,
und Blut floß darin, dick wie Honig. Zudem das beständige
Knacken von Holz, das Rieseln des abbröckelnden Schnees auf
dem Hausdach, das Rauschen einer Toilettenspülung. Manchmal
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war Karl kurz eingeschlafen, und dann sah er das Mädchen mit
seinen Zöpfen, wie es sich zu ihm hinüberbeugte mit seinem
großen Busen, ganz nah an sein Gesicht heran. Dann war er
aufgeschreckt, und glaubte wieder Schritte auf dem Gang zu
hören. Aber nichts, nur das beständige Klopfen in der Wand.
Einmal war er aufgestanden nach so einem Traum, und er hatte
das Dachfenster weit aufgestoßen, daß die eisige Luft
hineinschnitt ins Zimmer wie eine Sense, und der Schnee vor
seinem Fenster sah aus wie Alabaster.
Karl frühstückte nicht, er stürzte nur eine Tasse Kaffee hinunter
halb im Gehen, den ihm die Frau des Hoteliers reichte. Das
Mädchen war nirgendwo zu sehen. Ein Scheinchen Trinkgeld
hatte er auf dem Nachttisch liegenlassen für es, er war sicher, das
Mädchen würde das Zimmer gleich richten müssen, und es hatte
ihm auch die Blumen hingestellt gestern Abend. An der
Rezeption bezahlte er seine Rechnung und verließ das Hotel.
Die Wolkendecke war aufgerissen, der Schnee gleißte unter
einem tiefblauen Himmel. Eine Schicht Weiß bedeckte auch
Karls Wagen, neben dem noch immer das andere Fahrzeug
parkte, und mit dem Mantelärmel wischte er flüchtig die Fenster
frei. Karl öffnete die Fahrertür, warf die Reisetasche auf den
Rücksitz, und setzte sich in das Auto. Er legte das
Aktenköfferchen auf seine Knie und nahm die Listen heraus, über
die er gestern Abend eingeschlafen war. Dann ordnete er die
Medikamentenproben, die er verteilen wollte in den Arztpraxen,
später im Dorf. Es war eine Arbeit die er liebte. In den Praxen
war alles so schön blank, war weiß, hygienisch. Auch die Frauen
am Empfang. Mit einem blitzsauberen Lächeln begrüßten sie ihn,
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nachdem er sich vorgestellt hatte: Karl Müller, wir haben
telefoniert! Da sagte seine Stimme Sätze, und die Sätze waren
Luft, die bewegt wurde von seinem Mund, Atem, der Luft war
und Feuchtigkeit. So daß die Frauen ein leichter Schauer
durchfuhr wenn er sprach, er sah das, er fühlte das, wenn sie
hinter ihm herblickten, während er die Praxis durchschritt. In
ihrer weißen Kleidung waren sie für ihn wie Krüge mit frischer
Milch, jungfräulich, hygienisch, rein, zu rein für seine Hände, die
immer schmutzig waren; und ihre Kleidung war wie das Blatt
einer Lilie, das sie umschmiegte, in ganzer Unschuld.
Manchmal, wenn er im Büro an seinem Schreibtisch
saß, und seine Finger ganz fettig geworden waren vom
Durchblättern der Papiere, wenn sie aufquollen durch das
ständige Hämmern auf der Tastatur des Computers, konnte er
nicht anders, als in die Waschräume zu laufen, und seine Finger
zu säubern, gründlich, bis in die kleinste Pore, daß ihm schon
längst ein Flüstern folgte, ein Getuschel, den Gang entlang, und
Gesten machte man hinter seinem Rücken, die gegen den Kopf
deuteten, die er heiß spürte im Genick, da war es gar nicht nötig,
daß er sich danach umblickte. An solchen Tagen dann saß der
Dreck so fest an der Haut, daß Wasser und Seife allein nicht
ausreichten, um seine Hände zu säubern. Dann nahm er die
Nagelbürste, und schrubbte lange und heftig, so heftig, daß die
Haut ganz rissig wurde und wund, und sich hernach in keinster
Ritze mehr ein Stäubchen hätte verbergen können.
Einen flüchtigen Blick warf Karl noch auf die Medikamente,
dann legte er alles zurück, das Köfferchen auf den Beifahrersitz.
Als er jetzt jedoch versuchte den Wagen zu starten, sprang der
Motor nicht an, mehrmals nicht. Das ist die Kälte, wußte Karl,
eine Kälte, die sich tausendfach in den das Sonnenlicht
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reflektierenden Schneekristallen widerspiegelte, so hell, daß er
geblendet die Augen zusammenkniff, und schon ein Schmerz in
den Höhlen einsetzte. Karl klappte den Sichtschutz herunter,
seufzend, stieg schließlich aus dem Fahrzeug und ging zurück
zum Hotel.
Der Hotelier hatte, wie es seine Gewohnheit war, die
Ellenbogen auf den Rezeptionstisch gestützt, den Kopf in die
Hände, daß er mit seinem ganzen Körper den Empfang ausfüllte.
Er blickte Karl an, als hätte er ihn erwartet. Mein Wagen…,
begann der, springt nicht an. Vielleicht könnten Sie mir ein
Taxi…?! Selbstverständlich, fiel ihm der Hotelier ins Wort. Er
löste sich vom Tisch und ging in den Hintergrund. Dort nahm er
das Telefon und wählte eine Nummer. Karl sah ihn sprechen, und
dann sah er, daß die Frau sich im Durchgang zur Küche befand
und ihren Mann beobachtete. Der Hotelier legte das Telefon
zurück, er zwinkerte seiner Frau zu, und kam wieder nach vorne.
Es wird nicht lange dauern, sagte er zu Karl, und beugte sich
erneut weit über den Rezeptionstisch, stemmte seine dicken Arme
gegen das Holz. Die Frau war inzwischen in den hinteren
Räumen verschwunden. Karl nickte dem Mann dankend zu und
ging wieder hinaus, um während der Wartezeit noch einmal nach
seinem Wagen zu sehen.
Noch greller flirrte das Sonnenlicht auf dem frisch gefallenen
Schnee. Die Sonne stand jetzt hoch. Karl ärgerte sich, daß er
seine Sonnenbrille Zuhause auf der Kommode hatte liegenlassen.
Die vereiste Motorhaube ließ sich nicht öffnen, und Karl setzte
sich in sein Fahrzeug zurück, schloß die Augen vor der
blendenden Helligkeit. Als er wieder auf die Uhr sah, war etwa
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eine halbe Stunde vergangen. Karl erkannte jetzt, daß die
seitlichen Fahrbahnmarkierungen vollständig unter der
Schneedecke begraben lagen, daß man sie nicht einmal mehr
erahnen konnte. Aber Taxis fahren hier sicherlich öfter zum
Hotel, dachte er bei sich, auch den Schnee werden sie wohl
gewohnt sein in dieser Höhe, und mit einem passend
ausgestatteten Fahrzeug… Doch als nach einer guten Stunde das
Taxi noch immer nicht vorgefahren war, zudem Karl zu frieren
begann auf dem kalten Sitz, beschloß er zurück ins Hotel zu
gehen, um dort noch einmal nachzufragen.
Daß die Rolläden an den Fenstern heruntergelassen worden
waren, wunderte ihn nicht angesichts des blendenden
Sonnenlichts, aber die Vordertür war abgesperrt, und mehrmals
betätigte Karl den Klingelknopf, worauf niemand ihm öffnete. Er
pochte gegen das Holz mit den Fingerknöcheln, er rief, dann
pochte er mit der Faust gegen die Tür. Doch niemand reagierte.
Karl lief um das Gebäude herum, wo sich auf der Rückseite die
Terrassentür befand. Jedoch waren auch hier die Rolläden
heruntergelassen worden, obwohl alles im Schatten lag, und die
Terrassentür war ebenso verschlossen wie die an der Vorderseite.
Vielleicht halten die Wirtsleute gerade ihre Ruhepause?,
überlegte Karl, vielleicht haben sie sich ein wenig hingelegt? Und
er beschloß, sich zurück in sein Auto zu setzen und abzuwarten.
Das Fahrzeug verließ er aber bald schon wieder und stapfte ein
wenig umher im knöcheltiefen Schnee, um sich aufzuwärmen. Es
ging schon auf halb zwölf zu und noch immer nicht war das Taxi
vorgefahren. Auch schien die Ruhepause kein Ende zu nehmen,
niemand öffnete die Tür, die Rolläden blieben geschlossen. Nur
die Sonne hatte den Zenit ihrer Bahn überschritten und sank jetzt
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langsam gegen die Kuppe des Berges. Noch einmal lief Karl
zurück zum Hotel, rief und stieß, jetzt mit dem Fuß gegen die Tür
und mit der Faust gegen die Rolläden der Fenster. Dann begriff
er, daß ihm nichts anderes blieb, als zu Fuß den Weg in den Ort
zu laufen, bevor die Dämmerung einsetzen würde.
Kaum aber kam er voran im Schnee, der ihm bald schon bis zu
den Knien reichte, auch waren seine Schuhe längst feucht
geworden, die Socken, die Füße eisig. Im Ort wollte er sich eine
Werkstatt suchen, und dann den Wagen nach dorthin abschleppen
lassen. Warum hatte er nicht gleich danach gefragt, der Wirt hätte
sicherlich eine Telefonnummer gehabt?! Karl versuchte mit dem
Handy die Auskunft zu erreichen, bekam aber kein Netz. Er lief
durch einen Wald aus schwarzen Baumgerippen, und bald kam er
zu einer Lichtung, auf der der Schnee jedoch noch höher lag.
Zudem pfiff ein Wind, daß sich sein Gesicht ganz taub anfühlte
von der Kälte. Daß ihm der Rotz aus der Nase lief, merkte er
nicht einmal mehr. Karl spürte, wie ihm die Kräfte schwanden,
als er plötzlich auf eine schroffe Felswand stieß, an der noch
immer armdick die Eiszapfen hingen, die nun silbrig
schimmerten im Sonnenlicht. Da fiel Karl auf die Knie vor
Glück. Jetzt wußte er, daß er auf dem richtigen Weg war. Am
Ende der Felswand lag die Stelle, an der er gestern abend die
beiden Wanderer nach dem Weg gefragt hatte, von dort aus
mußte er sich nur rechts halten, so käme er in den Ort. Da lief er
los, stapfte hastig durch das knackende Weiß. Einem Moment
lang hatte er dann das Gefühl beobachtet zu werden, und er
blickte sich nach einem Hochstand um, auf dem das Mädchen
jetzt mit ihrem Verlobten, dem Förster saß, und ihn verfolgte mit
dem Blick durch ein Fernglas. Der Schmerz in den Augenhöhlen
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pochte immer heftiger, es war ihm, als würde sich das Pochen der
Heizung nun in seinem Kopf fortsetzen, Metall klang auf Metall.
Je tiefer die Sonne sank, desto kälter wurde es. Blaue Schatten
lagen schon auf der Landschaft. Karl lief immer eng an die
Felswand gedrückt. Er war vielleicht einen Kilometer gelaufen,
als er das Ende der Wand sah. Nun versuchte Karl zu rennen,
rutschte aus, raffte sich wieder hoch. Rechts, dachte er, nur rechts
halten, und bald bist du unten, bald sitzt du in einer warmen
Gaststube vor einem dampfenden Becher Grog. Doch als er sich
eine Weile rechts gehalten hatte merkte er, daß der Weg wieder
anzusteigen begann. Hatte er sich geirrt? War es doch die falsche
Richtung? Hatte er gestern an einer anderen Stelle an der
Felswand gestanden? In der Ferne erkannte Karl jetzt so etwas
wie einen Unterstand, und er ging darauf zu, ohne allerdings zu
wissen, was er dort wollte. Aber etwas zog ihn an, etwas was da
nicht hingehörte, und bald schon wurde ihm klar, was er, nur
vage, erkannt hatte. Denn da war etwas Vermummtes in dem
Unterstand, das dort auf dem Boden hockte. Und als Karl nah
genug herangekommen war, sah er die beiden Wanderer, die er
gestern nach dem Weg gefragt hatte. Blaß, wächsern die
Gesichter, wie schlafend saßen sie eng gegeneinandergelehnt, die
Frau hatte ihren Kopf auf die Schulter des Mannes gelegt.
Eiskristalle verschlossen ihre Lider. Karl kniete sich neben den
Mann, und als würde das noch etwas nutzen, faßte er ihn am
Mantelkragen und rüttelte ihn heftig. Da fiel dem Mann etwas aus
der Tasche, ein metallischer Gegenstand, den Karl aufhob, und
einen Autoschlüssel in der Hand hielt. Ihm fiel der Wagen ein,
der noch vor dem Hotel stand neben seinem eigenen, und dann
fiel ihm ein, wie der Hotelier seiner Frau vorhin zugezwinkert
hatte, nachdem er das Telefongespräch beendet hatte.
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Karl steckte den Autoschlüssel dem Wanderer zurück in
den Mantel und erhob sich. Er klappte seinen Kragen hoch bis zu
den Ohren, schob die Hände tief in die Taschen und preßte die
Arme an den Körper. Dann setzte er seinen Weg durch den Wald
fort. Und das kalte Mondlicht floß bereits über die weite, bleiche
Landschaft, in der Karl jetzt verschwand. Flüchtig wie ein
Schatten.
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