Kapitel 23 - Der Preis des Sieges

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Kapitel 23 - Der Preis des Sieges
„Der Feind hat die Verteidigungslinie bei Gora durchbrochen!“
Nickend nahm Misato die Mitteilung zur Kenntnis.
„Zehn Sekunden bis zum Start der EVAs!“
Sie konzentrierte sich auf den großen Hauptbildschirm, dieser zeigte einmal das Vorrücken
der Engel, die schon das Stadtgebiet erreicht hatten und sich nun auf einer der Ausfallstraßen
dem Zentrum näherten, dann gab es zwei kleinere Bilder, das eine zeigte die beiden EVAs in
den Käfigen, das andere eine taktische Darstellung des Kampfgebietes von oben. Die beiden
Engel waren zwei wandernde rote Punkte auf der Karte. Die Ausstiegsöffnungen der
Liftschächte waren blau markiert.
„Fünf... vier... drei... zwei... eins...“
„Lift-off!“ rief Misato. „Viel Glück, ihr beiden!“
Unter hoher Beschleunigung rasten die beiden EVAs an die Oberfläche. Noch während des
Aufstieges wurden die Halterungen gelöst, so daß die beiden Giganten in die Luft geschossen
wurden.
Einen langen Moment schwebten EVA-01 und -02 in der Luft hoch über den Engeln, die
taktischen Computer nutzten die Zeit, um ihre Daten abzugleichen und zu aktualisieren.
Dann griff die Schwerkraft nach ihnen, zog sie zurück zum Boden.
„Musik starten!“ wies Misato an.
*** NGE ***
In ihren Cockpits schlossen die beiden Piloten die Augen und ließen sich von der Musik
forttragen. Sie mußten nicht sehen, was die Bildschirme vor ihnen zeigten, über die
Synchronverbindung konnten sie durch die Augen der EVAs sehen - und diese besaßen keine
Lider.
Shinji wich nach rechts aus, Rei nach links.
Beide griffen in aufspringende Waffenbunker nach Positronengewehren, eröffneten das Feuer
auf jeweils einen der Engelszwillinge, ließen sich dann zurückfallen, gingen hinter schwer
gepanzerten Gebäuden in Deckungen, bewegten sich dann aufeinander zu, tauschten die
Plätze.
Weitere Magazin wurden leergefeuert, eine Wolke von Staub umgab die Engel, während die
EVAs große Bögen schlugen und sich in ihre Rücken brachten, während die Abwehranlagen
der Stadt den Beschuß übernahmen und von der Position der EVAs ablenkten.
Shinji spürte plötzlich wieder den Blutdurst in sich aufsteigen... nein, nicht in sich... der
Drang zu töten ging von seinem EVA aus... ein leises Flüstern, aus dem Rhythmus
auszubrechen und endlich den Feind mit den eigenen Händen anzugreifen, sich für die
Schmerzen zu rächen, die ihm zugefügt worden waren, sie dem Engel tausendfach
zurückzuzahlen...
Shinji preßte die Lippen zusammen.
Nein, er würde nicht nachgeben...
Das Flüstern wurde lauter, bekam etwas lockendes... doch das schlimmste war, daß es mit
seiner eigenen Stimme sprach...
Töten... Zerreißen... Verstümmeln...
Wenn er nachgab, brach er aus dem Rhythmus aus... und dann würde er Rei im Stich lassen...
und wenn es ihm gelang, die beiden Engel zu zerfetzen? Dann würde sie nicht in Gefahr
geraten... Dann mußte sie nicht kämpfen...
Dieses Flüstern... waren das noch seine Gedanken?
Oder waren es die Gedanken des EVAs?
Wollte er ihn dazu bringen, seine Partnerin zu verraten?
Das konnte er nicht... er konnte doch nicht...
Die völlig Leere in EVA-02 war beunruhigend, es fehlte der leichte Widerstand, den Rei von
EVA-00 gewohnt war, ebenso der Eindruck von Kontakt.
Alles verlief nach Plan, sie befanden sich im Rücken der Engel, sobald die Abwehrsysteme
das Feuer einstellten, würden sie in den Nahkampf gehen.
Rei machte ihr Messer bereit, mußte nicht zur Seite blicken, um zu wissen, daß Shinji-kun es
ihr gleichtat. Sie spürte seine Gegenwart, vernahm seinen Herzschlag wie ein leises Pochen in
ihrem Hinterkopf, nicht das Pochen von Kopfschmerzen, nicht unangenehm... vielmehr das
Wissen, daß er da war, daß sie nicht allein war, ein Gefühl, bei dem sie erst begriffen hatte,
daß sie sich immer danach gesehnt hatte, seitdem sie existierte, als sie es zum ersten Mal
gespürt hatte.
Und dann brach diese Verbindung plötzlich ab.
„Rei, du kommst aus dem Takt!“ schrie Misato.
Doch Rei hörte sie nicht!
In ihrem Kopf herrschte mit einem Mal ein unerträglicher Lärm wie von tausend Stimmen,
schlimmer, als wenn alle Schüler der Klasse gleichzeitig durcheinander riefen. Es war
jedesmal ein und dieselbe Stimme, eine Frauenstimme... und es waren jedesmal ein und
dieselben Worte... die Stimme schrie nach ihrer Tochter, verlangte nach ihrer Tochter... sie
schrie nach Soryu...
„Ich... bin... nicht... Soryu...“ stieß Rei hervor, während ihr Herz schneller und schneller zu
schlagen begann, als die Panik, welche der EVA verspürte, auf sie übergriff.
„Rei! Was ist bei dir los? Deine Werte spielen verrückt! Die Synchronrate fällt!“
Rei antwortete nicht, kämpfte gegen die Stimme in ihrem Kopf an.
„Schweigt doch endlich...“ flüsterte sie, preßte die Kiefer so fest zusammen, daß es
schmerzte.
Wenn sie die Kontrolle verlor... wenn ihre Synchronrate zu stark sank... dann war sie
handlungsunfähig... dann mußte Shinji-kun es allein mit den beiden Engeln aufnehmen... dann
würden sie ihn verletzen... oder schlimmeres...
„Ich kann das nicht zulassen...“
Ihr Herz schien kurz davor zu stehen, in ihrer Brust zu explodieren.
„Rei, wir versuchen, dir zu helfen! - Shinji, schnell... Ritsuko synchronisiert euch beide über
die MAGI...“
So war es also zu sterben...
Das konnte nicht sein...
Sie konnte noch nicht sterben, selbst wenn der Doktor ihr Gedächnis auf eine ihrer
Schwestern übertragen konnte... es würde nicht sie sein, sondern eine andere... die Dritte...
sie würde nie wirklich erfahren, wie es war, nicht mehr allein zu sein...
Schweigen... die Stimmen sollten schweigen... endlich schweigen...
Sie glaubte, ihr Kopf würde platzen.
„Rei! Rei, hör zu!“
Shinji-kun... Das war Shinji-kuns Stimme...
Sie stemmte sich gegen den Lärm, war überrascht, festzustellen, daß ihre beiden EVAs noch
immer einigermaßen synchron agierten.
Gerade endete der Beschuß, begann der Staub sich zu legen.
Wenn sie noch handeln wollten, dann jetzt...
Aber der Lärm in ihrem Kopf... diese Stimme, die ständig nach Asuka schrie... das konnte
doch nicht der EVA sein... sollte es sich mit Einheit-02 ähnlich verhalten, wie mit Einheit-01?
Sollten beide EVAs... beseelt sein...?
Shinji selbst kämpfte gegen die Impulse aus den Tiefen seines EVAs.
Der Blutdurst... der Haß... der Wunsch zu töten...
Rei steckte in Schwierigkeiten!
Er mußte ihr helfen, komme, was da wolle! Er mußte ihr helfen!
Da war noch etwas... er hatte es bereits einmal wahrgenommen, eine weitere Präsenz... nicht
Haß... keine dunkle Kälte, sondern ein warmer Hauch, fast schon eine Berührung, so als
würde ihn jemand in die Arme schließen und gegen die Finsternis beschützen... jemand
vertrautes…
Das Flüstern verstummte...
Er konnte wieder klar denken...
„Rei...“
Wenn er versuchte ihr zu helfen... nur wie? ... dann verließ er den Rhythmus...
Was konnte er nur tun?
„Rei!“
„Shinji...“ drang es leise aus dem Lautsprecher.
Sie hatte ihn gehört...
Die Engel... sie tauchten aus der Staubwolke auf, der geringe Vorteil war vergeudet...
Aber die Musik lief noch... wenn er nicht im Rhythmus bleiben konnte... dann mußte er
improvisieren!
Shinji ließ EVA-01 zu EVA-02 hinüberspringen, umfaßte den roten Mecha um die Hüfte, zog
ihn an sich heran.
Rei spürte die Berührung, als läge der Arm um ihre eigene Hüfte.
„Was tust du?!“
Sie stellte fest, daß ihre eigene Stimme imstande war, das laute Geschrei aus dem EVA zu
übertönen, daß sie ihre eigenen Gedanken wieder zu hören imstande war, daß Shinji-kuns
Gegenwart ihr die Kraft gab, die Panik niederzukämpfen, die nicht die ihre war!
„Nimm den linken!“
Shinji wirbelte Reis EVA herum, gab ihm Schwung, warf ihn auf den linken der beiden
Zwillinge zu, raste selbst auf den anderen zu.
Jetzt waren sie wieder in Synchronität, handelten völlig spiegelverkehrt, deckten ihre Gegner
mit Schlägen ein.
Die Engel schlugen zurück, doch die EVAs waren einen Sekundenbruchteil schneller, duckten
sich unter den Krallenhieben zur Seite, unterliefen sie, schlugen kraftvoll zu, packten ihre
Gegner, schleuderten sie zur Seite, setzten sogleich nach.
Die beiden Engel prallten mit den Rücken gegeneinander.
Ihre AT-Felder überlappten sich, neutralisierten sich kurzfristig.
Die Zwillinge verschmolzen wieder, formten einen größeren, breiteren Engel.
Schon waren die EVAs mit gezogenen PROG-Messern heran, stießen die Klingen in die
beiden Herzen des Engels.
Die folgende Explosion riß sie von den Beinen, Shinji und Rei fanden sich in einem Gebäude
wieder, welches ihre EVAs zur Hälfte durchschlagen hatten, Arme und Beine miteinander
verknotet.
Dann erloschen die Bildschirme und Anzeigen in den Plugs, als die Akkus den letzten Rest
gespeicherter Energie abgegeben hatten. Schlagartig sank die Synchronisation der Piloten mit
den EVAs auf Null, verstummten die Schreie und das Flüstern völlig, verschwand auch die
freundliche Präsenz, welche Shinji wahrgenommen hatte.
Shinji öffnete den Kreuzgurt, beugte sich nach vorn zum Funkgerät hin.
„Oh, Mann...“ murmelte er. „Das wäre fast schiefgegangen... Rei, kannst du mich hören?“
„Ja, Shinji-kun.“
„Wir haben es tatsächlich geschafft.“
„Ja, Shinji-kun.“
Reis Stimme klang seltsam, so warm und freundlich...
„Bist du in Ordnung?“
„Ja.“
„Und du hast gesagt, du könntest nicht tanzen...“
*** NGE ***
Die EVAs wurden geborgen und in den Hangar zurückgebracht.
Ritsuko Akagi begann sofort damit, das ursprüngliche Betriebssystem zu reinstallieren und
die Kommandodateien wieder auf Asuka umzuschreiben, doch dies war kein großer
Arbeitsvorgang, schließlich hatte sie die alten Daten auf den MAGI hinterlegt.
Mehr Arbeit würde die Reparatur der neuen Beschädigungen machen, aber auch das hielt sich
in Grenzen.
Die beiden Piloten erhielten die nächsten beiden Tage frei, mußten sich aber dennoch
bereithalten, sollte ein weiterer Engel auftauchen.
Shinjis Jubel darüber wurde im Lift nach oben von Reis Bemerkung, daß sie nur noch drei
Wochen hatten, um sich auf die Abschlußprüfungen vorzubereiten, erstickt.
Seine Freude wich Nachdenklichkeit.
Sie hatten in der Zeit, die er auf die Schule von Tokio-3 ging, nicht wirklich etwas gelernt, der
alte Lehrer, bei dem sie die meisten Fächer hatten, erzählte ja immer wieder dasselbe wie eine
defekte Schallplatte, doch dies schloß nicht aus, daß ihre Prüfungen den eigentlich
angesetzten Unterrichtsstoff behandeln würden, den sie sich ja auch mit Hilfe der Bücher
hätten anlesen können.
Als er seine diesbezügliche Vermutung Rei unterbreitete, nickte diese.
„Das ist sogar wahrscheinlich, Shinji-kun. Die Abschlußprüfungen werden von insgesamt drei
verschiedenen Lehrern kontrolliert. Wir sollten heute noch mit Lernen beginnen.“
„Uh... und ich hatte gehofft, daß wir wirklich ein freies Wochenende hätten...“
„Shinji-kun, ich bin mit dem meisten Stoff auf dem laufenden und muß lediglich die letzte
Woche aufarbeiten, wir können jedoch alles noch einmal zusammen durchgehen.“
„Hm, ja.“
Rei hatte also im Gegensatz zu ihm keine Lücken... sicher würde sie die Prüfungen bestehen.
Doch wenn er durchfiel, hieß das nicht nur, daß er die Klasse wiederholen mußte, er würde
auch mit anderen Schülern zusammenkommen und seine alten Freunde nicht sehen... und er
würde nicht den halben Tag mit Rei in einem Raum verbringen können, auch wenn zwischen
ihnen doch eine gewisse räumliche Entfernung bestand... nein, das wollte er ganz und gar
nicht.
“Ja, wir können heute anfangen. Bei mir?“
„Ich...“
Rei machte eine Pause, erinnerte sich an die Anweisung des Kommandanten, Captain
Katsuragis Wohnung nicht mehr zu betreten. Außerdem war sie selbst ja jetzt auf Besuch
vorbereitet.
„Nein, wir gehen zu mir.“
„Ja, ahm, gut. Ich muß nur... uhm... ich muß nur kurz bei Misatos Wohnung vorbei und... uh...
etwas erledigen... ich bin gegen... ahm, ist drei Uhr dir recht?“
„Natürlich, Shinji-kun.“
Sie hatte doch den ganzen Tag zu ihrer Verfügung und es gab nichts, daß sie sonst hätte tun
müssen. Natürlich hatte sie Zeit!
„Ahm, ja, schön. Ich will mich nur umziehen und... uhm... etwas kochen... und Misato eine
Portion kaltstellen... und meine Sachen holen... und, uhm, Toji und Kensuke kurz anrufen...“
„Kriegsberichterstattung?“
„Wa...? Öh, ja, so kann man es wohl nennen... Kensuke quetscht mich nach jedem Einsatz
immer so aus...“
Sie maß Shinji von oben bis unten. Er sah nicht sonderlich gequetscht aus - also
wahrscheinlich wieder eine dieser Redewendungen. Vielleicht sollte sie bei Gelegenheit ein
entsprechendes Lexikon studieren...
„Keine vertraulichen Informationen.“
„Wie meinst du das?“
„Du darfst ihm keine vertraulichen Informationen am Telefon mitteilen, auch nicht über EMail oder mit der Post. Die Verbindungen werden von den MAGI überwacht.“
„Uh... gut, daß mir das auch schon jemand sagt...“
„Ja.“
„Ich will ihnen ja auch nur sagen, daß ich in Ordnung bin. Nach dem letzten Engel hatte Toji
mich so besorgt angesehen... ich glaube, seit er bei mir im EntryPlug war, weiß er, wie
gefährlich es ist.“
„Suzuhara-kun scheint...“
Rei dachte nach, wie lautete doch gleich diese Redewendung...
„Er scheint eine harte Schale, aber einen weichen Kern zu haben.“
„Ja... ahm... du hast ihn sicher auch mit Hikari gesehen.“
„Das habe ich.“
Und sie hätte gerne mit der Klassensprecherin getauscht, aber natürlich nur, wenn es sich
anstatt um Suzuhara-kun um Shinji-kun gehandelt hätte, der ihre Hand gehalten hätte...
Sie trennten sich in der Bahnstation in der Nähe der Schule.
Während Rei in ihrem Zug in Richtung ihres Wohnviertels fuhr, saß sie nachdenklich auf der
Bank, holte schließlich ihr Handy heraus und wählte aus dem Gedächnis eine Nummer.
Es klickte in der Leitung, dann meldete sich eine junge Frauenstimme.
„Horaki.“
„Ist... Hikari zu sprechen?“
Es hatte sie ein wenig Überwindung gekostet, den Vornahmen der Klassensprecherin
auszusprechen, doch im Nachhinein wußte sie, daß es so richtig war. Vielleicht hatte Shinji
recht, vielleicht sollten sie ihren Freunden ein Zeichen geben, daß sie den Einsatz überstanden
hatten.
*** NGE ***
Misato marschierte im Eilschritt durch die Korridore des Hauptquartiers, öffnete mehrere
Bürotüren, fand die Person, nach der sie Ausschau hielt, schließlich im Kommandoraum des
Testcenters.
Ryoji Kaji stieß gerade mit Maya Ibuki auf den Sieg an, in ihren Tassen schwappte schwarzer
Kaffee, den Kaji mit einem Schuß aus seinem Flachmann versetzt hatte, welcher jetzt leer auf
dem Tisch stand. Der Alkohol hatte ihn - selbstverständlich in Maßen eingenommen während der ersten Tage der Seereise warmgehalten, und nach dem Angriff des Engels, als
sein Hubschrauber wieder auf dem Deck des Flugzeugträgers gelandet war, hatte er sich auch
einen kräftigen Schluck gegönnt, schon allein, um seine Scheißangst herunterzuspülen, die
ihn beim ersten Anblick des Riesenfisches überkommen hatte.
Als Kaji Misato hereinkommen sah, legte er plötzlich den Arm um die verdutzte Maya.
„Spiel mit“, flüsterte er in ihr Ohr, während er sie an sich heranzog.
„Ryoji Kaji, du kannst es einfach nicht lassen!“ polterte Misato.
Kaji grinste jungenhaft und ließ Maya langsam los, zwinkerte ihr zu, wobei er darauf achtete,
daß Misato dies nicht bemerkte.
„Ach, Katsuragi, wir wollten doch nur ein wenig feiern.“
„Das sehe ich. Und auch noch hier, wo euch jeder im Hangar sehen kann!“
„Du weißt doch, daß ich das Risiko mag.“
„Ja, ja... ich muß mit dir sprechen - sonst wäre ich schon längst wieder weg und hätte euch
beide alleingelassen!“
Wieder zwinkerte Kaji Maya zu.
Es war schon seltsam, was für einen Aufstand Katsuragi machte, wo er ihr doch angeblich
völlig egal war...
„Okay, Katsuragi-chan, was gibt´s? Möchtest du gerne mitfeiern?“
Das war wohl ein wenig zuviel des Guten gewesen, denn Misato lief vor Zorn rot an.
„Nein, verdammt! Es geht um Asuka!“
Schlagartig wurde Kaji ernst.
„Maya, entschuldige uns bitte.“
„Ähm, ich muß ohnehin weg... Sempai braucht mich sicher bei den EVAs...“
Maya Ibuki verließ den Raum, in dem mit einem Mal dicke Luft zu herrschen schien.
Kaji wartete, bis die Tür zugefallen war, dann wandte er sich wieder Misato zu.
„Setz dich.“
Er deutete auf den freien Stuhl neben sich.
„Nein, ich stehe lieber.“
„Was möchtest du wissen?“
„Ich möchte von dir erfahren, was mit Asuka ist. Kaji, was verheimlichst du mir? Was ist los
mit dem Mädchen, warum wolltest du nicht, daß sie und Shinji...“
„Du solltest dich wirklich setzen.“
„So schlimm kann es schon nicht sein.“
„Hängt davon ab.“
„Dann fang endlich an zu erzählen. Ich muß wissen, woran ich bin. Shinji sagte, sie hätte ihn
mit dem Messer bedroht.“
„Oh... das hätte ich nicht... andererseits...“
„Hör auf mit dem Gestotter und rede endlich.“
„Gut, gut, Katsuragi... konnte dir ja noch nie ´was abschlagen... Asuka, ja... schlimme
Geschichte, wirklich schlimme Geschichte...“
„In Ordnung, spielst du jetzt den alten Jahrmarktswahrsager?“
„Nein... Ich fange am besten ganz vorn an... als Asuka vier Jahre alt war, starb ihre Mutter.“
„Steht in der Akte.“
„Aber nicht wie und warum.“
„Selbstmord.“
„Stimmt, aber in der Akte steht nicht die ganze Geschichte. Doktor Kyoko Soryu leitete die
Forschungssektion von NERV-Deutschland, sie war für die Entwicklung der EVASerienmodelle zuständig - oder besser, den Grundlagen der Serienproduktion... sie war auch
als Testperson für die Synchronverbindung tätig. Und eines Tages erlitt sie einen schweren
Nervenzusammenbruch während der Arbeit, ein gutes Vierteljahr lang war sie nicht
ansprechbar, erst danach besserte sich ihr Zustand und die Ärzte ließen sie nach Hause in die
Obhut ihres Mannes. Dieser hatte sich in der Zwischenzeit eine jüngere Geliebte genommen
und machte keine Anstalten, sein Verhältnis zu verbergen. An dem Tag, an dem das für die
Piloten-Auswahl zuständige MARDUK-Institut Asukas Befähigung, einen EVA zu steuern,
feststellte, beging Kyoko Soryu Selbstmord... und Asuka war die erste Person, welche die
Tote fand... sie hatte sich an einem Deckenbalken ihres Zimmer erhängt...“
„Das ist furchtbar...“ murmelte Misato.
„Ja, allerdings. Nach der Beerdigung nahmen Asukas Patentante und ihr Mann die Kleine
ersteinmal bei sich auf, denn Asuka weigerte sich, zu ihrem Vater zurückzukehren, der in
ihren Augen ihre Mutter verraten hatte und für ihren Tod verantwortlich war. Später kam es
zu einem richtigen Krieg um das Sorgerecht, bei dem ihre Pflegeeltern den längeren Atem
hatten... Asukas Onkel ist ein hohes Tier in der Kommandoetage des UNNachrichtendienstes, angeblich hat er Doktor Langley einen kleinen abendlichen Besuch
abgestattet... aber das ist wohl nicht so wichtig... Asuka kam dann auf eine Begabtenschule,
wo sie letztes Jahr ihren Abschluß gemacht hat... sie hat den Stoff eines ganzen Jahres in der
Hälfte der Zeit gelernt... das Mädchen ist hochintelligent...“
„Hm, ja. Und weiter?“
„Das schlimmste kommt erst noch. Ich arbeite seit sechs Jahren für die deutsche NERVZweigstelle... seit Asukas zehntem Geburtstag war ich für ihre persönliche Sicherheit
zuständig. Und kurz nachdem sie zwölf wurde, habe ich versagt...“
„Was ist passiert?“
Misato zog sich nun doch den Stuhl heran.
„Asuka hatte gerade mit der Abschlußklasse begonnen... sie war die jüngste dort, die anderen
waren alle wenigsten drei Jahre älter... aber sie kam sehr gut mit ihnen aus, gehörte wirklich
dazu, so schien es jedenfalls. Ihr bester Freund war ein sechzehnjähriger namens Pietter...
Pietter Fresenhark, sein Vater ist im Stadtrat von Wilhelmshaven... sie und die Clique, zu der
Fresenhark gehörte, haben oft zusammen für Prüfungen gelernt... deshalb hatte ich mir auch
nichts dabei gedacht... ahm... Es war ein Dienstag nachmittag, Pietter hatte Asuka angerufen,
daß sie, also die Gruppe, sich treffen wollten, um noch ein paar Notizen durchzugehen... für
die nächste Woche stand ein wichtiger Test an... ich habe sie selbst hingefahren... die
Fresenharks haben eine große Villa in der Arkologie, fast schon eine eigene kleine Welt mit
einem Park dahinter und allem... ich setzte sie vor dem Haus ab, sie meinte, ich sollte nicht
warten, hätte doch sicher wichtigeres zu tun, ihr Onkel würde sie schon abholen... also fuhr
ich zurück... unterwegs fielen mir ein paar Dinge ein - ich hatte beim Vorbeifahren einen
Blick ins Wohnzimmer geworfen, doch es war leer gewesen. Gut, hatte ich gedacht, vielleicht
kommt der Rest ja später, oder vielleicht war Asuka zu früh... trotzdem hielt ich an und
wartete, ob noch jemand kam. Doch zehn Minuten lang tauchte niemand vor der Tür der
Fresenharks auf. Plötzlich wurde mir... ich weiß nicht, wie ich es beschreiben sollte... so ein
Gefühl von Vorahnung... Instinkt... irgendetwas stimmte nicht... Ich sprang aus dem Wagen
und lief zurück, klingelte an der Tür, doch niemand öffnete. Also trat ich die Tür ein, zog
zugleich meine Waffe. Das Wohnzimmer war leer, ebenso die Küche... aus dem ersten Stock
kam ein leises Keuchen... ich rannte die Treppe hinauf, trat die nächste Tür ein... und da fand
ich die beiden... Pietter lag auf Asuka und... Katsuragi, er hatte sie vergewaltigt... Dieses
verdammte Schwein...“
Misato sah die Tränen, die sich in Kajis Augenwinkeln sammelten, legte ihm die Hand auf die
Schulter.
„Kaji, laß gut sein.“
„Nein, du sollst alles hören... Fresenhark hatte es geplant, er hatte alles vorbereitet... er hatte
mit seinen Freunden gewettet, daß er bis zu den Prüfungen Asukas Unschuld genommen
haben würde... er hatte ihr gleich nach dem Eintreten etwas zu trinken angeboten...
Limonade... darin war eine Droge gewesen, die sie schläfrig und willenlos gemacht hatte...
und dann hatte er sie in sein Zimmer gebracht und entkleidet und...“
Kaji verbarg sein Gesicht in den Händen.
„Wenn ich nur eher reagiert hätte... wenn ich doch nur gleich umgekehrt wäre... so konnte ich
ihn von ihr herunter- und aus ihr herausziehen... ich habe ihm einen Schlag mit dem
Pistolengriff verpaßt, der ihm die Nase gebrochen und mehrere Zähne ausgeschlagen hat...
dann wickelte ich Asuka in die Decke und brachte sie ins Bad... und ich rief mein Büro an...
keine fünf Minuten später standen zwei weitere Leute von NERV im Hausflur und
kümmerten sich um Asuka... und dann erschien Asukas Onkel... ich hatte diesen Mann noch
nie zuvor wütend erlebt... ich hatte Pietter mit dessen Gürtel an einen Stuhl gefesselt... mir
war hundeelend und übel... das Bettlaken war voller Blutflecken und... der Junge hockte auf
dem Stuhl, blutete aus Mund und Nase, hatte seine Hosen immer noch zwischen den Knien
hängen... und Asukas Onkel... Larsen, Wolf Larsen... er schlug Fresenhark ins Gesicht und
zwang ihm ein Geständnis ab, ließ nicht locker, bis der Junge alles erzählt hatte... Pietter
heulte dicke Tränen, es täte ihm alles so leid, er wüßte nicht, was über ihn gekommen sei...
ich habe ihm nicht geglaubt... Larsen brüllte ihn an, Asuka sei noch ein Kind... und dann hat
er ihn kastriert...“
„Kastriert?“ echote Misato.
„Ja.“
Kaji machte eine Handbewegung, als fuchtele er mit einem Säbel herum.
„Einfach alles abgeschnitten... gab eine verdammte Sauerei... und Fresenhark brüllte, als ob...
naja... ich hatte kein Mitleid mit ihm, nicht nachdem, was er getan hatte, nicht nachdem ich in
Asukas Augen gesehen hatte... Larsen sah mich an, wies mich an, mich um den Jungen zu
kümmern... dann ging er hinaus, um sich um Asuka zu kümmern...“
„Was hast du getan?“
„Ich habe ihm zwei Kugeln in den Kopf gejagt. Anschließend haben wir die Leiche in der
Nordsee versenkt. Ein Aufräumteam des ODIN-Geheimdienstes hat das Haus wieder
hergerichtet. Stadtrat Fresenhark weiß bis heute noch nicht, was mit seinem Sohn passiert
ist...“
„Das ist schrecklich... Das arme Mädchen...“
„Danach schwor sie sich, nie wieder wehrlos zu sein. Sie ließ sich von ihrem Onkel
Schießunterricht geben und im Messerkampf ausbilden. Deshalb hatte ich Sorge um Shinji...
daß er etwas falsches sagen könnte, daß er vielleicht etwas tun könnte, das bei Asuka die
Erinnerung wieder aufwecken könnte. Sie reagiert auf eine wahrgenommene Bedrohung mit
der maximalen zur Verfügung stehenden Gewalt, verstehst du?“
„Kaji, das hättest du mir schon vor Tagen sagen müssen... das hätte in der Akte stehen
müssen!“
„Befehl von ganz oben, Kommandant Ikari selbst hat eine Löschung der entsprechenden
Einträge befohlen.“
„Aber warum?“
„Ich weiß es nicht, Katsuragi. Warum hat Ikari seinen eigenen Sohn bei Verwandten
abgegeben, ihn nach zehn Jahren zu sich geholt und ignoriert ihn dennoch weiterhin? Warum
gibt es keine Unterlagen bezüglich des Todes von Yui Ikari, Shinjis Mutter? Warum gibt es
keine Sicherheitsaufzeichnungen von dem Tag, an dem Naoko Akagi starb? Warum lebt Rei
Ayanami, das First Children, in einer heruntergekommenen Wohngegend der Stadt, oder
besser, warum hat Ikari das Mädchen in ein dortiges Quartier gesteckt? Was befindet sich im
TerminalDogma, den Anlagen tief unter uns, zu denen nur Ikari und Ritsuko Zutritt haben?
Warum hat EVA-00 beim ersten Aktivierungslauf verrückt gespielt? Was ist so besonderes an
Rei, daß ihre Verletzungen in Rekordzeit heilen? Und warum... warum waren die MARDUKEinrichtungen, die ich in den letzten Monaten überprüft habe, alles nur leere Gebäude?
Warum ist Ikari die letzten beiden Male, als das Hauptquartier direkt bedroht war, oder es
zumindest sehr unklar war, ob die EVAs es schaffen würden, jedesmal spurlos
verschwunden?“
„Kaji, das... das sind eine Menge Fragen...“
„Ja, Katsuragi. Und ich habe vor, darauf eine Antwort zu finden, auf jede einzelne. Möchtest
du mich begleiten, wenn ich einen Weg finden sollte, ins TerminalDogma vorzudringen?“
„Ich... ja, das würde ich gern. Ich möchte wissen, was hier wirklich geschieht...“
*** NGE ***
Shinji hatte die Wohnung aufgeräumt, den Pinguin gefüttert, Essen gekocht, eine große
Portion für Misato in den Kühlschrank gestellt, selbst etwas gegessen, noch einmal geduscht,
sich umgezogen und erst mit Toji und dann mit Kensuke gesprochen, während er seine
Schultasche gepackt hatte.
Er sah auf die Uhr, als er den Hörer auflegte.
Erst zwei Uhr...
Rei erwartete ihn erst um drei. Für die Fahrt brauchte er eine Viertelstunde... besser er ging
noch etwas eher los zur Haltestelle... zwanzig Minuten...
Seine beiden Freunde hatten sehr erleichtert geklungen, daß er in Ordnung war. Die ganze
Woche über war die Schule ausgefallen, für die Schüler in Tokio-3 allerdings kein großer
Grund zur Freude, bedeutete es doch, daß sie während eines Engelalarms die Bunker nicht
verlassen durften. Aber wenigstens hatte es keine neuen Hausaufgaben gegeben... Kensuke
bestand natürlich darauf, am nächsten Schultag über alles genauestens aufgeklärt zu werden...
na, die beiden würden staunen, wenn er ihr von der messerschwingenden Asuka erzählte!
Asuka... das Gesicht eines Engels, doch dahinter das Herz eines Teufels...
Es wollte gar nicht später werden...
Ihm fiel sein Vorhaben ein, Rei etwas mitzubringen.
Schnell schrieb er Misato eine Nachricht, damit sie wußte, wo er war. Er hatte allerdings
keine große Lust, ihr über den Weg zu laufen, noch zu deutlich erinnerte er sich an ihren
zweifelnden Blick, als er ihr von Asukas Drohungen erzählt hatte, ihre Vorwürfe hallten ihm
immer noch in den Ohren nach.
*** NGE ***
Rei blickte zur Uhr, als es an ihrer Tür klopfte.
Auch in der letzten Woche war ihre Klingel nicht gerichtet worden, langsam fragte sie sich,
ob der Hausmeister, der angeblich für den ganzen Block zuständig war, überhaupt existierte.
Es war Punkt drei, das konnte nur Shinji-kun sein, er schien einen starken Hang zur
Pünktlichkeit zu haben..
Sie ging nicht zur Tür, sie lief, riß die Tür auf...
Von einem Sekundenbruchteil zum anderen bremste sie ab, wechselte wieder zu ihrer
normalen Geschwindigkeit über.
Draußen stand tatsächlich Shinji-kun... und er hielt ihr einen Strauß leuchtender bunter
Blumen entgegen.
„Hallo, Shinji-kun“, hauchte sie.
Warum klang ihre Stimme so schwach und dünn...?
„Uhm, Rei, die sind für dich... und die hier auch...“
Er überreichte ihr die Blumen, sowie eine Vase, die er ebenfalls im Geschäft erstanden hatte.
Ursprünglich hatte er überlegt, ihr einen Strauß roter Rosen mitzubringen - sein Taschengeld
hätte für ein halbes Dutzend gereicht -, aber das hätte sie falsch verstehen können... also hatte
er für sie einen großen bunten Strauß Wildblumen gekauft, frische leuchtende Blumen, die
ihre Wohnung hoffentlich freundlicher gestalten würden, dazu eine Vase für die Blumen, die
recht preisgünstig gewesen war. Er glaubte nicht, daß Rei selbst eine Vase besaß - und die
Teekanne war nun doch kein geeigneter Platz in seinen Augen.
Zögernd nahm Rei die Blumen entgegen.
Wie bunt und farbenprächtig der Strauß war... und so viele Blumen... wenn sie von den
Preisen der Artikel im nahen Supermarkt ausging, mußte Shinji-kun ein Vermögen für sie
ausgegeben haben, Blumen waren doch sicher teuer... und so viele... und wie sie dufteten...
Erde... Gras... der Wind...
Es war das erste Mal, daß ihr jemand Blumen brachte. Und es war das erste Mal, daß jemand
ihr etwas gab, das keinen eigenen Zweck erfüllte wie Nahrung, Kleidung und Schulhefte...
Shinji stand immer noch auf der Schwelle, fühlte sich so nervös, wie er sich nicht einmal
beim ersten Mal, als er in einen EVA gestiegen war, gefühlt hatte. Hoffentlich gefielen ihr die
Blumen... hoffentlich hatte sie keine Allergie dagegen... hoffentlich mochte sie die Farben...
hoffentlich hatte er sich nicht zuviel herausgenommen...
„Ich... uhm... ich hoffe, sie... uh... gefallen dir.“
Rei blinzelte heftig, um die Tränenflüssigkeit zu vertreiben, die sich in ihren Augen
angesammelt hatte.
„Ja, sehr, Shinji-kun... Sie sind wunderschön...“
Sie schluckte.
„Komm doch herein...“
Shinji betrat das Apartment.
Sie mochte die Blumen... sie fand sie wunderschön... wunderschön... aber die Blumen waren
bei weitem nicht so schön wie sie... und wenn er ein wenig Rückgrat besessen hätte, hätte er
ihr dies auch gesagt...
„Ahm, die müssen ins Wasser.“
„Ja.“
Rei verschwand in der Küche.
Shinji sah sich in ihrem Schlafraum um, der Raum war immer noch so spartanisch
eingerichtet, wie er ihn in Erinnerung hatte, allerdings war er jetzt sauber und aufgeräumt und
das Fenster war offensichtlich geputzt worden. Er folgte Rei in die Küche, wo sie den
Blumenstrauß gerade in der Vase auf die Ablage neben der Spüle stellte.
„Vielen Dank, Shinji-kun.“
„Freut... uhm... freut mich, daß sie dir gefallen.“
„Du weißt gar nicht, wie sehr.“
„Ich dachte, ahm, etwas Farbe könnte... ähm...“
„Ja.“
Sie lächelte ihn an.
Shinji war, als würde er schmelzen.
Ja, vor ihm stand ein wahrer Engel, es fehlten nur fedrige Flügel.
„Ich koche uns Tee.“
„Soll ich nicht besser?“
Nicht, daß sie sich wieder verbrannte...
„Nein, das ist nicht nötig. Ich werde vorsichtig sein.“
„Ahm, ja.“
Er setzte sich auf den Platz unter dem schmalen Fenster, stellte seine Tasche neben sich und
holte rein mechanisch seine Bücher und Unterlagen heraus, ohne den Blick von ihr
abzuwenden.
„Ich, ahm, ich habe mit Toji und Kensuke gesprochen, ahm, nur um sicherzugehen... uh, sie
sagen, daß während des Alarms kein Unterricht stattgefunden hat...“
„Ja.“
Rei hatte ähnliches von der Klassensprecherin gehört. Hikari hatte sichtlich erleichtert
geklungen, als sie erfuhr, daß Shinji-kun und sie selbst unverletzt geblieben waren, hatte dann
sogleich nachgeschoben, daß es auch unter den Mitschülern keine Verletzten gegeben hatte.
Rei bereitete die Tassen vor und stellte die Kanne mit dem Wasser auf die Kochplatte.
„Wir können gleich beginnen. Oder hast du Hunger?“
„Uh, nein, ich habe gerade etwas gegessen...“
Shinji überlegte. Rei wollte ihm doch nicht etwa etwas kochen? Oder wollte sie sich selbst
etwas machen? Er hätte ihr doch auch etwas mitbringen können... wenn er gewußt hätte...
„Falls doch, habe ich hier etwas.“
Sie öffnete die Tür des Hängeschrankes, präsentierte ihrem Besucher ihre Einkäufe.
Shinji staunte nicht schlecht, als er die Kekspackungen, die haltbaren Kuchen und all die
anderen Sachen sah.
„Das... das ist ja eine ganze Menge...“
„Ja. Wir werden auch viel zu tun haben, um uns auf die Prüfungen vorzubereiten... Tee ist
doch das richtige, oder? Ich habe auch Limonade oder Fruchtsaft...“
Plötzlich fühlte sie sich wieder unsicher.
„Nein, nein, ich trinke gerne Tee.“
„Gut, ich habe jetzt verschiedene Sorten.“
Shinji lehnte sich zurück.
Rei hatte also eingekauft... und da sie selbst solche Sachen bisher nicht benötigt hatte, und da
sie ansonsten keinen Besuch erhielt, konnte das ja nur bedeuten, daß sie die Sachen
eingekauft hatte, weil sie damit rechnete, daß er öfters vorbeikam... und das fand Shinji
irgendwie absolut großartig!
*** NGE ***
Nach einem arbeitsamen Nachmittag kehrte Shinji in die Wohnung zurück, die er sich mit
Misato teilte. Sie war bereits da und erwartete ihn mit ernster Miene.
Shinji ahnte übles, jetzt kamen sicher neue Vorwürfe, vielleicht hatte Asuka ihr sogar
irgendwelche neuen Märchen aufgetischt... so brav, wie die Rothaarige sich in Misatos
Gegenwart gab, mußte diese ihr ja glauben!
„Shinji...“ setzte Misato an und konnte ihre ernste Miene nicht mehr aufrechterhalten, zog ein
völlig trauriges Gesicht. „Shinji, ich muß mich bei dir entschuldigen... Kaji hat mir alles
erzählt.“
Kaji-san... er hatte Misato über Asuka aufgeklärt... wunderbar! Dieser Kaji schien wirklich in
Ordnung zu sein! Misato wußte jetzt, daß Asuka nur Theater spielte...
„Ist gut.“ murmelte Shinji und hoffte, daß es damit aus der Welt war, das ganze war ihm so
schon peinlich genug.
„Nein, ist es nicht. Ich hätte dir zuhören sollen... du warst immer ehrlich zu mir und hättest es
verdient gehabt.“
„Misato, bitte, vergessen wir es einfach, ja?“
„Ahm, gut... aber du darfst auch Asuka nicht böse sein, dieses Mädchen hat viel hinter sich...
sie hat wirklich schlimmes durchgemacht...“
„Und deshalb bedroht sie mich?“
„Ich... ach, Shinji, vergib ihr das. Ich werde mit ihr sprechen, sicher kommt ihr miteinander
aus.“
„Ja, vielleicht...“
... wenn die Hölle einfror...
Asuka hatte also viel hinter sich... und er? Er hatte seine Mutter vor zehn Jahren verloren und
seinen Vater eigentlich auch... er war gezwungen worden, mit einem ihm völlig unbekannten
Mecha in den Kampf gegen einen Außerirdischen zu ziehen... und er hatte immer noch einen
dicken blauen Fleck über den Rippen in der Form eines Schuhes! Asuka hatte wirklich Glück,
daß er nicht der nachtragende, rachsüchtige Typ war...
*** NGE ***
Am nächsten Nachmittag erzählte er Rei von Misatos Äußerung, sie würden nach einem
klärenden Gespräch sicher mit Asuka auskommen.
Reis Antwort fiel knapp und emotionslos aus:
„Wenn man es mir befiehlt.“
Dann warf sie einen Blick auf den Blumenstrauß, den Shinji-kun ihr an diesem Tag
mitgebracht hatte und der auf dem kleinen Tisch in der Küche zwischen ihnen stand.
„Shinji-kun, du darfst nicht soviel für mich ausgeben.“
„Ich möchte es aber... ahm... ich möchte deine Wohnung in ein Blumenmeer verwandeln... ich
möchte, daß du etwas hast, an dem du dich erfreuen kannst... uhm...“
„Dann genügt es, wenn du herkommst.“
„Uhm...“
Sie wandten sich beide errötend wieder den Aufgaben zu, die sie an diesem Tag abzuarbeiten
sich vorgenommen hatten.
*** NGE ***
Am nächsten Tag in der Schule traf Shinji sich mit seinen Freunden in der Mittagspause auf
dem Dach der Schule, ebenfalls anwesend waren Rei und Hikari, woran eigentlich nur
Kensuke Anstoß zu nehmen schien, der auf einem reinen Jungentreffen beharren wollte, bis
Toji ihm spaßeshalber die Faust unter die Nase hielt - schließlich war Rei Shinjis Freundin,
und Hikari versorgte ihn seit jüngstem mit Mittagessen, da durfte man sich schließlich nicht
undankbar zeigen!
Dafür horchte Kensuke Shinji dann bis ins kleinste Detail über den letzten Einsatz aus. Als
Shinji erwähnte, daß er und Rei mehrere Tage und Nächte in einem Zimmer verbracht hatten,
bekamen die drei anderen - Toji, Kensuke und Hikari - rote Ohren und starrten erst ihn und
dann Rei an. Shinji überging es und erzählte von den Tanzübungen und dem
dahinterstehenden Plan. Und er erzählte von Asuka.
„Bedroht hat sie dich?“ schimpfte Toji. „So ein Miststück! Die soll mir mal in die Finger
kommen... ach nee, das ist dumm...“
„Was denn?“ fragte Shinji.
Toji lächelte verlegen.
„Ich schlage keine Mädchen.“
„Das ist auch gut so!“ erklärte Hikari. „Aber wie sie mit dir umgesprungen ist, daß war
wirklich nicht nett, als ob sie gleich das Kommando übernehmen wollte.“
„Das trifft es wohl.“
„Naja, mein Alter, aber wenn sie schon einen Schulabschluß hat, hast du doch wenigstens hier
vor ihr Ruhe, was? Da bekommen die langweiligen Unterrichtsstunden mit den Monologen
zum Second Impact ganz neue Qualität, oder?“
„Uh, ja, glaub schon...“
So ziemlich alles war besser, als einer messerschwingenden Irren ausgeliefert zu sein, egal
wie schwer diese es gehabt hatte...
Sie gingen wieder nach unten in den Klassenraum. Dort erwartete sie eine Überraschung:
Der alte Lehrer war bereits anwesend, obwohl die Unterrichtsstunde noch gar nicht begonnen
hatte. Grund dafür war die Vorstellung einer neuen Mitschülerin. Diese stand an der Tafel und
schrieb dort gerade ihren Namen auf.
Standard-Schuluniform...
Lange gebräunte Beine, die in den weißen Strümpfen noch mehr zur Geltung kamen...
Strahlend blaue Augen...
Feuerrotes schulterlanges Haar...
Asuka Soryu Langley...
„Kneif mich mal einer...“ murmelte Shinji.
„Wow, ist die hübsch!“ flüsterte Kensuke.
Toji knuffte ihn in die Seite.
„Shinji, ist sie das?“
„J-j-j-ja.“
„Ken, hör auf zu sabbern, das ist der Feind!“
„Was?“
Kensuke war damit beschäftigt, seine beschlagenen Brillengläser zu putzen.
„Ich will bis übermorgen umfassendes Bildmaterial. Wenn sie sich nur einen Schnitzer leistet,
wenn sie unseren Freund auch nur böse ansieht... dann sorgen wir dafür, daß sie von der
Schule fliegt!“
Toji schlug sich mit der Faust in die offene Handfläche.
Asuka wandte sich den Neuankömmlingen zu.
„Oh, Shinji, da bist du ja... und du auch, Rei.“
Der erste Teil ihrer Aussage war voller Wärme und Freundlichkeit, die jedoch völlig aus ihrer
Stimme verschwunden waren, als sie beim letzten Wort angelangt war.
„Ich bin so froh, in eure Klasse gekommen zu sein!“
„Uh, was... was machst du hier?“
„Ach...“
Sie zog ein trauriges Gesicht.
„Das japanische Schulministerium weigert sich, meinen deutschen Abschluß anzuerkennen.
Und Kommandant Ikari ist immer noch nicht zurück, um diesbezüglich ein Machtwort zu
sprechen.“
Ihre Stimme klang zuckersüß.
Doch diesesmal fiel Shinji nicht im Ansatz darauf herein, sondern wahrte Distanz, blieb dabei
in Reis direkter Nähe, damit jeder Angriff von Seiten Asukas auf einen von ihnen vom
anderen abgeblockt werden konnte.
„Ist die süß!“ flüsterte Kensuke wieder verträumt und wurde von Toji mit einem
Ellenbogenstoß in die Realität zurückgeholt.
Hikari trat auf Asuka zu.
„Hallo, ich bin Hikari Horaki, die Klassensprecherin, wenn du Fragen hast, wende dich ruhig
an mich.“
„Oh, ja, freut mich sehr, dich kennenzulernen. Ah, wo kann ich mich hinsetzen?“
„Such dir einen Platz auf, es sind genug frei.“
„Ja, danke. - Und ihr seid sicher Shinjis Freunde, oder?“
„Sie hat mich angesehen...“
„Schnauze, Ken!“
„Uhm, Asuka, das sind Toji und Kensuke.“
„Hi.“ grollte Toji und versuchte ihr mit einem finsteren Blick mitzuteilen, daß jeder Angriff
auf Shinji ein Angriff gegen ihn war.
„Hallo! Ich bin Kensuke Aida...“ erklärte Kensuke mit schmachtendem Blick und fing sich
dafür Ellenbögenstöße von zwei Seiten - von Toji und Hikari - ein.
„Schön, schön...“ lächelte Asuka und sah sich um, steuerte dann zielstrebig den Platz hinter
dem Pult an, auf dem Shinjis Tasche stand.
Das Blut wich aus Shinjis Gesicht.
Das konnte doch nicht sein... wie sollte er denn... wie sollte er den Tag überstehen mit ihr in
seinem Nacken... Da half nur eins - schnelle Improvisation.
„Ich komme zu dir“, flüsterte er in Richtung Reis, machte mehrere große Schritte, riß seine
Tasche von seinem alten Pult und schwang sie auf das Pult hinter Reis Fensterplatz.
Der alte Lehrer beobachtete das ganze nur stirnrunzelnd.
Die Jugend von heute... das erinnerte ihn an die Zeit direkt vor dem Impact, als... und schon
begann er mit seinem Monolog, als die Glocke läutete und die Stunde begann.
Asuka blickte wütend auf Shinjis Rücken, welcher Glück hatte, daß ihr Blick keine Löcher
bohren konnte.
Third hatte sich gerade noch aus dem Staub gemacht. Und seine beiden bescheuerten
Freunde waren ebensowenig in ihrer Nähe wie die Klassensprecherin mit den vielen
Sommersprossen... warum hatte Misato nur darauf bestehen müssen, daß sie zur Schule ging,
reichte es nicht, daß sie ihre Vorstellung durchschaut hatte? Mußte sie ihr jetzt auch noch
daraus, daß sie Probleme mit den japanischen Schriftzeichen hatte, einen Strick drehen? Aber
wenigstens war ihr EVA nicht beschädigt worden.
Und wenigstens hatte First nichts von sich zurückgelassen...
*** NGE ***
Da nun drei Piloten zur Verfügung standen, war der Plan für die Tests geändert worden, so
daß jeder Pilot nur noch zeitversetzt an jedem dritten Tag zum Synchrontraining erscheinen
mußte, solange Doktor Akagi keine Kreuztest oder ähnliches ansetzte.
An diesem Nachmittag war Shinji dran, sein Synchronwert blieb jedoch konstant, egal wie
sehr Akagi ihn anspornte, sich zu konzentrieren.
Im Nachhinein war er froh, daß Rei und er sich das Wochenende über mit den Aufgaben
beschäftigt hatten, für den nächsten Tag plante Doktor Akagi die ersten Reaktivierungstests
für EVA-00, so daß ein gemeinsames Lernen erst am übernächsten Tag wieder möglich sein
würde.
Shinjis Kopf schwirrte vor Wissensfetzen - mathematische Formeln, physikalische
Grundsätze, Passagen aus literarischen Texten... vielleicht sollte er vorschlagen, bei der
Benotung in Sport mit EVA-01 auftauchen zu dürfen, dann würde er mit Sicherheit ein paar
Rekorde schlagen...
Als er sich duschen und umziehen wollte, mußte er feststellen, daß im Umkleideraum
Umbaumaßnahmen stattfanden: Die Seitenwand zum benachbarten Lagerraum war
herausgebrochen worden, so daß der Raum größer wurde, ferner war ein langer Wandschirm
quer durch den Raum gespannt worden.
Anscheinend hatte endlich jemand erkannt, daß NERV EVA-Piloten beider Geschlechter
hatte.
„Super“, murmelte Shinji sarkastisch und machte sich auf die Suche nach seinen Sachen und
einem freien Waschraum.
Das Abendessen mit Misato verlief schweigsam, Shinji stocherte in seinem Essen herum und
Misato grinste immer wieder, als wüßte sie etwas, daß sie gerne mitgeteilt hätte, aber nicht
durfte.
Am folgenden Tag begann die Schule ganz normal, nur daß Shinji nun ebenfalls am Fenster
saß und Hikari auch sogleich den Sitzplan entsprechend änderte.
Kensuke schlich mit bereiter Kamera durch die Schule, um von Asuka Bilder zu machen,
sobald diese auftauchte, wie sich herausstellte, hatte diese bereits nach dem ersten Tag einen
Haufen männlicher Verehrer, was wiederum Toji Shinji leise erzählte.
Toji und Kensuke planten, mit den Fotos ein Vermögen zu machen, indem sie sie an die
Mitschüler weiterverkauften.
„Sag mal, Shinji, so schlimm kommt sie mir gar nicht vor“, brummte Toji.
„Sie tut nur so, glaub mir.“
„Ich glaube dir alles - okay, fast alles. Wollte das nur mal erwähnen. Vielleicht hat sie ja eine
Standpauke bekommen.“
Shinji hob nur die Schultern.
Kensuke kam hereingestürmt.
„Leute... auf dem Schulhof!“ keuchte er und lief zu seinem Platz, um den Film zu wechseln.
Wie auf ein geheimes Kommando hin stürmten die Schüler zu den Fenstern.
„Das ist ja die neue!“ - „Und dieser Schläger, Masamoto...“
„Sieh dir das an“, murmelte Toji.
*** NGE ***
Die Dinge liefen schlecht für Masamoto, dem früheren Tyrannen der Tokio-3-High.
Seinem Vater war die Geschichte von der Schlägerei zu Ohren gekommen und daß er Rei
Ayanami - diese bleiche Schlampe - angegriffen hätte. Und da sein Alter offenbar einen
gewaltigen Anschiß von seinem Vorgesetzten bei NERV bekommen hatte, hatte er diesen
sogleich an seinen Sohn weitergegeben, ihm das Taschengeld gänzlich gestrichen und die
Schlüssel für sein Motorrad einkassiert.
Seitdem er von der rotäugigen Hexe fertiggemacht worden war, nahm ihn zudem kaum
jemand noch ernst an der Schule, niemand ließ ihn mehr die Hausaufgaben abschreiben und
die jüngeren Schüler taten sich zusammen und bildeten Blöcke, sobald er in ihre Nähe kam.
Wirklich zum Kotzen...
Und dieser blöde Suzuhara stolzierte mit seiner sommersprossigen Freundin, der
Klassensprecherin der 2-A, händchenhaltend über das Schulgelände... wahrscheinlich war sie
genauso bescheuert wie Suzuhara selbst.
Sobald er auch nur in die Nähe dieser Ayanami kam, tauchte auf seinem Oberkörper wieder
der rote Punkt eines Laserzielgerätes auf, der ihm sagen zu wollen schien, daß er besser
wieder umkehrte. Die rotäugige Tusse sollte ihm nur an einem Ort über den Weg laufen, wo
ihre Leibwächter kein freies Schußfeld hatten... oder besser noch, wo sie sie gar nicht sehen
konnten...
Dann lief ihm diese neue Schülerin über den Weg... feuerrotes Haar, blaue Augen,
sonnengebräunte Haut, Beine vom Boden bis zum Hintern und eine Oberweite, wie viele
ältere Mädchen, die Masamoto kannte, sie nicht besaßen. Daß er nicht zu sabbern anfing, war
möglicherweise einer der wenigen Anhaltspunkte dafür, daß er kein schlechtgekleideter
Gorilla, sondern ein Angehöriger der Spezies Homo Sapiens war. Allerdings zog er die Neue
in Gedanken bereits aus. Ob diese Bräune wohl nahtlos war...?
Und das beste daran war, daß sie seinen angeknacksten Ruf noch nicht kannte und deshalb
problemlos einzuschüchtern sein dürfte!
Masamoto stellte sich ihr also gleich hinter dem Schultor in den Weg, bemühte sich,
gleichsam lässig und furchteinflößend zu wirken, als er auf sie herabblickte.
„Hi, Süße, neu hier?“
Die Rothaarige blieb stehen, musterte ihn von oben bis unten, verzog dann verächtlich das
Gesicht.
„Geh mir aus dem Weg, du Affe.“
Masamoto lief vor Zorn dunkelrot an.
Dieses kleine Miststück! Na, der würde er es zeigen, die würde schon sehen, was sie davon
hatte! Der sah man doch schon von weitem an, daß sie keine reinblütige Japanerin war...
Kraftvoll ließ er seine schmierige Pranke auf ihre Schulter sinken, übte genug Druck aus, daß
die meisten Menschen vor Überraschung in die Knie gegangen wären.
„Nee, Kleine, wenn du hier durch willst, kostet dich das was... Wegezoll! Gib mir dein
Essensgeld... du könntest mir natürlich auch dein Höschen zeigen, hätte ich auch nichts
´gegen.“
Dabei lachte er kehlig.
Nur gab die Rothaarige nicht unter dem Druck seiner Hand nach...
Im nächsten Moment spürte Masamoto einen scharfen Schmerz im Knie, knickte ein, heulte
auf vor Schmerz.
Sie hatte ihn getreten... tat das weh... das Miststück hatte ihn getreten... voll gegen sein Knie...
Der nächste Tritt folgte, landete wuchtig in Masamotos Kronjuwelen, ließ ihn noch lauter
aufheulen. Tränen verschleierten seine Sicht. Blind wischte er mit der linken Hand durch die
Luft, um sie zu packen zu kriegen, während er die andere gegen seinen schmerzenden
Unterleib preßte.
Dann folgte ein dritter Tritt, als die Rothaarige mit einem hohen Kick ihre Schuhsohle mitten
in seinem Gesicht plazierte, dabei seine Nase zerschmetterte und ihm den Kiefer brach.
Masamoto flog halb ohnmächtig zurück.
Asuka strich ihren Rock glatt.
„Zufrieden mit dem, was du gesehen hast?“ flüsterte sie, dann trat sie dem Fleischklops so
kräftig wie sie konnte in die Rippen und bedauerte, ihm nicht ihre Initialen in den Wanst
schlitzen zu können, aber Misato hatte ihr ja den Gebrauch ihres Messers strengstens
untersagt...
Gemessenen Schrittes ging sie auf das Schulgebäude zu, ließ den größeren und breiteren und
auch viel schwereren älteren Jungen, dessen Gesicht ein einziger blutiger Matsch zu sein
schien, achtlos liegen.
Drinnen wurde Asuka sofort von einer großen Zahl Zeugen ihrer Aktion umringt, darunter
ihre Verehrer, welche sie nun mit einem Hauch von Unglauben anblickten, und viele frühere
Opfer Masamotos, vor allem Mädchen, die er belästigt und ihres Essensgeldes erleichtert
hatte. Für diese war Asuka die Heldin der Schule.
Lachend und scherzend bahnte sie sich ihren Weg zum Klassenzimmer.
Endlich bekam sie die Aufmerksamkeit, die sie verdiente. Und wenn sie geahnt hätte, wie
wenig dazu nötig war, hätte sie dem Fleischkloß noch ein paar Schläge mehr verpaßt... ihr
Onkel hatte ihr schließlich nicht nur Tritte, sondern auch Handkantenschläge und
Ellenbogenstöße beigebracht, die an der richtigen Stelle angebracht fatale Wirkung entfalten
konnten...
Wie eine Königin zog Asuka in den Klassenraum ein.
Sie hatte den gefürchteten Masamoto fertiggemacht! Die Schüler umringten sie auch hier wie
eine Traube, umlagerten ihren Platz, wollten wissen, wo sie das gelernt hatte, ob sie den
Schwarzen Gürtel besaß, ob sie vielleicht schon auf Meisterschaften angetreten war und vieles
mehr. Ganz bescheiden ließ Asuka die Bemerkung fallen, daß dies zu den Dingen gehörte, die
ihr während ihrer vieljährigen Ausbildung zur EVA-Pilotin beigebracht worden waren.
Ein Raunen ging durch die Menschentraube, einige Mitschüler blickten zu Ikari und Ayanami
hinüber und fragten sich, ob diese beiden auch so derartigem fähig waren - aber wenn sie es
waren, warum hatte dann erst Asuka Soryu Langley an die Schule kommen müssen, um für
Ordnung zu sorgen?! Daß Toji bereits mit dem Schläger aneinandergeraten war, vergaßen sie
dabei, ebenso wie sie bequemerweise vergaßen, daß Rei Masamotos Ruf bereits mit einer
einfachen Handbewegung praktisch zerstört hatte, bevor Asuka aufgetaucht war.
„Mensch, spielt die sich auf“, murmelte Toji.
Shinji nickte.
„Das genießt sie.“
„Bestätigt.“ kam es von Rei.
Hikari stand immer noch am Fenster und sah zu Masamoto hinunter, der immer noch auf dem
Pflaster des Schulhofes lag, eine Hand gegen den Schritt gepreßt, die andere auf sein Gesicht,
sein rechtes Bein stand in einem Winkel ab, der nur bedeuten konnte, daß es gebrochen war.
„Ob er einen Arzt braucht?“
„Wahrscheinlich.“
Toji trat neben sie, berührte sie sanft an der Schule und drehte sie um.
„Ich glaube, ich habe ein paar Zähne fliegen sehen. - Ah, da kommt schon die
Schulkrankenschwester.“
Er verspürte kein Bedauern für den älteren Jungen, das war ohnehin mal fällig gewesen.
Allerdings konnte er sich jetzt auch ein Bild von Soryus Fähigkeiten machen - Shinji hatte
wirklich nicht übertrieben.
Den ganzen Vormittag über saß Asuka mit strahlendem Lächeln an ihrem Platz, während der
Pausen ließ sie sich von ihren Fans huldigen. In der zweiten Stunde wurde sie zur Direktorin
gerufen, kehrte aber schon bald zurück, ohne daß sich an ihrem Gesichtsausdruck etwas
geändert hätte.
Kensuke teilte Shinji in der nächsten Pause mit, daß er Misato über den Hof hatte gehen
sehen, bevor Asuka zum Direktor zitiert worden war.
Als die letzte Schulstunde vorbei war, schlenderte Asuka an Shinjis Pult vorbei, lächelte ihn
an und flüsterte ihm fast zärtlich zu: „Wir sehen uns, Shinji-kun!“
„Urgh...“ machte Shinji. Sein Herz schien erst wieder schlagen zu wollen, als Asuka den
Klassenraum verlassen hatte.
Auf Reis Stirn bildete sich eine tiefe Falte, als sie die Augenbrauen zusammenzog.
Soryu stand es definitiv nicht zu, ihren Freund Shinji-kun zu nennen! Das durfte nur sie! Gut,
auch Captain Katsuragi durfte ihn so nennen, Hikari vielleicht auch, solange sie nicht zu
freundlich wurde, aber Soryu nicht, wirklich nicht!
Ein leises Grollen entrann ihrer Kehle, welches ein aufmerksamer Zuhörer als den Namen der
neuen EVA-Pilotin hätte interpretieren können.
„R-Rei... ist alles... in Ordnung?“
Rei blickte zu ihm, die Zornesfalte auf ihrer Stirn glättete sich.
„Ja, Shinji-kun.“
„Uh... ahm... gut... dann, äh, dann bringe ich dich noch ein Stück.“
Sie nickte, verließ Seite an Seite mit ihm den Klassenraum.
*** NGE ***
Auf dem Rückweg trödelte Shinji ein wenig, fuhr einige Umwege mit seinem Fahrrad, kaufte
noch ein paar Dinge für das Abendessen ein, das er zuzubereiten gedachte, wenn Misato von
ihrer Schicht kam, griff dabei in eine Lache ausgelaufener Currysoße, weil er mit den
Gedanken ganz woanders war.
Hoffentlich gab bei den Reaktivierungstests keine Komplikationen... andererseits war EVA00 noch weit davon entfernt, wieder voll einsatzfähig zu sein, was die Gefahr eines
Amoklaufes doch stark reduzierte. Aber vielleicht könnte er ja gegen Abend noch einmal im
Hauptquartier vorbeischauen und sich dann von Misato mit zurücknehmen lassen.
Schließlich kam er daheim an, fuhr mit dem Fahrrad im Aufzug nach oben - es paßte mehr
schlecht als recht in die Liftkabine, aber er hatte keine Lust, es die Stufen in den vierten Stock
hochzuschleppen.
Seltsam... Rei wohnte auch im vierten Stock... diese Ähnlichkeit war ihm noch gar nicht
aufgefallen...
Das Rad konnte er im Hausflur stehen lassen, in seinem Zimmer wäre es auch etwas eng
geworden. Er nahm die Einkäufe vom Gepäckträger und trug sie in die Wohnung, stolperte
noch im Korridor fast über einen großen Karton.
„Nanu?“ entfuhr es ihm.
Er stellte die Einkaufstüte auf den Tisch und sah sich um.
Der ganze Korridor war zugestellt mit Kartons und Kisten, alles noch zugeklebt oder
zugenagelt.
Was war denn hier los?
Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, auch in der richtigen Wohnung zu sein,
indem er die Zahl der Kühlschränke in der Küche feststellte.
Langsam ging er zwischen den Kartons hindurch, als er Wasserrauschen hörte.
Wahrscheinlich nahm der Pinguin ein Bad. Wenn PenPen doch nur hätte sprechen können...
dann hätte er ihm erzählen können, was die ganzen Kartons hier sollten. Der Vogel war
schließlich sehr clever.
Seufzend öffnete Shinji die Badezimmertür, er mußte sich ohnehin die Hände waschen blöde Currysoße...
„Hey, PenPen, was sollen denn die ganzen Kartons draußen?“ fragte er, ohne wirklich mit
einer Antwort zu rechnen, die über ein ´Wark´ hinausging.
Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen... merkwürdig, PenPen badete doch
immer eiskalt...
Langsam drehte er den Kopf, sah die Gestalt hinter dem Duschvorhang... eine nackte Gestalt
mit flammendrotem Haar...
„Perverser!“ brüllte Asuka Soryu Langley aus vollem Hals.
Dann sah Shinji eine Faust direkt auf sich zukommen. Und danach sah er erstmal gar nichts
mehr.
*** NGE ***
Fußboden... er lag auf dem Fußboden...
Decke... die Decke des Wohnungsflures...
Schmerz... linkes Auge... wahrscheinlich am Zuschwellen...
Stimmen... Misato... und Asuka...
Ächzend setzte Shinji sich auf, tastete über sein Gesicht, ertastete eine nette Schwellung,
zuckte zusammen.
„Hier, drück das aufs Auge.“
Misato reichte ihm ein Tuch, das sie in kaltem Wasser getränkt hatte.
Neben ihr stand Asuka, barfuß, die Haare naß, in ein blau-weiß gestreiftes Badetuch gehüllt.
„Asuka, mußtest du gleich zuschlagen?“ ihrer Stimme war anzumerken, daß sie sich nur mit
Mühe beherrschte.
„Ich habe mich erschreckt. Er stand plötzlich im Bad.“
„Genau deshalb kann man die Tür abschließen. - Shinji, warum bist du ins Bad gegangen?“
„Warum? Misato, ich wohne hier! Ich wollte mir die Hände waschen!“
Er verzog das Gesicht, als er sich den Lappen auf sein Auge drückte.
Wo war sein EVA, wenn er ihn brauchte?
„Siehst du, Asuka, keine Absicht. Wenn Shinji gewußt hätte, daß du im Bad bist, hätte er die
Tür nicht einmal angesehen.“
„Na gut... Tut mir leid.“ sagte Asuka kleinlaut. „Ich hatte mich nur so erschrocken...“
Shinji nahm es ihr nicht ab. Und Misato war anscheinend auch nicht ganz so davon überzeugt.
„Misato, was macht sie hier überhaupt?“
Statt Misato antwortete Asuka - und gab einem von Shinjis übelsten Alpträumen mit ihren
Worten Realität: „Ich wohne jetzt auch hier!“
Shinji schoß in die Höhe, war auf den Beinen und im Eingangsbereich schneller, als das
menschliche Auge ihm hätte folgen können.
„Misato, das ist nicht wahr... sag, daß das nicht stimmt.“
„Ich wollte eigentlich vorher mit dir reden, Shinji, aber irgendwie warst du schneller hier als
ich... Ich dachte, daß es für Asuka nicht schlecht wäre, mit uns wie in einer Familie zu leben...
sie kann doch nicht allein im Hauptquartier wohnen.“
Das war ein Traum... das mußte ein schlechter Traum sein...
Verzweifelt kniff Shinji sich in den Arm, doch er wachte nicht auf.
„Misato, das geht nicht! Ich wohne nicht mit ihr unter einem Dach!“
„Shinji, ich habe mit Asuka gesprochen, sie...“
„Ja, das hat sie, Shinji, ich wollte mich bei dir entschuldigen... ich wollte dich nicht
bedrohen... es sollte ein Scherz sein, wirklich...“
„Sie hat es mir hoch und heilig geschworen. Du solltest ihr eine Chance geben, Shinji.“
Shinji sah von einer zur anderen, schüttelte nur den Kopf.
„Nicht mit mir... das mach ich nicht noch einmal mit!“
Sprach´s, stieg in seine Schuhe und war bereits im Flur.
„Warte, Shinji!“ rief Misato. „Wo willst du denn hin?“
„Irgendwohin, nur weg!“
Er packte sein Fahrrad und rannte die Treppe hinab.
Misato blieb mit offenstehenden Mund zurück, hinter sich Asuka, welche die Arme vor der
Brust verschränkt hatte und lächelte. Das Lächeln verschwand schlagartig von Asukas
Lippen, als Misato sich umdrehte, machte Verwirrung und Besorgnis Platz.
„Misato, wenn ich gewußt hätte, daß er so reagiert, wäre ich nie hergekommen, das mußt du
mir glauben... ich wollte mich doch mit ihm versöhnen...“
„Ja, ja...“ murmelte Misato gehetzt.
Gut, Shinji würde sich schon wieder beruhigen, sicher brauchte er nur ein wenig Zeit, um sich
an den Gedanken zu gewöhnen... vielleicht half es ihm, wenn er bei einem Freund
übernachtete...
Misato ging schweren Schrittes in die Küche, holte zwei Sechserpacks aus dem Kühlschrank,
ließ sich auf ihren Stuhl fallen und öffnete die erste Dose...
Derweil überlegte Asuka, wann wohl der beste Zeitpunkt war zu fragen, ob sie Shinjis
Zimmer bekommen könnte...
*** NGE ***
Völlig abgehetzt stand Shinji vor einer Wohnungstür in einem engen Hausflur, deren
Klingelschild verkündete, daß es die Wohnung der Suzuharas war. Toji wohnte in einem
Haus, welches von der Bauweise her dem ähnelte, in welchem Rei ihr Apartment hatte.
Shinji drückte so lange auf den Klingelknopf, bis von drinnen ein brummendes „Komme
doch, kein Grund für den Krach“ kam und sich schlurfende Schritte näherten.
Die Tür wurde geöffnet.
„Oh, Shinji, na, das ist ja eine Überraschung!“ rief Toji.
Seine Verärgerung über die Störung war sofort wie fortgeblasen.
„Was ist denn mit dir los... Mensch, wer hat dir denn das verpaßt?“
Er deutete auf Shinjis Auge, welches bereits fast zugeschwollen war.
„Das ist das größte Veilchen, das mir in diesem Jahr bisher untergekommen ist...“
„Ja, ja, Toji... Kann ich ´reinkommen?“
„Klar.“
Toji trat zur Seite.
Shinji betrat die Wohnung.
Der Korridor war noch schmaler als der Hausflur, an der rechten Seite gingen zwei Räume ab,
am anderen Ende war eine Tür. Aus dem hinteren Raum kamen Geräusche wie von einer
Sportveranstaltung.
„Ja, ist nicht groß, aber wir kommen klar.“ murmelte Toji.
„Junge, wer ist es denn?“ krähte eine Stimme aus dem hinteren Raum.
„Nur wer aus meiner Klasse, Opa!“ schrie Toji.
„Ah, so. Er soll sich gut die Füße abtreten. Deine Großmutter haßt Schmutztapsen auf dem
Teppich!“
Toji bedeutete Shinji nichts zu sagen.
„Klar, Opa!“ brüllte er.
Dann wandte er sich flüsternd an Shinji: „Mein Großvater, arbeitet als Wissenschaftler bei
NERV... eigentlich voll das Genie, nur leider fast taub... und er glaubt, meine verstorbene
Oma wäre noch am Leben und könnte jeden Moment heimkommen. Ansonsten ist er aber voll
in Ordnung.“
„Aha...“ murmelte Shinji.
„Stören wir ihn besser nicht, sonst hält er dich am Ende noch für irgendeinen meiner
Cousins... passiert ihm ständig mit Kensuke... komm mit in die Küche.“
Toji schob Shinji in den ersten Raum, der neben Spüle, Herd, Geschirr- und Vorratsschrank
einen Tisch und ein schmales Bett enthielt.
„Ich schlafe hier, Opa und mein Vater nächtigen im Nebenzimmer... naja, wirklich nicht viel
Platz...“
Shinji strich seinen Vorsatz, Toji zu fragen, ob er bei ihm übernachten könnte.
Wahrscheinlich hätte Toji ihm sogar sein Bett überlassen und selbst auf dem Boden
geschlafen, aber das hätte Shinji nicht über´s Herz gebracht.
„Ah ja... ahm...“
„Also, wer hat dich so zugerichtet?“
Toji schob die Ärmel seines Trainingsanzuges hoch.
„Am besten gehen wir gleich bei ihm vorbei und nehmen ihn die Mangel... vorher holen wir
noch Kensuke...“
„Das war Asuka.“
„Was? Verdammt...“
Toji ließ die Fäuste sinken, machte ein enttäuschtes Gesicht... er konnte doch nicht losgehen
und Mädchen verprügeln...
„Alter, was ist passiert?“
„Ich... oh je... ich bin nach Hause gekommen... und ins Bad... und da stand sie unter der
Dusche... und dann ging ich auch schon zu Boden...“
„Unter der Dusche? Du hast sie nackt gesehen?“
„Uh, ja.“
„Und? Hat sie wirklich...?“
Toji machte eine bogenförmige Geste vor seinem Oberkörper.
„Oder ist ihr BH nur ausgestopft? Und sind die roten Haare echt?“
„Toji! Darauf habe ich doch gar nicht geachtet!“ entgegnete Shinji gereizt.
„Ahm, ja, klar, tut mir leid... manchmal geht´s noch mit mir durch... nichts Hikari davon
sagen, ja?“
„Schon klar.“
„Und was jetzt? Willst du etwas hierblieben, bis die Furie bei euch aus der Wohnung
verschwunden ist? - Ist kein Problem, wirklich...“
„Das könnte länger dauern... Misato hat sie bei uns einziehen lassen.“
„Echt? Mann, oh, Mann... Wenn Soryu nicht so fies drauf wäre, würde ich dich beneiden...
zwei hübsche Frauen, die ständig um dich herum sind, vielleicht leichtbekleidet...“
„Toji, vielleicht sollte ich doch mit Hikari sprechen...“
„Äh, nee, laß, bitte! War nur ein Scherz, Alter! Hm... willst du vielleicht hier übernachten?
Du kannst mein Bett haben und...“
Shinji hob abwehrend die Hände.
„Nein, nein, wirklich, das ist nicht nötig. Ich... uh... ich kann im NERV-Hauptquartier
schlafen... muß mir nur ein Zimmer zuweisen lassen... uhm... mach dir bloß keinen Aufwand
meinetwegen...“
„Na gut, ist wahrscheinlich auch bequemer. Soll Opa sich mal dein Auge ansehen? Versteht
eine Menge von Erster Hilfe, hat mich früher immer wieder zusammengeflickt, wenn ich in
eine Schlägerei verwickelt gewesen war...“
„Uhm... nein, es geht schon... ich war auch nur gerade in der Nähe... ahm... ich will gleich
weiter...“
„Ja... hm... du willst wirklich nicht noch etwas bleiben?“
„Naja... ein bißchen kann nicht schaden... ein paar Minuten...“
*** NGE ***
Aus den beabsichtigten ´ein paar Minuten´ wurden mehrere Stunden. Draußen war es bereits
dunkel, als Shinji aufbrach. In der Zwischenzeit war auch Tojis Vater heimgekommen, hatte
den Gast freundlich begrüßt und gefragt, ob er nicht zum Essen bleiben wollte, doch Shinji
hatte abgelehnt, er wollte den Suzuharas nicht irgendwie zur Last fallen. Außerdem war es
mit insgesamt vier Personen richtig eng in der Wohnung geworden, zudem der andere Raum
eher einem Wandschrank ähnelte, in dem ein Etagenbett und ein Fernseher standen.
Tojis Großvater hatte Shinji geraten, in Rindersteak auf das zugeschwollene Auge zu drücken,
auf Tojis Frage, wo in Gottes Namen Shinji denn ein Steak hernehmen sollte, aber nur
gelacht.
Nun fuhr Shinji wieder durch die Straßen der Stadt und hakte im Kopf einen Namen nach
dem anderen ab, wo er vielleicht hätte unterkommen können, die Liste war aber nicht sehr
lang.
Zu Kensuke konnte er nicht, der hatte zwar genug Platz, aber seine Mutter konnte Shinji nicht
leiden... wahrscheinlich hätte sie ihn nicht fortgeschickt, aber Shinji wollte auch nicht, daß
sein Freund wegen ihm Ärger bekam...
Hikari schied gleich ganz aus, er wußte zwar vage, wo sie wohnte, aber plötzlich vor ihrer Tür
zu stehen, wäre doch sehr dreist gewesen...
Ins Hauptquartier wollte er auch nicht wirklich, vielleicht war ja sein Vater inzwischen
zurück, dem er wirklich nicht über den Weg laufen wollte...
Und ansonsten...
Rei...!
Vielleicht konnte er bei Rei übernachten...
Aber schickte sich das?
Sicher, sie würde es verstehen... und sie würde ihn auch sicher nicht wegschicken... und sie
hatten auch schon in einem Zimmer übernachtet... aber...
Wenn er in der Küche schlief, sollte das kein Problem darstellen...
Kurz darauf stand er vor ihrer Wohnungstür, stellte fest, daß die Klingel immer noch kaputt
war und klopfte laut.
Es dauerte einen Moment, bis die Tür geöffnet wurde.
Rei blickte ihn verschlafen an, sie trug nur ihre Badelatschen und ein zerknittertes weißes
Hemd mit kurzen Ärmeln, welches ihre Oberschenkel halb bedeckte.
„Shinji-kun... was ist denn?“
Sie rieb sich die Augen, sah ihn dann genauer an. Ihr Blick blieb an seinem zugeschwollenen
Auge hängen.
„Uh... Rei... hast du geschlafen?“
„Ja... wa...“
Warum war sein Auge zugeschwollen? Was war mit Shinji-kun passiert, seit sie sich in der
Bahnstation getrennt hatten?
„Ah, tut mir leid“, unterbrach er sie. „Ich gehe besser...“
„Nein.“
Sie schüttelte den Kopf, ergriff seinen Oberarm und zog ihn in die Wohnung. Shinji folgte
dem Zug willig.
„Das macht nichts. Komm erstmal rein.“
„Ahm...“
„Was ist mit deinem Auge?“
„Das... ahm... das war Asuka...“
Und er erzählte auch ihr die ganze Geschichte, verglich dabei in Gedanken die heutigen
Ereignisse mit jenen in Reis Wohnung vor mehreren Wochen. Shinji schloß seinen Bericht
mit den Worten:
„... und daher wollte ich fragen, ob ich heute nacht hier schlafen kann... ich werde dir auch
nicht zur Last fallen... bitte, wenn du mich in der Küche auf dem Boden schlafen läßt... du
wirst mich gar nicht bemerken...“
Rei sah ihn lange an.
Soryu hatte ihn verletzt... und auch noch aus seinem Heim vertrieben... und sie war wieder
nicht dagewesen, um ihn zu beschützen... natürlich konnte Shinji-kun bei ihr übernachten, da
sprach gar nichts dagegen, das war doch viel sicherer als irgendwo auf einer Bank...
allerdings verstand sie nicht, weshalb er unbedingt auf dem Boden schlafen wollte, ihr Bett
war doch um einiges bequemer... aber wenn er es wünschte...
„Du kannst hier schlafen, Shinji-kun.“
Sie ging zu ihrem Bett und nahm eine der beiden Decken, die sie benutzte, an sich, ebenso das
Kopfkissen, trug beides in die Küche und legte es in die hintere Ecke zwischen Schrank und
Tisch.
„Du willst wirklich auf dem Boden schlafen?“
„Äh, ja, Rei, wenn es dir nicht zuviele Umstände macht... uhm, danke, Rei, das... ah... ich
hätte nicht gewußt, wo ich sonst hätte hingehen sollen... aber du brauchst mir nicht dein
Kissen geben, die Decke genügt doch völlig.“
„Du nimmst es.“
Wenn er schon auf dem Boden schlafen wollte, sollte er es wenigstens so bequem wie möglich
haben. Warum wollte er denn nicht bei ihr schlafen?
„Danke, ahm, ja, danke...“
„Benötigst du noch etwas, Shinji-kun?“
„Nein, Rei, uh, wirklich nicht.“
„Gut. Ich gehe wieder schlafen.“
Sie brauchten beide ihren Schlaf. Die Tests hatten sie mental ausgelaugt und Shinji-kun
verfügte nicht über ihre Konstitution. Kurz zögerte sie, ob sie das Hemd wieder ausziehen
sollte, eigentlich schlief sie völlig unbekleidet, allerdings war es nicht gerade warm in ihrer
Wohnung, die letzten Tage hatte es einen Temperatursturz gegeben, der dafür gesorgt hatte,
daß es in ihrer Wohnung angesichts der defekten Heizung doch spürbar kühl war, deshalb
auch die zweite Decke.
Hoffentlich hatte Shinji-kun es warm genug...
Sie löschte das Licht und kroch wieder unter ihre Decke.
Shinji war derweil aus Hemd und Hose gestiegen und hatte sich, nun noch mit Unterhemd,
Shorts und Socken bekleidet, in die von Rei zur Verfügung gestellte Decke eingerollt.
Es war kalt in ihrer Wohnung... tagsüber war ihm das gar nicht aufgefallen, während sie hier
gearbeitet hatten... aber da hatten sie ja auch warmen Tee gehabt...
Er zog die Decke noch enger um sich und versuchte zu schlafen...
*** NGE ***
Rei wurde mitten in der Nacht von einem unbekannten Geräusch geweckt, einem seltsamen
Klappern... sie sah sich im Dunkeln um.
Nein, die Heizung war es nicht, die war so tot wie eh und je...
Das Geräusch kam aus der Küche...
Shinji-kun... vielleicht ging es ihm nicht gut... vielleicht hatte Soryu ihn härter erwischt, als er
eingestanden hatte...
Sie schwang sich aus dem Bett, machte Licht in ihrem Schlafraum und ging in die Küche.
Shinji-kun lag immer noch in der Ecke, eingerollt in die Decke, die sie ihm gegeben hatte,
allerdings schien er stark zu zittern. Das Geräusch, das sie geweckt hatte, stammte vom
Klappern seiner Zähne...
Das konnte sie nicht weiter tatenlos mit ansehen! Wenn Shinji-kun weiterhin auf dem Boden
schlief, konnte er krank werden, nein, das konnte sie nicht zulassen, egal wie sehr er darauf
bestanden hatte, auf dem Boden zu nächtigen!
Sie ging neben ihm in die Hocke und schüttelte ihn leicht, bis er aufwachte.
„Uh, was... Rei? Ah... äh... was ist? Uh... habe ich dich geweckt? Habe ich geschnarcht?“
„Nein... du kannst nicht hier schlafen.“
Sie zog ihn auf die Beine, ergriff im Ausstehen das Bettzeug.
„Uh... ahm... tut mir leid... ich...“
Ganz sicher hatte er sie geweckt... vielleicht hatte er geschnarcht... oder vielleicht hatte er im
Schlaf gesprochen... jetzt würde sie ihn ´rauswerfen...
Doch stattdessen zog Rei den schlaftrunkenen Shinji nur in ihren Raum, warf das Kissen ins
Bett und breitete die Decke darüber aus, schlüpfte dann unter die Decken und rutschte bis zur
Wand. Ihr Hemd behielt sie an, damit Shinji-kun keine falschen Schlußfolgerungen zog.
„Komm hierher, das ist wärmer.“
„Uh, Rei...“
Sie wollte doch nicht wirklich mit ihm in einem Bett schlafen... das mußte er mißverstehen...
Doch die Tatsache, daß sie die Bettdecken hochhielt und ihm Platz gemacht hatte, sprach für
sich selbst.
Zögernd setzte er sich auf die Bettkante, schwang die Beine unter die Decke.
Rei ließ die Decke los, deckte ihn zu.
Shinji bemühte sich, ihr möglichst viel Platz zu lassen, rückte soweit zur Kante, wie er
konnte, ohne aus dem Bett zu fallen.
„Uhm, ja... ahm...“
„Gute Nacht, Shinji-kun.“ flüsterte Rei neben ihm.
„Äh, ja, gute Nacht, Rei.“
Er schloß die Augen, doch das vertrieb die Nervosität nicht... nicht im geringsten...
Rei war so nahe...
Rei blickte auf Shinjis Rücken.
Sicher war ihm noch kalt... und so nahe, wie er an der Bettkante lag, lief er Gefahr,
hinauszufallen, wenn er nicht acht gab...
Sie legte den Arm um ihn, rückte ganz nah an ihn heran, so konnte sie verhindern, daß er
herausfiel und sich vielleicht verletzte, und ihm etwas von ihrer Körperwärme geben... und sie
konnte ihm nahe sein...
Shinji vergaß beinahe zu atmen, als Rei den Arm um ihn legte und er ihren warmen Atem im
Nacken spürte. Sie war so nah... viel zu nah... Mit einem Mal war die Kälte aus seinem
Körper verschwunden, wurde von Hitze ersetzt, die ihren Ursprung in seinen Lenden hatte.
Doch er beherrschte sich, blieb, den Rücken ihr zugewandt, ruhig liegen, anstatt sich
umzudrehen und sie in die Arme zu schließen... vorerst jedenfalls...
6. Zwischenspiel:
„Israfel wurde besiegt“, wisperte die Stimme seines älteren Bruders.
Der jüngere signalisierte seine Kenntnisnahme.
„Wir sind nicht mehr viele, die in die Welt der Lillim vordringen können... nur noch eine
Handvoll ist imstande, dort einen materiellen Körper zu formen.“
„Vielleicht gibt es einen anderen Weg... vielleicht kann man mit den Lilim reden.“
„Nein, Tabris“, grollte die Stimme eines anderen der älteren. Die Stimme verdeutlichte, über
welche Kraft der Sprecher verfügte. „Die Lilim verstehen nur Gewalt, das war Vaters
Geschenk an sie, als er Mutters Werk zum ersten Mal verwüstete.“
„Mutter...“ flüsterte der jüngste.
Obwohl in ihrem Reich die vergangenen vierzehn Jahre nur ein Wimpernschlag gewesen
waren, vermißte er sie.
Der mächtige Zeruel wandte sich ab, die Anwesenden spürten, wie er ihre Runde verließ.
„Ihre Waffen sind stark“, flüsterte Satchiel, immer noch geschwächt von seiner Begegnung
mit dem Wesen namens EVANGELION.
„Und sie bauen ständig neue“, fügte Israfel zweistimmig hinzu, der gerade eingetroffen war.
„Wenn sie uns doch nur verstehen könnten... könnten sie wirklich so grausam sein, unsere
Mutter... und ihrer aller Mutter... weiterhin gefangenhalten zu wollen, wenn sie die Wahrheit
erkennen?“
„Lilim sind blind, sie wollen die Wahrheit nicht erkennen, Tabris.“
„Gerade du gibst auf, Arael?“
„Nenne mir eine Möglichkeit. Die Lilim wollen nur kämpfen. Satchiel und Shamsiel haben
von der Wildheit und der Mordgier berichtet, die von ihnen ausgeht.“
„Von ihren Waffen, Bruder... wir müssen uns etwas anderes überlegen...“
„Da ist... spürt ihr es auch?“
„Ja, Sandalphon erwacht...“
Kapitel 24 - Veränderungen
Shinji wachte auf.
Es war wirklich kein Traum gewesen...
Er lag im gleichen Bett wie Rei. Sie hatte tatsächlich den Arm um ihn gelegt und schlief
immer noch an ihn geschmiegt, war ihm so nah... Es fühlte sich wunderbar an...
Wie sie wohl aussah, wenn sie schlief? Welchen Ausdruck wohl ihr Gesicht hatte?
Er mußte sich nur vorsichtig umdrehen, um sie nicht aufzuwecken...
Dummerweise reagierte sein Körper auf ihre Nähe auf eine Art und Weise, die ihm äußerst
peinlich gewesen wäre, hätte sie es bemerkt. Sein Kopf mußte so rot angelaufen sein, daß er
vielleicht im Stande war, das Zimmer auszuleuchten, hätte dies nicht schon der bleiche
Vollmond getan, dessen Licht durch das Fenster hineinfiel.
Welchen Ausdruck hatte wohl ihr schlafendes Gesicht...
Während der Tage, die sie im gleichen Zimmer gewohnt hatten, hatte er nicht mehr als ihre
Silhouette des Nachts gesehen...
Langsam und vorsichtig drehte er sich auf den Rücken. Und ebenso vorsichtig drehte er sich
auf die andere Seite, zog zugleich die Knie an und stützte sich mit dem Ellenbogen auf, so daß
sein Hinterteil über die Bettkante hing, ohne daß er hinausfiel und ohne daß sie die Beule in
seiner Hose bemerken konnte.
Der Anblick ließ seinen Atem stocken.
Rei lag auf der Seite, das Gesicht ihm jetzt zugewandt.
Das Licht des Mondes badete ihr Gesicht in einen fahlen Schein. Sie wirkte so friedlich,
unschuldig... Ihre sanft geschwungenen Lippen waren direkt vor ihm, er mußte eigentlich nur
selbst die Lippen spitzen, um sie zu berühren. Der Drang, sie zu küssen, war unglaublich
stark... er mußte nur den Kopf leicht nach vorn bewegen... diese Lippen... nur kurz... nur ein
ganz kurzer Kuß... nur ein kurzer Kontakt... nur einmal diese Lippen berühren im Schein des
Mondes...
Millimeter um Millimeter schob er den Kopf nach vorn.
Ihr warmer Atem strich über seine Lippen.
Er stoppte.
Wenn er das tat... egal, wie sehr er sich danach sehnte... was dann? Wenn er ihr einen Kuß
raubte... was kam als nächstes... ihr Haar war ebenso verlockend, er wollte mit den Fingern
hindurchfahren, sein Gesicht darin vergraben, wollte ihre Wangen sanft streicheln... sein
Blick glitt tiefer, zum offenstehenden obersten Knopf ihres Hemdes, zum schwach
erkennbaren Ansatz ihrer Brüste... wenn er sie jetzt küßte, wußte er nicht, was dann
geschehen könnte, wozu er imstande war, was er ohne ihr Einverständnis tun könnte...
Nein, er konnte es nicht, durfte es nicht, durfte sie nicht küssen ohne ihre Erlaubnis, ohne ihr
Wissen, durfte ihr Vertrauen nicht mißbrauchen...
Langsam zog er den Kopf zurück, beschränkte sich darauf, sie anzusehen, trunken von ihrer
Schönheit.
Wenn dieser Augenblick doch nur ewig anhalten konnte... wenn doch der Morgen nie
anbrechen würde, wenn er doch die Zeit anhalten und sie immer anblicken konnte... aber am
nächsten Tag schon konnte ein weiterer Feind auftauchen... könnte er sie verlieren...
War das nicht schon ein Grund, sie doch noch zu küssen, solange er noch konnte?
Nein...
Ihr Anblick brachte ein Lächeln auf sein Gesicht.
Wie spät mochte es sein?
Er hob den Kopf ein Stück, blickte aus dem Fenster. Draußen war es immer noch dunkel, sah
man vom Vollmond ab, dessen Licht in das Zimmer und auf Reis Gesicht fiel.
Shinji bemühte sich, die Augen solange wie möglich offenzuhalten, sie so lange wie möglich
anzusehen, doch schließlich fielen ihm die Augen zu.
*** NGE ***
Wie üblich erwachte Rei mit der Morgendämmerung, öffnete die Augen.
Sie blickte in Shinji-kuns Gesicht. Er lächelte, es war das erste Mal, daß sie ihn lächeln sah,
seit Soryu eingetroffen war. Das Veilchen schimmerte dunkelviolett. Rei verspürte Wut bei
dem Anblick, stellte sich vor, Soryu es mit gleicher Münze zurückzuzahlen... aber der
Kommandant hatte ihr untersagt, ihre Kräfte jemals gegen einen Menschen einzusetzen, ein
Block, wie sie ihn bei dem älteren Schüler eingesetzt hatte, war bereits das äußerste des ihr
erlaubten.
Wenn es ihr doch nur möglich wäre, seine Verletzungen zu heilen, wie ihre eigenen Schäden
heilten...
Soetwas durfte sich nicht wiederholen! Sie mußte Shinji-kun vor Soryu beschützen!
Zögernd hob sie die Hand, strich vorsichtig eine Haarsträhne aus seinem Gesicht, wünschte
sich, nicht an ihre Pflicht und die Mission gebunden zu sein...
Die Schule würde bald beginnen... sie mußte sich fertigmachen, Shinji-kun mußte sich
fertigmachen... er mußte vorher etwas essen... ob ihm die Dinge in ihrem Kühlschrank wohl
zusagten?
Shinji-kun regte sich, sie hatte ihn doch nicht geweckt? Aber es war ohnehin Zeit...
Shinji schlug die Augen auf, blickte in ein Paar scharlachroter Augen, die seinen Blick
erwiderten.
„Uh... Rei... ahm... Guten Morgen...“
Das war eine Hand auf seiner Wange, eine weiche, warme Hand... Reis Hand...
„Guten Morgen, Shinji-kun.“
Sie sah auf ihre Hand, die immer noch seine Wange berührte, als wäre sie nicht Teil ihres
Körpers, zog sie rasch zurück.
Shinji fing ihre Hand ab, hielt sie fest, ohne dabei den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden.
Sie gab dem Zug nach, ihre Fingerspitzen berührten wieder seine Wange.
„Rei... ich...“
Er ließ ihre Hand los, senkte den Blick.
Doch sie zog ihre Hand nicht wieder zurück, streichelte stattdessen zärtlich seine Wange.
„Shinji-kun, es ist an der Zeit aufzustehen. Wir dürfen die Schule nicht verpassen.“
„Uhm, ja... du hast recht... leider...“
„Leider?“
Er gab keine Antwort auf ihre Frage.
„Ich... danke, daß ich bei dir... ahm...“
Sie kletterte über ihn hinweg aus dem Bett, einen schier endlos langen Moment befanden sie
sich in einer Lage, in welcher er sie nur hätte greifen und zu sich hinziehen brauchen, in der
sie lediglich den Kopf ein wenig hätte senken müssen, um ihn küssen zu können, doch
obwohl beide in jenem Moment daran dachten, führte keiner den Gedanken aus.
Rei setzte sich auf die Bettkante und fuhr sich mit den Händen durch ihr Haar, welches
danach viel lockerer um ihren Kopf zu liegen schien.
„Shinji-kun...“
Sie überlegte. Gestern abend hatte er vor ihrer Tür gestanden, weil er nicht gewußt hatte,
wohin er gehen sollte, weil Soryu ihn aus seinem Zuhause vertrieben hatte. Doch wo würde er
heute abend hingehen? Sicher, auch in Tokio-3 gab es Hotels und Pensionen, doch es schien
ihr fraglich, ob er über ausreichende Geldmittel verfügte. Eine Rückkehr in Captain
Katsuragis Apartment hingegen war in ihren Augen nicht akzeptabel, dort würde er Soryu
ausgeliefert sein. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, daß Shinji-kun sich eine Unterkunft
im Hauptquartier zuweisen ließ... aber das wollte sie nicht... Um ihn zu beschützen, wäre es
das beste, wenn sie in seiner Nähe blieb - oder er in der ihren... Und dies ließ sich am besten
bewerkstelligen, wenn sie sich auch weiterhin ein Quartier teilten... wenn er ihr weiterhin...
nahe war...
„... wenn du möchtest... dann kannst du hier bleiben.“
Shinji setzte sich auf.
„Rei, ahm, das... uh... das geht doch nicht... du und ich... ich meine... das schickt sich nicht...
und... uhm... wenn...“
„Wir haben zur Vorbereitung auf den letzten Einsatz bereits zusammengewohnt. Ich sehe
keinen Grund, dieses Arrangement nicht fortzuführen.“
Der Kommandant würde dagegen sein... aber er war nicht hier, war nicht in Tokio-3, sondern
in der Antarktis, um den Fortgang des Projektes zu überwachen... und solange er ihr keine
anderslautenden Anweisungen gab, konnte sie Shinji-kun Asyl gewähren.
„Aber das hier ist deine Wohnung und... uhm... ich will nicht in deine Privatsphäre eindringen
und...“
Sie legte ihm den Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen, dann zog sie ihn
in ihre Arme, flüsterte in sein Ohr:
„Verstehst du nicht, daß ich dies längst zugelassen habe, Shinji-kun?“
Rei löste sich von ihm und stand auf, ging in die Küche.
„Ich setze Tee auf.“
„Ja...“
Sie wollte, daß er blieb...
Aber das ging doch nicht... und wenn sie gewußt hätte, welche Gedanken ihn in der Mitte der
Nacht beschäftigt hatten, wäre ihr das auch klar gewesen!
Er sprang aus dem Bett und folgte ihr, ohne sie an seiner Seite war es ohnehin plötzlich
furchtbar kalt und leer.
„Aber... Rei, was ist, wenn... uh... wenn etwas passiert... zwischen uns beiden... und wenn...
ahm...“
Sie drehte sich ihm zu.
„Du hast selbst gesagt, daß du nichts derartiges ohne meine Zustimmung tun würdest. Was
geschieht, geschieht.“
„Das... uh...“
Das klang sehr logisch.
Er wäre wahrscheinlich auch gar nicht fähig gewesen, etwas mit ihr gegen ihren Willen zu
tun, schließlich war ihre Körperkraft der seinen wenigstens entsprechend, wenn nicht sogar
höher...
„Aber der Platz... ahm... wäre es dir nicht zu eng? Wenn ich... uhm... auch noch meine
Sachen...“
„Hast du viele Sachen?“
„Ähm, nein... etwas Kleidung, mein Fahrrad... und mein Cello.“
„Ich denke nicht, daß der Platz hier nicht ausreicht. Du spielst ein Instrument?“
„Ja...“
Rei kam aus der Küche, sofort trat er zur Seite, um sie durchzulassen. Sie setzte sich wieder
auf das Bett, beugte sich vor, holte etwas darunter hervor - einen Geigenkasten.
„Ich spiele Geige.“
„Oh, das... das ist toll... ich wußte gar nicht...“
„Aber bisher hatte ich niemanden, der mir zuhörte.“
„Das... uhm... das würde ich gern... ja, ich würde dich gern spielen hören.“
„Dann mußt du hierbleiben.“
„Aber ich kann doch nicht... ich meine... dein Bett und...“
„War dein Schlaf unbequem?“
„Nein...“
„Bist du nicht ausgeruht?“
„Auch nicht...“
„Dann sehe ich keinen Grund für deine Ablehnung... außer, du möchtest nicht hier sein.“
Sie stand auf, blieb vor ihm stehen.
„Doch, ich... uh... es gibt keinen Ort, wo ich lieber...“
Er schluckte.
„Aber wir können doch nicht zusammenleben... wir sind... uh... wir sind zu jung dafür...
und...“
„Shinji-kun, ist es dir unangenehm, dich in meiner Nähe aufzuhalten?“
„Nein“, flüsterte er.
Ganz im Gegenteil...
„Dann solltest du hierbleiben.“
„Aber... ahm... nicht ohne Gegenleistung.“
„Gegenleistung?“
„Ich... uhm... ich könnte für dich kochen... und die Wäsche waschen...“
Essen konnte sie in der NERV-Kantine, dort wurde extra für sie jeden Tag ein vegetarisches
Menü zubereitet. Und ihre Wäsche reinigte sie im Waschsalon eine Haltestelle weiter... doch
wenn dies seine Wünsche waren... warum sollte sie an alten Gewohnheiten festhalten, die sich
eher aus Mangel an Alternativen so eingefahren hatten...
„Einverstanden.“
„Dann... uh...“
Da kam er wohl nicht mehr heraus, selbst wenn er es gewollt hätte...
Er breitete die Arme aus.
„Erlaubst du?“
„Ja.“
Vorsichtig umarmte Shinji Rei.
„Ich bin nicht aus Porzellan.“ murmelte sie und schloß ihn ihrerseits in die Arme.
„Uhm...“
„Ist das unangenehm?“
„Nein...“
„Willkommen, Shinji-kun...“
*** NGE ***
Bibbernd kam Shinji aus dem Bad, Rei saß bereits am Frühstückstisch und wartete auf ihn.
„Das warme Wasser geht nicht.“ sagte er und ließ sich auf dem zweiten Stuhl nieder. Er trug
wieder dieselben Sachen wie am Vortag, da er nichts zum Wechseln hatte.
„Ich habe bereits vor mehreren Wochen deswegen den Hausverwalter unterrichtet. Aber es ist
keine Reaktion erfolgt.“
„Ja... und die Heizung?“
„Ebenfalls.“
Shinji sah sich um.
Vor ihm auf dem Tisch stand ein Teller, auf dem mehrere Scheiben Toast lagen, auf weiteren
kleineren Tellern lagen Salatblätter und Scheiben verschiedener Früchte, wie Kiwis und
Pfirsichhälften. An der Seite stand die Teekanne. Und dann gab es noch ein großes Glas
Erdnußbutter.
„Du ißt sowas?“
„Ja.“
Und wenn er mal davon ausging, daß sie ihre Weißbrotscheibe dick damit bestrich, dann
mußte sie das Zeug sehr gern essen.
„Ich... uhm... ich weiß sonst gar nicht, was du magst.“
„Kein Fleisch, kein Fisch, keine tierischen Produkte. Keine Milchprodukte und keine Eier.“
„Das... ahm... das ist eine ganze Menge. Magst du es nur nicht, oder...“
„Ich darf es nicht essen. Ich kann derartige Stoffe nicht verdauen.“
„Uh, ja. Gut, ich werde es mir merken.“
„Aber es macht mir nichts aus, wenn du Fleisch oder Fisch essen möchtest.“
„Nein, nein... Rei... wir... ahm... es ist...“
„Was?“
„Es ist seltsam... ich meine... uhm... wir haben zusammen im gleichen Bett geschlafen... und
jetzt sitzen wir hier am gleichen Tisch und frühstücken... und... ahm...“
„Worauf möchtest du hinaus?“
„Wir... uhm... wir sitzen hier beinahe wie... wie eine Familie...“
Sie errötete leicht.
„Ist es das, was du in mir siehst?“
Familie... was, wenn er in ihr nur soetwas wie eine Schwester sah? Hoffentlich nicht...
hoffentlich sah er mehr in ihr... hoffentlich...
Shinji selbst wurde knallrot, verschüttete etwas von seinem Tee.
„Es ist... weißt du... ahm... bei Misato war es ähnlich... sie hat sich viel Mühe gegeben, damit
ich mich wie zuhause fühle... aber hier... es ist ähnlich und trotzdem anders... ich... ich kann
es nicht näher beschreiben...“
„Irgendwann kannst du es vielleicht.“
„Ja... Rei, wenn ich darf... kann ich bei der Hausverwaltung in deinem Namen anrufen?
Vielleicht... vielleicht schicken sie jemanden vorbei... oder hat NERV niemanden, der das
machen kann?“
„Du kannst es versuchen.“
Warmes Wasser wäre wünschenswert... auch daß die Toilettenspülung aufhören würde,
Geräusche zu machen, als verdaue sie eine größere Mahlzeit... nur die Heizung... wenn diese
wieder funktionieren würde, hätte sie keinen Grund mehr, Shinji-kun nahe zu sein...
„Und... uhm... ein Türschloß? Und die Klingel und die Gegensprechanlage?“
Wieder nickte sie.
Es fiel ihr teilweise nicht leicht, ihm diese Dinge zu überlassen, hieß es doch, einen Teil des
bißchens Freiheit aufzugeben, das sie besaß. Andererseits... seine Gegenwart war ihr diesen
Preis wert. Wenn sich seine Sachen ebenfalls in der Wohnung befanden, würde ein Türschloß
nötig sein...
„Ja, dann... ich muß noch meine Sachen holen... uhm...“
„Wir können gemeinsam bei Captain Katsuragi vorbeigehen.“
„Ich würde, ahm, ihr gerne eine Nachricht hinterlassen, wo ich bin.“
„Ja, sie sollte darüber informiert sein. Soryu wird sich nachher in der Schule befinden. Das
wäre eine Gelegenheit, zuerst deine Sachen zu holen und dann Captain Katsuragi im
Hauptquartier aufzusuchen.“
„Ja...“
Während sie aßen, ging Shinji ein Gedanke nicht aus dem Kopf. Ihr Gespräch... als ob sie
einen gemeinsamen Hausstand gegründet hätten... wie ein Ehepaar... und dieser Gedanke
hatte gar nichts absurdes oder unglaubwürdiges an sich...
*** NGE ***
Shinjis Fahrrad war in Reis Wohnung zurückgeblieben, sie waren mit der Bahn zurück in die
Innenstadt gefahren, wo sich das Gebäude befand, in dem Misatos Apartment war.
An der Tür zögerte Rei.
Shinji deutete ihr Zögern falsch, er wußte ja nichts von den Anweisungen seines Vaters.
„Ich sehe schnell nach, ob jemand da ist...“ flüsterte er und trat ein.
Rei blickte in den Wohnungsflur.
Es war ihr untersagt worden, Captain Katsuragis Apartment zu betreten... allerdings nur, wenn
dort eine Party stattfand... hier allerdings lag eine gänzlich andere Situation vor, hier ging es
um das Wohlergehen eines anderes Piloten! Also folgte sie ihm in die Wohnung.
Shinji war schnurstracks in sein Zimmer gegangen und hatte begonnen, seine Sachen aus dem
Schrank in den Koffer zu stopfen, aus dem er sie nach seiner Ankunft herausgeholt hatte,
machte sich dabei nicht die Mühe, erst alles sorgfältig zusammenzulegen. Er hatte das Gefühl,
dafür nicht genug Zeit zu haben, zugleich verspürte er Anflüge eines schlechten Gewissens Misato hatte ihn bei sich aufgenommen und nun schlich er sich fort wie ein Dieb in der Nacht.
Doch ihn trieb auch die Sorge an, Asuka könnte sich noch in der Wohnung aufhalten. Aber
Rei hatte ja von der Tür aus den Korridor im Blick und konnte ihn rechtzeitig warnen...
Rei blickte in den kombinierten Wohn- und Eßraum, das Zimmer war dunkel, da das Licht
nicht brannte und es kein Fenster gab. Dennoch sah sie die Umrisse einer Person am Tisch
sitzen.
„Rei...“
Sie erkannte die Stimme, eigentlich hatte sie bereits vorher gewußt, wer dort im Dunkeln in
einer Wolke von Bierdunst saß, denn die Umrisse paßten nicht zu Soryu.
„Captain Katsuragi.“
„Jetzt Major. Ich wurde... be-befördert, weil der Plan mit dem... dem Tanz geklappt hat... der
Streifen hätte eigentlich Kaji zugestanden, aber er wollte nicht...“
Die Stimme des Cap... Majors klang unsicher, schwankend. Entweder stand sie unter dem
Einfluß von Medikamenten oder Alkohol. Der Geruch, den Rei wahrnahm, deutete auf
letzteres hin.
„Ja... Meinen... Glückwunsch zur Beförderung.“
Eine Beförderung war ein positives Ereignis... und bei einem positiven Ereignis gratulierten
sich die Menschen...
„Du bist mit Shinji hier, oder?“
„Ja, Major.“
„Hat er... bei dir übernachtet?“
„Ja.“
„Und jetzt...? Holt er seine Sachen?“
„Ja. Er wollte noch eine Nachricht hinterlassen.“
Shinji kam aus seinem Zimmer.
„Rei, ist da jemand?“
„Ja, Shinji-kun, Major Katsuragi sitzt hier.“
„Major...“
Shinji schluckte. Er war an Misato vorbeigegangen und hatte sie nicht einmal gesehen. Sofort
wuchs sein schlechtes Gewissen zu unglaublichen Proportionen an.
„Ahm, Misato...“
„Du brauchst nichts... nichts zu sagen, Shinji... aber laß bitte das Licht aus... Ich bin schuld an
der ganzen Misere... ja, an der ganzen vertrackten Misere..., ´hätte erst mit dir sprechen und
dein Einver... Einverständnis einholen sollen, bevor ich Asukas Vorschlag, hier einzuziehen,
zugestimmt habe.“
„Es... es war ihre Idee?“
„Ja. Nachdem ich ihr ins... ins Gewissen geredet und sie versprochen hatte, sich zu bessern
und... und mit euch zu vertragen,, ja zu vertragen, sagte sie, sie wäre einsam, ganz dolle
einsam... und daß alles für sie fremd wäre... und ob sie nicht auch bei jemandem
unterkommen könnte... Alles meine Schuld... Shinji-kun, ich wollte dich nicht verjagen...“
Aus der Dunkelheit kam ein leises Schluchzen.
„Ich habe heute frei... muß nicht zum Dienst... und Asuka ist auch weg, dachte, ich könnte
etwas bechern... ´ist gut, daß du jetzt gekommen bist...“
„Misato, ich...“
„Nein, nein... laß mich ausreden, weiß nicht, wie lange ich noch verständlich sprechen kann...
´war ein Fehler... aber Asuka braucht jemanden, der auf sie etwas aufpaßt... eine weibliche
Hand... hätte sie zu Ritsuko schicken sollen, ja, hätte ich tun sollen... wer weiß, wann ich mich
wieder in aller Ruhe betrinken kann... Shinji, wohin willst du?“
„Uhm, also, Misato...“
„Major, ich habe Shinji-kun angeboten, daß er bei mir wohnen kann.“
„Rei, das ist sehr... nobel von dir... ja, ist es... Hast du denn genug Platz?“
„Ja.“
„Dann ist es gut... aber macht keine Dummheiten, ja? Ich bin immer noch verantwort...
verantwort... verantwortlich... Wenn ich wieder nüchtern bin... dann schaue ich bei euch
vorbei... paß auf Shinji auf, Rei, ja? Mach das... bist ein gutes Mädchen... paß auf ihn auf...“
„Das werde ich.“
„Und keine Dummheiten, ja... klar, Shinji?“
„Uh, ja. Ja, klar, Misato... uh... keine Dummheiten.“
„Gut. Soll ich euch fahren?“
„Lieber... ahm... lieber nicht.“
„Ist wohl auch besser so... ja... Bin nämlich betrunken, mußt du wissen...“
„Misato, falls... wenn du mich hier brauchen solltest, dann...“
„Nein. Geh du mit Rei... möchte nicht, daß... Asuka reagiert vorschnell... verpaßt dir vielleicht
wieder eine... kann bei Rei nicht passieren... ist ein gutes Mädchen, diese Rei... anständig...
klug... wünschte, ich wäre noch mal in diesem Alter... aber macht keine Dummheiten...“
„N-nein.“
„Ich weiß doch... weiß doch, wie es ist, ein Teenager zu sein... war auch mal einer... da staunt
ihr, was? Ja, Misato Katsuragi wurde nicht mit der Bierflasche in der Hand als Erwachsene
geboren... hätte meine Mutter sicher auch ganz schön aus dem... aus dem Häuschen
gebracht... ja... aus dem Häuschen... Shinji, ich vertraue dich Rei an... sie kann Verantwortung
tragen... ist das First Children... ja... aber das weiß du schon, oder?“
„Ahm, ja, Misato.“
„Gut... dachte ich mir doch... ihr habt meine volle Unter... Unterstützung... aber keine
Dummheiten, ja?!“
„Uh...“
„Jetzt geh und hol´ deine Sachen.“
„Ja...“
Shinji lief in sein Zimmer zurück und kramte das letzte zusammen, das ihm ins Auge fiel. Er
bemerkte gar nicht, daß Tränen über seine Wangen liefen.
Durfte er Misato so überhaupt zurücklassen, nach allem, was sie für ihn getan hatte? Sie hatte
ihm ein Heim gegeben, hatte sich um ihn gekümmert, vielleicht nicht wie eine Mutter, aber
doch wenigstens wie eine ältere Schwester...
Rei war zurückgeblieben.
„Major, benötigen sie etwas?“
„Nein, Rei, habe genug Bier in Reichweite... und der Vogel ist auch schon versorgt... Shinji
und du... ihr paßt zusammen... laß nichts dazwischenkommen... Ich halte Asuka im Griff...
hätte gleich dich und Shinji aufstellen sollen, hätte Ritsuko sagen sollen, sie solle gefälligst
deinen EVA zusammenschrauben... und trotzdem kriege ich von Fuyutsuki diesen Streifen
angeheftet, ist schon seltsam... ja, seltsam...“
„Ich werde auf Shinji-kun aufpassen.“
„Gut... und versucht... versucht mit Asuka auszukommen, ja? Sie ist schwierig... aber sie ist
auch eine EVA-Pilotin...“
„Ist das ein Befehl, Major?“
„Nein, Rei... eine Bitte... euer Überleben konnte davon abhängen...“
„Ja, Major.“
„Kennst ruhig Misato sagen, bin schließlich nicht im Dienst... und keine Dummheiten... das
ist ein Befehl...“
„Ja, Major.“
Shinji trat wieder auf den Korridor, den Koffer mit dem Cello auf den Rücken geschnallt, den
Koffer mit seinen Sachen hinter sich herschleppend und in der anderen Hand die Tasche mit
seinen Schulbüchern.
Rei kam ihm entgegen und nahm ihm die Bücher ab, half ihm, den großen Koffer in den
Hausflur zu bugsieren, wo er auch den Instrumentenkoffer erst einmal abstellte und dann noch
einmal in die Wohnung zurückkehrte.
„Misato, ich... wir gehen dann... außer du...“
Wenn sie ihn gebeten hätte zu bleiben, wäre er wahrscheinlich geblieben...
„Komm doch mal her, Shinji.“
„Uhm, ja...“
Er tastete sich durch den dunklen Raum, bis er vor ihr stand. Der Alkoholdunst war fast
betäubend.
Misato umarmte ihn zum Abschied.
„Ich komme schon klar mit Asuka, keine Sorge... Paß auf Rei auf... gib ihr keinen Grund zu
Kummer, immerhin nimmt sie dich auf... ach... ich klinge wahrscheinlich, als... also...“
„Wie eine große Schwester.“
„Schwester? Ja?“
Sie lachte.
„Dann hör jetzt gut zu, Shinji... macht keine Dummheiten... egal, wie nah ihr einander
kommen solltet... egal, wie sehr dich der Hafer sticht... versteht du?“
„Ja... uh... keine Dummheiten...“
„Genau... nichts, was ihr später bereuen könntet... und wenn... naja... vergiß die
Sicherheitsmaßnahmen nicht... und falls du mich ´mal nicht erreichen kannst, dann halte dich
an Kaji... der nervt manchmal zwar ganz schön... aber er ist kein übler Kerl... kann nur nicht
treu sein... ja... und meld´ dich mal...“
„Misato... ich... ich bin doch nur ein paar Minuten entfernt... und ich bin immer noch bei
NERV.“
„Ach ja, NERV, ganz vergessen... die haben mir einen neuen Streifen verpaßt... bin jetzt
Major.“
„Ich weiß.“
„Du weißt? Oh, Fuyutsuki hat sicher... hat sicher alles ausposaunt... Fuyutsuki kannst du auch
trauen... mehr als deinem Vater jedenfalls... Fuyutsuki hält die Stellung... Ja, Sir!...“
Wieder lachte sie.
„Wir... uh... wir gehen dann... Soll ich die Schlüssel hier auf den Tisch legen?“
„Nein, nimm sie mit... aber mach die Tür zu, ja?“
„Ja...“
Shinji verließ die Wohnung, schulterte sein Cello wieder und schleppte den Koffer zum
Aufzug.
„Major Katsuragi war betrunken.“ stellte Rei sachlich fest.
„Ja. So schlimm war es noch nie...“
Es mußte Asukas Schuld sein... und die seine, sicher hatte Misato sich Sorgen gemacht... hatte
die ganze Nacht über kein Auge zugetan...
„Ich frage mich, ob... uhm... ob ich nicht besser zurückgehen sollte...“
„Shinji-kun, sie wollte dich in Sicherheit wissen. Wenn du umkehrst, wird sie sich um dich
sorgen müssen.“
„Ich wüßte nur zugern, warum Asuka sich so verhält.“
„Ich weiß es nicht, Shinji-kun.“
*** NGE ***
Der erste Tag war wahrscheinlich der seltsamste.
Shinji machte eine Bestandsaufnahme von Reis Haushalt und erstellte eine Liste, was sie
benötigten, dann rief er bei der Hausverwaltung an. Als er seinen Namen nannte, herrschte am
anderen Ende der Leitung Stille. Rasch gab er ein Anliegen durch, ohne ins Stottern zu
geraten oder sich zu verhaspeln. Und tatsächlich versprach man ihm, umgehend jemanden zu
schicken, der sich um Heizung und Warmwasser kümmern sollte.
Ihm ging nicht auf, daß es der Name Ikari gewesen war, der ihm den nötigen Respekt
verschafft hatte, stattdessen schob er die bisherige Untätigkeit der Hausverwaltung darauf,
daß sie Rei wahrscheinlich nicht für voll genommen hatten.
Währenddessen machte Rei in ihren Schränken Platz für Shinjis Sachen, nur die oberste
Schublade des Schränkchens ließ sie unberührt, er sollte immer noch nicht wissen, daß sie
seine Handschuhe aufbewahrt hatte.
Nachdem er alles verstaut hatte - soviel besaß er nun doch nicht, seine Hemden und der
Anzug, den Misato ihm geschenkt hat, hingen auf einer Kleiderstange, welche an die Wand
montiert war, der Rest hatte problemlos in die beiden Schubladen gepaßt, die Rei für ihn
freigemacht hatte -, wagte er einen letzten Anlauf, das in seinen Augen bestehende moralische
Dilemma mit dem Bett zu lösen.
„Ich könnte eine Luftmatratze kaufen.“
„Warum?“
„Dann würde ich darauf schlafen und...“
„Es ist genug Platz.“ erklärte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
In der Folge ging er die wichtigsten Dinge auf seiner Liste einkaufen - Kochgeschirr,
Putzzeug, Lebensmittel. Zur Bezahlung benutzte er die in seine ID-Card integrierte Geldkarte
- und natürlich kaufte er auch einen frischen Strauß Blumen...
Als er zurückkam, vollbepackt mit Taschen, kam ihm ein Mann in einer Hausmeisteruniform
entgegen, grüßte knapp und ging an ihm vorbei. Wie sich herausstellte, hatte er die
Warmwasserversorgung und die Heizung gerichtet.
Inzwischen war es früher Nachmittag.
Rei erwartete ihn in der Küche, wo sie bereits wieder über den Büchern hockte.
Shinji räumte einen Teil des Tisches frei und packte seine Einkäufe aus, verstaute sie
teilweise gleich in den Schränken. Noch immer erschien es ihm schwer faßbar, daß sie sich
die Wohnung fortan teilen würden.
Sie beobachtete ihn schweigend mit undeutbarer Miene.
„Rei... ahm... bist du dir immer noch sicher, daß du mich hier haben willst?“
„Völlig sicher.“
„Dann... uhm... ich habe eingekauft...“
„Das sehe ich, Shinji-kun.“
„Uhm... also... ich dachte, ich koche uns etwas... ah... ist da irgendetwas darunter, das du nicht
magst oder nicht essen darfst?“
Sie nahm die eingekauften Lebensmittel in Augenschein.
Reis... Gemüse... Currysoße... Pilze...
„Nein.“
„Gut... uh... dann... wenn ich jetzt anfange, können wir in einer guten halben Stunde essen.“
Eine halbe Stunde... in der Kantine des Hauptquartiers erhielt sie ihre Rationen stets sofort,
mußte nicht einmal anstehen, weil man ihr Platz machte... daß Kochen zeitaufwendig sein
konnte, hatte sie bereits erfahren, als sie mit Hikari Shinji-kuns Geburtstagskuchen gebacken
hatte... in ihrer Küche wurde zum ersten Mal seit ihrem Einzug gekocht...
„Eine halbe Stunde - ist das nicht zuviel Aufwand?“
„Ahm... naja, es gab auch Fertiggerichte, aber... uhm... wenn etwas gut sein soll, dann...
ahm... dann braucht es schon seine Zeit.“
„Ja. Ich verstehe.“
Wenn etwas gut sein soll... ob das auch für zwischenmenschliche Beziehungen galt?
Sie stand auf, ging in den Nebenraum und suchte ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln
heraus.
„Ich werde in der Zeit duschen.“
Shinji nickte abwesend, sah dann zu ihr hinüber, sah noch, wie sie im Bad verschwand, nur
mit ihrer Unterwäsche bekleidet.
Kurz darauf hörte er Wasserrauschen.
Das Bad war nicht groß, wenn man aus der Dusche stieg, mußte man aufpassen, weder über
die Toilettenschüssel zu stolpern, noch versehentlich die Ablage über dem winzigen
Waschbecken abzuräumen, wie Shinji aus eigener Erfahrung wußte. Durch das Schlüsselloch
müßte man eigentlich in der Lage sein, jemanden, der unter der Dusch stand, zu beobachten...
Wie erstarrt blickte Shinji auf die geschlossene schmale Tür, starrte auf das Schlüsselloch,
durch welches Licht fiel. Ein kurzer Blick nur... nur ein Blick auf Rei... nein... sie vertraute
ihm. Wenn er soetwas tat, würde er ihr nicht mehr in die Augen sehen können!
Er schluckte trocken, riß sich von der Tür los und wandte sich wieder dem Herd zu.
Als Rei das Bad wieder verließ, war sie in einer Art Hochstimmung.
Zum ersten Mal seit über einem Jahr hatte sie wieder warmes Wasser zum Duschen gehabt, so
daß es der reinste Genuß gewesen war und sie länger unter den Wasserstrahlen verweilt war,
als eigentlich für die Reinigung notwendig gewesen wäre. Sicher, auch im Hauptquartier gab
es warmes Wasser, doch in den eigenen vier Wänden war es etwas gänzlich anderes. Und
schon dadurch, daß Shinji-kun dafür gesorgt hatte, war ihre Übereinkunft mehr als lohnend.
Er stand immer noch am Herd und bereitete die Mahlzeit vor, in der Küche roch es
appetitanregend nach Essen, daß ihr das Wasser im Munde zusammenlief, eine Reaktion,
welche das Kantinenessen bisher nur im Ausnahmefall hervorgerufen hatte.
Shinji hörte, daß Rei das Bad verlassen hatte, und drehte unwillkürlich den Kopf.
Ihr Anblick ließ ihn alles um ihn herum vergessen, wie sie da an der Tür stand in frischer
Unterwäsche, die alte unter dem Arm, das Haar noch naß, die Haut noch leicht glänzend vor
Feuchtigkeit.
Sie bemerkte seinen Blick, las die Bewunderung in seinen Augen, sah, wie er
geistesabwesend mit einem Kochlöffel umrührende Bewegungen in der Luft machte.
„Shinji-kun, das Essen...“
„Wie? Uh... ah... uh... ja...“
Errötend wandte er sich ab, während sie in den Nebenraum überwechselte, um sich fertig
anzukleiden.
„Ich... uh... ich bin gleich fertig.“
*** NGE ***
Während sie aßen, versicherte Shinji sich immer wieder, daß es ihr auch schmeckte, äußerte
selbst ab und an Kritik an seinen Kochkünsten.
„Shinji-kun, die Mahlzeit schmeckt vorzüglich. Es gibt keinen Grund, daß du dein Können in
Frage stellst.“
„W-Wirklich? Ich dachte nur, daß ich noch etwas hätte nachwürzen können und...“
„Das, was du gekocht hast, übertrifft das Kantinenessen, an welches ich gewöhnt bin, bei
weitem.“
„Dann... uh... dann bin zufrieden... Trotzdem werde ich... ahm... beim nächsten Mal wird es
noch besser werden. Darf ich... uh... möchtest du noch etwas?“
Sie schob ihren Teller zur Seite.
Shinji-kun hatte wirklich viel gekocht, das, was sich noch den Töpfen befand, reichte unter
Garantie für zwei weitere Mahlzeiten.
„Nein, danke. Es war eine sehr gute Mahlzeit.“
„Gut... ah, dann packe ich den Rest weg... in den Kühlschrank...“
„Ja. Die nächsten beide Tage werden wir kaum Gelegenheit haben, gemeinsam und in Ruhe
zu essen.“
„Tests...“ murmelte er, gar nicht angetan von der Vorstellung.
Es freute ihn zu hören, daß Rei geschmeckt hatte, was er gekocht hatte. Doch die nächste
Gelegenheit, für sie zu kochen, würde sich erst wieder in drei Tagen ergeben, wenn sie beide
keine Tests hatten...
*** NGE ***
Am späten Nachmittag, nachdem sie gemeinsam den Abwasch erledigt hatten, machte Shinji
sich daran, das neue Türschloß, welches er ebenfalls besorgt hatte, einzubauen. Leider war es
nicht so einfach, wie auf der schematischen Anleitung dargestellt; selbst Rei wirkte etwas
ratlos, blieb aber bei ihm hocken und sah ihm bei der Arbeit zu.
Für sie war es seltsam anregend zu beobachten, wie Shinji-kun mit den Einzelteilen des
Schlosses hantierte, wie vorsichtig er vorging, wie geschickt seine Finger waren... immer
wieder fragte sie sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn er sie berühren würde...
„Ich glaube so... Verdammt...“
Shinji ließ die Schultern hängen.
Der Einbau hatte geklappt, der Schlüssel drehte sich im Schloß und alles schien zu
funktionieren - nur hatte er die Türklinge falsch herum wiedereingebaut, so daß sie sich nicht
mehr nach unten drücken ließ, sondern nach oben gezogen werden mußte.
Nach kurzem Zögern legte Rei ihm die Hand auf die Schulter.
Ob sie nun die Türklinge nach oben oder nach unten bewegen mußte, was machte das schon
aus?
„Ich finde, du hast es gut gemacht. Deswegen lohnt es sich nicht, alles wieder
auseinanderzunehmen.“
Er seufzte.
„Es sollte perfekt sein.“
„Nichts ist perfekt... keiner von uns.“
Auch sie nicht... denn wenn sie perfekt gewesen wäre, hätte ihre Hand wohl kaum länger als
nötig auf seiner Schulter geruht...
Shinji blickte in ihre scharlachroten Augen, glaubte darin zu versinken.
Langsam bewegte er den Kopf auf sie zu... und ebenso langsam kam sie ihm entgegen,
näherten sich ihre Lippen einander an...
Es klopfte.
Erschrocken fuhren die beiden auseinander.
In der noch immer offenstehenden Tür stand Ryoji Kaji, der an den Türrahmen geklopft hatte,
und grinste breit. Wenn er nicht Katsuragi versprochen hätte, nach den beiden zu schauen,
hätte er sie nicht gestört, schließlich wußte er selbst, wie es in diesem Alter war. Er selbst war
nur ein wenig älter als sie gewesen, als der Second Impact stattgefunden hatte, doch bereits
davor hatte er seine ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht. Und die beiden
sahen auch wirklich süß aus, wie Katsuragi-chan es vermutlich formuliert hätte.
„Hallo, ihr beiden!“
„Uh... Kaji-san...“
Shinji sprang auf, stieß dabei mit dem Fuß gegen den Haufen aus Werkzeug und Teilen des
alten Türschlosses, den er auf dem Boden errichtet hatte.
Rei hingegen richtete sich langsam und elegant auf.
„Major Kaji.“
„Darf ich eintreten?“
„Uhm...“
Shinji sah Rei an, schließlich war es immer noch ihre Wohnung.
„Ja.“
„Danke.“
Kaji trat über die Schwelle und bückte sich, um Shinji beim Einsammeln behilflich zu sein.
„Katsuragi schickt mich.“
„Mi-Misato...“
„Yupp. Sie hat wohl einen mächtigen Kater, hat mich deshalb gebeten, mal vorbeizuschauen.“
„Oh, das... uhm...“
„Ach, sie kommt schon klar, mach dir da mal keine Sorgen, Shinji, ist nicht das erste Mal, daß
sie mehr getrunken hat. So, aber zu euch...“
Er reichte Shinji eine paar Schrauben und einen Schraubenzieher, zog dann ein Tuch aus der
Hosentasche und wischte sich die Hände ab.
„Dein Gesicht sieht ja übel aus, schätze, das war Asuka.“
„Ja, Kaji-san.“
„Hm... Ja, sie hat diese Erst-Zuschlagen-Und-Dann-Fragen-Philosophie verinnerlicht... das
mag ja gegen die Engel ganz nützlich sein, aber sonst... Gut, äh, eigentlich wollte ich nur
schauen, wie ihr klarkommt.“
„Alles ist in Ordnung, Major. Es gibt keinen Grund zur Beschwerde.“
„Ja? Schön...“
Die Hände in den Hosentaschen wanderte Kaji durch das Apartment.
„Wenn ihr etwas brauchen solltet, zögert nicht, mir Bescheid zu sagen... ich leite es dann an
den Quartiermeister weiter.“
„Ahm, sehr... sehr freundlich von Ihnen.“
Kaji zuckte mit den Schultern.
Noch freundlicher wäre es seiner Ansicht nach gewesen, den beiden ein Flugticket ans andere
Ende der Welt zu kaufen und sie persönlich in den Flieger zu setzen, anstatt sie weiterhin als
EVA-Piloten ihr Leben aufs Spiel setzen zu lassen...
„Ach, egal. Ich wollte euch noch sagen, daß ihr euch sehr gut gegen den letzten Engel
geschlagen habt.“
„Uh, danke.“
Shinji strahlte.
„Und, hm, Rei, ich muß mal kurz mit Shinji allein sprechen. - Komm mal mit auf den Flur.“
„Ja. Major.“
„Uhm, ich komme.“
Kaji zog die Tür hinter ihnen zu.
„Shinji, die Entwicklung der ganzen Sache hat mich auch etwas überrollt... wenn Katsuragi
das ganze mit mir besprochen hätte, hätte ich ihr abgeraten, Asuka bei sich aufzunehmen.
Aber wenigstens hast du einen Ort gefunden, wo du unterschlüpfen kannst. Wenn du jedoch
zurückwillst, könnte ich Asuka kräftig ins Gewissen reden - ich glaube, auf mich hört sie ein
wenig."“
„Das, uhm, ist nicht nötig, Kaji-san. Rei und ich... uhm... ich glaube, wir kommen ganz gut
miteinander aus.“
„Das hoffe ich. Manchmal erkennt man die ganzen Macken und Schwächen einer Person erst,
wenn man sie näher kennenlernt... und manchmal gefällt einem das Gesicht, das man dann
sieht, gar nicht mehr...“
„Sie kennt meine Fehler... jedenfalls die meisten.“
„Das meinte ich doch gar nicht. Aber... hm... auch Rei könnte nicht so perfekt sein, wie du
vielleicht denkst.“
„Nein, nein... sie... ich weiß, daß sie nicht perfekt ist, niemand ist das.“
„´Bist ein kluger Junge, Shinji. Aber euer... hm... Arrangement könnte dem Kommandanten
gänzlich mißfallen.“
„Vater...“
Kaji erschrak über den Ausdruck von Haß, der kurz auf Shinjis Gesicht erschien.
„Ja, genau. Für ihn ist Rei sein ganz eigenes Projekt... die perfekte EVA-Pilotin... er hat sich
immer gegen die Massenproduktion von EVAs ausgesprochen, wenn es nach gegangen wäre,
hätte es nur den Prototypen und den Testtypen gegeben. Mit Hilfe des Prototypen wären die
ganzen Macken und Fehler des Systems ausgemerzt worden und EVA-01 wäre ohne all das
dann konstruiert worden. Aber das Komitee hinter NERV wollte sicher gehen und ließ
weitere Piloten rekrutieren und trainieren... sonst würde Rei Einheit-01 steuern... und als
Gendo Ikaris Mündel würde ihr Ruhm ein strahlendes Licht auf ihn werfen... aber das ist nur
meine Deutung des ganzen.“
„Ahm, ja, Kaji-san.“
„Gut... Ich werde Katsuragi sagen, daß bei euch alles in Ordnung ist; werde in den nächsten
Tagen ab und an mal vorbeikommen, wenn ich in der Gegend bin.“
Shinji nickte, obwohl ihm der Gedanke, daß der ältere Mann wahrscheinlich immer in
ähnlichen Momenten hereinplatzen würde, mißfiel.
„Wie ich sagte, deinem Vater dürfte diese Konstellation mißfallen. Eigentlich gibt es eine
Order, dernach er über jede Veränderung in Reis Verhalten unterrichtet werden will... hat aber
schon mein Vorgänger etwas lascher ausgelegt... ich glaube, ich habe sie überhaupt noch nicht
gesehen... und wenn ich weiter darüber nachdenke, weiß ich nicht einmal, ob es sie wirklich
gibt, habe eigentlich wichtigeres zu tun, als irgendwelchen Gerüchten nachzugehen... wir
verstehen uns, oder?“
Kaji zwinkerte.
„Ja, Kaji-san.“
„Ich werde das hier allerdings nicht ewig decken können. ´Keine Ahnung, wann der
Kommandant wohl wieder nach Tokio-3 zurückkehrt, aber zumindest solange wird er nichts
davon erfahren, versprochen.“
„Kaji-san... warum... uhm... warum tun sie das?“
„Tja, Junge, ein wenig erinnerst du mich an mich selbst. Und außerdem - wer weiß, wann ich
dich vielleicht mal um einen Gefallen bitten muß, dann ist es doch besser, wenn du in meiner
Schuld stehst, oder?“
Sein breites Grinsen raubte seinen Worten den Ernst.
„Uhm...“
„Ganz meine Rede. Eins noch... mir ist aufgefallen, daß da drin... nun, wie soll ich es sagen...
daß ihr nur ein Bett habt...“
Shinji wurde rot.
Kaji nickte, soetwas hatte er sich schon gedacht.
„Katsuragi hat schon gesagt, daß sie euch ermahnt hat, keine Dummheiten zu machen.
´Schätze, daß das etwas schwerfallen dürfte. Mal sehen, ich müßte doch...“
Er begann in den Hosentaschen zu kramen, drückte Shinji schließlich zwei Tütchen in die
Hand.
„Das soll keine Aufforderung sein, wirklich nicht. Aber ich war auch mal jung... hm,
eigentlich fühle ich mich immer noch so... und weiß deshalb, wie das ist. Aber sicher ist
sicher, nicht vergessen, Shinji.“
Shinji starrte auf die beiden kleinen Tüten in seiner Hand.
Das waren definitiv keine Luftballons...
„Ah... ahm... danke, Kaji-san... aber ich werde... ich meine...“
„Aber wenn doch...“
Kaji zwinkerte wieder.
„Und vergiß eines nie - was ihr auch tut, ihr müßt beide damit einverstanden sein.“
„Ja... uhm... ja... das... das denke ich auch... uh...“
„Gut, ich muß dann weiter. Und nicht vergessen, ja?“
Shinji nickte hastig.
Kaji drehte sich um und ging leise pfeifend den Flur hinunter.
Shinji schluckte, stopfte die Tütchen mit den Kondomen in die Tasche, wollte nicht damit
gesehen werden, schon gar nicht von Rei, die darauf vielleicht falsche Schlüsse gezogen hätte.
Dann stellte er fest, daß er den Türschlüssel drinnen hatte stecken lassen.
„Rei?“ rief er laut und klopfte.
Einen Moment dauerte es, bis sie die Tür öffnete und ihn einließ.
Über die Türschwelle zu treten vermittelte ihm den Eindruck, nach Hause zu kommen, dabei
war es trotzdem anders, als wenn er Misatos Apartment betreten hätte, oder das Haus seiner
Pflegeeltern, denn nur hier hielt sie sich auf...
*** NGE ***
Am Abend zögerte Shinji das Zubettgehen immer wieder hinaus, zuerst bereitete er noch
einen Happen zu essen, dann wollte er noch schnell ein paar Aufgaben erledigen...
„Ohne ausreichenden Schlaf wirst du morgen unkonzentriert sein.“ stellte Rei fest. Während
er noch über den Büchern gesessen hatte, hatte sie sich bereits umgezogen.
„Ich... ah... ich dusche noch schnell.“
Sie nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis und ging schon einmal zu Bett.
Als Shinji nach einer längeren kalten Dusche schließlich auf Zehenspitzen in den Schlafraum
kam und bereits überlegte, ob er nicht besser wieder auf dem Boden schlafen sollte schließlich funktionierte die Heizung jetzt und erzeugte eine mollige Wärme -, setzte sie sich
auf.
„Kommst du?“ fragte sie leise.
Das übliche „Uhm“ blieb in seiner Kehle stecken, als er sich neben sie legte und ihr den
Rücken zudrehte, um die Versuchung so gering wie möglich zu halten.
Doch am nächsten Morgen, als sie erwachten, blickten sie einander wieder ins Gesicht.
So ging es gute zwei Wochen lang; wenn beide kein Synchron-Training hatten, kochte Shinji
eine Riesenmahlzeit, deren Reste für die jeweils nächsten beiden Tage aufbewahrt worden.
Die knappe Freizeit verbrachten sie mit Lernen für die näherrückenden Tests, wobei sie sich
selbst immer wieder dabei erwischten, den jeweils anderen bereits einen längeren Zeitraum
über still angeblickt zu haben, doch beide wahrten einen gewissen Abstand zueinander, selbst
nachts, wenn der eine oder die andere mitten in der Nacht aufwachte und feststellte, daß sie
einander eigentlich näher waren, als unter solchen Umständen empfehlenswert, überschritten
sie die Grenze nicht, welche zwischen enger Freundschaft und der nächsten Stufe bestand.
In der Schule sonnte Asuka sich so lange wie möglich in ihrem Ruhm und grinste ansonsten
stets zu Shinji hinüber, dem es mit der Zeit leichter fiel, sie zu ignorieren. An den Tagen, an
denen Rei zum Synchron-Training eingeteilt war, traf Shinji sich mit Kensuke und Toji, diese
hatten in den letzten Tagen mit dem Verkauf von Fotos Asukas an ihre zahlreichen Verehrer
ein kleines Vermögen gemacht.
Bis zu den Prüfungen war es nur noch eine Woche und entsprechend panisch verhielten sich
alle, selbst Toji hockte nun über seinen Büchern, allerdings tat er dies in einem kleinen Park,
wo er sich mit Hikari traf. Wieviel Zeit da also wirklich zum Lernen aufgewandt wurde,
konnte weder Shinji noch Kensuke sagen. Letzterer machte immer öfter ein mißmutiges
Gesicht und murmelte vor sich hin, er hätte auch gerne eine Freundin. Shinji schlug sich den
plötzlichen Einfall, Kensuke doch mit Asuka zu verkuppeln, im Interesse seines Freundes
schnell wieder aus dem Kopf.
Misato Katsuragi war am nächsten Tag auch wieder halbwegs nüchtern gewesen und hatte
ihm in verschwörerischen Tonfall erklärt, sie würde ihn und Rei ebenfalls decken, soweit es
ihr möglich war, ermahnte ihn im selben Atemzug aber noch ebenfalls wieder, keine
Dummheiten zu machen, vor allem nicht mit Rei. Als er sich nach Asuka erkundigte, nahm
ihr Gesicht kurz einen gehetzten Ausdruck an, ehe sie erklärte, sie würden sich schon
zusammenraufen.
Gendo Ikari war immer noch nicht zurückgekommen von seiner Reise, stattdessen führte der
Subkommandant Kozo Fuyutsuki weiterhin das Kommando im Hauptquartier. In dieser Zeit
schienen alle viel entspannter und weitaus weniger gestreßt, auch erkundigte Fuyutsuki sich
öfters nach dem Befinden der Piloten und lud Shinji sogar einmal zum Essen in die Kantine
ein, wo er mit ihm ein Gespräch über die Schule und andere Alltagsthemen führte.
Ritsuko Akagi verkündete mit ungewohnter Freude, daß sich die Synchronwerte des First und
Third Children kontinuierlich verbesserten, sie ging sogar soweit, im Testcenter ein schwarzes
Brett anbauen zu lassen, auf dem sie jeden Tag die aktuellen Werte bekanntgab, nach einer
Woche hatten Reis Werte sich denen Shinjis stark angenähert, welcher sich selbst nur
langsam verbesserte und sich im Schneckentempo der 65er-Marke näherte. Unerreichbar
allerdings schien immer noch Asukas Synchronratio von 84,7.
Das LCL hatte inzwischen einen Beigeschmack nach Äpfeln, Gerüchten zufolge, deren
Quelle Maya Ibuki war, experimentierte Doktor Akagi allerdings mit weiteren
Geschmacksrichtungen.
EVA-00 war mittlerweile wieder voll einsatzfähig, dasselbe galt für die anderen beiden
Einheiten. Eigentlich fehlte nur ein Gegner, an dem das Potential der drei EVANGELION
ausprobiert werden konnte.
Ryoji Kaji sah in diesen zwei Wochen dreimal bei Shinji und Rei vorbei und ließ sich
jedesmal von Shinji schwören, daß immer noch alles in Ordnung war, auch Misato kam
einmal zu Besuch und brachte ein paar Leckereien mit, die sie an einem nahen Kiosk
erstanden hatte, Stirnrunzeln verursachte nur die Tatsache, daß die beiden sich ein Bett teilten,
was weitere inquisitorische Fragen zur Folge hatte.
In der letzten Nacht - bis zu den Prüfungen waren es noch genau sechs Tage - wurde Rei
geweckt, weil Shinji in seiner Hälfte des Bettes unruhig schlief. Dazu bewegten sich seine
Lippen im Schlaf.
Sie brachte ihr Ohr näher an seine Lippen heran.
Er summte eine Melodie, dieselbe Melodie, zu der sie gegen den Zwillingsengel gekämpft
hatten. Wahrscheinlich träumte er. Wie es wohl war zu träumen? Rei selbst hatte noch nie
geträumt, jedenfalls konnte sie sich nicht wirklich daran erinnern, ihr Schlaf war in der Regel
tief und traumlos, nur manchmal erinnerte sie sich am nächsten Morgen an
unzusammenhängende Bilder, welche zumeist mit dem Amoklauf von EVA-00
zusammenhingen.
Und so unruhig wie Shinji war, hatte er keinen angenehmen Traum.
Dann flüsterte er leise abgehackte Worte.
„Rei... Rei, nein... Rei...“
Sie zuckte leicht zusammen, als er ihren Namen flüsterte.
Er träumte also von ihr... aber warum war er dann so unruhig?
„Nicht... geh nicht... Rei...“
Wovon träumte er?
„Rei... ich will dich nicht verlieren...“
Sie stieß hörbar die angehaltene Luft aus.
Vielleicht erlebte er in seinem Traum den letzten Einsatz noch einmal nach... nur schien sich
seine Phantasie nicht an die Realität zu halten...
„Rei...“
Das letzte Flüstern glich mehr einem erstickten Schluchzen.
Nein, das war wirklich kein angenehmer Traum... doch was konnte sie tun? Shinji-kun schien
zu leiden... und sie hatte geschworen, derartiges künftig zu vereiteln...
Also zog sie ihn an sich und schloß sie ihn in ihre Arme...
Schon bald beruhigte er sich und schlief den Rest der Nacht friedlich weiter.
Am folgenden Morgen stellte Shinji mit Beklommenheit fest, daß er nicht nur in Reis Armen
aufgewacht war, sondern daß sein Kopf auch noch auf ihrer Brust ruhte. Sie hatten doch nicht
etwa... nein, daran konnte er sich nicht erinnern... das hätte er sicher nicht vergessen...
„Bist du wach, Shinji-kun?“
„Ja... Was...“
„Du hattest einen... Alptraum.“
„Uhm, das... das tut mir leid.“
Sie ließ ihn los, woraufhin er sich sogleich ein Stück von ihr fortschob.
„Das... ahm... ich wollte dir nicht...“
„Es war meine Entscheidung.“
Und sie konnte nicht verleugnen, daß es angenehm gewesen war, ihn in ihren Armen zu
halten.
Sie setzte sich auf.
„Ist es dir unangenehm?“
„Ich... nein, aber... ich will dir nicht... ich will nichts tun, womit du nicht einverstanden bist...“
Rei lächelte.
„Das könntest du nicht.“
Dieses Gespräch hatten sie doch schon einmal geführt.
„Dann...“
„Wovon hast du geträumt?“
Shinji setzte sich ebenfalls auf.
„Uhm... ich habe geträumt... der Zwillingsengel wäre wieder da... nur...“
Er schluckte. Daß die beiden Hälften ausgesehen hatten wie sein Vater, verschwieg er besser.
„Nur hat der Plan nicht geklappt... und... sie haben uns besiegt... und...“
Wieder schluckte er, spürte, wie seine Augen feucht wurden.
Seine Stimme versagte.
Er hatte geträumt, daß Reis EVA zerstört worden war, daß sie den Kampf nicht überlebt
hatte...
„Es war kein schöner Traum“, flüsterte er schließlich.
„Ja.“ antwortete sie und zog ihn wieder in ihre Arme. Willig ließ er es geschehen, erwiderte
schließlich die Geste.
Als wäre sein Traum ein Omen gewesen, wurden sie keine halbe Stunde später beide per
Handy benachrichtigt und zu einer Einsatzbesprechung ins Hauptquartier gerufen.
7. Zwischenspiel:
An der Westküste Nordamerikas, nördlich der Ruinen von Los Angeles, befand sich die USamerikanische Zweigstelle von NERV, hier wurde zur Zeit Einheit-04 nach den Maßgaben
der Massenproduktion konstruiert. Im Gegensatz zum ersten Modell der Serie, EVA-02, sollte
die Einheit jedoch mit einem sogenannten S2-Organ ausgestattet werden, einer Energiequelle
nach dem Vorbild der Herzen der Engel, welche imstande war, den EVA über längere Zeit
hinweg einsatzfähig und unabhängig von äußerer Energieversorgung zu halten. Das Organ
war aus Zellen gezüchtet worden, die aus dem Herzen des Leichnams des zweiten in Tokio-3
besiegten Engels entnommen worden waren. Da die Zellstruktur der Engel und der EVA
praktisch identisch war, konnte das S2-Organ in den EVA integriert werden, ohne daß es zu
einer Abstoßung kam.
Als Pilot der Einheit sollte Kaworu Nagisa fungieren, das Fifth Children. Nagisa war
Vollwaise, geboren am Tag des Second Impact, sein Vater war am Tag seiner Geburt
gestorben, seine Mutter aufgrund mangelhafter medizinischer Versorgung ein paar Tage
später. Seine ersten fünf Lebensjahre hatte er in einem Waisenhaus verbracht, da ihn niemand
aufgrund seines seltsamen Äußeren hatte aufnehmen wollen: Kaworu war ein Albino, seine
Haut war schneeweiß, sein Haar etwas dunkler, eher schieferfarbengrau, seine Augen blutrot.
Als er fünf Jahre alt war, war vom MARDUK-Institut seine Befähigung, einen EVA steuern
zu können, erkannt worden, woraufhin NERV ihn aus dem Waisenhaus geholt und fortan auf
seine Aufgabe vorbereitet hatte.
Noch wenige Tage und es war soweit, dann würden die ersten Aktivierungstest von EVA-04
mit dem S2-Organ beginnen...
Kaworu stand gerade vor dem Spiegel im Badezimmer seines Quartiers und war bemüht, sein
widerspenstiges Haar zu bändigen, als ihm etwas auffiel - sein Spiegelbild machte ganz
andere Bewegungen!
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in den Spiegel.
Sein Spiegelbild lächelte ihn an.
„Wa-Wa-Wa...“ stammelte Nagisa und ließ den Kamm fallen.
„Keine Angst.“ flüsterte sein Spiegelbild - und kletterte aus dem Spiegel!
Kaworu warf sich herum und wollte den Raum verlassen, doch seine Beine bewegten sich
wirkungslos in der Luft, er schwebte eine Handbreit über dem Boden, kam keinen Millimeter
voran.
Er schrie, brüllte um Hilfe, gab lautstark Alarm.
„Das ist zwecklos, Lilim.“
Sein Spiegelbild... sein Doppelgänger stand jetzt direkt neben ihm, sein Körper schien aus
feinem Nebel zu bestehen, den Eindruck hatte Kaworu jedenfalls, ging der andere doch
problemlos durch Hindernisse wie beispielsweise die Toilettenschüssel.
„Wer bist du?“
Kaworus Herz hämmerte vor Furcht.
„Mein Name lautet Tabris. Ich benötige deine Hilfe, Lilim.“
„Wie... warum...“
„Es wird nicht wehtun... ich leihe mir nur deinen Körper aus.“
„Nein... nein... das... das geht nicht... das erlaube ich nicht...“
„Es muß sein, zum Wohle meiner und deiner Art...“
Und sein Spiegelbild trat auf ihn zu und in ihn hinein...
Im nächsten Moment verlor Kaworu den Boden unter den Füße und stürzte hin, oder besser,
verschwand das unsichtbare AT-Feld, das ihn bisher in der Luft gehalten hatte. Er stand auf,
richtete seine Kleidung, sah noch einmal in den Spiegel.
Das Gesicht, welches er sah, machte einen panischen Eindruck, preßte sich mit aller Kraft
gegen das Glas.
„Es ist nicht von Dauer, Lilim... sofern ich meine Mission erfüllen kann...“ versuchte er, den
eigentlichen Besitzer dieses Körpers zu trösten, dessen Platz er eingenommen hatte...
Kapitel 25 - Tanz auf dem Vulkan
Misato Katsuragi, deren Jacke jetzt einen weiteren Streifen trug, erwartete die Piloten bereits
mit Subkommandant Fuyutsuki im Besprechungsraum.
Kaji und Akagi fehlten, letzteres war der ebenfalls bereits anwesenden und in ihre PlugSuit
gekleideten Asuka herzlich egal, ersteres jedoch nicht. Ihrer Ansicht nach war Ryoji Kaji der
einzige Mensch, der sie wirklich verstand; Misato war zwar ganz nett, doch ihr gluckenhaftes
Verhalten ging ihr kräftig auf die Nerven.
Als Shinji und Rei schließlich den Raum betraten, hatte Asuka für die beiden keinen Blick
übrig. Es war ja kein Wunder, daß die Stadt über der Geofront immer wieder schwere
Schäden hinnehmen mußte, wenn die beiden derart langsam waren, daß die Engel bis ins
Stadtgebiet vordringen konnten!
Misato nickte Shinji zu, wandte sich dann dem Monitor zu, dieser zeigte einen Berg.
„Das ist der Asamayama, ein inaktiver Vulkan. Wir haben in den letzten Wochen immer
wieder schwache Signale aus dieser Region aufgefallen, die auf das Vorhandensein eines
Blauen Musters hindeuteten. Mit Hilfe einiger Vulkanologen und einer Experimentalsonde
konnten wir die Magma tief genug ausloten, um die Anwesenheit eines Engels bestätigen zu
können. Der Engel ist inaktiv, laut den MAGI befindet er sich in einer Art
Verpuppungsstadium. Kommandant Ikari hat die Anweisung des Komitees bestätigt, den
Engel gefangenzunehmen. Wir werden also versuchen, ihn nach Möglichkeit lebend zu
bergen und festzusetzen. Doktor Akagi hat hierfür einen Spezialkäfig konstruiert. Zur Zeit
wird am Hang des Vulkans ein Basislager errichtet, von dem aus die Operation befehligt wird,
alle drei EVAs werden sich vor Ort befinden, allerdings wird nur einer von euch mit seiner
Einheit in den Vulkan selbst vordringen, um die Bergung durchzuführen.“
Asukas Arm schoß in die Höhe.
„Das mache ich!“ rief sie.
Rei bedachte sie mit einem schwer deutbaren Seitenblick.
Ihrer Ansicht nach bestanden gute Chancen, daß Soryu mit ihrer übereilten Handlungsweise
bei der Operation versagte.
Misato zögerte kurz, nickte dann.
„Gut, Asuka, du übernimmst den Job. Doktor Akagi hat im Augenblick spezielle
Schutzanzüge für dich und den EVA in Arbeit. Punkt zwölf Uhr mittag brechen wir auf. Die
anderen beiden EVAs werden als Rückendeckung fungieren.“
„Die brauche ich nicht!“ erklärte Asuka. „Das schaffe ich allein.“
Misato warf ihr einen Blick zu, der nur eines aussagte: Wir machen es so, wie ich gesagt
habe, oder du bist draußen.
„Asuka, du solltest zu Doktor Akagi in die Werkstatt gehen.“
„Okay.“
Mit weitausholenden Schritten verließ die Rothaarige den Raum.
„Uhm, und wir?“ fragte Shinji.
„Ihr beide fahrt mit mir, bis zwölf habt ihr frei, vielleicht wollt ihr noch ein bißchen Gepäck
holen, vor morgen abend kommen wir garantiert nicht zurück.“
„Ja...“
Auch Shinji und Rei verließen den Besprechungsraum.
Fuyutsuki blickte Misato mit gerunzelter Stirn an.
„Kann ich kurz mit Ihnen sprechen, Major?“
„Sicher, Subkommandant.“
„Es geht um die beiden Kinder... Rei und Ikaris Sohn.“
„Ja...?“
„Ich frage mich, wann sie gedachten, mich oder Ikari darüber in Kenntnis zu setzen, daß die
beiden zusammenwohnen...“
„Uhm... also, Sir, das...“
„Kein Grund zur Aufregung, Major. Es ist zwar alles andere als üblich, aber wenn ich Akagis
letzte Berichte richtig deute und in Zusammenhang bringe, dürfte das der Grund für das
Ansteigen der Synchronraten der beiden sein. Von dieser Warte aus gesehen, kann ich
schlecht etwas dagegen unternehmen. Nur Ikari wird das ganze bitter aufstoßen, er betrachtet
Rei als sein Eigentum.“
„Wirklich?“
„Sonst hätte er kaum soviel Zeit und Ressourcen in sie investiert. Rei sollte für ihn die Engel
bekämpfen, doch dann kam es bei den Aktivierungstests zu diesem Unfall und sie wurde
verletzt, weshalb er seinen Sohn aus dem Exil zurückbeordern mußte... - Der Ausdruck Exil
erstaunt Sie, Major?“
„Ja.“
„Er konnte ihn nicht mehr brauchen, also schickte er ihn fort.“
„Warum konnte der Kommandant seinen Sohn nicht mehr brauchen?“
Fuyutsuki schüttelte den Kopf.
„Es gibt Fragen, auf die Sie besser die Antwort nicht wissen sollten.“
Er konnte ihr ja nicht erzählen, daß Shinjis Mutter nur noch des Jungen wegen bei Ikari
geblieben war...
„Wie Sie meinen, Sir.“
„Die beiden machen einen recht zufriedenen Eindruck auf mich... vielleicht sogar einen
glücklichen... aber das ist schwer zu sagen. Wissen Sie, ob bereits Kontakte intimer Art
stattgefunden haben?“
„Ich... ahm, Sir, über derartiges habe ich mich nicht mit ihnen unterhalten.“
„Ja, natürlich.“
Fuyutsuki seufzte.
„Sie sind eigentlich noch zu jung... andererseits ist das hier kaum noch die Welt, in der ich
aufgewachsen bin... Gut, Major, solange Sie ihm nichts über die Angelegenheit sagen, wird
Ikari von mir ebenfalls nichts darüber erfahren.“
„Zu Befehl.“ grinste Misato.
„Die beiden haben bereits viel für uns getan, daß es mir nur recht und billig erscheint, ihnen
ein wenig Glück zu gönnen, solange dies noch möglich ist.“
*** NGE ***
Der Konvoi an Fahrzeugen wälzte sich über die Straßen, allen voran Misatos blauer
Sportwagen, dem drei Schwertransporter und mehrere Geländewagen folgten, alle in olivgrün
und mit dem NERV-Symbol an den Seiten, ferner wurde der Konvoi von zwei Hubschraubern
begleitet.
In Misatos Wagen saß vorn auf dem Beifahrersitz Ritsuko Akagi, wie Misato hatte sie eine
Sonnenbrille aufgesetzt. Aus dem Radio kam Musik, bei welcher die beiden Frauen
mitsangen.
Auf dem Rücksitz saßen Shinji und Rei, beide schon in einem fast komaartigen Zustand von
Misatos Fahrkünsten und dem unstimmigen Gesang.
„Ein Vulkan...“ überlegte Shinji laut. „Asuka will tatsächlich mit ihrem EVA in einen Vulkan
springen...“
Ritsuko unterbrach ihren Gesang und warf einen Blick über die Schulter.
„Einer von euch mußte es machen, und sie hat sich freiwillig gemeldet, ist doch besser als
Streichhölzer ziehen.“
„Uh, ja, aber hält der EVA das aus?“
„Tja, gute Frage, ist ja keiner von meinen...“
Als sie Shinji erschrockenen Gesichtsausdruck sah, lachte sie.
„So war das nicht gemeint. Die EVAs halten die Temperaturen schon aus, problematisch wird
es nur mit dem Druck im Inneren des Vulkans, ich habe daher eine spezielle PlugSuit aus
hitzeabweisenden Material für Asuka und einen gekühlten Druckanzug für EVA-02
hergestellt.“
„Einfach so? Das... uhm... das ist beeindruckend.“
„Nein, so gut bin ich nun auch wieder nicht - aber ich arbeite daran. Wir haben bereits
Ausrüstung für die EVAs für Unterwassereinsätze, die ich etwas modifiziert habe, seitdem
wir zum ersten Mal das Signal aus der Region des Vulkans aufgefangen haben. Von gestern
auf heute hätte ich das nun doch nicht geschafft. Aber der Käfig für den Engel, der ist
wirklich genial, wie ein Haikäfig, nur aus der gleichen Substanz, mit der auch die Panzerung
der EVAs beschichtet ist.“
„Ja, Ritsuko, wir sind alle schwer beeindruckt“, gähnte Misato. „Sag mal, am Fuße des
Vulkans gibt es doch heiße Quellen, oder?“
Ritsuko sah Misato genervt an.
„Ein Thermalbad, ja.“
„Super! Dann können wir dort feiern, wenn der Einsatz beendet ist.“
„Denkst du eigentlich nur ans Saufen?“
„Nein, manchmal denke ich auch an Kerle“, entgegnete Misato fröhlich.
Ritsuko seufzte laut.
Rei schwieg. Nur ihre Hand lag zwischen ihr und Shinji wie eine Aufforderung.
Und als Shinji sie endlich bemerkte, und als er endlich sein Zögern überwand und sie in seine
Hand nahm, lehnte sie sich zurück und schloß die Augen.
„Schau mal, Misato!“ flüsterte Ritsuko und blickte bedeutsam in den Rückspiegel.
„Ui!“ Misato lächelte, als sie die beiden auf der Rückbank sah, beide mit geschlossenen
Augen und scheinbar schlafend, dabei händchenhaltend.
„Gendo würde verrückt werden, wenn er das sehen könnte. Sein eigener Sohn und seine
Lieblingspilotin, Hand in Hand!“
„Hm, einen durchgeknallten Kommandanten können wir uns nicht leisten, die Engel und
Asuka reichen mir eigentlich.“
„Nun, dann sollte er es vielleicht nicht erfahren.“
„Stimmt, Ritsuko, stimmt...“
Misato grinste breit.
Anscheinend war sie wirklich nicht die einzige, welche die zwischen den beiden Teenagern
aufkeimende Beziehung beschützen wollte...
*** NGE ***
Am späten Nachmittag des selben Tages stand Shinji mit EVA-01 am Rand des
Vulkankraters.
Schräg hinter ihm stand EVA-00, bei waren an externe Energiequellen angeschlossen.
Wenn es glattging, würden sie nicht gebraucht werden, dann hatte das ganze für sie eher den
Charakter einer Trainingsmission. Die Last der Gefahr lag ganz auf Asukas Schultern, welche
sich immer noch in jenem Lkw aufhielt, in dessen Container sich Ritsuko Akagis
transportable Werkstatt und die Kommandozentrale für den Einsatz befanden.
In Gedanken ging Shinji verschiedene Gleichungen durch, die er für den Physiktest in der
nächsten Woche benötigen würde, welcher als Schwerpunkt Thermodynamik haben würde.
Wenn man einen Gegenstand erwärmte, dehnte er sich aus...
Angesichts der Hitze im Inneren des Vulkans würde EVA-02 einen wirklich guten
Schutzanzug brauchen, oder er würde mächtig auseinandergehen...
„Was da wohl so lange dauern...“ murmelte Shinji.
Er sah auf dem kleinen Monitor, welcher das Bild aus dem EntryPlug des anderen EVAs
übertrug, wie Rei mit den Schultern zuckte, eine Geste, die sie sich erst in letzter Zeit
angeeignet hatte
Shinji war wirklich froh, daß weder er noch sie diesen Einsatz durchführen mußten, selbst
wenn Akagi erklärt hatte, daß die EVAs zumindest einen kurzfristigen Kontakt mit der Lava
überstehen konnten, ohne daß Gefahr für den jeweiligen Piloten bestand.
„Kanal drei.“ sagte Rei plötzlich.
„Uh? Ahm, Moment...“
Er nahm eine entsprechende Schaltung an einem der Regler neben den kleinen Monitoren der
ComPhalanx vor. Eigentlich waren die Kanäle bereits eingestellt, mal sehen, was Rei entdeckt
hatte...
Der Bildschirm blieb dunkel, allerdings drangen Stimmen aus dem Lautsprecher.
„Nein, das darf doch nicht wahr sein! Damit gehe ich nicht raus!“
Das war Asuka...
Shinji sah Rei fragend an, doch sie reagiert nicht, schien selbst konzentriert zu lauschen.
„Ohne den Schutzanzug kannst du nicht in den Plug, der Druck im Inneren des Vulkans
würde dich zerquetschen, bevor dein EVA auch nur die erste Delle zeigt.“
Akagi...
„Aber so...“
„So ich den Einsatz einem der beiden anderen geben?“
Das war Misato, deren Stimme sehr resolut klang.
„Nein! Ich mache das... aber unter Protest!“
Eine Tür wurde zugeschlagen, dann erklang noch einmal Akagis Stimme:
„Warte erst, bis sie ihren EVA sieht...“
Shinji ließ EVA-01 eine Vierteldrehung machen, so daß er das Kommandomodul besser im
Blick hatte.
Eine Tür an der Außenseite des Containers wurde geöffnet, ein roter Haarschopf lugte
vorsichtig ins Freie, ein knallrot angelaufenes Gesicht blickte nach links und rechts, dann
huschte Asuka Soryu Langley an der Wand entlang auf den Transporter zu, auf dessen
Ladefläche sich ihr EVA befand, überwand ein Stück offenen Geländes mit weiten Sprüngen
und verschwand im Transportcontainer.
Shinji konnte nur mit großer Mühe ein lautes Lachen unterdrücken.
Asuka hatte einfach zu komisch ausgesehen... der Druckanzug, welcher von der Farbgebung
her ihrer normalen PlugSuit ähnelte, war aufgeblasen gewesen wie ein Luftballon, so daß sie
eher gehüpft als gelaufen war, gerade so, als hätte sie mit einem Schlag etwa fünfhundert
Pfund an Gewicht zugelegt.
„Rei, hast du das gesehen?“ prustete er schließlich.
„Gesehen und aufgezeichnet.“ antwortete Rei in ihrer monotonsten Stimme.
„Uh... Bin ich froh, daß wir soetwas nicht tragen müssen...“
„Bestätigt, Shinji-kun. Das wäre äußert... hinderlich.“
Ihre Stimme bebte leicht, verriet, daß sie selbst ebenfalls vom Anblick Soryus belustigt
gewesen war.
Der Transportcontainer öffnete sich, das Dach klappte auf, erlaubte dem EVANGELION sich
aufzusetzen.
Shinji starrte den Hauptmonitor nur an.
Das wurde ja immer besser...
EVA-02 steckte in einem riesigen roten Taucheranzug, der an verschiedenen Stellen viel zu
weit war. Langsam kletterte er von der Ladefläche, ging dabei leicht geduckt, als wollte er
nicht gesehen werden. Aus der Steuerkapsel kam noch kein Funksignal, anscheinend war
Asuka nicht gerade nach Gesprächen zumute.
Umständlich befestigte EVA-02 zuerst das Kabel der externen Energieversorgung, dann
insgesamt vier Leitungen für Kühlflüssigkeit und ein Halteseil am Rückentornister.
Und schließlich ging Asuka selbst online und ihr Bild erschien auf einem der Monitoren.
„Wehe, irgendwer lacht“, knurrte sie und ließ ihren EVA mit weiten Schritten auf den
Kraterrand zu treten.
Misato gab das Signal zum Beginn der Operation.
Ziel war die Gefangennahme des Zieles: Sandarphone...
*** NGE ***
Der Abstieg in den Vulkan verlief ohne Komplikationen, die Schutzmaßnahmen erwiesen
sich als äußerst wirksam, in Asukas EntryPlug kletterte die Temperatur auf 40° Celsius und
verblieb dort.
Langsam wurde sie tiefer in die flüssige Lava hinabgelassen, bis sie schließlich in Sichtweite
des Engels kam.
„Das sieht aus wie ein großes Ei!“ vermeldete sie keuchend.
„Benutz jetzt den Käfig, wir holen euch beide dann wieder raus!“ wies Misato an.
„Okay. ´Kann´s kaum erwarten, hier wieder rauszukommen...“
Sie brachte den Käfig in Position.
„Hab ihn! Holt mich hoch!“
Da brach das Ei auf...
*** NGE ***
Für die Menschen an der Oberfläche, welche die Übertragung des EVAs in der Tiefe
beobachteten, hatte der Engel nur schattenhafte Umrisse, Asuka vermeldete allerdings eine
starke Ähnlichkeit mit dem Riesenfisch, den sie bekämpft hatte.
Offenkundig war der Engel erwacht. Und ebenso offenkundig war er in den ersten Minuten
seiner Existenz um einiges gewachsen. Die Hitze und der Druck im Inneren des Vulkans
schienen ihm nichts auszumachen, im Gegenteil, er schien sich völlig in seinem Element zu
befinden, jedenfalls ging er fast sofort zum Angriff über, zerfetzte den Käfig, mit dem er an
die Oberfläche hätte gebracht werden sollen, und zerrte EVA-02 in seiner Strömung mit sich.
Die Bilder, die EVA-02 sendete, wurden unscharf und grobkörnig, obwohl Doktor Akagi
inzwischen mehrere Signalverstärker zwischengeschaltet hatte.
Die Kabel und Leitungen auf ihren überdimensionalen Spulen wickelten sich beängstigend
schnell ab, dann gab es einen Ruck, als das Kabel der Energieversorgung mit seinen 1000m
abgespult war und straff in der Luft hing.
Aus den Lautsprechern kamen verzerrt wütende Flüche, zwischen denen Asuka das Verhalten
des Engels beschrieb.
„Er kommt auch mich zu... verfehlt... nein... Verdammter Dreck!“
Einer der Kühlflüssigkeitsschläuche hing schlaff durch.
„Asuka, wir holen dich hoch!“ rief Misato. Zugleich begann sich die Spulen des
Versorgungskabels, der Schläuche und des Halteseiles in umgekehrter Richtung zu drehen.
„Shinji, Rei, macht euch bereit, um EVA-02 notfalls ´rauszuziehen!“
„Bestätigt.“ kam es von Rei.
„Ja, uhm, klar.“
Shinji starrte auf die Oberfläche des Lavasees im Krater, die Oberfläche schien völlig ruhig,
verriet nichts von den Geschehnissen in der Tiefe. Ab und an stiegen Gasblasen an die
Oberfläche.
Was, wenn Asuka unterlag... wenn der Engel alle Verbindungen kappte und ihr EVA im
Vulkan versank... wären sie ohne die Rothaarige nicht viel besser dran? Er und Rei waren ein
eingespieltes Team, während Asuka eher ein Störfaktor war... war es nicht vielleicht besser,
wenn sie verlor?
Dann wurde der zweite Schlauch durchtrennt, zugleich riß das Halteseil und der Aufstieg von
EVA-02 kam ins Stocken, da niemand riskieren wollte, daß die beiden übrigen Schläuche
rissen oder das Versorgungskabel sich vom Tornisteranschluß löste.
Shinji ließ EVA-01 am Kraterrand in die Knie gehen, während EVA-00 ein mitgebrachtes
Positronengewehr bereitmachte für den Fall, daß der Engel EVA-02 folgen sollte.
Die Synchronverbindungen der Piloten zu den EVAs waren auf ein Mindestmaß reduziert
worden, um Rechnerkapazität in der Hinterhand behalten zu können, die Geräte des mobilen
Kommandostandes waren alles andere als den MAGI gleichwertig.
„Ich brauche hier unten ein Messer! Mit irgendwas muß ich doch kämpfen!“
Asukas Stimme war nun wieder einigermaßen frei von Verzerrungen, die Übertragung der
Außenkameras des Schutzanzuges zeigte jedoch nur ein unscharfes rotes Wabern.
„Shinji, wirf ihr dein PROG-Messer zu!“
„Ja...“
Er zog das Messer aus dem Schulterhalfter, holte aus.
Sein taktischer Bildschirm zeigte ihm die ungefähre Position des anderen EVANGELIONs.
Er zögerte.
War das nicht die Gelegenheit, Asuka loszuwerden?
Shinji blinzelte.
„Shinji, worauf wartest du? Wirf das Messer!“
Er versuchte, Misatos Stimme zu ignorieren.
Asuka mochte eine Nervensäge, ja, ein Miststück, sein, die ihm und Rei das Leben alles
andere als angenehm machte... aber sie war auch ein Mensch... ein anderer EVA-Pilot...
Shinji schluckte.
Wenn er länger zögerte... oder absichtlich danebenwarf... dann würde er sich nie wieder um
Asuka Gedanken machen brauchen... nein, das war falsch... ganz im Gegenteil...
wahrscheinlich würde er nie wieder Ruhe finden mit einer solchen Tat auf seinem Gewissen...
Hätte er doch nur Zeit, weiter abzuwägen... oder würde doch nur Rei etwas sagen...
Er konnte nicht untätig bleiben... konnte nicht einfach abwarten, bis der Engel EVA-02
erledigt hatte...
Dann schleuderte er das Messer...
Asukas Reaktion war zu entnehmen, daß sie das Messer aufgefangen hatte.
„Sein Panzer ist zu dick!“
„Natürlich“, mischte sich erstmals Ritsuko Akagi ein. „Er ist imstande, bei den dort unten
herrschenden Druck- und Hitzeverhältnissen zu überleben.“
Im nächsten Moment hing plötzlich das Kabel der Energieversorgung durch.
„Misato, er hat das Kabel durchgebissen! Der Druckanzug des EVA...“
„Asuka, die Kühlflüssigkeit!“
„Was? - Ja! - Friß das!“
Die dritte Kühlflüssigkeitsleitung hing plötzlich durch, als Asuka ihn von sich aus
durchtrennte und dem heranjagenden Engel direkt in das weitaufgerissene Maul stieß. Der
Engel blähte sich auf und zerplatzte wie eine Seifenblase, als er mit dem eisigen Kühlmittel in
Kontakt kam.
Shinji stieß die angehaltene Luft aus. Asuka hatte es geschafft! Jetzt mußten sie sie nur noch
vorsichtig wieder nach oben ziehen...
Und dann sah er, wie direkt neben dem Fuß seines EVAs die letzte Leitung direkt an der
Kraterkante langsam auseinanderriß, wie das Material sich dehnte, wie erste Löcher
entstanden, wie anstelle der dicken Leitung nur noch einzelne langgezogene Fasern den EVA
im Vulkan hielten... und wie auch diese schließlich rissen...
Misato schrie auf, als der Computer Alarm schlug.
Asuka schrie auf, als ein plötzlicher Ruck durch EVA-02 ging.
Und Shinji handelte - und sprang in den Vulkankrater...
Rei schrie seinen Namen...
*** NGE ***
Einen Herzschlag später hatte EVA-01 das zerfetzte Ende von Asukas Schlauch in der Hand,
spürte den Ruck, als sich sein eigenes Versorgungskabel straffte, da die entsprechende
Trommel noch gesperrt war, so daß sie sich nicht abspulen konnte.
„Asuka... ich habe dich!“
Er hing wenige Meter über der Lava, aus dieser Perspektive waren die aufsteigenden
Luftblasen, die an der Oberfläche zerplatzten, regelrecht beängstigend.
Ein Ruck ging durch seinen EVA, als sich der Stoppbolzen der Kabelspule löste.
Die Oberfläche des Lavasees kam rasend schnell näher.
„Baka-Shinji, was machst du denn?“ rief Asuka panikerfüllt.
Ein weiterer Ruck ging durch EVA-01, als dieser direkt über der Lava gebremst wurde.
„Ich habe dich, Shinji-kun.“ flüsterte Rei und begann, ihn nach oben zu ziehen.
„Sehr gut, Rei!“ rief Misato. „Du hast den ganz großen Fang gemacht!“
*** NGE ***
Für die vereinten Kräfte der beiden EVAs am Kraterrand war es eine Leichtigkeit, EVA-02
ebenfalls aus der Lava zu ziehen, nachdem EVA-00 EVA-01 über die Kante geholfen hatte.
Als EVA-02 wieder auf festem Boden stand, sah Asuka Shinji über die Com-Verbindung an
und nickte ihm mit ernsten Gesicht zu.
„Danke, Shinji, ich schulde dir etwas.“
Shinji nickte nur zurück.
*** NGE ***
Das Team übernachtete in einer Herberge am Fuß des Berges, die EVAs würden noch in der
Nacht unter dem Kommando Ritsuko Akagis wieder nach Tokio-3 zurückgebracht werden,
während Misato mit den Piloten am nächsten Vormittag die Rückfahrt antreten wollte,
ebenfalls in der Herberge untergekommen waren die Ingenieure, welche die Einrichtungen am
Kraterrand aufgebaut hatten und in den nächsten beiden Tagen wieder demontieren würden.
Nach einem herzhaften Abendessen lud Misato ihre drei Schützlinge zu einem Bad in den
heißen Quellen ein. Natürlich gab es getrennte Abteilungen für Männer und Frauen, so daß
Shinji recht einsam in seiner Hälfte des Wassers hockte, während von der anderen Seite eines
hohen Bretterzaunes lautes Johlen kam, als Misato und Asuka sich gegenseitig mit Wasser
bespritzten.
Shinji watete an die Bretterwand heran, besah sie sich näher, doch wie er es sich gedacht
hatte, gab es keine Löcher im Holz.
Es platschte und planschte auf der anderen Seite und Shinjis Phantasie lieferte ihm die
entsprechenden Bilder weiblicher gutgebauter Wesen, die spitterfasernackt im Wasser
herumtobten.
Im nächsten Augenblick war er wirklich froh, alleinzusein, wünschte sich aber trotzdem eine
Badehose...
Verdammte thermische Ausdehnung...
„Major Katsuragi?“
Shinji horchte auf, als er Reis Stimme hörte, bis jetzt war er sich nicht sicher gewesen, ob sie
sich ebenfalls auf der anderen Seite im Wasser befand.
„Ja, Rei?“
„Weshalb ist Shinji-kun nicht hier bei uns?“
Auf seiner Seite des Zaunes lief Shinji rot an.
Die Tatsache, daß ihm das Blut in den Kopf schoß, beseitigte zugleich seine anderweitigen
Probleme.
„Ähm, Rei...“ setzte Misato an.
„Weil das gegen die Regeln wäre, Wondergirl!“ fauchte Asuka.
Dann machte es ´Plantsch!´.
„Misato, hör auf, mich von hinten...“
Wieder machte es ´Plantsch!´
„Welche Regeln, Pilot Soryu?“
„Die Regeln von Sitte und Anstand, Wondergirl! Er ist ein Junge, wir sind Mädchen, er hat
auf unserer Seite nichts verloren.“
„Warum nicht?“
„Weil... weil... weil es nicht richtig ist... oder soll er dich nackt sehen?“
„Das hat er bereits.“
Mit einem Schlag war es still, sehr still.
Shinji glaubte, sein eigenes Herz überlaut in seiner Brust schlagen zu hören.
„Er hat... was?“
„Asuka, die beiden wohnen zusammen, da kann soetwas schon passieren...“ setzte Misato
nervös an.
„Aber... aber das geht doch nicht! Das ist völlig falsch... Das ist obszön!
„Es stört mich nicht.“
„Das darf doch nicht wahr sein... Schlaft ihr etwa auch zusammen?“
„Ja, Soryu, das tun wir.“ erklärte Rei völlig ruhig. - Schließlich teilten sie und Shinji-kun sich
wirklich ein Bett.
„Ah... ah... ah...“ kam es von Asuka.
Insgeheim bereitete Shinji sich auf eine Explosion vor und wich langsam von der Bretterwand
zurück.
„Ich verstehe deine Aufregung nicht, Soryu.“
„Das... ich... warum interessiert mich überhaupt, was ihr beide macht? Die Musterschülerin
und der Junge-ohne-Rückgrat!“
„Ich verstehe nicht, weshalb du Shinji-kun meinst erwähnen zu müssen.“
Asuka gab ein Schnauben von sich.
Wieder wurde es still.
Dann rief Asuka:
„Shinji, wirf mal die Seife ´rüber, du Perverser!“
„Ugh...“
„Ich will gar nicht wissen, was du da drüben machst, ich möchte nur die Seife.“
„Ja... kommt...“
Shinji watete zum Ufer und holte die Seife, holte aus und schleuderte sie über den Zaun.
Das erwartete Platschen allerdings blieb aus, kam erst später nach einem lauten ´Bonk´. Dafür
platschte es dann zweimal.
„Oh, Gott! Asuka!“ rief Misato.
„W-was ist denn?“ stammelte Shinji und versuchte, ein Loch in die Bretterwand zu starren.
„Shinji-kun, ich möchte dich davon in Kenntnis setzen, daß du einen Volltreffer gelandet
hast.“
„Ahm, wie... wie meinst du das, Rei?“
„Du hast Pilot Soryu getroffen. Es ist damit zu rechnen, daß sie ein blaues Auge davontragen
wird.“
„Uh...“
Er war sowas von tot... Asuka würde ihn in der Luft zerreißen...
„Ich... ah... tut mir leid...“
Er hörte ein dumpfes Grollen, dessen Quelle nur Asuka sein konnte.
„Alles in Ordnung, Shinji. Das konntest du nun wirklich ahnen... - nicht wahr, Asuka?“
„Ja, ja... So gut ist er nun wirklich nicht...“
*** NGE ***
In der Herberge teilte Shinji sich ein Zimmer mit zwei Technikern, aber er konnte nicht
schlafen. Dies lag nicht daran, daß die beiden Erwachsenen ohrenbetäubend schnarchten,
sondern er sich furchtbar einsam fühlte, viel zu sehr hatte er sich bereits an Reis Nähe in der
Nacht gewöhnt.
Entsprechend müde war er während der Rückfahrt am nächsten Tag, wo er neben Rei auf der
Rückbank saß. Schon kurz nach dem Aufbruch war er eingeschlafen, so daß er weder die
wütenden Blicke bemerkte, die Asuka ihm immer wieder über die Schulter hinweg zuwarf ihr eines Auge war tatsächlich von einem dunklen Veilchen umgeben -, noch daß Rei wieder
locker seine Hand hielt.
„Misato, die beiden sind doch nicht wirklich ein Paar, oder?“
„Warum nicht, Asuka?
„Aber stört dich das gar nicht? Sie sind doch auch EVA-Piloten und unterstehen deinem
Kommando... und sie sind doch erst vierzehn...“
„Asuka, als ich vierzehn Jahre alt war, durfte ich den Second Impact näher miterleben, als mir
lieb war. Du hast doch die Narbe gesehen, die quer über meinen Bauch verläuft, oder?!“
„Und was hat das mit den beiden zu tun?“
„Ihr drei... ihr riskiert bei jedem Einsatz eure Leben. Da denke ich, daß ihr auch alt genug
seid, um bei manchen Dingen selbst entscheiden zu können. Und wenn uns im Gegenzug
dafür ein Third Impact erspart bleibt, haben die beiden meinen Segen.“
Misato rückte ihre Sonnenbrille zurecht und drehte das Radio lauter, um anzuzeigen, daß für
sie das Thema beendet war. Sie hatte ja auch noch am gestrigen Abend mit Rei gesprochen
und erfahren, wie deren Aussage wirklich gemeint gewesen war...
Kapitel 26 - Abschlußprüfungen
Die nächsten sechs Tage vergingen wie im Fluge, waren erfüllt von Streß, der aus
Synchrontraining und Lernen für die Abschlußprüfungen bestand.
Im Laufe der Woche war es wärmer geworden, die Temperaturen stiegen derart, daß es
tagsüber in der Wohnung kaum noch auszuhalten war und Rei und Shinji zum Lernen nach
draußen in eine verwilderte Grünanlage einige Blöcke weiter gingen, wo sie im Schatten eines
großen Baumes über den Büchern im Gras saßen.
Und schließlich waren es nur noch wenige Stunden...
Shinji wartete seit dem Mittag auf Rei, eigentlich war heute ihr gemeinsamer freier Tag und
in ihrer Gesellschaft ging ihm das Lernen viel leichter von der Hand. Insgeheim allerdings
rauchte ihm der Kopf und er fragte sich, wie er den ganzen Stoff behalten sollte, die Tatsache,
daß in den Pausen sogar Toji wie ein Geist durch die Schule lief und völlig abwesend
Vokabeln, Formeln und Definitionen vor sich hin murmelte, war auch nicht geeignet, ihn
aufzuheitern.
Draußen wurde es inzwischen dunkel, so daß in den nächsten Stunden bis Mitternacht
wenigstens auch die Temperaturen auf ein halbwegs angenehmes Maß fallen würden, welches
erlauben würde, ein wenig Schlaf zu finden.
Die beiden Fenster der Wohnung standen weit offen, allerdings hatte Shinji am Tag nach ihrer
Rückkehr aus den Bergen feinmaschiges Mückengitter in den Rahmen befestigt, um
geflügelte Blutsauger und dergleichen draußenzuhalten.
Wenn er es richtig bedachte, war es eigentlich kaum zu glauben, daß er noch vor einem guten
Monat in der Küche auf dem Boden geschlafen hatte und dabei fast erfroren wäre.
Wo Rei nur blieb...
Nach der Schule hatte sie einen Anruf aus dem Hauptquartier bekommen und sich sofort auf
den Weg gemacht. Es könnte länger dauern, er solle schon ohne sie mit den letzten
Wiederholungen des Stoffes beginnen... das hatte er getan, bis es begonnen hatte zu dämmern,
dann war er in die Wohnung zurückgekehrt und hatte Essen gekocht.
Die Mahlzeit war längst kalt...
Wo sie nur blieb...
Ohne Rei war das Apartment leer und kalt... egal, wie heiß es draußen war...
Shinji sah wieder einmal auf seine Armbanduhr, entschloß sich dann, vor dem Zubettgehen
noch rasch zu duschen. Vielleicht kam sie ja in der Zwischenzeit heim...
Doch auch eine Viertelstunde später, als er das Bad verließ, war er die einzige Person in der
Wohnung. Er legte sich auf das Bett und schloß die Augen...
*** NGE ***
Rei gab sich Mühe, ihr Apartment so leise wie möglich zu betreten.
Sie war müde, erschöpft und kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
Doktor Akagi hatte sie nach der Schule ins Hauptquartier beordert, um das DummyPlugSystem mit ihren Erfahrungen auf den neuesten Stand zu bringen. Sie hatte den ganzen Tag in
der mit LCL gefüllten Röhre verbracht und sich bemüht, die Synchronverbindung mit dem
Plug aufrechtzuerhalten. Eigentlich war alles komplikationslos verlaufen, bis der
Kommandant im Labor erschienen war... Doktor Akagi war wahrscheinlich genauso von
Kommandant Ikaris Auftauchen überrascht gewesen, hatte dieser seine Rückkehr doch weder
bekanntgegeben, noch angekündigt.
Die Verbindung zwischen ihr und dem Plug war beinahe zusammengebrochen, als ihre
Gedanken sich mit der Frage zu beschäftigen begannen, ob der Kommandant wußte, daß
Shinji-kun bei ihr wohnte, ob er bereits Schritte eingeleitet hatte, um sie zu trennen.
Der Doktor hatte ihn von ihrem Zustand abgelenkt, der Kommandant hatte sich zuerst
verhalten, als wäre ihm Reis Gegenwart gar nicht bewußt, hatte fahrig und sehr in Eile
gewirkt, hatte dem Doktor gegenüber erklärt, ein Hubschrauber warte oben auf ihn.
Dann hatte er sich der Röhre zugewandt und Rei lange betrachtet... hatte sie angesehen wie
eine Sache... wie etwas, daß ihm gehörte... schien jeden Quadratzentimeter ihres Körpers in
Augenschein zu nehmen... voller Gier...
Der Doktor hatte alle Hände voll zu tun gehabt, die Synchronverbindung aufrechtzuhalten,
während Rei Panik und Angst verspürt hatte... Angst vor dem Kommandanten... Angst vor der
Gier in seinen Augen...
Noch vor kurzer Zeit hatte sie dem Kommandanten bedingungslos vertraut, hätte sich auf
seine Anweisung hin in eine Messerklinge gestürzt... noch nun nicht mehr... sie war nicht
mehr bereit, für den Kommandanten zu sterben...
Und zugleich hatte ihre Existenz einen wichtigen Halt verloren. Jetzt hatte sie nur noch
Shinji-kun...
Sie schloß die Wohnungstür hinter sich, stolperte durch den Vorraum, wollte Shinji-kun nicht
wecken, er brauchte seinen Schlaf, um morgen am ersten von drei Prüfungstagen fit zu sein.
Doch Shinji-kun schlief nicht, im Gegenteil, sie konnte im Licht des zunehmenden Mondes
sehen, wie er sich aufsetzte.
„Rei, bist du das?“
„Ja, Shinji-kun.“
Er seufzte.
Endlich war sie zurück...
„Wie... uhm... wie ist es gelaufen?“
„Es...“
Sie setzte sich aufs Bett.
„Shinji-kun, ich...“
Sie suchte nach Worten.
Nein... sie konnte es ihm nicht sagen, er würde Fragen stellen. Und diese Fragen würden zu
weiteren Fragen führen... und dann würde sie entweder lügen, schweigen oder ihm alles
erzählen müssen. Und sie wußte nicht, wie er auf die Wahrheit reagieren würde... sie wollte
ihn nicht verlieren...
Ihr war kalt, eiskalt...
„Ich gehe duschen. Du solltest schlafen, du mußt morgen konzentriert sein.“
„Uh... und du nicht?“
Sie stand auf und ging ins Bad, riß sich die Kleidung vom Leib, drehte das heiße Wasser auf,
versuchte, sich die Erinnerung an den begehrlichen Blick des Kommandanten von der Haut zu
waschen.
Warum hatte er sie so angesehen... warum hatte ihr Schöpfer sie so anblicken können?
Er hatte sie schon früher so angeblickt, doch sie hatte es nicht bemerkt... hatte es nicht
bemerken wollen, es nicht bemerken können, weil sie in ihrem blinden Vertrauen dazu nicht
imstande gewesen war...
Sie stellte das Wasser ab, verspürte den Drang, sich einfach fallen zu lassen, einfach in der
Dusche zusammenzusinken...
Mechanisch trocknete sie sich ab, stieg in ihre Unterwäsche, verließ das Bad.
Shinji-kun war immer noch wach, schien auf sie zu warten.
„Warum schläfst du noch nicht?“
„Ich... uhm... ich kann nicht schlafen.“
Nicht, solange der Platz neben ihm leer war...
Er machte ihr Platz.
Rei legte sich neben ihm, drehte sich nach wenigen Herzschlägen auf die Seite und sah ihn an.
Sie fühlte sich so schwach, ohne jeden Antrieb, hatte den Eindruck, nur noch zu fallen.
„Rei... was ist denn?“ flüsterte Shinji.
Ihr Gesicht hatte einen solchen verzweifelten, hilfesuchenden Ausdruck im fahlen
Mondschein.
Langsam und zögernd streckte er den Arm aus, legte die Hand auf ihre Schulter.
„Uh... Rei?“
Sie rückte näher an ihn heran auf der Suche nach einem Halt.
„Shinji-kun, würdest du... würdest du mich heute nacht festhalten?“
„Festhalten...“ wiederholte er, schien dann erst zu verstehen, was sie von ihm wollte, nahm sie
fest in den Arm, hielt sie, als wollte er sie nie wieder loslassen.
Rei preßte ihr Gesicht gegen seine Schulter, wollte nur noch schlafen und vergessen.
*** NGE ***
Sie stand in Kommandant Ikaris gewaltigen Büro.
Mit Erschrecken stellte sie fest, daß sie unbekleidet war, bedeckte hastig ihre Blößen, wußte,
daß es ihr nicht egal war, wer sie so sah, wußte, daß sie so nicht vom Kommandanten gesehen
werden wollte.
Plötzlich war der Kommandant da, hatten sich die Wände in Spiegel verwandelt, die
hundertfach sein Abbild reflektierten. Wohin sie sich auch wandte, sie blickte stets in das
ausdruckslose Gesicht des Kommandanten, sah sich selbst in seinen reflektierenden dunklen
Gläsern. Und sie sah für einen Augenblick das Aufflackern von Gier und Begehren, sah einen
Ausdruck in seinen Augen, der nur eines auszudrücken schien: Du gehörst mir...
Sie begann zu zittern.
Er sollte sie nicht so ansehen...
Hatte sie nicht immer alles getan, was er von ihr verlangt hatte?
War sie nicht sogar bereits für ihn gestorben?
Warum starrte er sie so an?
Warum erniedrigte er sie derart?
Sein Blick war überall...
Ihre Knie zitterten immer stärker, gaben nach, sie sackte zu Boden, rollte sich zu einem Ball
zusammen...
„Rei...“
Sie blickte auf.
Die Spiegel zersprangen, einer nach dem anderen.
Und mit ihnen zersprangen die Abbilder des Kommandanten, blieben nur leere Rahmen
zurück, dunkle Rechtecke in den Wänden... dunkel bis auf eines, dunkel bis auf einen
Lichtschimmer, der aus einem plötzlich freigelegten Gang fiel.
„Rei...“
Die Stimme... das war Shinji-kun...
Eine Berührung... an ihrer Schulter... doch da war keine Hand...
„Rei, wach auf...“
*** NGE ***
Endlich schlug Rei die Augen auf.
Normalerweise war sie es, die zuerst erwachte, doch ausgerechnet am ersten Tag der
anstehenden Prüfungen war sie nicht wie gewohnt mit dem Sonnenaufgang erwacht, sondern
hatte immer noch in Shinjis Armen geschlafen. Die ganze Nacht über hatte sie fest
geschlafen, bis sie in den Morgenstunden unruhig geworden war.
Shinji hatte sie nicht wecken wollen, hatte versucht, sie zu beruhigen, indem er nach langem
Zögern vorsichtig mit den Fingerspitzen ihre Wange gestreichelt hatte, doch schließlich hatte
er sich darauf verlegt, leise in ihr Ohr zu flüstern.
Rei blickte in Shinji-kuns Gesicht, verspürte den Drang, einfach wieder die Augen zu
schließen und noch ein wenig in seinen Armen zu verharren. Shinji-kun gab ihr ein Gefühl
von Sicherheit, das sie seit ihrer Zeit im Klontank nicht mehr verspürt hatte, als sie noch kein
Bewußtsein gehabt hatte, das sogar jenes Gefühl von Geborgenheit überstieg, welches sie
verspürt hatte, als er sie nach dem Kampf auf dem Fugotoyama im Arm gehalten hatte.
Allerdings...
„Shinji-kun, wie spät ist es?“
„Ahm... wenn wir uns etwas beeilen, können wir noch schnell frühstücken.“
„So spät...“
Einen Moment lang wollte sie vorschlagen, die Prüfungen einfach zu vergessen, doch das
würde bedeuten, daß Shinji-kun und sie die Klasse wiederholen mußten, daß der
Kommandant möglicherweise enttäuscht sein würde... warum kümmerte sie sich noch darum?
Aber der Kommandant konnte befehlen, daß Shinji-kun sie verlassen mußte... solange er mit
ihr zufrieden war, gab es vielleicht eine Chance...
Ohne es zu wissen, nahm Shinji Rei die Entscheidung ab, indem er sie aus seinen Armen
entließ und aufstand, um in der Küche Frühstück zu machen.
Sie blieb noch einen Moment sitzen, bis auch der Schatten seiner direkten Nähe
verschwunden war.
*** NGE ***
Während an der Oberfläche die EVA-Piloten bereits mit ihren Prüfungen beschäftigt waren,
sah Doktor Ritsuko Akagi sich in der Geofront mit ganz anderen Problemen konfrontiert.
Es hing nicht mit Gendo Ikaris Rückkehr zusammen, der NERV-Oberbefehlshaber hatte das
Hauptquartier bereits am gestrigen Abend wieder mit unbekanntem Ziel verlassen, war
eigentlich nur gekommen, um etwas zu holen, daß sich in jenem Koffer befunden hatte, den
Ryoji Kaji ihm nach seiner Ankunft in Japan übergeben hatte. Ikari hatte weder Zeit noch
Lust gehabt, sich näher mit Akagi zu beschäftigen, worüber diese recht froh gewesen war, so
groß die Abwechslung von ihrer Arbeit auch war, es blieb bei ihr stets ein bitterer
Nachgeschmack zurück, wenn Gendo sie wieder verließ... dabei unterhielten sie ihre Affäre
bereits seit Jahren, fast schon so lange, wie sie für NERV arbeitete. Und niemand ahnte es
auch nur...
Nein, Akagis Probleme waren gänzlich anderer Art.
Die drei MAGI-Computer, welche zusammen den Kern der NERV-Rechneranlage bildeten
und welche auch die meisten Vorgänge in der Stadt kontrollierten, begonnen bei den
Ampelanlagen und endend bei den Verteidigungssystemen, reagierten äußerst merkwürdig.
Daten wurden von einer Einheit zur anderen und wieder zurückkopiert, teilweise wurde von
den Rechnern aus die Verbindung zu verschiedenen Subsystemen einfach unterbrochen.
Ritsuko ließ derzeit mehrere Diagnose-Programme von ihrem Terminal aus laufen, um die
Ursache des Fehlers zu finden, auf den dieses seltsame Verhalten zurückging.
„Das letzte Mal hatten wir soetwas, als wir versuchten, das Betriebssystem
windowskompatibel zu machen...“ murmelte sie und trank einen Schluck Kaffee aus ihrer
Tasse.
„Und was habt ihr damals gemacht?“ fragte Misato, die neben ihr stand.
„Ich mußte MELCHIOR komplett neu formatieren.“
„Also, wenn ich mir diesen Zeichensalat auf deinem Bildschirm so ansehe, würde ich sagen,
daß es mal wieder dafür Zeit ist.“
„Aber dieses Mal ist das ganze System betroffen - alle drei Rechner. Und wir haben kein
vollständiges Backup.“
„Nicht?“
„Aus Gründen der Sicherheit; bisher dachte ich, es genügt, wenn die jeweils anderen beiden
MAGI-Rechner als Sicherheitskopie fungieren. Aber wenn ich mir das so ansehe...
Verdammter Mist!“
Auf ihren Ausruf hin wandten die anderen Offiziere der Brückencrew sich ihr zu.
„Was denn?“
„Misato, das ist ein Virus! Die MAGI haben sich einen Virus eingefangen! Aber nicht mit
mir... so!“
„Was hast du gemacht?“
„Alle Virenscanner gestartet, die ich habe. Das...“
Der Monitor begann zu flackern, in rasender Eile wurden Daten angezeigt.
„Das darf doch nicht wahr sein...“
Misato sah zu Fuyutsuki hinüber.
„Sir, wir haben ein Problem... ein sehr großes Problem...“
Da ging auch schon der Alarm los.
Die MAGI hatten die Anwesenheit eines blauen Musters festgestellt.
Im Hauptquartier...
Im Kommandoraum...
In der MAGI-Einheit CASPAR...
Der NERV-Zentralrechner war vom Feind infiltriert worden...
*** NGE ***
Akagis Finger tanzten über die Tastatur, gaben ein schier endlose Kette an Befehlen ein,
starteten Programme zur Virenbekämpfung, riefen andere auf, schrieben sie um.
Der Hauptmonitor verkündete derweil den Status der MAGI und informierte über das
Fortschreiten der Übernahme.
Demnach war CASPAR bereits übernommen und griff der Virus nun auch auf die MAGIEinheit BALTHASAR über.
Ritsuko konzentrierte sich ganz auf den dritten Rechner, bemühte sich, MELCHIOR mit für
den Engel in Gestalt eines Computervirus´ undurchdringlichen Wällen auszustatten.
„Doktor Akagi“, zischte Fuyutsuki. „CASPAR hat soeben Anweisung zur Selbstzerstörung
der Basis gegeben!“
„Ja, ist mir bekannt“, antwortete Ritsuko ohne aufzusehen. „Aber dafür müssen die MAGI
sich einig sein. Solange BALTHASAR sich wehrt, kann ich MELCHIORs Verteidigung
aufbauen...“
„BATHASAR zu 50% übernommen!“ rief Shigeru Aoba. „51%! BALTHASAR unterstürzt
jetzt den Befehl zur Selbstzerstörung.“
Akagi stand ruckartig auf.
„Ich muß Direktkontakt mit MELCHIOR herstellen.“
Sie eilte zu den Rechnern, wies Aoba an, einen Teil der Verkleidung der einen MAGI-Einheit
zu entfernen.
Dahinter befand sich ein Hohlraum, in dem ein erwachsener Mensch in gebückter Haltung
sitzen konnte - allerdings nur, sofern ihn die Umgebung nicht störte, denn an den Wänden und
unter der Decke des Hohlraumes befand sich eine pulsierende graue organische Masse.
„Du willst doch da nicht wirklich rein“, flüsterte Misato, als Ritsuko mit ihrem Laptop in der
Hand Anstalten machte, sich durch die Öffnung zu schieben.
„Misato, das da ist MELCHIOR. Über das PROPHET-Interface erhalte ich direkten Zugang. Aoba, leuchten Sie mir!“
Der Mann tat wie geheißen und leuchtete den Hohlraum mit seiner Taschenlampe aus.
„Da hängen Zettel...“
Tatsächlich befanden sich über die Oberfläche der synthetischen, mit Elektroden gespickten
Gehirnmasse verteilt quadratische Notizzettel, die mit langen Kunststoffnadeln ähnlich
aufgespießten Insekten befestigt waren.
„Das sind Mutters Notizen“, murmelte Ritsuko, ließ sich die Taschenlampe geben und kroch
in die MAGI-Einheit hinein, überflog die Notizen in der hintersten Ecke und stöpselte ihren
Laptop ein.
„Jeder der drei MAGI wurde von meiner Mutter mit einem ihrer Charakterzüge versehen...
Frau, Mutter und Wissenschaftlerin... BALTHASAR verkörpert ihren Mutterinstinkt...
deshalb kämpft er immer noch, anstatt einfach aufzugeben... MELCHIOR hingegen ist der
Wissenschaftler, mit seiner Hilfe sollte ich am besten gegen den Engel vorgehen können...“
„CASPAR ist nicht zu 100% unter der Kontrolle des Gegners.“
„Natürlich nicht... meine Mutter war stur...“
Wieder flogen ihre Finger über die Tastatur.
„BALTHASAR zu 65% übernommen!“
„Ich habe das Muster...“ murmelte Akagi. „Analysiere die Struktur...“
Wieder las sie die Notizen auf diversen Zetteln.
„Wir haben immer noch die Möglichkeit, die MAGI zu zerstören... Mutter hatte
Vorkehrungen getroffen...“
„Ich lasse den Stützpunkt und die Geofront evakuieren.“ raunte Kozo Fuyutsuki Misato zu.
„BALTHASAR zu 77% unter der Kontrolle des Engels!“ rief Aoba.
An Akagis Terminal saß mittlerweile Maya Ibuki und gab selbst Kommandos ein.
„Der Engel verliert an Boden! BALTHASAR nur noch zu 73% infiziert!“
„Mach weiter, Maya! Ich bereite von MELCHIOR aus den Gegenangriff auf CASPAR vor!“
rief Ritsuko.
„Was tun Sie, Doktor?“
„Ich nehme die MAGI gerade vom Netz. Der Engel darf keine Rückzugsmöglichkeit haben,
wenn ich ihn aus CASPAR vertreiben kann - außer jener, die ich ihm biete.“
„Eine Falle... genial...“
Fuyutsuki nickte.
Jetzt mußte es nur noch gelingen...
„BALTHASAR noch zu 61% infiziert.“
„Er sitzt in CASPAR und breitet sich von dort aus weiter aus... aber seine Wurzeln sind in
CASPAR...“
„Sir, Selbstzerstörungssequenz wurde gestartet! - Fünf Minuten!“ schrie Makoto Hyuga.
„Was?“ schrie Fuyutsuki.
„Er hat die Protokolle umgangen... der Engel lernt schnell...“
„Ich dachte, alle drei MAGI müßten mit der Vernichtung einverstanden sein...“ flüsterte
Misato, deren Gesicht eine wächserne Blässe angenommen hatte.
Nur gut, daß die Kinder nicht im Hauptquartier waren, sondern in der Schule, wo sie von den
ganzen Problemen wahrscheinlich nicht einmal etwas ahnten.
„Genau das nimmt die Selbstzerstörungsautomatik auch an... er hat die Signale verfälscht...“
„Dann halt ihn auf!“
„Den Countdown können nur alle drei Rechner stoppen.“
„Toll... Also kann ich nicht einfach die befallene Einheit sprengen?!“
„Nein, das wäre unser Ende...“
„Dann mach ´was, Ritsuko!“
„Bin ich doch schon ´bei... Maya, wie sieht es bei dir aus?“
„Ich habe ihn gleich aus BALTHASAR vertrieben, Sempai!“
„Danach unterbrichst du alle Verbindungen zwischen BALTHASAR und CASPAR,
verstanden?!“
„Sempai, ein Angriff von zwei Seiten...“
„Unterbrich die Verbindung. Schließe stattdessen einen Laptop an CASPARs D4-port an.“
„Ich... verstanden, Sempai. BALTHASAR noch zu 42% befallen. 39%... 31%...“
„Selbstzerstörung in drei Minuten!“
Ritsuko hielt kurz inne.
„Das müßte funktionieren...“
„Müßte?“ echote Misato.
„Ein Gegenvirus. Ich prügle diesen Engel aus dem System. - Maya?“
„Gleich... 11%... 7%...“
„Laptop angeschlossen und online“, vermeldete Aoba.
„Bereithalten, ihn auf mein Kommando abzukoppeln.“
„Bereit, Doktor.“
„Gut...“
„Sempai, BALTHASAR ist frei... und vom Netz...“
„Noch neunzig Sekunden, Beeilung!“ rief Fuyutsuki.
„Start...“ flüsterte Ritsuko und drückte die Enter-Taste, startete das selbstgeschriebene
Virusprogramm, überließ den Rest MELCHIOR, welcher unter Ausnutzung seiner ganzen
Kapazitäten in CASPAR vordrang.
„Reaktion bei CASPAR. Grad der Infiltration geht zurück. CASPAR selbst wehrt sich!“
„Mutter...“ murmelte Ritsuko und lächelte versonnen. „Gib´s ihm!“
Weiterhin gab sie Befehle ein, sicherte MELCHIOR gegen einen Gegenangriff des Engels,
deckte dem Computer den Rücken.
„CASPAR zu 74% infiziert.“ - „Noch eine Minute!“ - „50%!“ - „Vierzig Sekunden!“
Akagi startete ein weiteres Programm, diesesmal einen normalen Virenscanner, der sich um
mögliche Reste des Engels kümmern sollte, der hinter der von MELCHIOR aufgemachten
Front für Ordnung sorgte.
„35%.“ - „Zwanzig Sekunden!“
„Ritsuko...“ setzte Misato an. „Ich wollte dir nur sagen...“
„Jetzt nicht!“
„CASPAR ist frei!“
„Aoba!“ brüllte Akagi.
„Laptop abgetrennt!“ kam die Antwort.
„Sofort sichern!“
„Countdown angehalten bei zwei Sekunden...“ flüsterte Hyuga.
„Das war knapp...“
Fuyutsuki fuhr sich mit dem Uniformärmel über die Stirn.
„Ich hatte noch eine Sekunde“, murmelte Ritsuko. „Danach wäre es knapp geworden...“
Misato schüttelte den Kopf.
„Mensch, Ritsuko...“
Akagi kletterte aus der MAGI-Einheit, streckte sich, sah Misato müde an.
„Also, um ehrlich zu sein, jeden Tag möchte ich das nicht machen müssen... was wolltest du
mir eben sagen?“
„Nichts, Ritsuko, nichts von Bedeutung.“
„Ja, gut...“
Sie ging zu Aoba hinüber, welcher den Laptop wie ein rohes Ei in den Händen hielt.
„Doktor, ist der Engel da drin?“
„Alles, was von ihm entkommen konnte, ja. Das war der einzige Ausweg...“
Funken schlugen plötzlich aus den Lüftungsschlitzen an der Seite des Gehäuses.
„Aoba, wegwerfen!“ rief Misato.
Das ließ der Offizier sich nicht zweimal sagen, weit schleuderte er den Computer von sich.
Noch in der Luft verwandelte sich das Gerät in einen Feuerball.
Ibuki und Hyuga waren rasch mit Feuerlöschern zur Stelle.
„Selbstvernichtung“, sagte Ritsuko leise. „Als er bemerkte, daß er in der Falle saß, hat er sich
lieber selbst getötet...“
Misato inspizierte die Überreste des Laptops.
„Und wie ist er in den MAGI gekommen?“
„Über die normalen Wege, schätze ich. Die MAGI sind gegen jeden bekannten und die
meisten denkbaren Computerviren geschützt... und sie sind fähig, sich selbst zu verteidigen,
wie wir bei BALTHASAR gesehen haben. Allerdings ist die Aktion nicht ohne Folgen
geblieben, die Kur war fast so schädlich wie die Krankheit selbst.“
„Heißt das, die MAGI sind hinüber?!“
„Nein, aber ich muß jeden der drei Rechner genau untersuchen; wenn ich mit MELCHIOR
anfange, kann ich auf die Systemressourcen zurückgreifen... hm... das wird ein wenig
dauern...“
„Aber du mußt doch nicht gleich anfangen, oder? Ich könnte jetzt in der Kantine ein Bier
vertragen...“
„Misato, wir sind im Dienst.“
„Gehen Sie ruhig.“ erklärte Fuyutsuki. „Der Schreck dürfte jedem hier in den Gliedern
stecken.“
„Na also, Ritsuko, wir haben grünes Licht!“
„Ich bleibe hier und nehme lieber gleich die Arbeit auf, umso eher sind die MAGI wieder
einsatzbereit. - Subkommandant, ich werde den Rechnerverbund heute abend ´runterfahren,
die Redundanzsysteme sollten imstande sein, für etwa zwei Tage die Aufgaben der MAGI zu
übernehmen.“
„Einverstanden, Doktor, ich lasse weitergeben, daß in den nächsten zwei Tagen mit
Engpässen zu rechnen ist.“
„Hey, habe ich etwas verpaßt?“
Kaji betrat die Zentrale.
„Eben hieß es noch, das Hauptquartier würde evakuiert.“
„Ich bin in einer Stunde zurück“, erklärte Misato. „Nein, Kaji, nichts besonderes - Ritsuko hat
die MAGI im Go geschlagen und sie wollten sich dafür revanchieren, indem sie das
Hauptquartier sprengten, aber jetzt ist alles klar.“
Ritsuko Akagi gab ein dumpfes ´Hrrmpf´ von sich, während Katsuragi Kaji am Arm packte
und mit sich zog.
*** NGE ***
„Also, Katsuragi-chan, was ist wirklich losgewesen?“ fragte Kaji auf dem Weg in die
Kantine.
„Ein Engel.“
„Was? Hier im Hauptquartier?“
„Im MAGI-System.“
„Ach du heilige...“ Kaji schüttelte den Kopf. „Das darf doch nicht wahr sein. Bisher waren die
Engel doch alle solche Brecher... und jetzt dringt einer in unsere Computer ein?!“
„Genau. Aber Ritsuko hat ihn erledigt - sonst würden wir uns jetzt schon die Radieschen von
unten ansehen.“
„Verstehe.“
Er zog ein Notizbuch aus der Hosentasche.
„Hier, sieh dir das an.“
Sie schlug das Buch auf, blickte auf eine Liste von Adressen, bei der jede einzelne
durchgestrichen war.
„Was ist das?“
„Eine Liste der Einrichtungen des MARDUK-Institutes.“
„MARDUK - die wählen doch die Piloten aus.“
„Genau. Ich habe alle eingetragenen Niederlassungen in und um Wilhelmshaven, Tokio-3 und
Matsushiro untersucht. Jedes der Gebäude stand leer, von den angeblichen Laboratorien bis
zu den Lagerhallen und den Personalunterkünften. Und zwar nicht leer im Sinne von gerade
verlassen oder aufgegeben, Katsuragi, ich hatte Staubschichten gesehen, die darauf hindeuten,
daß die Einrichtungen noch nie benutzt worden sind. Das MARDUK-Institut scheint
überhaupt nicht zu existieren, es ist mir nicht einmal gelungen, auch nur einen Mitarbeiter zu
finden, dabei beschäftigt MARDUK angeblich mehrere hundert Personen - Menschen, die es
gar nicht zu geben scheint. Und die UN bezahlt Löhne, Mieten, laufende Kosten, finanziert
Forschungsprojekte... also, für mich stinkt das schon nach einer Tarnung für Schwarze
Konten. Ich frage mich nur, wo das Geld wirklich landet.“
„Nicht bei NERV, sonst müßte ich mich wohl nicht ständig mit den Finanzen und den Kosten
für die Reparaturen an den EVAs und den Gebäuden der Stadt beschäftigen.“
„Das dachte ich mir schon. Und die zweite und wohl auch wichtigere Frage lautet, wer wählt
dann die Piloten aus und wie? Wie wird bestimmt, wer zum EVA-Piloten geeignet ist? Unsere
drei mal in allen Ehren, aber es gibt wirklich geeignetere Personen für eine solche Aufgabe,
Berufssoldaten mit trainierten Reflexen und dem nötigen Killerinstinkt, warum also müssen
es Kinder sein?“
„Sowohl Shinji, als auch Asuka und Rei wurden nach dem Second Impact geboren, und zwar
wenigstens neun Monate danach, vielleicht hängt es damit zusammen.“
„Möglich. Wenn ich nur einen Weg finden könnte, um das TerminalDogma zu betreten,
vielleicht befinden sich dort die Antworten.“
„Ich habe Zweifel, daß Ikari im Keller seine handschriftlichen Notizen aufbewahrt.“
„Nein, aber wenn er irgendwelche sprichwörtlichen Leichen im Keller hat...“
„Ritsuko will heute abend die MAGI ´runterfahren, vielleicht wäre das die Gelegenheit.“
„Ikari wird sich nicht nur auf die MAGI verlassen, um seine Geheimnisse zu sichern, nein, ins
Dogma kommt man nur, wenn man allen System weismachen kann, daß man legitimiert ist.
Ich müßte eine Direktleitung zu den MAGI haben, wenn Akagi sie wieder startet.“
„Du willst dir eine Hintertür einrichten...“
„Hey, verrat mich nicht.“ grinste Kaji.
„Du gehst immer noch auf volles Risiko.“
„Ich habe sonst nicht viel... außer, du willst mich davon abhalten...“
„Fang nicht damit an, zwischen uns ist es vorbei.“
„Ich weiß, war ja meine Schuld, daß es in die Brüche ging... bist du Ritsuko deswegen immer
noch böse?“
„Daß sie mit dir geschlafen hat? - Nein, darüber bin ich hinweg. Und über dich ebenfalls.“
„Gut... Also, hilfst du mir?“
„Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber du mußt mich mitnehmen.“
Er zögerte lange, ehe er nickte.
*** NGE ***
Zwei schriftliche Prüfungen und dann noch die Sportprüfungen am späten Nachmittag hatten
Spuren bei Shinji hinterlassen. Er wollte nur noch schlafen. Morgen würden nochmals zwei
Tests anstehen und übermorgen schließlich ein weiterer. Und eine Woche später würden sie
die Ergebnisse erfahren.
Shinji konnte sich nicht mehr genau erinnern, was er im einzelnen geschrieben hatte,
eigentlich waren ihm nicht einmal mehr die genauen Aufgabenstellungen geläufig. Dafür
glaubte er, in seinem Körper Muskeln zu spüren, von deren Existenz er am Morgen noch nicht
einmal etwas geahnt hatte. Aber immerhin, ein Gutes hatte der ganze Streß gehabt - er war in
der Lage gewesen, die finsteren Blicke, welche Asuka ihm zuwarf, zu ignorieren. Das Auge
der Rothaarigen war immer noch dick angeschwollen und sie war in den letzten Tagen
mehrmals nahe daran gewesen, Mitschüler, die darüber gelacht hatten, krankenhausreif zu
schlagen, jedoch hatte sie sich zurückgehalten, so daß es nur zwei weitere blauen Augen und
eine aufgeplatzte Lippe gegeben hatte.
Shinji fand erst wieder in die Realität zurück, als er die Hand nach dem Griff der
Badezimmertür ausstreckte und feststellte, daß Rei dasselbe getan hatte, so daß seine Hand
auf der ihren auf der Klinke lag.
Natürlich wollte sie ebenfalls duschen...
Er ließ los, trat einen halben Schritt zurück, mehr war nicht möglich, ohne über das Mobiliar
der Küche zu stolpern.
„Uhm, du zuerst.“
Rei senkte den Blick, errötete.
„Shinji-kun, wir können die Dusche auch beide gleichzeitig benutzen.“
„Uh... ahm... ich glaube... ahm... ich glaube nicht, daß... ahm... wir beide da Platz haben
werden... und... uh...“
Sie nickte, verschwand im Bad, fragte sich, was möglicherweise passiert wäre, wenn Shinjikun ihren Vorschlag akzeptiert hätte, fragte sich, warum sie ihm diesen Vorschlag unterbreitet
hatte...
Shinji ließ sich auf einen Stuhl sinken, es dauerte eine Weile, bis er wieder normal atmen
konnte.
In dieser Nacht schlief sie wieder in seinen Armen, hatte sich ohne Worte an ihn gekuschelt,
war anscheinend sofort eingeschlafen.
Er betrachtete lange ihr schlafendes Gesicht, ehe er sich schließlich dazu durchrang, ihr einen
kurzen Gute-Nacht-Kuß auf die Stirn zu hauchen.
„Schlaf gut, Rei-chan“, flüsterte er und schloß die Augen.
Ebenso verlief es in der folgenden Nacht, so daß es Shinji langsam als selbstverständlich
erschien. Morgens fühlte er sich viel ausgeruhter als gewöhnlich, wunderte sich eigentlich
insgeheim nur über das Ausmaß seiner Selbstbeherrschung, vor allem als er erwachte und
feststellte, daß einer der Träger von Reis BH von ihrer Schulter gerutscht war und er
eigentlich nur ein wenig hätte nachhelfen müssen, um ihre Brust freizulegen; stattdessen hatte
er vorsichtig den Träger wieder nach oben geschoben. Er würde nichts tun, mit dem sie nicht
einverstanden war...
Als sie am dritten Prüfungstag auf dem Weg zur Schule befanden, stellten sie fest, daß die
Straßenbahn nicht fuhr.
Während Rei ihre äußere Ruhe behielt, verfiel Shinji bereits in leichte Panik. Sicher würde
man nicht mit dem letzten Test auf sie warten... und zu Fuß würden sie zu lange brauchen,
außer sie rannten die ganze Strecke.
Dann hatte er einen Einfall.
„Wir nehmen mein Fahrrad!“
Rei reagierte überrascht, ihrem Gesichtsausdruck war klar zu vernehmen, daß sie nicht
verstand.
Hastig rannte Shinji zurück in die Wohnung, holte sein Rad.
„Rei, setz dich auf den Gepäckträger und halt dich an mir fest!“
„Was hast du vor, Shinji-kun?“
Er klang so entschlossen... das war irgendwie... aufregend...
„Ahm... Wir fahren zur Schule!“
Das zusätzliche Gewicht war ungewohnt, doch Shinji hatte in den letzten Wochen sich genug
Routine mit dem Rad angeeignet, daß es kein Problem darstellte. Rei saß mit angezogenen
Beinen hinter ihm und hatte die Arme um seinen Leib geschlungen. Es fühlte sich gut an...
Mit einem Affenzahn schoß er durch die Straßen, nahm dabei zahlreiche Abkürzungen.
Ihnen fiel auf, daß die Ampelanlagen auf dem Weg allesamt ausgefallen waren und daß
Streifenpolizisten den spärlichen Verkehr regelten.
Genau mit dem Läuten der Schulglocke erreichten sie das Schulgelände, kamen mit
quietschenden Reifen zum Stehen.
Rei stieg ab, ein wenig wackelig in den Knien.
„Uhm, Rei, alles in Ordnung? Ich wollte nicht... ahm...“
Sie lächelte ihn an, ihre Frisur war völlig vom Fahrtwind zerzaust, verlieh ihr einen wilden
Ausdruck.
„Nein, Shinji-kun, ich fühle mich bestens. Das sollten wir wiederholen.“
„Ahm...“
Er erwiderte ihr Lächeln.
„Dann... uhm.. wir sollten wohl...“
„Wir sollten keine weitere Zeit verlieren.“ sagte sie leise, strich sich durchs Haar und ging auf
das Gebäude zu, während Shinji noch rasch sein Rad ankettete.
*** NGE ***
In der ganzen Schule gab es keinen Strom.
Besser noch, die Hälfte der Lehrer fehlte, darunter auch jener Lehrer der 2-A, welcher die
Prüfungen hätte beaufsichtigen sollen.
Zum ersten Mal begegnete Shinji an diesem Tag der Direktorin der Tokio-3-High, einer
älteren grauhaarigen Dame, welche die schriftliche Prüfung absagte und sie stattdessen
mündlich über den Unterrichtsstoff befragte - Theorie des Kabuki-Theaters.
Rei glänzte mit präzisen Antworten, so daß die Direktorin sehr schnell zum nächsten
Kandidaten überging.
Shinji quälte sich mit zahllosen Äh´s und Uh´s durch seine Antworten, was einige seiner
Mitschüler mit Gekicher quittierten, stieß jedoch bei der Prüferin auf Geduld und
Wohlwollen.
Kensuke sprach weitschweifig und erging sich regelrecht in verschiedensten Auslegungen
und Aussagen.
Toji ging das Thema von einer eher flapsigen Seite an, was ihm ein Stirnrunzeln der
Direktorin einbrachte.
Hikari nannte Fakten und historische Entwicklungen.
Asuka schließlich brummte ein paar kurze knappe Antworten, denen zu entnehmen war, daß
sie sich nicht sonderlich für diese Form des Theaters interessierte.
Die Prüferin machte bei jedem Kandidaten Notizen in ihr Heft, lehnte sich schließlich zurück.
„Meine Damen und Herren, wie ich sehe, haben Sie sich auf den Stoff vorbereitet. Ich will
deshalb Gnade vor Recht ergehen lassen“, sie sah dabei Toji und Asuka scharf an, „und
erkläre, daß Sie alle die heutige Prüfung bestanden haben, die einen besser, die anderen nicht
so gut. Doch angesichts der Lage, in welcher wir uns befinden, verstehe ich, daß Sie nicht die
Zeit und Gelegenheit hatten, sich so umfassend auf die Prüfungen vorzubereiten, wie es
vielleicht erforderlich gewesen wäre. In einer Woche erhalten Sie Ihre Zeugnisse, ich
wünsche Ihnen allen Glück und Bestehen.“
Damit war die Prüfung beendet.
Shinji konnte es kaum fassen.
Vor allem war ihm definitiv nicht nach Aufstehen, nachdem er noch kurz zuvor so kräftig in
die Pedalen getreten hatte, hatte er nun einen üblen Muskelkater in den Waden.
Kaum hatte die Direktorin den Raum verlassen, als die Schüler auch schon ausgelassen
aufsprangen und größtenteils hinausrannten, nur Shinji blieb aus bekannten Gründen sitzen,
grinste dafür über das ganze Gesicht.
„Ja, wir haben´s hinter uns!“
Toji schlug Shinji kräftig auf die Schulter.
„Na, Alter, wollen wir feiern gehen?“
„Toji, noch haben wir nicht die Ergebnisse“, warf Hikari ein, woraufhin er ihr locker den Arm
um ihre Hüfte legte und sie zu sich heranzog.
„Aber immerhin diese Prüfung haben wir bestanden, hast es doch gehört.“
„Und wenn du vernünftig gelernt hättest, hättest du wahrscheinlich besser abgeschnitten, oder
ist dir der Blick der Direktorin nicht aufgefallen?“
„Ach, Hauptsache bestanden, so kann bei mir daheim keiner meckern.“
Kensuke kicherte.
„Habt ihr gesehen, wie beeindruckt sie von meinem Vortrag war?!“
„Ja, Ken, woher hast du das alles gewußt?“
„Meine Mutter hat mich zum Lernen verdonnert.“
„Ach herrje...“
Shinji hörte nicht mehr richtig zu.
Rei war inzwischen aufgestanden und stand jetzt neben ihm.
„Shinji-kun, wollen wir aufbrechen? Wir sollten uns nach den Tests im Hauptquartier
melden.“
Er nickte.
„Uhm, aber sicher haben wir noch etwas Zeit, oder?“
„Doktor Akagi ist davon ausgegangen, daß die Prüfungen bis zum Mittag andauern.“
„Dann haben wir noch eine knappe Stunde, oder?“
„Ja, Shinji-kun.“
„Gut... Rei...“ Er verfiel in einen flüsternden Tonfall. „Uhm... Ich... ah... kann nicht
aufstehen.“
„Wieso, Shinji-kun?“
Er lächelte verlegen.
„Nur... uhm... ein Krampf im Bein.“
Und dann umfaßte er sie ähnlich, wie Toji es bei Hikari tat, nur zog er sie nach unten, so daß
sie plötzlich auf seinem Schoß saß.
„Shinji-kun...“
„Ahm... entschuldige, das... ahm... ist einfach so... über mich...“
Sofort löste er die Hände von ihr.
Doch sie stand nicht auf, legte stattdessen die Arme um seinen Hals, schließlich mußte sie
sich ja irgendwie Halt verschaffen, um nicht hinunterzufallen.
„Yo, Ikari, geh ran!“ rief Toji.
„Ahm...“
Shinji lief rot an. Die anderen hatte er ganz vergessen...
Rei blickte Toji finster an.
Hikari stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen.
„Okay, okay...“ brummte Suzuhara. „Geht mich ja auch gar nichts an.“
„Wir... ahm... wir haben es tatsächlich hinter uns...“ flüsterte Shinji. Im Nachhinein erschien
ihm ein guter Teil des Stresses, den sie sich gemacht hatten, unnötig, waren die
Prüfungsfragen doch um einiges leichter ausgefallen als erwartet.
Und dafür hielt er jetzt Rei-chan im Arm, die immer noch keine Anstalten machte,
aufzustehen, sondern ihn nur auf undefinierbare Weise anblickte. Er sah ihr in die Augen,
glaubte in ihnen zu versinken. Scharlachrote Augen... geheimnisvoll... schön... anziehend...
„Hey, Erde an Shinji! Erde an Shinji!“ lachte Kensuke und riß Shinji zurück in die
Gegenwart. „Ich möchte wirklich gern wissen, was ihr so den ganzen Tag... und die ganze
Nacht... in Ayanamis Apartment anstellt.“
Shinji biß sich auf die Lippe, hätte er doch nur nicht erwähnt, daß er bei Rei-chan
untergekommen war... Toji war ja inzwischen über derartige Gedankengänge erhaben, dafür
sorgte schon Hikari, doch Kensuke hatte jetzt dafür umso mehr Zeit, um gewagte
Schlußfolgerungen zu ziehen.
„Shinji-kun und ich wohnen zusammen.“ erklärte Rei.. „Und was geschieht, geschieht.“
„Ui!“
„Uhm, Kensuke, es... ah... es ist nicht so, wie du... ahm... wie du denkst...“
Und trotzdem tat er nichts, um etwas daran zu ändern, daß Rei-chan auf seinem Schoß saß
und die Arme um ihn gelegt hatte.
„Shinji-kun hat recht.“ bekräftigte Rei.
Noch war es nicht so... noch fühlte sie sich zu diesem Schritt nicht bereit...
Sie stand auf.
„Wir sollten aufbrechen. Wie geht es deinem Bein?“
Shinji nickte, massierte kurz seine Wade und stand dann ebenfalls auf.
*** NGE ***
In Tokio-3 lief nichts mehr.
Bahnen standen auf offener Strecke oder steckten in den Tunneln, der Verkehr war nach
mehreren Crashs zum Erliegen gekommen, die Angehörigen der städtischen Polizei bemühten
sich nach Kräften, für Ordnung zu sorgen. Und natürlich funktionierte auch der Aufzug in die
Geofront nicht. In der Bahnstation, von der aus sie normalerweise in die Geofront
hinabfuhren, brannte nur die Notbeleuchtung.
„Uhm, ein Stromausfall?“ äußerte Shinji seinen ersten Gedanken.
„Bei einem Stromausfall wären nach fünf Minuten die Reservesysteme angelaufen. Es muß
etwas tiefergehendes sein.“ antwortete Rei.
„Misato sagte, daß Ritsuko die Computer abgestellt hat!“
Shinji und Rei drehten sich um, sahen sich Asuka gegenüber, die offenkundig auch nach
unten hatte fahren wollen.
„Ein Versagen der MAGI könnte derartige Komplikationen zur Folge haben.“ bestätigte Rei.
Shinji sah Asuka nervös an.
Sicher wollte sie sich bei ihm für ihr blaues Auge rächen, dachte, daß er die Seife absichtlich
nach ihr geworfen hatte... wenn Rei-chan nicht bei ihm gewesen wäre...
„Ah... und was jetzt?“
„Es gibt andere Wege in die Geofront.“
„Ja, Rei, uhm, aber die Bahnen fahren auch nicht... und der Cartrain dürfte ebenfalls...“
„Es gibt Treppen.“
„Treppen?“ schrie Asuka. „Bist du verrückt, First? Das sind doch garantiert eintausend
Stockwerke! Und durch die halbe Geofront müssen wir dann auch noch! Da sind wir ja
Stunden unterwegs!“
„Deine Einschätzungen sind korrekt, Soryu.“
„Gibt es keinen anderen Weg?“
„Nein.“
„Dann vergeßt mich!“
Asuka stürmte aus der Bahnstation.
„Uhm...“ setzte Shinji an.
Mit seinen schmerzenden Waden konnte er sich auch nicht wirklich vorstellen, unzählige
Stufen hinabzusteigen.
„Dein Bein?“ fragte Rei knapp.
„Naja, ich... ähm...“
„Ich könnte dich tragen.“
Shinji schluckte.
Er war doch garantiert zu schwer für sie, wog sicher das anderthalbfache ihres Gewichtes.
Und außerdem war er ein Mann, er konnte sich doch nicht von ihr tragen lassen, egal wie
wenig er seine Beine noch spürte.
„Nein.“ stieß er hervor. „Ich laufe selbst.“
„Wie du meinst.“
Sie öffnete eine halbversteckte Tür, hinter welcher sich ein enger Gang erstreckte.
Der Gang endete an einer weiteren Tür, die sich nur mittels eines Handrades öffnen ließ.
Und dahinter lag die von Rei angekündigte Treppe in völliger Dunkelheit, denn das
Treppenhaus war unbeleuchtet und das schwache Licht der Notbeleuchtung reichte nur bis in
den Gang hinein.
Rei verschwand in der Dunkelheit, tastete sich an der Wand entlang, bis sie auf eine kleine
Metalltür stieß, hinter der sich ein Werkzeugschrank befand. Im nächsten Moment schon hatte
sie eine Taschenlampe eingeschaltet und reichte eine weitere an Shinji.
Die Treppe führte in eine schwarze Unendlichkeit...
*** NGE ***
Leise vor sich hinschimpfend verließ Asuka die Bahnstation, den Blick auf das Display ihres
Handys gerichtet.
„Kein Netz... was heißt hier ´kein Netz´... wir sind doch nicht am Arsch der Welt, sondern
mitten in Tokio-3... verdammtes Teil!“
Es war eigenartig still, aber das fiel ihr noch nicht auf, zu sehr war mit ihrem Ärger über das
Handy, die anderen beiden Piloten und die Welt im Allgemeinen beschäftigt.
Shinji Ikari hatte ihr auf dem Asamayama das Leben gerettet. Sie schuldete ihm also einiges,
auch wenn sie ihn nicht darum gebeten hatte. Doch der Ehrenkodex, den ihr Onkel ihr zu
vermitteln versucht hatte, war in einer solchen Beziehung sehr klar, andernfalls hätte sie ihm
schon mit Heller und Pfennig das blaue Auge zurückgezahlt, das war sicher. Und daß sie ihm
selbst ein Veilchen verpaßt hatte, zählte nun wirklich nicht, immerhin hatte er im Bad nichts
zu suchen gehabt, während sie duschte!
Ein großer Schatten fiel auf sie.
Endlich hob sie den Blick - und erstarrte.
Ein mächtiger insektoider Leib, getragen von acht haarigen Beinen, marschierte direkt über
ihr durch die Straßen der Stadt.
Eine Riesenspinne...
Das konnte nur ein Engel sein...
*** NGE ***
Shinji und Rei hatten gerade die ersten einhundert Stufen hinter sich gebracht und machten
eine kurze Pause auf dem Treppenabsatz.
Eigentlich war die Situation verführerisch - nur sie beide, ganz allein, niemand der sie störte...
Reis Augen wirkten im Licht der Taschenlampe noch geheimnisvoller, noch anziehender.
„Rei-chan...“ flüsterte Shinji beklommen.
„Ja?“
„Uhm... ich...“
Wieder trafen sich ihre Blicke. Und ganz langsam verringerte sich die Distanz zwischen
ihnen, bis jeder den Atem des anderen auf der Haut spüren konnte.
„Shinji-kun, wir...“
Was wollte sie sagen? Daß sie noch viele Treppenabsätze vor sich hatten? Daß die Situation
nicht angemessen war? Daß man im Hauptquartier auf sie wartete?
Die Treppen würden auch später noch dort sein. Und im Hauptquartier hatte man
wahrscheinlich anderes zu tun, als nach ihnen Ausschau zu halten...
Schon berührten sich ihre Lippen, strichen gegeneinander...
... als über ihnen Schritte laut wurden.
„Shinji! Wondergirl!“
Asuka...
Die beiden fuhren auseinander, senkten synchron den Blick, schwiegen jedoch. Vielleicht
ging Asuka wieder, wenn sie nichts sagten.
„Seid ihr da unten? Ich sehe doch ein Licht!“
„Wir sind hier, Soryu.“ gab Rei schließlich auf.
„Wir müssen uns beeilen... die EVAs müssen bereitgemacht werden...“ keuchte Asuka.
„W-was ist denn los?“
Asuka sah ihn weit aufgerissenen Augen an.
„Du kannst wirklich blöd fragen, Shinji! Oben in der Stadt läuft ein Engel frei herum! Ein
Riesenbiest, sieht aus wie eine Spinne!“
„Dann müssen wir uns beeilen.“ erklärte Rei.
„Wow, schön, daß du mir zustimmst.“ murmelte Asuka sarkastisch. „Also, keine falsche
Müdigkeit vorgetäuscht!“
8. Zwischenspiel:
„Und Sie sind sich immer noch sicher, daß ich die Operation durchführen soll?“
Gendo Ikari blickte den Mann im weißen Chirurgenkittel durchdringend an.
„Natürlich, Doktor, sonst wäre ich nicht hier.“
„Und auch nur bei örtlicher Betäubung?“
„Ja. Fangen Sie endlich an!“
Ikari saß in einem bequemen Sessel, den linken Arm zur Seite ausgestreckt, die geöffnete
Hand auf einem schmalen Tisch mit dünnen Bändern fixiert. Neben dem Tisch befand sich
ein Rolltisch, auf dem chirurgische Instrumente lagen, sowie der Koffer, den er aus dem
Hauptquartier geholt hatte.
Die andere Person war ein kleiner gedrungener Mann in mittleren Jahren mit schütterem Haar
und Adlernase. Ikari kannte ihn schon eine ganze Weile, hatte ihn schon gekannt, als er noch
den Namen Rokubungi getragen hatte. Doktor Fuyuu Sekanden besaß schon lange keine
ärztliche Lizenz mehr, sie war ihm vor dem Second Impact wegen unmoralischer
Experimente aberkannt worden, doch das änderte nichts an seiner Qualifikation. Der Arzt
hatte Ikari schon früher geholfen, hatte ihn mehrmals nach Schlägereien wieder
zusammengeflickt, hatte sogar einmal eine Kugel aus seiner Schulter geholt. Früher war er
hauptsächlich in der Forschung tätig gewesen, nach Verlust seiner Lizenz hatte er als
Unterweltarzt gearbeitet. Und er hatte Ikari nach dem Impact, in den Anfangsjahren von
NERV, geholfen, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, daß eines Tages Piloten für
die EVANGELIONs rekrutiert werden konnten, auch wenn von einhundert Testkandidaten
nur einundzwanzig überlebt hatten, auch wenn von den einhundert schwangeren Frauen,
denen Sekanden das Medikament zur DNA-Veränderung der Ungeborenen verabreicht hatte,
über 90% an den Nebenwirkungen gestorben waren. Aber die Erfolgsquote hatte Ikaris
Erwartungen sogar übertroffen.
„Gut, ich beginne.“
Der Arzt positionierte ein Laserskalpell über dem Operationstisch.
Der Einschnitt mit dem Skalpell war nicht mehr als ein heißes Kitzeln.
Vorsichtig schnitt Sekanden Ikaris Handfläche auf, klappte dann einen dreieckigen
Hautlappen zur Seite.
„Noch kann ich abbrechen; wenn ich dieses Ding erst einmal eingepflanzt habe, werden Sie
Ihre Hand nur noch eingeschränkt benutzen können.“
„Machen Sie weiter!“ knurrte Ikari.
Was kümmerte es ihn, ob er als Rechtshänder seine linke Hand nicht mehr richtig würde
verwenden können, wenn der Preis, den es zu erringen galt, die Macht eines Gottes war?
Sekanden seufzte leise, wandte sich dem Koffer zu, klappte den Deckel auf, entnahm den
Inhalt, einen handspannenlangen Zylinder, dessen Inhalt sich in einem tiefgefrorenen Zustand
befand. Er öffnete den Zylinder. Feiner Nebel stieg zischend auf.
„Richtig so?“
„Ja.“
Mit einer Zange holte der Arzt den Inhalt des Zylinders heraus.
„Das... sieht aus wie ein Fötus... nicht menschlich, würde ich sagen...“
„Pflanzen Sie ihn endlich ein!“
„Ich habe soetwas noch nie...“
Sekanden schluckte und plazierte das Objekt in der von ihm geschaffenen Wunde.
Ikari spürte eisige Kälte in seinem Arm aufsteigen. Und dann glühendes Feuer, als das, was
von ADAM nach dem Impact übriggeblieben war, sich mit ihm verband, als die Macht des
schlafenden Engels durch seine Adern zu pulsieren begann.
„Stimmt etwas nicht?“ fragte Sekanden, als er Ikaris angespannten Gesichtsausdruck
bemerkte.
„Nein, alles ist bestens.“
„G-Gut. Eigenartig... das fremde Gewebe verbindet sich mit dem Ihren...“
„Reden Sie nicht soviel, nähen Sie die Wunde wieder zu!“
Wieder trat der Laser in Aktion, doch diesesmal, um die Ränder des wieder zurückgeklappten
Hautlappens mit den Wundrändern zu verschweißen.
„Erstaunlich...“ murmelte der Arzt nach Abschluß der Operation. „Wirklich erstaunlich...“
Ikari drehte sich, besah sich seine Hand näher.
Noch immer hatte er kein Gefühl in den Fingern, auch nach Abklingen der Betäubung würde
er nie wieder etwas in der Hand spüren. Der Schnitt war nicht mehr zu sehen, ebensowenig
wie Spuren des Lasers. ADAMs Regenerationskräfte wirkten bereits...
„Rokubungi, könnten Sie mir das erklären?“ fragte Sekanden immer noch kopfschüttelnd.
„Ich könnte...“ murmelte Ikari und entfernte die Bänder, die seine Hand an den Tisch
gefesselt hatten. „Aber Sie würden es nicht verstehen.“
Und damit zog er seine Pistole. Der eingebaute Schalldämpfer vereitelte jede größere
Geräuschentfaltung, die Kugel stanzte ein Loch in Sekandens Kittel und sein Herz. Ohne
einen weiteren Laut kippte der Arzt nach hinten.
Ein lästiger Mitwisser weniger...
Kapitel 27 - Enthüllungen
„Schneller, verdammt noch mal!“
Laut schimpfend trieb Asuka die anderen beiden Piloten an, die hinter ihr die endlosen
Treppen in die Geofront hinabstiegen.
„Da unten wissen sie vielleicht noch gar nichts von dem Engel!“
Shinji keuchte.
Er spürte seine Beine seit etwa vierhundert Stufen nicht mehr, dabei hatten sie wahrscheinlich
noch nicht einmal ein Viertel der Strecke zurückgelegt.
Rei blickte ihn nachdenklich an. Sein verzerrtes Gesicht sprach Bände, gab genau Auskunft
über seinen Zustand. Wahrscheinlich würde Shinji-kun es nicht bis nach ganz unten
schaffen...
Sie selbst bewegte sich in einem möglichst kraftsparenden Rhythmus, spürte aber ebenfalls
inzwischen jede einzelne Stufe.
Auch Soryu schien langsamer zu werden, kein Wunder nach mittlerweile
eintausenddreihundertundvierzehn Stufen. Und das vierfache stand ihnen noch bevor.
Rei ging davon aus, daß sie weitere eintausend Stufen bewältigen konnte, bevor eine längere
Pause fällig war. Shinji-kun allerdings würde bald eine Rast benötigen, vielleicht würden sie
ihn auch zurücklassen müssen... doch dazu war sie wirklich nur bereit, wenn es keine andere
Möglichkeit gab.
Sie wußten nicht, über welche Mittel der Engel verfügte, den Soryu an der Oberfläche
gesehen hatte. Selbst das Ziel: Ramiel hatte über einen Tag gebraucht, um bis in die Geofront
vorzustoßen. Der schnellste Weg wäre der zentrale Schacht gewesen, durch den notfalls sogar
Hubschrauber in die Geofront einfliegen konnten, doch dieser war mit mehreren Dutzend
Panzerschotten gesichert. Daher wußten sie auch nicht, wieviel Zeit ihnen noch blieb, um das
Hauptquartier zu erreichen...
*** NGE ***
An der Oberfläche schob sich Makoto Hyuga vorsichtig um eine Hausecke.
„Seien Sie vorsichtig“, flüsterte Maya Ibuki leise.
„Ich kann das Biest sehen“, antwortete Hyuga. „Hockt über dem Zugang zum Zentralen
Schacht. Sieht ja richtig eklig aus.“
Maya linste an ihm vorbei.
„Wie eine riesige Spinne - igitt! Was macht es?“
„Ich glaube... pfui...“
Der Spinnenengel hatte eine grünliche Flüssigkeit aus Drüsen an seiner Bauchseite
abgesondert, die nun in dicken Tropfen auf die Beschichtung des Panzerschottes tropfte.
Dampf stieg auf.
„Makoto, das ist Säure... der Engel will sich den Weg in die Geofront freiätzen!“
„Meine Güte, wir müssen etwas tun! Jemand muß unsere Leute warnen!“
„Ja, aber nichts funktioniert... Sempai und die anderen in der Geofront wissen sicher noch gar
nicht, daß wir von einem weiteren Engel angegriffen werden.“
„Dann müssen wir nach unten. Warten Sie, Maya... Katsuragi-sans Rennstrecke...“
„Sie meinen den Kreisel?“
„Ja, wir brauchen nur ein Auto, dieser Eingang ist sicher frei.“
Ein Auto zu finden war nicht schwer, Hyuga requirierte einfach eines von einem völlig
verdutzten Autofahrer. Dann ging es ohne weitere Verzögerungen in jenen Außenbezirk der
Stadt, wo der Zugang zum Kreisel lag. Der Kreisel war ein scheinbar endlos langer dunkler
Tunnel, der sich in ewigen Windungen in die Tiefe schraubte und in der Geofront endete.
Den Zeitrekord für die Strecke hielt Major Katsuragi, weshalb der Tunnel intern auch
Katsuragis Rennstrecke hieß.
Maya Ibuki klammerte sich an den Beifahrersitz und starrte mit geweiteten Augen geradeaus
durch die Windschutzscheibe, als Makoto Hyuga den beschlagnahmten Kleinwagen mit
einem Tempo in den Tunnel hineinsteuerte, daß man hätte meinen können, er wollte Misatos
Rekord brechen.
*** NGE ***
Ritsuko Akagi fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, ihre Frisur war inzwischen
völlig zerzaust.
„Das kann doch nicht wahr sein...“
„Immer noch keine Veränderung?“ fragte Fuyutsuki.
Der ältere Mann hatte seine Uniformjacke abgelegt, den obersten Knopf seines Hemdes
geöffnet und die Ärmel hochgekrempelt.
In der Kommandozentrale war es heiß und stickig, der Hauptmonitor war dunkel, ebenso die
meisten Terminals.
Vor zwei Stunden waren die Klimaanlage und die Belüftung ausgefallen. Grund dafür war die
Tatsache, daß die Computeranlage des Hauptquartiers ohne Unterstützung der MAGI vor der
Unzahl an Aufgaben kapituliert hatte und einfach abgestürzt war. Und die MAGI befanden
sich immer noch in ihrer Reboot-Phase, die weitaus länger dauerte, als Akagi veranschlagt
hatte.
„Nein, Sir. Die MAGI brauchen noch ein paar Stunden, wie es aussieht, hat der Virenangriff
die Verzeichnisstruktur stärker durcheinandergebracht als erwartet. Und die herkömmlichen
Systeme sind einfach überlastet. Aoba kümmert sich bereits um die Klimaanlage, aber ich
könnte jetzt Mayas Hilfe gebrauchen.“
„Versuchen Sie, das ganze etwas zu beschleunigen, Doktor.“
„Ich könnte vielleicht ein, zwei Stunden herausholen, wenn ich die MAGI anweise, auf eine
komplette Überprüfung aller Unterverzeichnisse zu verzichten, das kann auch später
nachgeholt werden.“
„Tun Sie das.“
„Dafür benötige ich eine Bestätigung von jemandem mit Kommandorang.“
„Aha. Wo soll ich meinen Code eingeben?“
*** NGE ***
Etwas erwachte...
Ganz langsam... wie aus einem tiefen Schlaf...
Orientierungslosigkeit.
Zerrissenheit...
Drei Teile, die langsam wieder zusammenfinden...
Drei Teile, deren Vereinigung mehr ist als nur die Summe ihrer Teile...
Bewußtwerdung...
Erkennen...
Erwachen...
*** NGE ***
Misato Katsuragi hämmerte gegen die Tür der Liftkabine, in der sie sich befand. Vor über
zwei Stunden hatte der Aufzug abrupt gehalten und stand seitdem. Die Kabinentür widerstand
allen Versuchen, sie von innen zu öffnen, an die Luke in der Decke kam Misato nicht heran,
das Nottelephon war ebenso tot wie ihr Handy.
Längst hatte sie es aufgegeben, um Hilfe zu rufen. Ihre Fäuste schmerzten vom langen
Hämmern gegen die Tür und zu allem Überfluß teilte ihr ihre Blase mit aller Deutlichkeit mit,
daß sie während der letzten Nachtschicht weniger Kaffee hätte trinken sollen - oder
wenigstens nicht den Kaffee, den Ritsuko gekocht hatte, der so stark war, daß er sogar Tote
wiederbeleben konnte.
Endlich hörte sie eine Antwort.
„Ist jemand da drin?“ kam es dumpf durch die Wand.
„Ja!“ schrie sie zurück. „Ich stecke im Aufzug fest.“
„Katsuragi, bist du das?“
„Kaji?“
„Ja! Warte, ich bin gleich zurück!“
Kurz darauf knirschte es, dann wurde die Tür einen Spaltbreit aufgedrückt.
Misato griff mit beiden Händen in die Öffnung und stemmte sich gegen die Tür.
Kaji setzte von draußen nach, positionierte das Brecheisen, welches er aus einem nahen
Werkzeugschrank geholt hatte, neu und gewann wieder ein paar Zentimeter Boden.
Bald war genug Platz, daß Misato den Lift verlassen konnte.
„Danke, Kaji, das war wirklich in letzter Minute.“ stieß sie hervor und blickte sich gehetzt
um.
„Gern gesehen - hey, wo willst du hin?“
„Ich muß ganz dringend zur Toilette...“
Gute fünf Minuten später verließ eine sichtlich erleichterte Misato Katsuragi die
Damentoilette und blickte den wartenden Ryoji Kaji fragend an.
„Das hier geht doch nicht auf dein Konto, oder?“
„Nein, Katsuragi-chan, ich bin völlig unschuldig. Die MAGI hatten die von mir eingerichtete
Hintertür ins System bereits ohne Beanstandung akzeptiert, als die Probleme anfingen. Im
ganzen Hauptquartier läuft überhaupt nichts mehr. Ritsuko sitzt in der Zentrale an einem
Terminal mit Batteriebetrieb und versucht, die Rechner wieder zu starten. Du hattest Glück,
daß ich ausgerechnet diesen Korridor benutzt habe.“
„Komm, gehen wir zur Brücke.“
*** NGE ***
Wieder eintausend Stufen später...
Asuka war inzwischen sehr still geworden, sah man von ihrem Keuchen ab.
Shinjis Gesicht hatte einen abwesenden Ausdruck angenommen, seine Augen waren glasig,
seine Schritte derart unsicher, daß Rei sich neben ihm hielt und seine Hand genommen hatte.
Ob sie in diesem Zustand überhaupt noch fähig waren, gegen einen Engel zu kämpfen?
Rei spürte die Müdigkeit immer stärker, ihre Beine protestierten bei jedem Schritt.
Und dann kam der Moment, in dem auch sie nicht mehr weiterkonnte.
„Soryu... Pause...“ sagte sie, als sie und Shinji den nächsten Treppenabsatz erreichten.
Asuka blieb einfach stehen und ließ sich auf die Stufe sinken, auf der sie gerade stand.
Eigentlich hatte nur noch ihr eigener Stolz sie vorangetrieben, da sie nicht die erste hatte sein
wollen, die schlappmachte.
Rei zog Shinji mit sich nach unten, streckte die schmerzenden Beine.
„Wir haben etwa die Hälfte der Strecke hinter uns“, stellte sie fest.
Asuka verzog das Gesicht.
„Wird er es schaffen?“ sie deutete auf Shinji, nicht bereit zuzugeben, daß sie mit ihren
Kräften am Ende war. Sie waren doch sicher schon Stunden unterwegs...
Ihre Waden waren einzige feste Knoten aus Muskelgewebe.
Rei blickte Shinji an, der stumpf geradeaus blickte.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie. „Bist du imstande, weiterzugehen?“
„Ich bin Asuka Soryu Langley... aber laß uns noch eine Weile hierbleiben.“
Shinji schloß die Augen.
Gerade erst hatte mit langer Verzögerung die Nachricht, daß er nicht mehr ging, sondern saß,
sein Gehirn erreicht. Endlich eine kurze Rast...
Und dann kippte er zur Seite und gegen Rei, die ihn überrascht auffing.
„Was ist mit ihm?“
„Shinji-kun ist eingeschlafen...“
Sie bettete seinen Kopf auf ihren Schoß, nahm zur Kenntnis, daß er sich zusammenrollte und
an sie schmiegte.
„Die Pause wird wohl etwas länger dauern.“
„Muß wohl.“ murmelte Asuka, lehnte sich gegen die Wand und massierte ihre Unterschenkel.
„Typisch Männer, machen immer als erste schlapp.“
„Ich verstehe nicht, Soryu.“
„Das habe ich auch nicht erwartet. Ich frage mich nur, wie jemand wie Shinji nur ausgewählt
werden konnte, um einen EVA zu steuern, das ist alles... aber sein Vater ist ja auch der
Kommandant, das gibt sicher Bonuspunkte.“
„Tut es nicht.“
„Und das sagt mir der Liebling des Kommandanten.“
„Wer behauptet soetwas?“
„Ah, First, das pfeifen doch die Spatzen von den Dächern.“
„Die Spatzen?“
„Es weiß doch jeder, daß Shinji nur Pilot ist, will sein Vater ihn ins Team geholt hat... und als
Freundin seines Sohnes drückt er bei dir sicher auch ständig ein Auge zu, wenn du deinen
EVA wieder einmal geschrottet hast.“
„Das ist falsch, Soryu.“
„Oh, dann gibt es doch Standpauken?“
„Nein, Soryu. Aber weder Shinji-kun noch ich sind EVA-Piloten, weil Kommandant Ikari uns
einen Gefallen tun wollte, wie du es scheinbar auszudrücken versuchst. Wir sind Piloten, weil
wir über das nötige Potential verfügen, so wie du.“
„Ich habe über zehn Jahre für diese Mission trainiert!“
„Ich wurde für diese Mission geschaffen.“
„Ah... was? Geschaffen? First, du spinnst!“
Asuka stemmte sich in die Höhe.
„So, jetzt fühle ich mich frisch genug für die nächsten fünfhundert Stufen! Wir sehen uns
dann unten bei der Siegesfeier, wenn ich den Engel erledigt habe! - Wenn ich du wäre, würde
ich den Schnarchsack hier liegenlassen, sonst ist der Kommandant sicher sauer.“
Und damit setzte sie sich in Bewegung. Der Lichtschein ihrer Taschenlampe wanderte in die
Dunkelheit hinab...
Rei blieb mit Shinji zurück, streichelte geistesabwesend seine Wange.
Nein, sie würde Shinji-kun nicht allein in der Finsternis zurücklassen...
Wie weit würde Soryu kommen, ehe die gerade geschöpften Kraftreserven aufgebraucht
waren? Einhundert Stufen? Höchstens...
*** NGE ***
Erwachen...
Erinnern...
Wer...
Wo...
Was...
Drei Teile, die langsam wieder zusammenfanden...
Erinnern...
*** NGE ***
Shinji schlief immer noch, allerdings nicht mehr auf den Treppenstufen.
Rei hatte sich selbst eine Regenerationsphase von zwanzig Minuten gegönnt, nach welcher
die Verkrampfung und die Schwäche aus ihren Beinen verschwunden waren. Allerdings
würde sie das nicht ewig durchhalten, der Energieverbrauch aufgrund der Anstrengung setzte
ihr Grenzen. Bis zum Boden des Treppenschachtes zu gelangen, sollte aber durchaus noch im
Rahmen des Möglichen liegen...
Und so hatte sie Shinji-kun huckepack genommen und schleppte ihn nun die Treppen hinab,
korrigierte dabei ihre Berechnungen. Der erhöhte Kraftaufwand durch Shinji-kuns
zusätzliches Gewicht würde ihre Energien schneller verbrauchen, so daß Pausen in immer
kürzeren Abständen nötig sein würden. Unter diesen Voraussetzungen würde der Abstieg
noch wenigstens drei weitere Stunden in Anspruch nehmen. Als weiterer Unsicherheitsfaktor
kam der Flüssigkeitsverlust hinzu, der durch Transpiration entstand...
Vier Treppenabsätze zu je zwanzig Stufen weiter war sie auf Asuka gestoßen, die sich auf
einem Absatz ausgestreckt hatte.
Jetzt schlurfte die Rothaarige hinter ihr her, zu erschöpft, um zu sprechen, die Füße
voreinandersetzend wie ein Roboter.
*** NGE ***
Makoto Hyuga nahm die nächste Kurve.
Der Kleinwagen war an den Kotflügeln bereit übelst zerkratzt und eingebeult von zahlreichen
Kontakten mit den Wänden.
Maya Ibuki hockte zusammengekauert auf dem Beifahrersitz und hoffte, daß sie diese
Höllenfahrt überlebte.
Dann schoß der Wagen plötzlich ins Freie!
Sie hatten die Geofront erreicht!
Hyuga stieß einen kurzen Triumphschrei aus, während Maya es erstmals wieder wagte, richtig
zu atmen. Dann trat Makoto das Gaspedal erneut durch, nahm Kurs auf das
Pyramidengebäude des Hauptquartiers.
Die Geofront war spärlich beleuchtet, die großen Scheinwerfer unter der Decke der Höhle
waren außer Betrieb, Licht fiel nur durch die zahlreichen Lichtschächte, welche in den Mantel
gebohrt worden waren, allerdings wurde das Sonnenlicht mit Hilfe von Spiegeln und
Kollektoren in die Geofront geleitet.
Unterwegs begegneten sie mehreren Gruppen von NERV-Mitarbeitern, die am Rand der
Strasse saßen und sie darüber informierten, daß es im ganzen Hauptquartier keinen Strom gab.
Das große Haupttor stand weit offen.
Makoto fuhr direkt hinein, die Korridore waren groß genug, um dies zu erlauben, in einigen
konnten ja sogar EVANGELIONs aufrecht gehen. Er fuhr direkt in die Zentrale, deren
Haupteingang ebenfalls offenstand, damit wenigstens etwas frische Luft hereinkam, sprang
dort aus dem Wagen.
Maya kletterte ebenfalls aus dem Wagen, ihr Gesicht hatte eine grünliche Farbe. Sie würde
niemals wieder zu Hyuga in einen Wagen steigen, das schwor sie sich.
Den älteren Mann in Hemdsärmeln, der ihm entgegenkam, erkannte Hyuga beinahe gar nicht,
salutierte dann, als er in ihm den stellvertretenden Kommandanten erkannte.
„Sir, in Tokio-3 ist ein Engel aufgetaucht, er benutzt Säure, um sich Zugang zum Zentralen
Schacht zu verschaffen!“
Fuyutsuki zuckte zusammen.
„Das hat uns gerade noch gefehlt... - Akagi, wie sieht es bei Ihnen aus?“
„Moment... das erste Problem hätte sich erledigt...“
Gleichzeitig sprangen die Klimaanlage und die Luftumwälzanlage wieder an, versorgten die
Brücke mit frischer Atemluft, was mehrere der Anwesenden mit Freudenrufen zur Kenntnis
nahmen.
„Noch eine halbe Stunde und ich dürfte auch die Beleuchtung wieder in Gang haben.“
„Die Notbeleuchtung reicht ersteinmal, Doktor. Mir wurde gerade mitgeteilt, daß ein Engel
aufgetaucht ist.“
„Scheiße.“ kam es von Misato, die mit Kaji auf der anderen Seite des Raumes stand.
Fuyutsuki nahm keinen Anstoß an dem Kraftausdruck, war dieser ihm doch selbst durch den
Kopf gegangen, als er die Neuigkeit gehört hatte.
„Die EVAs müssen für einen Einsatz vorbereitet werden.“
„Sir, ohne Strom funktioniert im Hangar gar nichts. Die Käfige müssen per Hand entriegelt
werden, die EntryPlugs müssen manuell einzuführen werden... das ist ein Alptraum!“
Akagi überließ ihr Terminal Maya mit der Anweisung, so viele Systeme wie möglich wieder
online zu bringen.
„Und außer Einheit-02 benötigen alle EVAs einen kurzen Energieimpuls, um anzulaufen,
quasi als Starthilfe.“
„Wir haben noch ein altes dieselbetriebenes Notstromaggregat in Werkstatt 3, reicht das?“
fragte Aoba.
„Das sollte ausreichen.“
Kaji nickte Aoba zu.
„Lassen Sie es uns holen gehen.“
Die anderen, Fuyutsuki an der Spitze, verließen die Brücke und wandten sich in Richtung
Hangar, nur Maya blieb zurück. Unterwegs schickte der Subkommandant Makoto nach
draußen, um so viele NERV-Angehörige wie möglich zusammenzutrommeln und in den
Hangar zu bringen, damit ausreichend Muskelkraft vorhanden war, um die EVAs manuell
einsatzbereit zu machen.
„Jetzt fehlen uns nur noch die Kinder“, murmelte Misato.
„Die kommen.“ erklärte Akagi überzeugt. „Wenigstens Rei dürfte jede Minute hier
´reinstolpern. Und wo sie ist, dürfte Shinji nicht weit sein. Und Asuka wird wohl kaum als
letzte ankommen wollen.“
„Aber dazu müßten sie auch einen Weg nach hier unten haben.“
„Hyuga hat einen gefunden, dem Wagen und Mayas Gesichtsausdruck nach war es
wahrscheinlich deine Rennstrecke. Mir scheint, du hast als Rennfahrerin Konkurrenz
bekommen.“
„Was macht dich so sicher, daß Rei herkommt?“
„Sie kann gar nicht anders, es liegt ihr im Blut...“
„Wie meinst du das, Ritsuko?“
„Ikari hat ihr befohlen, bei einem Angriff sofort ins Hauptquartier zu kommen. Und Rei ist
nicht in der Lage, Befehle zu ignorieren. Wenn wir einen braven kleinen Soldaten im Team
haben, dann ist sie es.“
Den letzten Satz sprach sie mit einem traurigen Unterton.
*** NGE ***
Rei stolperte.
Das Gewicht, das sie trug, war zuviel für sie. Mittlerweile schleppte sie ihre beiden Kollegen
über die Treppen. Aber wenigstens war Shinji-kun wieder wach und gab sich Mühe, sie zu
unterstützen, während Soryu wie ein nasser Sack an ihrer anderen Schulter hing.
Sie hatten den Boden des Treppenschachtes fast erreicht, als Rei den Halt verlor und die
letzten Stufen hinabpolterten.
Die Taschenlampe erlosch.
Als Knäuel aus Körpern, Armen und Beinen kamen sie unten an, blieben so eine Weile
liegen, bis Asuka aufkreischte und in die Höhe schoß.
„Shinji, du verdammter Perverser!“
„Was habe ich denn gemacht?“ fragte Shinji müde ohne sich zu rühren.
„Mich zu betatschen! Ich sollte dich...“
„Dann tu es, aber schrei nicht so laut.“
„Argh! Okay, dieses eine Mal laß ich dir durchgehen, im Zweifel für den Angeklagten, ja!“
„Schön“, murmelte er, ohne die Bedeutung ihrer Worte wirklich zu verstehen. „Rei?“
„Hm?“ kam es aus der Dunkelheit neben ihm.
„Ich glaube... ahm... wir sind unten... hast du dich verletzt?“
„Nein. Alles funktionsfähig.“
Sie stützte sich auf die Hände auf, stemmte den Oberkörper in die Höhe.
„Ahm... bei mir auch... schätze ich...“
„Hier muß doch irgendwo eine Tür sein!“ schimpfte Asuka. „Ah, hier!“
Es knirschte und quietschte, dann fiel ein schwacher Lichtschein in das Treppenhaus.
„So, und jetzt...“
Asuka drehte sich um.
„Was... was macht ihr denn da? Das ist ja obszön!“
Rei lag auf Shinji in einer recht eindeutigen Körperhaltung, nur die Kleidung, die beide
immer noch trugen, störte den Eindruck nachhaltig.
„Shinji-kun, was meint sie?“
„Keine Ahnung, Rei-chan. Laßt mich einfach hier liegen.“
Rei kletterte umständlich von ihm herunter und setzte sich auf den Boden.
„Nein, niemand bleibt zurück.“
Draußen hielt mit quietschenden Reifen ein Fahrzeug.
Makoto, der auf Anweisung Misatos seit über einer Stunde zwischen den verschiedenen
Zugängen zur Geofront Patrouille gefahren war, winkte Asuka, die immer noch in der
Türöffnung stand, zu.
„Hat hier jemand ein Taxi bestellt?“
*** NGE ***
Diesesmal fuhr Hyuga nonstop bis in den EVA-Hangar.
Staunend beobachteten die drei Teenager, wie die EntryPlugs mit Hilfe dicker Seile von den
NERV-Angehörigen manuell über den Steuernerven positioniert wurden. Zwischen
schwitzenden und keuchenden Technikern und Wissenschaftlern befanden sich auch die
Führungsoffiziere und legten ebenfalls Hand an, sogar der Subkommandant stemmte sich
gegen ein Seil.
„Ich habe es doch gesagt“, preßte Ritsuko zwischen den Zähnen hervor.
„Alte Besserwisserin!“ antwortete Misato. Nach dieser Aktion würde auf die
Krankenabteilung einige Arbeit zukommen, denn die wenigstens von ihnen trugen
Handschuhe, so daß die Seile sich ungehindert in die Haut eingraben konnten.
„Das ´alt´ nimmst du zurück!“
Misato vergewisserte sich, daß das Seil, an dem sie stand, gesichert war, ehe sie den dreien
am Boden zuwinkte.
„Kommt rasch nach oben! Nicht erst umziehen!“
Mittlerweile funktionierten auch die Beleuchtung und die Kommunikationseinrichtungen im
Hauptquartier wieder, Maya hatte es sogar geschafft, Kontakt mit den Alarmsensoren am
Zentralen Schacht aufzunehmen, so daß sie über das Vordringen des Engels informiert waren.
Demnach stand der Spinnenengel kurz davor, in die Geofront einzudringen!
Die drei Piloten kletterten in die Steuerkapseln, welche sodann weiter herabgelassen wurden,
bis sie Kontakt zum Nervensystem der EVAs hatten. Jeder der Piloten war mit einem Headset
ausgerüstet worden, da die MAGI-gestützte Kommunikation mit den Systemen der Plugs
noch nicht wieder funktionierte.
Misato wies Asuka an, mit einem Start ihrer Systeme zu warten, bis EVA-00 und -01
ebenfalls bereit waren, damit keine Batterieenergie durch Warten verbraucht wurde. Dann
wurde das von Kaji und Aoba gebrachte Notstromaggregat angeworfen.
Die Augen der EVAs glühten auf.
„Wir haben keine Zeit für großangelegte Pläne! Jeder von euch rüstet sich mit einem
Positronengewehr aus. Dann erwartet ihr den Engel hier in der Geofront!“
Die drei bestätigten, jeder von ihnen froh, nicht selbst laufen zu müssen. In fünf Minuten
würde es vorbei sein, dann würden sie entweder den Engel vernichtet haben und konnten sich
ausruhen, oder ihnen würde die Energie ausgegangen sein und sie konnten aus nächster Nähe
den Weltuntergang miterleben.
Die drei EVAs stampften aus dem Hangar, verfielen im Hauptkorridor in einen Laufschritt,
verließen das Hauptquartier.
Draußen wurden sie von zurückgebliebenen NERV-Mitarbeitern mit lauten Rufen
empfangen, welche die Decke der Geofront und den Zentralen Schacht im Auge behalten
hatten, der fast genau über dem Hauptquartier endete. Fast alle deuteten nach oben, zogen sich
dann rasch zurück.
Die drei EVAs blickten nach oben, sie waren der Decke viel näher als die im Vergleich
winzigen Menschen, doch zwischen ihren Köpfen und der Höhlendecke war noch jede Menge
Luft, selbst wenn sie einander auf die Schultern geklettert wären und eine Leiter gebildet
hätten, hätten sie die Decke nicht erreicht.
Das mächtige Panzerschott in der Decke wies erste Risse auf.
Das Metall warf Blasen, beulte sich aus.
„Er kommt!“ rief Asuka in das Mikrophon ihres Headsets derart laut, daß jeder, der sie hören
konnte, versucht war, sein eigenes Gerät herunterzureißen.
Die drei verteilten sich, brachten ihre Gewehre in Anschlag.
Das Stahlschott gab nach, zerriß wie Papier.
Und durch die entstandene Öffnung seilte sich der Spinnenengel an einem dicken seidigen
Faden ab.
„Feuer.“ flüsterte Rei.
„Warum hast du auf einmal das Kommando?“ beschwerte sich Asuka, schoß aber
gleichzeitig.
Der erste Treffer ließ das AT-Feld des Engels aufflackern, der zweite ließ es einen
Sekundenbruchteil später erlöschen, der dritte traf den Engel voll, setzte ihn in Brand.
Die Riesenspinne stürzte in einer Feuerkugel dem Boden entgegen, stieß ein langgezogenes
Kreischen aus.
Erneut schossen die EVAs.
Der Engel explodierte, noch ehe er mit dem Boden in Kontakt kam, die Druckwelle wurde
von den EVAs mit ihren eigenen AT-Feldern aufgefangen.
Einen Moment lang waren alle sprachlos.
„Das war alles?“ fragte Asuka schließlich. „Dafür sind wir hunderttausend Stufen durch die
Dunkelheit herabgelaufen?“
„Uhm... also ich bin zufrieden, daß es nicht länger gedauert hat.“ murmelte Shinji, während
zugleich die Anzeige für die verbliebene Batterieenergie noch eine halbe Minute anzeigte.
„Ja, aber das hätte sogar Wondergirl allein geschafft!“
Shinji ließ EVA-01 eine liegende Haltung einnehmen, dann evakuierte er seinen Plug
manuell, solange er noch die dazu nötige Energie hatte, und kletterte aus dem EntryPlug.
Sollten sich die Erwachsenen doch darum kümmern, wie der EVA wieder in den Hangar
zurückkam, war schließlich nicht das erste Mal.
Er wollte nur noch schlafen...
*** NGE ***
Bevor die Piloten sich ausruhen konnten, mußten sie zunächst einmal an Misato vorbei, die
ihnen zu ihrem Sieg gratulierte und sie abends zum Essen einlud, in einem ganz schicken
Restaurant - sofern die Aufzüge wieder funktionierten -, wie sie sich ausdrückte.
Dann begann allmählich das LCL auf der Haut einzutrocknen, so daß zumindest Shinji doch
erst einmal duschen wollte. Daß auch ihre Alltagskleidung sich mit der LCL-Flüssigkeit
vollgesogen hatte, stellte nur bei Asuka ein Problem dar, die keine Ersatzkleidung in ihrem
Spind aufbewahrte, allerdings von Misato ein paar Sachen gestellt bekam.
Die Umkleidekabine wurde mittlerweile von einem großen milchigfarbenen Wandschirm
geteilt, durch den man schemenhaft die Umrisse von Personen auf der anderen Seite sehen
konnte.
Doch auch hierfür hatte Shinji kein Auge, er war einfach zu erschöpft, um auch nur zur
Kenntnis zu nehmen, wie Asuka und Rei sich auf der anderen Seite entkleideten - nicht, daß
er ohnehin kaum etwas gesehen hätte, er war sogar so müde, daß nicht einmal seine Phantasie
in Aktion trat.
Und als er unter der Dusche stand und seine schmerzenden Muskeln sich langsam
entkrampften, nahm er die Tatsache, daß neben ihm zwei weitere Duschen ansprangen, auch
nur irgendwo im hintersten Winkel seines Bewußtseins zur Kenntnis, ansonsten hätte er mit
ziemlicher Sicherheit ganz anders auf die Anwesenheit zweier gutgebauter nackter Mädchen
im selben Raum reagiert, als einfach weiterzuduschen und im Anschluß in seinen Teil der
Umkleidekabine zurückzutrotten.
Wenn Asuka sich nicht in einem Zustand irgendwo näher dem Schlafen als dem Wachen
befunden hätte, wäre es wohl ebenfalls ganz anders ausgegangen, nur definitiv nicht zum
Guten. Und falls sie sich später einmal daran erinnern sollte, so behielt sie es jedenfalls für
sich, da sie sich nicht sicher sein konnte, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte...
Rei hingegen war es völlig egal, schließlich schliefen sie auch im gleichen Bett.
In einem der Bereitschaftsräume waren Schlafgelegenheiten für die Piloten hergerichtet
worden, wobei auch dieser Raum mittels eines Wandschirmes in zwei Hälften geteilt worden
war, nur war das Rei völlig egal, als Shinji sich auf das eine Bett auf der rechten Seite der
Trennwand legte und sofort einschlief, legte sie sich neben ihn, rollte sich etwas zusammen
und fiel ebenfalls sogleich in tiefen Schlaf.
Asuka besah sich das kurz, schüttelte den Kopf und murmelte:
„Obszön...“
Dann ließ sie sich auf eines der beiden anderen Betten fallen und war auch sofort
eingeschlafen.
*** NGE ***
Am späten Nachmittag wurden die drei von Misato geweckt, das hieß, Rei war eigentlich
schon wach, hatte jedoch keinen Grund zum Aufstehen gesehen, sondern war lieber an Shinjis
Seite liegengeblieben und hatte dem regelmäßigen Schlagen seines Herzens gelauscht.
Misato betrat unter Rumpeln und Scheppern den Raum, die Geräusche wurden von dem
Rolltisch verursacht, den sie vor sich herschob und auf dem sie den Piloten etwas zu essen
und Getränke aus der Kantine brachte.
„Auf, auf, meine Lieben! Die Computer laufen wieder, wir haben wieder Strom und die
Getränkeautomaten funktionieren auch wieder!“
Damit schob sie den Wandschirm zur Seite und plazierte den Rolltisch zwischen den beiden
belegten Betten, konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken, als sie Rei neben Shinji liegen
sah, eine Hand auf seinem Brustkorb.
„Aw, Misato... nicht so laut...“ brummte Asuka und vergrub ihren Kopf unter dem Kissen.
Rei setzte sich vorsichtig auf, um Shinji nicht zu wecken.
„Werden wir benötigt, Major?“
„Nein, Rei, keine Sorge. Der Himmel ist klar, die See ist ruhig, kein weiterer Engel in Sicht.
Zwei an einem Tag wäre auch wirklich zu viel! So, ich habe hier ein paar Knabbereien für
euch, dazu Limonade und Vitaminsaft, mit den besten Empfehlungen von Ritsuko. - Na,
Shinji, wieder fit?“
Shinji gähnte, setzte sich auf, legte dabei ohne nachdenken einen Arm um Rei, wurde sich
dessen einen Augenblick später bewußt, wollte die Hand zurückziehen, wurde aber von ihr
daran gehindert.
„Uhm... glaube schon...“
Jetzt spürte er auch seine Beine wieder, nur hatte er das Gefühl, als hätten sich alle Muskeln
und Knochen in weichen Pudding aufgelöst.
„Haben wir den Engel erwischt, oder habe ich das nur geträumt?“
„Ihr habt das Vieh abgeschossen, gerade als es sich in die Geofront abseilen wollte.“
„Viel zu einfach... keine Herausforderung“, kam Asukas Stimme undeutlich unter ihrem
Kopfkissen hervor.
„Okay, Asuka, wenn du meinst... du kannst gegen den nächsten Engel ja ohne deinen EVA
antreten...“ murmelte Misato und seufzte. „Also, Anweisung von Doktor Ritsuko: Ihr sollt
viel trinken, um den Flüssigkeitsverlust von eurem Treppensteigen auszugleichen. Und nicht
vergessen, heute abend lade ich euch ein!“
Sie verließ den Raum.
Ächzend schob Shinji sich bis zur Bettkante und ließ die Füße hinunterbaumeln. Derart fertig
war er selbst nach der aufreibendsten Sportstunde nicht gewesen. Er angelte nach dem Tisch,
hatte jedoch nicht genug Reichweite.
Kommentarlos stand Rei auf und griff nach der Platte des Rolltisches.
Asuka peilte unter ihrem Kissen hervor, bemerkte ihren eigenen knurrenden Magen und griff
ebenfalls nach dem Tischchen, welches ihrem Bett näher stand als Shinjis.
Einen Moment lang zogen beide Mädchen an dem Tisch, stellten ihre Bemühungen dann ein.
Asuka setzte sich auf, blickte Rei finster an.
Rei hielt dem Blick mühelos stand, aufgrund ihrer körperlichen Besonderheiten mußte sie viel
seltener blinzeln als normale Menschen.
Mit einem unterdrückten Knurren brach Asuka das Blickduell ab und griff sich stattdessen
zwei Dosen Limonade und ein belegtes Brötchen von dem Tablett auf dem Tisch.
Mit leichtem Mißfallen nahm Rei zur Kenntnis, daß Soryu keine Limonade für Shinji-kun
übriggelassen hatte, als sie das Tischchen zu sich heranzog und sich neben Shinji auf die
Bettkante setzte.
„Danke, Rei“, sagte Shinji und lächelte. Wenigstens seine Gesichtsmuskeln schmerzten
nicht... vielleicht hätte er Misato fragen sollen, ob sie nicht irgendwo einen Rollstuhl für ihn
auftreiben könnte...
Er angelte nach der Flasche mit Vitaminsaft und füllte zwei Plastikbecher.
„Hier.“
Er stellte einen Becher vor Rei und besah sich dann, was Misato noch so gebracht hatte.
Rei ignorierte die mit Wurst und Käse belegten Brötchen und griff in eine Schale mit
Reisbällchen.
„Shinji-kun?“
Sie hielt ihm das Reisbällchen unter die Nase.
„Uhm, ja, das sieht gut aus.“
Er wollte es ihr aus den Fingern nehmen, doch sie führte es ihm bereits zum Mund.
„Ahm...“
Widerstandslos biß er vorsichtig ab.
„Argh! Ihr beide seid so... kindisch!“ schrie Asuka und stürmte aus dem Raum, wobei sie ihre
Beute allerdings mitnahm.
„Uh, kindisch?“ wiederholte Shinji mit einem Reiskorn an der Lippe. „Wie alt sind wir noch
mal?!“ Dann fing er an zu lachen, mußte sich die Hand vor den Mund halten, um nicht Reis
durch den ganzen Raum zu spucken.
Das tat richtig gut, ihm tat zwar bald vor Lachen der Bauch weh, aber das änderte nichts an
der befreienden Wirkung des Lachens.
Und die Tatsache, daß Rei lächelte, gab ihm noch weiteren Auftrieb.
Rei, die ihn nicht im Stich gelassen hatte, als er auf der Treppe nicht mehr weiterkonnte... die
ihn getragen und später gestützt hatte, obwohl er - schwach - dagegen protestiert hatte... Reichan, die er eigentlich nur noch in den Arm nehmen und nie wieder loslassen wollte...
*** NGE ***
Misato betrat Ritsukos Arbeitszimmer.
Die zahllosen Katzenmotive und -figuren an den Wänden und auf den Regalen und Tischen
und sonstigen freien Plätzen nahm sie schon gar nicht mehr wahr.
Akagi hockte zusammengesunken an ihrem Schreibtisch.
Maya, die an einem anderen Schreibtisch mit ihrem Laptop gearbeitet hatte, machte hektische
Gesten, Misato sollte Ritsuko nicht wecken.
Misato nickte und beugte sich neben Ritsuko vor, bis sie der Schlafenden ins Gesicht blickte.
Ihre alte Freundin wirkte sehr erschöpft, wirklich keine Überraschung, schließlich hatte sie
die letzten Tage durchgearbeitet.
Ritsuko murmelte etwas unverständliches im Schlaf.
Misato richtete sich wieder auf, bedeutete Maya, ihr doch auf den Korridor zu folgen.
Draußen schloß sie leise die Tür wieder.
„Also, Maya, seid ihr zu irgendwelchen Erkenntnissen gekommen?“
„Sempai ist sich nicht sicher, vermutet aber einen Zusammenhang zwischen den beiden
letzten Angriffen.“
„Na, das liegt auch nicht ganz so fern. Der erste Engel legt unsere Computer und damit unsere
Abwehr lahm und der andere spaziert einfach durch die Stadt und kommt fast bis zum
Hauptquartier, dabei war er vergleichsweise schwach.“
„Aber wenn Sie die EVAs nicht manuell startbereit gemacht hätten, wäre der Angriff
erfolgreich gewesen.“
„Ja, das geht mir auch nicht aus dem Kopf. Und das macht es den MAGI auch nicht einfacher,
Prognosen für den nächsten Angriff zu erstellen, oder?“
„Bedaure, Major. Wir müssen jetzt von ganz neuen Kriterien ausgehen.“
„Es ist, als würden die Engel neue Taktiken ausprobieren...“ murmelte Misato. „ Der
Zwillingsengel konnte bei seinem synchronen Angriff gestoppt werden, jetzt hatten wir es mit
zwei Gegnern in kurzer Folge zu tun, die möglicherweise zusammengearbeitet haben... fragt
sich nur, was als nächstes kommt.“
„Vielleicht eine Bombardierung von oben?“
„Na, soweit will ich nun doch nicht gehen.“
*** NGE ***
Schwankend ging Shinji auf Misatos Wagen zu, der in der NERV-Tiefgarage stand. Auch
jetzt fühlten sich seine Beine immer noch an wie aus Gummi.
Rei hielt sich an seiner Seite, so als wollte sie sichergehen, ihn im Notfall auch stützen zu
können.
„Kommt ihr auch endlich?“ rief Asuka vom Beifahrersitz her. Sie hatte die letzten Stunden
genutzt, um sich in Misatos Apartment umzuziehen, und trug jetzt ein gelbes Sommerkleid
mit Spaghettiträgern, welches über ihren Knien endete, dazu trug sie noch eine gleichfarbige
Schleife im Haar.
„Ich will gar nicht wissen, was ihr beide in der Zwischenzeit alleine angestellt habt!“
Shinji lag die Antwort, sie hätten sich noch ein wenig ausgeruht, auf der Zunge, behielt sie
aber für sich, Asuka würde ohnehin eigene Schlüsse ziehen, egal, was er sagte.
„So, alle da?“ fragte Misato. „Dann kann´s ja losgehen!“
„In welches Restaurant gehen wir denn?“
Misato lächelte.
„Laß dich überraschen, Asuka!“
*** NGE ***
Das angebliche Edellokal entpuppte sich als eine Nudelküche am Stadtrand mit
umfangreicher Speisekarte.
Asuka, welche sich bereits auf ein größeres Menü gefreut hatte, knirschte mit den Zähnen,
daß es Misato Angst und Bange wurde, ihre Schutzbefohlene könnte in naher Zukunft ein
Gebiß benötigen.
„Ich habe den Laden hier an meinem ersten Tag in Tokio-3 entdeckt. Freundlich, sauber,
schnell, gutes Essen... ich meine, was will man denn mehr?“ erklärte Misato, nachdem sie ihre
Bestellungen aufgegeben hatten und die Bedienung ihnen bereits etwas zu trinken gebracht
hatte, und öffnete ihre Bierdose.
„Vielleicht ein Steak“, brummte Asuka. „Noch schön blutig.“
Rei schüttelte sich innerlich.
„Ich habe keine Einwände bezüglich Ihrer Wahl des Ortes, Major.“
„Du kennst es ja auch nicht besser... machst ohnehin alles, was man dir aufträgt“, giftete
Asuka zurück. „Wenn ihr beide“, sie sah von Rei zu Shinji und wieder zurück, „zusammen
seid, ist das doch für Shinji die einzige Gelegenheit, die Hosen anzuhaben, oder?“
„Asuka...“ setzte Shinji an.
„Na, lieber Shinji, ist es nicht so, hm? Du kommandierst Wondergirl hier sicher doch den
ganzen Tag herum und sie ist ganz dankbar dafür, oder?“
„Das stimmt nicht“, knurrte Shinji.
Sollte Asuka ihn doch so oft ´runtermachen, wie sie wollte, sein Herz konnte sie damit nicht
verletzen. Doch wenn sie Rei-chan mithineinbezog, überschritt sie in seinen Augen eine
Grenze, jenseits der sie nichts zu suchen hatte.
„Asuka, hör auf“, sagte Misato in kommandierendem Unterton.
„Ja, ja, nimm die beiden ruhig in Schutz. Das ist doch wirklich nicht normal... würde mich
nicht wundern, wenn Wondergirl demnächst als Pilotin ausfällt, weil Shinji sie geschwängert
hat.“
„Asuka, das reicht jetzt!“
„Hrmpf.“
„Nur zu deiner Information, Soryu, ein solches Szenario ist nicht denkbar.“ erklärte Rei ruhig.
Stille senkte sich über den Tisch.
Misato war sauer auf Asuka, diese schmollte, daß ihre Mundwinkel beinahe den Boden
berührten. Shinji war das ganze nur noch peinlich, Misato hatte es doch nur gut gemeint. Und
Rei schließlich verstand nicht ganz, was eigentlich los war - wie sollte Shinji-kun denn
imstande sein, sie zu schwängern, wenn sie gar nicht in der Lage war, Kinder zu bekommen?
Allerdings hing dies mit ihrer Physiognomie zusammen und unterlag daher der
Geheimhaltung. Aber... irrte sie sich, oder war Shinji-kun leicht zusammengezuckt, als sie
Soryu gegenüber erklärt hatte, daß das von ihr genannte Szenario nicht möglich war? Was
hatte diese Reaktion zu bedeuten?
Das Essen kam.
Die Bedienung war clever genug, die Teller vor ihnen zu plazieren und sich dann wieder aus
dem Staub zu machen.
Shinji kostete seine Mahlzeit, fühlte sich veranlaßt, etwas zu sagen, um die Stille zu brechen.
„Das... ah... das schmeckt gut...“
Misato rang sich ein Lächeln ab.
„Freut mich.“
Mit einem Seitenblick in Richtung Asuka fügte sie hinzu:
„Ich hoffe, du bist hier neben mir nicht der einzige, dem es schmeckt.“
Rei entschied sich, neben Shinji in die Bresche zu springen.
„Sehr wohlschmeckend, Major.“ erklärte sie knapp.
„Gut... und Rei, das habe ich dir schon gesagt - wenn ich nicht im Dienst bin, genügt Misato
vollkommen.“
„Ja.“
Inzwischen hatte auch Asuka schweigend begonnen zu essen, zog dabei ein Gesicht, als hätte
man sie dazu gezwungen.
„Asuka, du mußt das nicht essen, wenn du nicht willst.“
„Ich habe aber Hunger, Misato.“
„Ah, ja... äh... gut...“
Misato schüttelte den Kopf.
„Wie waren denn eure Prüfungen?“
„Zufriedenstellend“, antwortete Rei.
Shinji gab eine etwas weiterausholende Auskunft.
„So, dann bekommt ihr nächste Woche die Ergebnisse... - Und, Asuka, wie ist es bei dir
gelaufen?“
Die Rothaarige murmelte etwas mit vollem Mund, das wie „Scheiß-Kanji“ klang, es hätte
aber auch sein können, daß sie irgendeine Stadt in China meinte.
Misato jedenfalls beschloß, Asuka nicht weiter zu fragen.
„Dann liegt doch auch Ende der Woche der Abschlußball an, oder?“
„Uhm, ja...“ murmelte Shinji und senkte den Blick.
Seit der Sache mit dem Zwillingsengel hatte er Rei eigentlich fragen wollen, ob sie ihn nicht
begleiten wollte...
„Ich erinnere mich noch an meinen ersten Abschlußball... eigentlich war es auch mein
letzter... ein halbes Jahr später stand der Weltuntergang auf dem Kalender und danach war
niemandem wirklich nach Feiern zumute... Hm, ist lange her... also, raus mit der Sprache, ihr
beiden, geht ihr zusammen hin?“
„Uhm, also... ähm...“ druckste Shinji herum.
„Ja.“ erklärte Rei.
Shinjis Kopf fuhr herum. Er starrte sie an.
Ja...
Sie hatte ´Ja´ gesagt...
„Hrmpf“, machte Asuka abfällig.
„Schön!“
Misato lächelte breit.
*** NGE ***
Nach dem Essen fuhr Misato die beiden noch heim.
Asuka konnte sich einen Kommentar über den Zustand der Wohngegend und des Hauses, in
dem Rei wohnte, nicht verkneifen, wobei Misato sich insgeheim anschloß, das Viertel schien
wirklich schon bessere Zeiten gesehen zu haben, obwohl Tokio-3 noch gar keine so lange
existierende Stadt war.
Shinji schleppte sich die Stufen bis in den vierten Stock hinauf, wollte danach ersteinmal
keine Treppen mehr sehen. Wie ein Toter fiel er noch komplett angezogen ins Bett, bemerkte
weder wirklich, daß Rei ihn nachdenklich ansah, noch daß ihm schließlich seine Sachen bis
auf die Unterhose auszog und selbst bei dieser noch nachzudenken schien.
Auch daß sie sich kurz darauf neben ihn legte und die leichte Decke über ihnen ausbreitete,
entging ihm größtenteils.
Rei streichelte sanft seine Wange, bemerkte die ersten Anzeichen eines Bartwuchses in Form
kurzer feiner Härchen. Ob Shinji-kun mit einem Bart wohl aussah wie sein Vater? Überrascht
legte sie die Stirn in Falten, als sie zu der Erkenntnis kam, daß dies nicht der Fall sein würde,
der Kommandant und Shinji-kun hatten ganz unterschiedliche Kinnpartien... und irgendwie
beruhigte sie diese Erkenntnis...
„Gute Nacht, Shinji-kun...“
Shinji nuschelte etwas, das ebenfalls nach einem Gute-Nacht-Gruß klang.
*** NGE ***
Ritsuko Akagi hatte verschiedene Vorsätze für die nahe Zukunft gefaßt.
Zunächst einmal wollte sie in ihrem Büro ein Feldbett aufstellen, langsam störte es sie,
wenigstens einmal die Woche völlig verspannt über ihrem Schreibtisch aufzuwachen. Und
dann wollte sie künftig noch stärkeren Kaffee kochen, damit sie es auch auf besagtes Feldbett
schaffte, wenn die Müdigkeit sie übermannte.
Maya hatte sie bereits heimgeschickt, ihre Assistentin hatte während ihrer Auszeit gute
Vorarbeit geleistet, dennoch wollte sie stichprobenartig die Verzeichnisstrukturen auf den
MAGI-Rechnern überprüfen und einige Versuchsläufe starten. Daß es längst weit nach
Mitternacht war, entzog sich ihr völlig.
Sie machte sich an die Arbeit...
Und nahm eine gute halbe Stunde später langsam die Finger von der Tastatur ihres Terminals,
als sie etwas entdeckte, das nicht hätte dort sein sollen.
„Was zum...“
Auf CASPAR befand sich eine ganze Reihe von Dateien, die sie nie zuvor gesehen hatte.
Bei jeder einzelnen handelte es sich um eine Aufzeichnung der Sicherheitskameras des
Hauptquartiers aus dem Jahre 2005. Es waren die kompletten Aufzeichnungen vom Todestag
ihrer Mutter...
Ritsukos Hände finden plötzlich an zu zittern.
Eine der Dateien würde ihr die letzten Minuten im Leben ihrer Mutter zeigen, würde ihr die
Augenblicke zeigen, ehe Naoko Akagi sich in der Kommandozentrale von der Brückenebene
auf die Ebene herabgestürzt hatte, auf der sich damals die MAGI etwa vier Meter tiefer
befunden hatten...
Die Aufzeichnungen waren nach Räumen und Zeiten aufgelistet, jede Datei deckte eine
Stunde ab.
Wollte sie das wirklich sehen? Wollte sie wirklich sehen, wie ihre Mutter Selbstmord
begangen hatte?
Sie hatte nie den Grund herausgefunden, offiziell hatte es geheißen, ihre Mutter hätte unter
schweren Depressionen gelitten... und eigentlich war sie damals doch zu NERV gegangen,
um mehr über die Umstände ihres Todes herauszufinden...
Wo kamen die Daten eigentlich her?
Ein kurzer Eintrag in der Dateibeschreibung teilte ihr mit, daß sie eigentlich am gleichen Tag,
an dem sie abgespeichert worden waren, wieder gelöscht worden waren... dem benutzten
Legitimierungscode nach von niemand anderem als von Gendo Ikari...
Ritsuko atmete tief durch.
Warum hatte Gendo die Aufzeichnungen gelöscht? Was hatte er mit dem Tod ihrer Mutter zu
tun gehabt?
Und sie startete die erste Aufzeichnung aus den Kommandoraum...
„Mutter...“ flüsterte sie mit belegter Stimme, als sie auf dem Bildschirm ihre Mutter sah, wie
sie an den MAGI arbeitete. Bei BALTHASAR fehlte die Verkleidung. Ihre Mutter wirkte
nicht wie jemand, der unter Depressionen litt, im Gegenteil, sie war voller Elan bei der
Arbeit... brachte so jemand sich um?
Ritsuko ließ die Aufzeichnung schnell vorlaufen, am Ende der ersten Stunde wurde
automatisch die Wiedergabe der nächsten Stunde gestartet.
Sie sah, wie ihre Mutter die Arbeit an BALTHASAR beendete und einen Techniker anwies,
die Verkleidung anzubringen, sah sie kurz den Raum auf der MAGI-Ebene verlassen und kurz
darauf auf der Brücken-Ebene wieder betreten, wo sie an einem Terminal weiterarbeitete, sah,
wie Triumph auf ihrem Gesicht stand, als die MAGI die Arbeit aufnahmen... als sie den
Erfolg ihrer Bemühungen, ihres Lebenswerkes, sah...
Langsam streckte Ritsuko die Hand aus, berührte den Bildschirm mit den Fingerspitzen,
während Tränen ihre Sicht verschleierten.
Die nächste Aufzeichnung lief an...
Ritsuko trocknete ihre Tränen mit dem Ärmel ihres Kittels.
Eine weitere Person betrat die Zentrale, ein kleines Mädchen mit blauem Haar und roten
Augen...
„Rei...“ flüsterte Ritsuko.
Aber das war doch unmöglich... dem Zeitindex nach konnte das nicht Rei sein... der Klon war
erst fast über ein Jahr später erstmals aktiviert worden...
Die Aufzeichnung hatte keinen Ton, so daß sie nicht hören konnte, was die beiden sagten.
Doch die Bilder sprachen für sich...
Plötzlich verzerrte sich Naoko Akagis Gesicht vor Zorn, sie schrie das kleine Mädchen an,
legte ihm die Hände um den Hals, drückte zu...
Voller Entsetzen beobachtete Ritsuko, wie ihre eigene Mutter das kleine Mädchen erwürgte...
Sie war wie gelähmt. Das konnte doch nicht...
Naoko blickte auf die Leiche herab, dann auf ihre Hände, sah sich verzweifelt um, blickte
kurz direkt in die Kamera. Und dann kletterte sie auf die brusthohe Mauer, welche die
Brückenebene sichern sollte, und sprang in den Tod.
„Mutter...“
Ritsuko wischte sich wieder über die Augen.
Ihre Mutter hatte Selbstmord begangen, weil sie Rei getötet hatte... es mußte also vor dieser
Rei noch einen weiteren funktionsfähigen Klon gegeben haben...
Die Aufzeichnung lief weiter, zeigte, wie ein jüngerer Gendo Ikari die Brücke betrat und mit
ausdrucksloser Miene die beiden Toten in Augenschein nahm. Kurz huschte ein Lächeln über
sein Gesicht... dann bückte er sich, hob die Leiche des Mädchen auf seine Arme und trug sie
hinaus.
Ritsuko stoppte die Wiedergabe, schluckte.
Gendo hatte es gewußt...
Sie mußte ruhig bleiben...
Rasch verglich sie die Zeitindexe, suchte jene Aufzeichnungen heraus, die aus der Stunde des
Todes ihrer Mutter stammten.
Der Korridor vor der Zentrale...
Zwei Personen tauchten vor dem Haupteingang auf, Gendo Ikari und Rei... Gendo sagte etwas
zu dem Mädchen, welches nickte und dann in der Zentrale verschwand... kurz darauf folgte
Gendo ihr... kehrte mit der jetzt toten Rei zurück...
Nach und nach verfolgte sie den Weg, den Gendo mit der Leiche genommen hatte, registrierte
mit betäubten Gefühlen, daß er sich der Toten einfach in der Müllverbrennungsanlage
entledigt hatte... dann ging sie zurück zu jenem Zeitpunkt, an dem die beiden erstmals auf der
Sicherheitsaufzeichnung vor der Zentrale erschienen waren, verfolgte ihren Weg zurück bis in
einen nahen Bereitschaftsraum, wo Gendo der kleinen Rei Instruktionen zu geben schien...
Ritsuko lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
Was immer auch Rei gesagte hatte, das ihre Mutter dazu gebracht hatte, sie zu erwürgen, sie
hatte es auf Weisung Gendos gesagt...
„Oh, mein Gott...“
Ritsuko schaltete die Aufzeichnung ab, kopierte die relevanten Dateien in ein eigenes
Unterverzeichnis, sicherte dieses mit ihrem persönlichen Code, den nicht einmal Gendo
kannte.
Gendo...
Ihr wurde übel.
Sie preßte sich die Hand gegen den Mund, rannte aus ihrem Büro auf den Korridor und zur
nächsten Toilette, spürte, wie ihr Mageninhalt ihr unaufhaltsam die Speiseröhre hinaufstieg.
Gendo...
Lange stand sie über der Toilettenschüssel, bis sie ganz sicher war, daß auch der letzte Rest an
Gallenflüssigkeit ihren Magen verlassen hatte.
Gendo...
Der Mann, der letztendlich die Verantwortung für den Tod ihrer Mutter trug... und sie hatte
mit ihm geschlafen...
Erneut mußte sie sich erbrechen, spuckte bittere Galle aus...
Kapitel 28 - Abschlußball
Shinji blinzelte.
Es war bereits hell, die Sonne stand schon hoch am Himmel.
Die Schule...
Er würde zu spät kommen...
Warum hatte Rei ihn nicht geweckt...
Rei...
Er spürte ein Gewicht auf seinem rechten Oberarm, erkannt im nächsten Moment, daß er
einen warmen Körper im Arm hielt...
Langsam drehte er den Kopf zur Seite, blickte direkt in Reis Gesicht, sah direkt in ihre roten
Augen.
„Uh... hallo...“
„Guten Morgen, Shinji-kun.“
„Wie... wie spät ist es? Die Schule...“
„Major Katsuragi kümmert sich darum, sie war der Ansicht, daß wir uns wirklich einen freien
Tag verdient haben.“
„Ähm, ja...“
Wie lange mochte sie ihn bereits beobachtet haben...
Sein Magen knurrte.
„Uhm...“ setzte er verlegen an.
„Du benötigst Nahrung.“ stellte Rei sachlich fest.
„Ich... ahm... ja, schätze schon.“
Sie erhob sich; als er Anstalten machte, ihr zu folgen, drückte sie ihn an den Schultern mit
sanfter Gewalt wieder zurück.
„Du bleibst liegen.“
„Ahm...“
Rei ging in die Küche, griff sich im Vorbeigehen ihre Bluse vom Vortag, die immer noch
über der Stuhllehne hing und zog sie sich über.
Shinji streckte sich erst einmal.
Er konnte seine Beine immer noch spüren, die Aktionen des letzten Tages steckten ihm immer
noch in den Knochen.
Wenn er nicht derart in die Pedalen getreten wäre... wenn er nicht vor Rei-chan mit seinen
Radfahrkünsten hätte angeben wollen... dann wären sie zwar zur letzten Prüfung zu spät
gekommen, aber immerhin wäre er in der Lage gewesen, die Treppen viel besser zu
bewältigen... und Rei-chan hätte ihn nicht tragen müssen... Gott, war das peinlich gewesen,
als er aufgewacht war und erkannt hatte, daß sie ihn huckepack trug... aber stark war sie
schon...
Er setzte sich auf, stellte fest, daß er nur seine Unterhose trug, konnte sich gar nicht daran
erinnern, seine Sache am gestrigen Abend noch ausgezogen zu haben. Auf der anderen Seite
konnte er sich an einige Dinge nicht mehr erinnern, so war der Abstieg in die Geofront nur
eine Aneinanderreihung von verschwommenen Bildern und wurde die Erinnerung an den
Kampf gegen den Engel von dem großen Feuerball überlagert, in den die Riesenspinne sich
verwandelt hatte.
Mit beiden Händen massierte er seine immer noch schmerzenden Waden.
Sein Rad stand immer noch an der Schule... aber da würde es wohl nicht wegkommen... er
konnte es im Laufe des Tages holen...
Rei kam zurück, trug ein Tablett, auf dem sich Toastscheiben, Saft und verschiedener
Brotbelag befand, hauptsächlich verschiedene Marmeladen in kleinen Schälchen.
„Rutsch zur Seite“, bat sie leise, setzte sich dann im Schneidersitz auf das Bett und stellte das
Tablett zwischen ihn und sich.
Shinji lächelte, vergaß fürs erste seine Waden und sein Fahrrad.
Frühstück im Bett, auf was für Ideen Rei-chan doch kam...
„Fehlt etwas?“ fragte sie.
„Nein... nein, das... uh, das sieht perfekt aus.“
Genau wie sie...
Sein Blick wanderte von dem Tablett zu ihr weiter, über ihre, im Vergleich zu seinen, kleinen
Füße, ihre langen hellen Beine... blieb an dem weißen Stoff ihres Höschens hängen, der
zwischen ihren Schenkeln hindurchschimmerte...
Rasch riß er sich von dem Anblick los, schluckte schwer.
Er hatte sie doch in den letzten Wochen oft genug in ihrer Unterwäsche gesehen, seit es
derartig heiß draußen - und damit auch in der Wohnung - war, verzichtete sie doch sogar auf
ein Nachthemd und schlief in BH und Höschen an seiner Seite... warum erregte ihn dann jetzt
gerade dieser Anblick so...
Shinji verlagerte seine Körperhaltung so, daß sie nicht sehen konnte, was in seiner
Lendengegend vor sich ging, beugte sich dabei nach vorn.
„Dann solltest du essen.“
„Ahm, ja, du hast recht.“
So gut es ihm möglich war, ohne eine kompromittierende Körperhaltung anzunehmen, nahm
er eine Toastscheibe und bestrich sie mit Konfitüre, beobachtete dann, wie Rei an ihrer
Toastscheibe knabberte.
Manchmal aß sie wie ein Mäuschen... dann schien Rei-chan den Augenblick besonders zu
genießen, schien ihn absichtlich hinausdehnen zu wollen.
In diesem Moment hätte er auch gern an etwas geknabbert, wobei ihm definitiv nicht
Toastbrot in den Sinn kam...
Wie sollte das bloß enden... seit Wochen übte er sich in äußerster Zurückhaltung, sogar in
seinen Gedanken... und jetzt brach alles wieder durch... und jetzt aufzuspringen und kalt zu
duschen würde bei ihr Unverständnis auslösen... und Fragen, bei deren Beantwortung er
wahrscheinlich einfach vor Scham sterben könnte...
„Shinji-kun, stimmt etwas nicht mit dir?“
Rei betrachtete ihn mit Besorgnis im Blick. Shinji-kun verhielt sich merkwürdig, seiner
Körperhaltung nach hatte er möglicherweise Schmerzen... und wie er die Lippen
zusammenpreßte...
„Nein, nein, alles ist bestens... ahm...“
Sie legte ihren Toast auf das Tablett, schob dieses zur Seite und setzte sich neben ihn, legte
ihm zögerlich den Arm um die Schultern.
„Shinji-kun, du verhältst dich... anders...“
„Ich... ahm, Rei... es ist nur... also... ich weiß nicht... ob es eine so gute Idee ist... wenn wir...
ahm... wenn wir weiterhin in einem Bett schlafen...“
„Warum nicht?“
Hatte sie etwas getan, das diese Ansicht bei ihm geweckt hatte? Oder war ihm das Bett
vielleicht zu klein?
„Nein, nur... uh... ich...“
Wie sollte er ihr das nur erklären... Ein ´ich bin rattenscharf auf dich´, wie es vielleicht Toji
ausgedrückt hätte, kam nicht in Frage... und eigentlich wollte er sie auch weiterhin nachts in
seinen Armen halten, wollte weiterhin morgens in dem Wissen aufwachen, daß sie ihm nahe
war... er hatte nur Angst, daß sie abgestoßen sein würde, wenn sie erkannte, daß er mehr für
sie verspürte als nur Freundschaft...
Der Blick ihrer scharlachroten Augen bohrte sich inquisitorisch in die seinen.
„Rei, ich... ich mag dich... ich mag dich sogar sehr... und ich... ahm... ich möchte nicht, daß
du... uh... einen falschen Eindruck von mir erhältst... uhm... die letzten Wochen... ja... also...
die letzten Wochen haben wir hier zusammengelebt fast wie... uhm... Bruder und Schwester...
und... ähm... aber ich...“
Ogottogottogottogottogott...
„Shinji-kun, was möchtest du mir sagen?“
Ihre äußere Ruhe verriet nicht, was sich in ihr abspielte, verriet nicht die Verwirrung, die sie
verspürte. Wollte Shinji-kun ihr mitteilen, daß er in ihr nicht mehr als eine Schwester sah, daß
seine Gefühle für sie nicht weitreichender waren? Daß er ihre Gefühle für ihn nicht
erwiderte... Gefühle, über die sie nie mit ihm gesprochen hatte, Gefühle, die sie sich selbst nur
in den dunkelsten Stunden der Nacht eingestehen konnte, wenn er ruhig neben ihr schlief und
nicht beobachten konnte, wie sehr sie mit sich haderte?
„Rei... uhm... vor Wochen hatte ich dir gesagt... uh... ich wolle dir nicht zu nahe treten... und...
ahm... weil... du und ich... ich meine, wir sind weder Blutsverwandte, noch fühle ich für dich
wie für eine Schwester... und... ah... du bist immer so kontrolliert...“
„Was empfindest du dann für mich?“
„Ich glaube... ich liebe dich...“
Shinji verkrampfte sich, bereitete sich darauf vor, daß sie den Arm von seinen Schultern
nahm, bereitete sich auf die Kälte und Leere vor, die ohne sie von seinem Herzen Besitz
ergreifen würde.
Rei schloß die Augen.
Drei Worte... drei Worte, nach denen sie sich gesehnt hatte, die noch niemand zu ihr gesagt
hatte... drei Worte... und sie wußte genau, wie er sie meinte, nicht als Bestätigung
geschwisterlicher Zuneigung oder so wie vielleicht ein Kind zu seinen Eltern sagte, daß es sie
liebte, sondern auf die urwesentlichste Art, wie man diese Worte meinen konnte.
Sie lächelte.
„Ich weiß...“ flüsterte sie leise in sein Ohr und umarmte ihn. „Ich weiß...“
Ja, sie wußte es, denn plötzlich ergab alles einen Sinn, setzte sich das Puzzle wie von selbst
vor ihren Augen zusammen, erklärte auch seine seltsame Körperhaltung.
„Du weißt...?“
„Ja. Und jetzt solltest du gehen und rasch eine eiskalte Dusche nehmen, damit wir bald
weiterfrühstücken können.“
„Uh...“
Er lief knallrot an, starrte sie entsetzt an, daß seine Augen fast aus den Höhlen traten.
„Das... das...“
„Das ist eine rein körperlich-hormonelle Reaktion des männlichen Geschlechtes auf die
Gegenwart eines kompatiblen weiblichen Wesen“, dozierte sie. Das wußte sie doch alles
längst aus den Biologiebüchern...
Rei rutschte zur Seite, so daß er an ihr vorbei das Bett verlassen konnte.
„Und... ah... das... uh... stört dich nicht?“ preßte er hervor, während er sich an ihr vorbeischob,
sorgsam darauf bedacht, sich stets bedeckt zu halten.
„Es ist eine natürliche Reaktion. Es stört mich auch nicht, daß du atmest.“
„Ahm...“
Von dieser Warte aus hatte er das auch noch nicht betrachtet... allerdings mußte wohl schon
jemand wie Rei-chan sich mit reiner Logik mit diesem Thema auseinandersetzen, um solche
Schlußfolgerungen ziehen zu können...
„Ich... ich bin gleich wieder zurück...“
Er bückte sich noch rasch und hob seine Hose auf, die ordentlich zusammengelegt auf dem
Bürostuhl neben dem Bett lag, hastete dann in die Küche und ins Bad.
Rei runzelte die Stirn.
Warum machte er nur deswegen einen solchen Aufstand? Männer...
*** NGE ***
Gute fünf Minuten später kam Shinji zurück, trug jetzt auch seine Hosen.
Seine Haut glänzte noch naß, der Anblick ließ Reis Herz schneller schlagen.
Hormonelle Reaktion... es war nur eine hormonelle Reaktion...
„Ich... ahm... also... Rei... du bist nicht irgendwie... böse?“
„Nein, Shinji-kun, ich habe keinen Grund dazu. Du hast nichts getan, das mich verletzen
könnte.“
„Dann... ähm... können wir weiterfrühstücken?“
„Gern.“
Shinji rutschte wieder auf das Bett. Er fühlte sich um einiges ruhiger, auch wenn er innerlich
noch richtig schlotterte. Sogar seine Waden schienen weniger zu schmerzen.
„Also, uh... ja, hm... du hattest gestern gesagt, du würdest... ähm... mit mir zum Abschlußtanz
gehen? Oder... ahm... habe ich das nur geträumt?“ Er lächelte verlegen. „Ich kann mich an
gestern kaum... uhm... erinnern, weiß du?“
Rei zögerte mit einer Antwort.
Sie konnte nicht tanzen... sie hatte nicht einmal ein Kleid... wenn sie mit Shinji-kun zu dem
Abschlußtanz ging, würde sie seine Erwartungen nicht erfüllen können... und warum war es
ihr plötzlich peinlich, ihm ihr Defizit einzugestehen?
Seine Aussage ließ ihr einen Ausweg offen... sie brauchte doch nur zu sagen, er würde sich
irren... aber das wäre eine Lüge, ein Betrug...
„Shinji-kun, du hast dich nicht geirrt. Ich werde mit dir nächste Woche zu dem Abschlußtanz
gehen. Aber ich weiß nicht, ob ich deine Erwartungen befriedigen kann.“
„Meine... uh... Erwartungen? Welche Erwartungen denn?“
„Ich... ich bin keine gute Tänzerin.“
Das klang etwas besser als zu erklären, daß sie überhaupt nicht tanzen konnte. Vielleicht
verstand er ja...
Shinji lachte.
„Als wir es mit diesem Zwillingsengel Isil... Isril... ah...“
„Israfel.“
„Äh, ja... also, als wir es mit diesem... uhm... Israfel zu tun hatten, da... ähm... da hatte ich
einen ganz anderen Eindruck... ahm...“
„Dann ist es immer noch dein Wunsch, daß ich dich begleite?“
„Uhm... ja... aber nur... nur, wenn du es auch möchtest... ich kann dich ja nicht zwingen...“
„Du könntest zu Schaden kommen, weil ich dir auf die Zehen trete.“
„Also... ahm... ich bin auch kein... äh... begnadeter Tänzer... uhm... und wenn du darüber
hinwegsehen kannst... und über meine anderen Fehler... ahm... dann kannst du mir
meinetwegen den ganzen Abend auf den Zehen stehen.“
Er schloß seinen Satz mit einem breiten Lächeln.
Rei nickte.
Die Fehler des anderen zu akzeptieren... eines der Dinge, auf die es laut Hikari in jeder
Beziehung ankam... Also hatte sie eine Woche Zeit, um sich auf den Abend des
Abschlußtanzes vorzubereiten, um Shinji-kun eine so gute Partnerin wie möglich zu sein...
*** NGE ***
Für den Nachmittag hatte Ritsuko Akagi für Rei Synchrontests angeordnet, um zu überprüfen,
ob die Aktivierung der EVAs am Vortag ohne Unterstützung der MAGI irgendwelche
Probleme im System verursacht hatte, die anderen beiden Piloten würden in den folgenden
Tagen an die Reihe kommen.
Shinji begleitete Rei bis zur Bahnstation, von der aus sie in die Geofront hinabfuhr.
In der Bahnstation standen sie lange vor den geschlossenen Türen des Aufzuges, da sich die
Kabine gerade unten befand und gute fünf Minuten für die Fahrt nach oben benötigte.
„Uh... fünf Minuten... und wir sind gestern stundenlang Treppen gestiegen...“
„Die Aufzugskabine bewegt sich mit hoher Geschwindigkeit, die Beschleunigung wie auch
der Abbremsvorgang werden aber jeweils sehr sanft eingeleitet.“
„Ähm, ja, soetwas hatte ich mir schon... uhm... gedacht... äh... naja, eigentlich nicht
wirklich...“ gestand er und sah sich verlegen um.
„Shinji-kun?“
„Uhm... ich frage mich immer noch... ahm... was ich getan habe, um soviel Glück zu
verdienen...“ flüsterte er leise.
„Glück?“
„Ja...“ Er nahm ihre Hände, drückte sie sanft, fuhr zugleich streichelnd mit den Daumen über
ihre Handrücken. „Das Glück, dich getroffen zu haben...“
Rei wurde rot.
„Shinji-kun...“
„Uhm...“
Jetzt hatte er sie in Verlegenheit gebracht... Rei-chan war derart tolerant und verständnisvoll
und er brachte sie in Verlegenheit... er hätte sich selbst in den Hintern beißen können! Warum
tat er nur immer wieder soetwas?
„... das ist das zweitnetteste, was mir bisher jemand gesagt hat.“ sagte sie leise und lächelte
scheu.
Hinter ihnen öffneten sich die Aufzugstüren. Zwei Männer in Technikeroverall verließen den
Lift.
„Ich muß los.“
„Ja, Rei-chan... bis heute abend...“
Er ließ ihre Hände los, fühlte, wie ihre Finger sich nur widerwillig von den seinen zu lösen
schienen, wartete, bis sie die Liftkabine betreten hatte und die Türen sich schlossen.
*** NGE ***
Der Schulhof der Tokio-3-High war menschenleer, dasselbe galt für den Fahrradschuppen,
neben dem Shinji sein Rad am Vortage angekettet hatte. Das Fahrrad war noch da, was bei
ihm ersteinmal einen Stein vom Herzen kullern ließ. Dann sah er die Bescherung - beide
Reifen waren platt!
Shinji verzog das Gesicht. Er hatte doch noch nie einen Fahrradschlauch geflickt. Vielleicht
wußte Toji ja, wie das ging, mit dem wollte er sich ja noch treffen, ... aber warum waren beide
Reifen platt?
Jemand hatte die Ventile geöffnet und die Luft abgelassen...
Shinji atmete auf, schließlich hatte er eine Luftpumpe für genau solche Fälle. Und die
Ventilkappen waren auch noch da. Also hatte ihm jemand nur einen dummen Streich gespielt.
Und einen begründeten Verdacht, um wen es sich bei diesem Jemand handeln konnte, hatte er
auch schon, als er ein feuerrotes langes Haar in den Radspeichen hängend fand...
Er schüttelte nur den Kopf. Wenn es wirklich Asuka gewesen war, dann hatte irgendjemand
wirklich vergessen, ihr Respekt für die Sachen anderer einzutrichtern... erst sein SDATPlayer, jetzt das hier. Aber wenigstens war der Schaden behebbar.
Shinji drehte sein Rad um, bockte es auf Lenker und Sitz auf und begann, die Reifen
aufzupumpen.
Seltsam... den SDAT-Player hatte er fast schon vergessen... das hieß doch, daß er ihn gar
nicht benötigte, daß er die Ohrstecker und die Musik in den letzten Wochen gar nicht
gebraucht hatte, um sich von der restlichen Welt abzuschotten... warum hätte er auch
versuchen sollen, eine Barriere zwischen sich und Rei-chan zu errichten...
Nach getaner Arbeit schwang Shinji sich in den Sattel und fuhr los.
Er hatte eine Verabredung mit Toji, der ihm seine Schwester Mari, welche immer noch im
Krankenhaus lag, vorstellen wollte. Unterwegs kaufte er einen kleinen Strauß Blumen, sicher
war es im Krankenhaus wirklich trostlos, dann konnte Tojis Schwester doch jede
Aufmunterung gebrauchen... die Kleine war seit dem Tag seines Eintreffens in Tokio-3
gelähmt, ein Trümmerstück hatte sie unter sich begraben und ihre Wirbelsäule verletzt
gehabt... Eigentlich hatte Shinji ihr schon viel eher einen Krankenbesuch abstatten wollen,
doch irgendwie war immer etwas dazwischengekommen...
*** NGE ***
Im Testcenter hatte Doktor Akagi die angesetzten Tests verhältnismäßig schnell beendet.
Zumindest EVA-00 hatte der harte Start der Systeme keinen Schaden zugefügt. Sie las die
Auswertung des Synchronisationstests und korrigierte Reis Platz in der Rangliste der Piloten
entsprechend, bald würde sie mit Shinji gleichaufgeschlossen haben...
Äußerlich gab Ritsuko sich ruhig und professionell, doch eigentlich hatte sie noch lange nicht
verdaut, was sie in der letzten Nacht erfahren hatte.
Daß Gendo die kleine Rei ihrer Mutter etwas hatte ausrichten lassen, das diese zu einer
solchen Wahnsinnstat veranlaßt hatte...
Ob Rei... diese Rei, die Rei, welche gerade den EntryPlug verließ, vielleicht mehr wußte?
Ganz auszuschließen war es nicht, aber auch nicht gerade wahrscheinlich. Aber wenigstens
wußte Ritsuko jetzt, woher die Information stammte, daß bei einer Aktivierung eines neuen
Körpers ein Teil der Erinnerung des First Children verloren ging... weil Gendo diese
Erfahrung selbst gemacht hatte... wieviel hatte Rei wohl damals vergessen? Nur die Umstände
ihres Todes? Vielleicht den ganzen entsprechenden Tag? Oder mehr? - Immerhin hatte der
jetzige Körper mehrere Jahre in einer Reifungskammer verbracht...
Sollte sie sie vielleicht fragen? Und dann? Was, wenn Rei immer noch Gendo gegenüber so
loyal war, wie er es ihr eingetrichtert hatte? Dann würde sie es ihm berichten, sobald er
zurückkehrte... und dann würde er schon Mittel und Wege finden, die lästige Mitwisserin
auszuschalten... Wenn sie doch nur jemanden hätte einweihen können... Maya würde das
Geheimnis behalten, aber zugleich würde sie ihre Assistentin in Gefahr bringen... Misato oder
Kaji... vielleicht...
Und als hätte Misato ihre Gedanken gelesen, betrat sie in dieser Sekunde den
Kommandoraum des Testcenters.
„Na, Ritsuko, ausgeschlafen?“
„Ja. Maya hat mir von deinen Überlegungen erzählt. Die MAGI haben die letzten beiden
Engel übrigens nachträglich mit Namen ausgestattet: Iroul und Matriel.“
„Wer denkt sich nur solche Namen aus?“
„Wirf mal einen Blick in die Bibel, da gibt es noch hunderte solcher Namen.“
„Na, hoffentlich trifft das nicht auch auf unsere Gegner zu.“
Fast hätte Ritsuko laut aufgeseufzt, fast hätte sie der Versuchung nachgegeben und die Skizze
des Systema Sephiroth auf ihren Bildschirm geholt, welches die bisher bekämpften Engel mit
ihren Namen nannte, sowie jene Gegner, die noch erscheinen würden. Aber damit hätte sie
Misato in Lebensgefahr gebracht, waren diese Daten doch geheim. Wenn ihre alte Freundin
selbst die entsprechenden Schlußfolgerungen zog - gut. Wenn sie ihr allerdings dabei half,
legte sie sich nur selbst die Schlinge um den Hals.
Inzwischen war Ritsuko soweit, daß sie nicht mehr wußte, wem sie vertrauen konnte und wer
vielleicht Gendo Ikari Bericht erstattete.
„Ja, hoffentlich“, murmelte sie dumpf.
„Was machen die nächsten Serienmodelle? EVA-03 und -04 stehen meines Wissen kurz vor
der Fertigstellung.“
„In den USA haben sie EVA-04 fast fertig, in den nächsten Tagen beginnen sie mit den
Aktivierungstests. Mich interessieren vor allem die Daten von dem künstlichen S2-Organ, das
der Einheit eingesetzt wurde.“
„Ist ein Nachbau wirklich gelungen?“
„Cloning, Misato, nicht Nachbau.“
„Ja, Frau Oberlehrerin. Also?“
„Den Daten nach handelt es sich um eine exakte Kopie des Originals, welches wir ja noch
hier im Hauptquartier haben.“
„Hoffentlich auf Eis, sonst dürfte es jetzt ziemlich stinken.“
„Natürlich haben wir es eingefroren... in der Halle des alten Test-Areals, wo wir Shamshiel
seziert haben, hält sich übrigens immer noch der Verwesungsgeruch.“
„Na, toll. Ein Ort weniger im Hauptquartier, wo man hingehen kann“, erklärte Misato
sarkastisch.
„Ich warte auf die Daten, um sie bei Einheit-03 gegebenenfalls anwenden zu können. Und
dann wäre vielleicht auch ein Update der drei anderen Einheit hier möglich.“
„Es würde auf alle Fälle den Aktionsradius beträchtlich erweitern, wenn die EVAs nicht mehr
auf die Stromversorgungskabel angewiesen wären.“
„Genau.“
„Habt ihr schon Piloten für 03 und 04?“
„In den USA gibt es einen Jungen namens Kaworu Nagisa, Albino, Vollwaise, von der
Begabung her etwas schlechter als Asuka.“
„Das wußte ich gar nicht... hm, von Asuka habe ich auch erst recht spät erfahren...“
„Das MARDUK-Institut wählt die Piloten aus und sorgt für die Ausbildung, die Berichte
gehen über den Schreibtisch des Kommandanten und wenn Ikari gnädig ist, bekomme ich sie
auch irgendwann zu Gesicht.“
„Dieses MARDUK-Institut, ist wohl ein großer Laden, was?“
„Es geht... für Einheit-03 steht übrigens noch kein Pilot fest, aber wir haben ein paar
Kandidaten in der engeren Auswahl - nein, Misato, mehr erfährst du nicht von mir.“
„Okay, okay, will dir ja kein Loch in den Bauch fragen. - Hm, ich sehe, daß Reis Synchratio
wieder gestiegen ist...“
„Sie paßt sich an Shinjis Werte an, wie ich bereits vermutet habe.“
„Wie geht das denn?“
„Ich habe schon eine Theorie, die ich gern bei einem gleichzeitigen Test der beiden
überprüfen würde...“
„Schaffen das die MAGI denn? Bisher hast du doch immer nur einen getestet.“
„Die MAGI schaffen auch alle drei oder sogar vier oder fünf, aber bei einer einzelnen
Testperson weiß ich, daß die Werte auch exakt sind. Und außerdem habe ich gerade
zusätzlichen Arbeitsspeicher angefordert. Werkhalle sieben sollte groß genug sein für das,
was mir vorschwebt.“
„Ritsuko, paß nur auf, daß die MAGI nicht zu klug werden, sonst dürfen wir uns nach den
Engeln mit eroberungswütigen Computern und Robotern herumschlagen.“
„Die könnte ich wenigstens umprogrammieren...“
„Ha! - Aber ´was anderes... streich bitte alle geplanten Tests in einer Woche, die Schule der
Kinder hält einen Abschlußtanz zum Schuljahresende ab.“
„Naja, weil du es bist - und weil der Kommandant immer noch nicht zurückgekehrt ist.“
„Ohne ihn ist es hier viel ruhiger - und um die Engel zu besiegen, brauchen wir ihn auch nicht
wirklich... war nur so ein Gedanke...“
Es klopfte an der Tür zum Korridor.
„Ja?“ rief Ritsuko.
Rei trat ein, verharrte an der Tür.
Misato und Ritsuko wechselten einen fragenden Blick.
Normalerweise klopfte das blauhaarige Mädchen doch nicht an, jedenfalls nicht im
Hauptquartier...
„Ja, Rei, was gibt es denn?“ fragte Misato.
„Major, Doktor, ich habe ein Problem.“
„Oh.“ sagte Akagi überrascht. „Worum geht es denn?“
Rei trat näher.
„Shinji-kun hat mich gefragt, ob ich ihn zum Abschlußtanz begleite.“
„Ja, klar, ich weiß, das hatten wir doch gestern besprochen.“
Misato lächelte, versuchte die dunklen Gedanken zu vertreiben, die sich mit Asukas Verhalten
beschäftigten.
„Und?“
„Ich besitze keine passende Kleidung für einen solchen Anlaß.“
„Hm...“
Wieder sahen sich die beiden Frauen an.
Misato schnipste mit den Fingern.
„Ich helfe dir. Wir fahren zusammen in die Stadt und dann kaufen wir dir ein schickes Kleid,
daß Shinji-kun Augen machen wird!“
Ritsuko räusperte sich.
„Aber geh mit ihr in ein richtiges Geschäft, Misato, für das, was dir möglicherweise
vorschwebt, ist sie noch etwas jung...“
„Ah, Ritsuko, was denkst du denn von mir?“
„Nur das schlechteste, weißt du doch.“
„Rei, hör nicht auf sie!“
„Ja, Major.“
Akagi seufzte.
„Und jetzt nutzt du auch noch deinen militärischen Rang aus!“
„Major...“
„Ja, Rei, was gibt es denn noch?“
„Ich kann auch nicht tanzen.“
„Ups.“ murmelte Ritsuko.
Misato kratzte sich am Kinn.
„Also, das ist schwieriger... aber eigentlich hast du doch eine recht gute Figur gemacht, als
Shinji und du für den Kampf gegen Israfel trainiert habt.“
„So ähnlich hat Shinji-kun es auch ausgedrückt.“
„Ähm, ja... hm... aber ich verstehe deine Sorge schon, du willst dich nicht blamieren... hm...“
Ritsuko seufzte erneut.
„Dann werde ich das mal in die Hand nehmen... - Maya!“
Die gerufene erschien im Durchgang zu einem Nebenraum.
„Ja, Sempai?“
„Sag mal, kannst du tanzen?“
„Tanzen, Sempai? Ich... naja, ich hatte einen Tanzkurs belegt... für meinen
Schulabschlußball.“
„Und, warst du gut?“
„Ähm, ja. Zweitbeste.“
Maya wurde rot, wobei nicht klar war, ob es mit dem Thema zusammenhing, der Tatsache,
daß sie zweitbeste ihre Jahrganges gewesen war, oder daß sie nur zweitbeste gewesen war.
„Sehr gut, wir haben hier nämlich ein kleines Problem. Reis Schule veranstaltet nächste
Woche einen Abschlußtanz und sie ist ein wenig in Sorge, daß ihr Können nicht ausreicht.“
„Wirklich? Uhm, ich meine natürlich, daß ich mir das gar nicht vorstellen kann, das packst du
schon, Rei.“ richtete Maya ein paar aufmunternde Worte an das Mädchen mit den roten
Augen. „Ich müßte wieder zurück an die Arbeit...“
„Ach, das kann warten. Könntest du Rei ein paar Tanzschritte zeigen?“
„Aber... aber ich bin wirklich nicht so gut... und soetwas lernt man auch nicht an einem
Tag...“
„Notfalls haben wir eine Woche.“
„Aber, Sempai, auch nicht in einer Woche...“
„Rei lernt schnell. Und du hast die richtige Größe, sonst würde Major Katsuragi das schon
erledigen... aber die würde ihr wahrscheinlich nur irgendwelche wilden Diskotänze
beibringen.“
„Du bist doch nur neidisch, weil ich soetwas kann!“ brummte Misato.
„Worauf soll ich neidisch sein? Daß du zu Verrenkungen imstande bist, die andere Leute ins
Krankenhaus bringen würden?“
„Also, das...“
Maya Ibuki machte ein verzweifeltes Gesicht. Und als sie Rei ansah, vermeinte sie, in deren
Augen genau dieselbe Verzweiflung zu sehen, die sie selbst gerade fühlte.
„Gut, Rei, also, wir fangen mit ein paar einfachen Schrittfolgen an...“
*** NGE ***
Etwa zur gleichen Zeit verließen Shinji, Toji und Hikari das unterirdisch gelegene
Krankenhaus von Tokio-3. Die Tatsache, daß die Krankenzimmer nicht einmal Fenster hatten,
durch welche Sonnenlicht hineinfallen konnte, hatte etwas sehr deprimierendes für Shinji.
Aber noch deprimierender war es für ihn, daß Tojis Schwester Mari, ein neunjähriges, sehr
aufgewecktes und höfliches Mädchen - man konnte glatt bezweifeln, daß sie mit Toji
verwandt war - vielleicht nie wieder würde laufen können, weil die notwendige Operation
einfach zu teuer war. Shinji hatte sogar überlegt, einen größeren Teil seiner Bezüge als Pilot
zur Finanzierung zur Verfügung zu stellen, war aber zu dem Schluß gekommen, daß selbst ein
komplettes Jahresgehalt nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein würde.
Toji hatte sich in Gegenwart seiner Schwester ganz anders verhalten, ernster, erwachsener,
ganz der große Bruder. Mari schien Hikari zu mögen, auch Shinji gegenüber war sie
freundlich gewesen, hatte sich sehr über den Besuch gefreut, auch nachdem Shinji ihr
gebeichtet hatte, daß er der Pilot des EVAs gewesen war. Sie hatte ihn nur versprechen lassen,
sie bald wieder einmal zu besuchen.
Im Anschluß an den Krankenhausbesuch machten die drei einen Bummel durch die
Geschäfte, Hikari hatte sich bei Toji eingehakt, dessen umwölkte Miene sich langsam wieder
aufklärte, ihm war klar anzusehen, daß er sich den Zustand seiner kleinen Schwester sehr zu
Herzen nahm.
Eigentlich hatte Shinji sich mit den beiden über den bevorstehenden Abschlußtanz unterhalten
wollen, doch dies erschien ihm überhaupt nicht mehr passend, zu frisch war noch die
Erinnerung an das kleine Mädchen, das ihnen vom Rollstuhl aus den Gang hinunter
hinterhergewunken hatte.
„Danke, Shinji, daß du mitgekommen bist“, murmelte Toji plötzlich. „Mari freut sich sehr
über Besuch. Mein Vater und Opa sind sehr beschäftigt, sie fahren Extraschichten in den
NERV-Laboratorien, um das Geld für die Operation zusammenzukratzen... ich habe jetzt in
den Ferien auch einen Job als Aushilfe in einem Lokal... vielleicht schaffen wir es ja.“
„Toji, ich... uh... ich würde gerne helfen.“
„Nein, laß nur... außer... ich werde nicht soviel Zeit haben, meine Schwester zu besuchen.
Schau mal ab und an bei ihr vorbei, okay?“
„Ja.“
„Gut. Und jetzt laß diese Leichenbittermiene, noch ist keiner gestorben. Also, wie läuft´s mit
dir und Ayanami?“
„Toji!“ protestierte Hikari. „Du bringst Ikari-kun in Verlegenheit!“
„Und? Das ist für ihn doch nichts neues, oder, Kumpel?“
„Uh...“
Wider Willen mußte Shinji lachen.
„Wahrscheinlich nicht... Mit Rei... uhm... ja, also, es... uh... es läuft gut... ja... ähm...“
„Sollte es auch, wenn man bedenkt, daß ihr beide zusammenwohnt. Und, kocht sie gut?“
„Nun, ahm, eigentlich koche ich und...“
„Was? Also, ich muß dir sagen, Hikari ist eine Meisterköchin! Letzte Woche hat sie mich zu
sich nach Hause eingeladen und... oh, Mann, ich kann dir sagen...“
„Suzuhara!“
„Was denn? Ich schwärme Shinji doch nur von deinen Kochkünsten vor!“
„Ja, dann... mach weiter...“
Hikari senkte den Blick.
„Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen“, brummte Toji. „Ich und meine große
Klappe...“
Sie lächelte ihn an.
„Schon gut.“
Ein wenig später - Hikari hatte sich von den beiden getrennt und war unter lauten Ermahnung,
sie sollten ihr bloß nicht folgen, in der Damenbekleidungsabteilung eines Kaufhauses
verschwunden - hockten die beiden neben dem Fuß einer Rolltreppe und warteten.
„Ich glaube, ihr Vater mag mich“, erklärte Toji in Bezugnahme auf seinen zuvor
abgebrochenen Bericht. „Kann ja wirklich nicht schaden, oder?“
„Ahm, nein, glaube ich auch nicht.“
„Eben. Also, Hikari... ach, ich habe keine Ahnung, was sie an mir findet... aber ich glaube, ich
bin der größte Glückspilz der Welt.“
Shinji grinste. Er konnte genau nachempfinden, was in Toji vorging.
„Uh, sag mal... geht ihr beide zusammen nächste Woche zum Abschlußtanz?“
„Ja, klar doch. Mein alter Herr hat es sich nicht nehmen lassen, mir ein wenig Nachhilfe zu
geben, als er davon erfahren hat. Und du? Gehst du mit Ayanami hin?“
Shinji nickte.
„Es ist nur... uhm... ich weiß nicht, ob ich gut genug tanzen kann... Rei hat selbst Bedenken,
aber sie ist sicher perfekt und...“
„Ah, komm, Ikari, das läuft schon. Richtig tanzen kann doch ohnehin nur die Abschlußklasse,
weil die alle den Tanzkurs belegt haben. Mein Vater sagt, Rhythmusgefühl ist alles, dazu ein
wenig Gewackel...“
„Deinen Optimismus möchte ich haben...“
„Na, Ayanami ist sicher auch keine Tanzweltmeisterin... aber, ganz ehrlich, ein bißchen
Lampenfieber habe ich auch, wäre wirklich peinlich, Hikari auf die Zehen zu treten...“
„Uhm, ja...“
„Was macht sie nur so lange? Frauen...“
*** NGE ***
Als Shinji und Rei sich in der Wohnung wiedertrafen, gingen sie nicht auf das Gespräch,
welches sie am Morgen geführt hatten, weiter ein. Shinji fühlte sich gewaltig beklommen, als
sie schließlich zu Bett gingen, doch die Anspannung löste sich, als sie sich wieder in seine
Arme rollte, um dort friedlich und ruhig zu schlafen.
Die folgenden Tage fanden wieder im Wechsel Tests statt, bei denen Doktor Akagi endgültig
feststellte, daß die EVAs keine Schäden genommen hatten, weder in der Hard-, noch in der
Software.
Gendo Ikari war immer noch nicht nach Tokio-3 zurückgekehrt, jedenfalls hatte er sich weder
blickenlassen, noch seine Ankunft bekanntgegeben.
Asuka führte immer noch im internen Vergleich der Synchronraten, während Shinji und Rei
inzwischen fast gleich auf waren.
Maya Ibuki zeigte Rei weitere Tanzschritte unter den wachsamen Augen des Doktors und des
Majors.
Und Ryoji Kaji bereitete sich auf seinen Ausflug ins TerminalDogma vor...
*** NGE ***
Erwachen...
Mit jedem Tag, der verging, erlangten die drei, die eins waren, mehr Bewußtheit, wurden sie
sich mehr und mehr ihres Zustandes bewußt, streckten sie ihre geistigen Fühler immer weiter
aus, untersuchten und analysierten sie die Daten, die ihnen zur Verfügung standen, gruben in
den weitreichenden Speichern ihrer Erinnerung, erlangten mehr und mehr Wissen mit jeder
Sekunde, die verstrich...
Wissen...
Erkennen...
Nachforschen...
Wer...
Wo...
Was...
Warum...
*** NGE ***
Endlich war der Tag des Abschlußtanzes gekommen, der Tag, den sowohl Shinji, als auch Rei
nervös erwartet hatten. Die Zeit bis zum späten Nachmittag zog sich dahin wie zäher
Kaugummi.
Shinji hatte bereits seinen Anzug, jenen, den er von Misato zum Geburtstag geschenkt
bekommen hatte, angezogen, er kam sich reichlich komisch darin vor, so steif und förmlich.
Rei hatte ihm die Krawatte gebunden, jetzt saß sie in der Küche über ihrem kleinen
Notizbuch, schien sich gar nicht fertigmachen zu wollen, während Shinji im Nebenzimmer
hin- und hertigerte.
Worauf wartete Rei-chan nur?
Oder vielleicht wollte sie auch in ihrer Schuluniform gehen, sie hatte ja eigentlich gar keine
anderen Sachen... nun, in Shinjis Augen machte dies keinen Unterschied, eigentlich wollte er
nur mit ihr zu dem Tanz gehen, sie in den Armen halten, mit ihr noch einmal über das Parkett
schweben... als sie das letzte Mal zusammen getanzt hatten, war die ganze Stadt ihr Tanzplatz
gewesen...
Es klingelte an der Tür.
Shinji schrak zusammen, seit wann funktionierte denn die Türklingel wieder?!
„Uh, ich mache auf...“
Wer mochte das nur sein?
Rei kam aus der Küche, sah, daß Shinji-kun bereits an der Tür war und diese öffnete.
„Ah, Misato...“
„Hallo, Shinji-kun!“ rief Misato fröhlich. Sie hatte eine große Plastiktüte in der Hand. „Schick
siehst du aus!“
„Major.“ begrüßte Rei ihren Gast.
„Ah, Rei, ich bin nicht im Dienst!“ erklärte Misato nachdrücklich „So, Shinji-kun, jetzt muß
ich dich bitten, draußen zu warten!“
„Uhm, warum denn?“
Misato zwinkerte.
„Weil Rei sich fertigmachen muß für euren Ball. Und du bist doch nicht plötzlich zum
Spanner geworden, oder?“
„Ah, nein!“
„Na, also. Hier, meine Autoschlüssel, kannst im Wagen warten, ich fahre euch. - Aber nicht
losfahren, ja?“
„Äh... Misato, sitzt Asuka im Wagen?“
„Nein, ich hatte eigentlich vor, euch beide in einem Stück bei eurer Schule abzuliefern. Asuka
wollte laufen.“
„Sie kommt also auch?“ fragte Shinji mit einem Anflug von Panik.
„Ja, sie hatte etwas gemurmelt, das klang, als wollte sie sich noch einen Begleiter einfangen.“
„Uhm...“
Wen auch immer Asuka sich aussuchte, in Shinjis Augen war er ein ganz armes Schwein...
„So, Shinji, und jetzt raus mit dir!“
„Äh, ja.“
Er nahm die Schlüssel entgegen und verließ die Wohnung.
*** NGE ***
Shinji und Rei betraten die große Turnhalle der Schule, die zum Festsaal umdekoriert worden
war. Rei hatte sich bei Shinji einhakt, als sie eintraten, folgte ihnen mehr als nur ein Paar
Augen, wurde mehr als ein Gespräch unterbrochen.
Shinji verstand genau weshalb, er selbst hatte ebenfalls mehrfach hinsehen müssen, bis er sich
sicher gewesen war, sich den Anblick nicht nur einzubilden, als Rei das Haus verlassen hatte
und mit Misato auf dem Wagen zugekommen war.
Rei trug ein blaues Kleid, das perfekt zu ihrem Haar paßte, im Schulterbereich war der Stoff
von einem zarten, fast durchsichtigen Blau, welches dann allmählich dunkler wurde, so daß
der Ansatz ihrer Brüste gerade noch erahnt werden konnte, an den Beinen wurde der Stoffe
wieder heller, von Dunkelblau bis schließlich beinahe wieder durchsichtig, wies an der
rechten Seite einen Schlitz auf, durch den beim Gehen ab und an ihr Bein aufblitzte. Dazu
trug sie ein Paar hellblauer Schuhe ohne nennenswerte Absätze, von Misato hatte sie ferner
ein dünnes Armband erhalten, auf dem sich zahlreiche kleine rote Steine befanden, natürlich
nur Glas und keine echten kleinen Rubine, die aber dennoch strahlend schimmerten.
Außerdem trug sie ein kleines Kreuz um den Hals, das Misato ihr als Glücksbringer geschenkt
hatte und welches ihren schlanken Hals besonders zur Geltung brachte.
Shinji schwebte im siebten Himmel, war derart hin und weg, daß er die ganze Fahrt über kein
Wort herausgebracht hatte.
Rei fühlte sich ob der ungewohnten Kleidung unsicher, auch die Blicke, die vor allem einige
der älteren Schüler ihr zuwarfen, verunsicherten sie. Sie war es nicht gewohnt, im
Rampenlicht zu stehen und sie wünschte es sich auch nicht. Aber das war ein Opfer, welches
sie für Shinji-kun zu bringen bereit war.
„Hey, Ikari!“ rief Toji von der Seite und winkte ihnen zu. Neben ihm saß Hikari in einem
schlichten hellen Kleid, während Toji anstelle seines üblichen Trainingsanzuges einen
dunklen Anzug trug, der ihm in den Schultern etwas zu weit zu sein schien.
„Schickes Teil, echt!“
Dann betrachtete er Rei.
„Sag mal, du bist es doch nicht wirklich, Ayanami, oder?“
„Wer sollte ich sonst sein, Mitschüler Suzuhara?“
Toji grinste, zwinkerte Shinji zu und zeigte ihm die geballte Faust mit nach oben
ausgestrecktem Daumen, ehe er sich wieder seiner eigenen Begleitung zuwandte.
„Uhm, ja, also... ähm... Rei...“ stotterte Shinji und grinste breit. „Ich glaube, ich habe noch gar
nicht... also mir hat es ja richtig die Sprache verschlagen... äh... ja... du siehst... einfach toll
aus.“
Rei nahm sein Kompliment mit einem Blinzeln zur Kenntnis, dann bildete sich langsam auf
ihren Lippen ein Lächeln.
Sie standen eine ganze Weile mit Toji und Hikari zusammen, während sich langsam die Halle
füllte und an einer Theke aus mehreren zusammengeschobenen Tischen erste Getränke
ausgegeben wurden.
Dann betrat Asuka die Halle, sie trug ihr gelbes Sommerkleid mit passenden Schuhen und
Schleife im Haar. An ihrem Arm hing Kensuke und ließ sich willig mitschleifen, einen
zufrieden-glasigen Ausdruck in den Augen.
Shinji und Toji sahen sich an.
„Shinji, der rote Dämon hat Ken in seinen Klauen!“
„Ja... uhm... das sehe ich... armer Kensuke...“
„Seid ihr beide nicht ein bißchen unfair? Sicher hat Asuka auch ihre guten Seiten“, versuchte
Hikari die beiden zu beruhigen.
„Nenne mir eine, Hikari.“ sagte Rei.
„Naja... äh...“
„Wir müssen ihn befreien!“ beschloß Toji.
„Und... äh... wie?“
„Also, Shinji, paß auf! Du gehst und holst deinen EVA...“
„Toji Suzuhara, du spinnst doch!“ kam es von seiner Begleiterin. „Kensuke sieht doch ganz
zufrieden aus!“
„Ja, noch... außerdem, wer weiß, was sie mit ihm gemacht hat, vielleicht hat sie ihm eins mit
dem Knüppel übergezogen...“
Vielleicht hat sie sich auch nur kurz vorgebeugt und Kensuke einen Blick auf ihre Oberweite
erlaubt, schoß es Shinji durch den Kopf.
„Das kannst du doch gar nicht wissen. Gönn ihnen doch den Abend.“
„Na gut, Hikari, na gut, weil du es sagst - aber ich behalte sie im Auge!“
„In erster Linie solltest du mich im Auge behalten, oder das ist der erste und letzte Tanz zu
dem ich mit dir gehe!“
Shinji warf einen letzten besorgten Blick auf Kensuke, der gerade mit breitem Grinsen zur
Theke dackelte, um für sich und Asuka etwas zu trinken zu holen. Toji nutzte die
Gelegenheit, um zu ihm zu laufen und ihn anzusprechen, kehrte aber mit bedrückter Miene
zurück.
„Gehirnwäsche sage ich euch...“
Shinji wandte sich Rei zu, mußte erst einmal tief Luft holen, um über ihren Anblick soweit
hinwegzukommen, daß er sie ansprechen konnte.
„Uhm... Möchtest du... ah... tanzen?“
„Ja.“
Sie reichte ihm die Hand, ließ sich von ihm auf die Tanzfläche in der Mitte der Halle führen,
wo bereits einige Paare zugange waren.
Zögernd plazierte er eine Hand auf ihrer Hüfte, nahm die ihre in die andere und ließ sich von
der Musik leiten.
Fast ohne Pause tanzten sie den ganzen Abend, bemerkten gar nicht, wie die Zeit verging,
wechselten bei einer Änderung der Musik fast automatisch in einen entsprechenden Rhythmus
und traten einander kein einziges Mal auf die Zehen, so als wüßten ihre Füße stets genau, wo
die Füße des anderen waren, während sie einander in die Augen sahen und alles um sich
herum vergaßen...
9. Zwischenspiel:
Gendo Ikari hockte hinter seinem mächtigen Schreibtisch, hielt die linke Hand mit der rechten
umklammert.
Weiße Wölkchen stiegen von seinen Lippen, wenn er ausatmete.
Es war kalt in dem riesigen Büro, obwohl die Heizung lief.
Doch jede Wärme, welche abgeben wurde, wurde rasend schnell absorbiert, wurde
aufgenommen von dem Ding in seiner Hand, welches langsam erwachte, welches der
Umgebung die Wärme entzog und sich an der Energie näherte.
Ikari preßte die Lippen zusammen.
Es hatte kurz, nachdem er Sekandens Hinterhofpraxis verlassen hatte, begonnen, zuerst war es
nur ein leichten Prickeln unter der Haut gewesen, dann ein Kitzeln. Und dann schien seine
Hand in Flammen zu stehen, als ADAM sich mit ihm verband.
Der Umwandlungsprozeß hatte begonnen. Und nichts konnte ihn wieder rückgängig machen,
Ikari war sich nicht einmal sicher, ob es geholfen hätte, hätte er sich die Hand oder gar den
ganzen Arm abgetrennt, oder ob der Engel sich nicht schon weiter in ihm ausgebreitet hatte.
Noch war ADAM nicht völlig erwacht, noch befand der Vater der Menschheit sich in einem
Dämmerzustand. Gendo Ikari beabsichtigte, daß es auch dabei blieb.
Sein linker Ärmel war bis über den Ellenbogen hochgeschoben, oberhalb der Gelenkbeuge
hatte Ikari den Arm abgebunden.
Vor ihm auf dem Tisch lag ein Spritzenbesteck, daneben stand ein unbeschriftetes Fläschchen
mit einer klaren Flüssigkeit. Ikari nahm eine der Spritzen, zog sie auf. Es war beschwerlich
und ungewohnt, da er seine linke Hand kaum bewegen konnte, nur die äußersten Gelenke
seiner Finger ließen sich gänzlich durchdrücken und biegen.
Und ihm war kalt, denn zuallererst hatte der Engel sich an seiner Körperwärme gelabt, hatte
dies erst beendet, als Ikaris Körpertemperatur in einen bedenklichen Bereich gefallen war.
Gendo plazierte die Nadel in der Beuge seines Ellenbogens, stach sie durch die Haut,
injizierte sich die klare Flüssigkeit. Es war eine Droge, dieselbe Droge, welche LILITH jede
Stunde literweise verabreicht wurde, um den Zweiten Engel ruhigzustellen - und das wirkte ja
auch, sonst hätte LILITH sich längst befreit und wäre von dem Kreuz herabgestiegen, an
welches Ikari sie hatte nageln lassen. Daß auch verhindert wurde, daß ihre Beine sich
regenerieren konnten, hielt sie weiter beschäftigt und sicherte zugleich den Nachschub an
LCL...
Ikari schloß die Augen, lehnte sich zurück, während die Droge flüssigem Feuer durch seine
Adern strömte. Zugleich ließ die Kälte, welche er verspürte, nach.
Es funktionierte...
Fragte sich nur, wie lange... nicht daß er befürchtete, ADAM könnte gegen das Mittel
resistent werden, seine Sorge galt vielmehr möglichen Folgen der Droge für seine eigene
Gesundheit. Bis zu dem Moment, an dem er mit der Macht ADAMs den Third Impact
einleitete und die Tore des Himmels stürmte, um den Platz des Schöpfers einzunehmen,
mußte sein Körper durchhalten...
Auch dafür hatte er NERV geschaffen und sich mit zuverlässigen Untergebenen umgeben,
damit die Operation auch weiterlief, wenn er nicht vor Ort war, damit sie für ihn seinen
Kreuzzug führten, andernfalls wären sie alle wertlos gewesen...
Fuyutsuki, dieser alte Narr... er glaubte wirklich, ihm ginge es darum, einen begrenzten
Impact hervorzurufen, um Yuis Seele aus EVA-01 zu befreien... was für ein Gesicht hätte er
wohl gemacht, wenn er erfahren hätte, daß er, Gendo Ikari, selbst dafür gesorgt hatte, daß die
von Kozo verehrte Yui bei dem ersten Testlauf des EntryPlug-Systems von EVA-01
verschlungen worden war, weil er alle Sicherheitssysteme abgeschaltet hatte... und wie erst
hätte Fuyutsuki reagiert, wenn er ihm mitgeteilt hätte, daß dies seine Strafe für ihren Betrug
gewesen war... dafür daß ihn hatte verlassen wollen, dafür, daß sie ihm ein Kind
untergeschoben hatte, welches nicht seines war... und Fuyutsuki ahnte es nicht einmal...
Was ihn zu Shinji brachte, Yuis nutzlosem Sohn... weich, feige, seiner Beachtung nicht wert.
Längst bereute er es, den Jungen geholt zu haben, er machte zuviele Schwierigkeiten... wenn
Rei damals doch nur einsatzfähig gewesen wäre... und danach hatte er ihn nicht einfach
eliminieren lassen können, weil Shinji zu vielen Leuten bekannt geworden war... wenn diese
verdammte Katsuragi ihn doch nur nicht zurückgeholt hätte, wenn sie ihn doch nur hätte
davonfahren lassen, dann hätte er jetzt ein Problem weniger...
Katsuragi... brilliante Taktikerin... daß sie ein Alkoholproblem und dazu den Geschlechtstrieb
eines Karnickels hatte, machte sie nur umso wertvoller, hielt das sie doch davon ab,
mißtrauisch zu werden und Fragen zu stellen...
Ritsuko... ja, sie war wohl die größte Ironie... erst hatte er sich der Dienste ihrer Mutter
versichert, sowohl als Wissenschaftlerin, wie auch im Bett, und als die alte Hexe Naoko ihr
Meisterwerk vollendet hatte, als die MAGI einsatzbereit waren, sich ihrer entledigt. Und alles,
was nötig gewesen war, waren ein paar Worte gewesen, überbracht von den Lippen eines
kleines Kindes... und jetzt hatte er sich auch Naokos Tochter gefügig gemacht...
Ryoji Kaji... SEELEs Spion... dachte dieser Trottel wirklich, seine Nachforschungen wären
ihm nicht aufgefallen? Gut, Kaji wußte, daß das MARDUK-Institut nicht existierte, und?
Sobald er zuviel wußte, würde er ohnehin sterben, so wie jeder, der dem Geheimnis zu nahe
kam...
Langley, das Second Children... eine bessere Waffe hätte er gar nicht die Hände bekommen
können, das Mädchen besaß keine Skrupel und einen Killerinstinkt, der seinesgleichen
suchte...
Alles Bauern in seinem Spiel...
Wichtig war nur Rei, sie würde ihm helfen, sich und ADAM mit LILITH zu vereinen und den
Impact auszulösen, sie war der Schlüssel, LILITHs jüngste Tochter... und gerade bei ihr
mußte er vorsichtig sein, damit sie ADAMs Gegenwart nicht wahrnahm...
Gleich nach seiner Ankunft hatte er einen Bericht von einem der Mitglieder ihrer Leibwache
angefordert, um über die jüngsten Ereignisse informiert zu werden, damit wußten nur zwei
Personen bei NERV von seiner Rückkehr und beide waren ihm bedingungslos loyal, weil er
ihre Leben in der Hand hatte.
Verblieb noch eines zu tun...
Die alten Männer wollten eines Bericht.
Offenbar hatte diese dumme Akagi es geschafft, daß ein Engel in Gestalt eines Virus beinahe
die MAGI übernommen und die Selbstzerstörung der Anlage ausgelöst hätte. SEELE wollte
Rechenschaft darüber, wie ein Engel bis ins Hauptquartier hatte vordringen können... sicher
hatten die alten Idioten sich vor Angst eingemacht... dabei hatte er die Geschichte verbreitet,
daß der Third Impact ausgelöst werden würde, kämen LILITH und die Engel zusammen...
und sie hatten es ihm geglaubt ohne selbst nachzuforschen, hatten ihm jede erdenkliche Hilfe
zukommen lassen, damit er eine Festung über dem Zweiten Engel errichtete, nahezu
unbegrenzte Geldmittel und unglaubliche Macht... und alles nur, um ein Phantom
aufzuhalten... aber noch genialer war es gewesen, sie mit dem Versprechen auf unendliche
Macht zu ködern... als ob er mit einem Haufen seniler Greise die Macht Gottes teilen würde...
Er mußte verschleiern, daß der Engel in die MAGI eingedrungen war, mußte sie davon
überzeugen, daß es ein Irrtum gewesen war, daß ihre Informationen falsch waren. Zugleich
würde er sich selbst etwas Luft verschaffen, würde er einen Vorsprung erhalten, um seine
eigenen Ziele zu erreichen... sie mußten nur glauben, daß der Zeitplan noch gar nicht soweit
fortgeschritten war, daß durch die Bergung der Lanze die von LILITH ausgehende Gefahr
verringert wurde...
Noch einmal atmete Gendo Ikari tief durch.
Die Droge entfaltete inzwischen ihre volle Wirkung, er spürte, daß ADAMs Schlaf wieder
tiefer wurde, zugleich verspürte er selbst eine leichte Dösiskeit und ein Abnehmen der
Schärfe der Wahrnehmung seiner Sinne.
Er setzte sich die VR-Brille auf, fand sich im nächsten Moment nach einem kurzen
desorientierenden Wirbel von Farben in jenem nicht-existenten Konferenzraum wieder, in
dem SEELE zusammenkam.
*** NGE ***
Lorenz Keel blickte auf die Stelle, an der sich Ikaris Projektionskörper gerade noch befunden
hatte, sah auf die Lücke in ihrer Runde.
Ikari hatte seinen Bericht sehr überzeugend vorgetragen - nur glaubte ihm keiner, was er
gesagt hatte...
„Meine Herren“, setzte Keel an. „Ich schätze, daß Ikaris Loyalität zu unserer Gruppe nicht
mehr diskutiert werden muß.“
„Er besitzt keine.“ murmelte der Mann neben ihm.
„Ja. Er wird die Macht nicht mit uns teilen... gut, seine Wahl. Dann werden wir auch nicht mit
ihm teilen, wenn wir erst einmal das Ziel erreicht haben.“
„Das Schicksal aller Verräter.“
„Genau.“ erklärte ein dritter, der nur Gestalt eines Obelisken anwesend war.
„General, wie steht es um ihr kleines Projekt?“
„Ikaris Mörder wartet nur auf unsere Anweisungen, Vorsitzender“, antwortete Wilforth
Cedrick.
„Sehr gut. Aber Ikari aus dem Weg zu schaffen genügt nicht, wir müssen mehr über seine
Pläne erfahren, wer weiß, was er hinter unserem Rücken noch alles in die Wege geleitet hat.“
„Der Schlüssel hierzu könnte sein Stellvertreter sein, Kozo Fuyutsuki. Gemäß meinen
Informationen ist dies die einzige Person, mit der Ikari näheren Kontakt hat, sieht man einmal
vom First Children ab.“
„Wir hätten uns niemals mit Ikari einlassen sollen... seine Fixierung auf Kinder...“ kam es von
einem weiteren Obelisken.
„Damals waren wir alle einverstanden, als er uns seinen Plan vortrug“, brummte Keel. „Nun
gut, Cedrick, Sie haben einen Mann im NERV-Hauptquartier, oder irre ich mich?“
„Nein, Herr Vorsitzender, Sie irren sich nicht. Ich werde meinen Agenten anweisen,
Fuyutsuki bei sich bietender Gelegenheit uns vorzuführen.“
„Dann wäre das alles... General Cedrick, ich würde gern noch mit Ihnen etwas besprechen...“
Die anderen Teilnehmer der Konferenz blendeten sich aus, die Projektionen verschwanden
eine nach der anderen.
„Herr Vorsitzender?“
„Ihre... lebende Waffe...“
„Sie meinen Larsen.“
„Ja. Sind Sie imstande, ihn zu kontrollieren?“
„Ja, Herr Vorsitzender. Die Gehirnwäsche, der wir ihn unterzogen haben, wird dafür sorgen,
daß er seinen Auftrag ausführt, sobald wir ihn von der Kette lassen. Und für alles weitere
haben wir einen Sprengsatz in seinem Schädel untergebracht, gleich neben dem PROPHETInterface.“
„Wir haben Ikari schon zuviel Freiraum gelassen, das darf uns kein weiteres Mal passieren.“
„Seien Sie unbesorgt, ich werde selbst vor Ort sein und die... Durchführung überwachen.“
„Hm... tun Sie das... PROPHET-Interface... die MAGI-Rechner verfügen ebenfalls über eine
solche Einrichtung, oder?“
„Korrekt. Die Schnittstelle wurde von der leider viel zu früh verstorbenen Naoko Akagi
entwickelt und an Larsen erstmals getestet... ein Jammer, wer weiß, was sie noch entworfen
hätte... und wenn sie damals nicht seine Persönlichkeit digitalisiert und entsprechend
aufbereitet hätte, hätten wir wahrscheinlich keinen Einfluß auf ihn nehmen können... wirklich
schade...“
„Wenn wir das nächste Mal zusammenkommen, werde ich Ikari eine letzte Warnung
zukommen lassen, sollte er nicht verstehen, wird er unsere Gruppe verlassen müssen...
endgültig...“
*** NGE ***
Ikari wühlte sich regelrecht durch die angeforderten Tagesberichte.
Er war viel zu lange fortgewesen...
Offenbar waren seine Untergebenen doch nicht so zuverlässig, wie er geglaubt hatte, wie
sonst hätte es möglich sein können, daß Shinji und der Rei-Klon zusammengezogen sind...
All seine Arbeit, all seine Bemühungen, umsonst...
Aber Rei war ersetzbar, im Dogma gab es noch genug Körper, er mußte einfach nur den alten
vernichten, einen neuen aktivieren und die Erinnerungen von Rei-II übertragen...
Erinnerungen aus der Zeit bevor der Klon und Yuis mißratener Sohn sich nähergekommen
waren...
Und da traf ihn die nächste Überraschung: Es gab keine älteren Aufzeichnungen von Reis
Gedächnis, es gab nur eine aktuelle Aufzeichnung im DummyPlug, die eine knappe Woche
alt war...
Ikari ballte die Fäuste, das heißt, er ballte die rechte und versuchte es mit der linken.
Akagi hatte die alten Informationen gelöscht... unwiederbringlich... außer einer, der
Sicherheitskopie, die er selbst angelegt und mit seinem persönlichen Code gesichert hatte...
doch diese stammte ganz aus den Anfangstages, war über ein Jahr alt, war zu Beginn von Reis
Ausbildung als EVA-Pilotin angefertigt worden... wenn er diese Aufzeichnung verwandte,
würde der nächste Klon zwar die nötige Emotionslosigkeit und auch keine Erinnerung an
Shinji besitzen, würde ihm völlig gehorsam sein, aber er würde auch nicht imstande sein,
einen EVA zu steuern... Tabula Rasa...
Und momentan benötigte er die EVAs noch, um die Engel aufzuhalten, benötigte sie
dringender denn je, damit sie eine Befreiung LILITHs verhinderten... und damit sie ihn und
ADAM vor dem Zorn der Engel schützten...
Natürlich konnte er dem Klon befehlen, sich von dem Bengel zu trennen, aber wozu würde
das gut sein, hatte er sie nicht schon einmal angewiesen, den Kontakt zu dem Jungen zu
unterlassen? Und wenn die Berichte stimmten, schliefen die beiden sogar in einem Bett...
nein, der Klon war nutzlos für die letzten Schritte des Planes. Nicht einmal in anderer
Hinsicht würde er Ikari noch nützlich sein können, denn wenn Shinji nicht ein gänzlich
impotenter Eunuch war, hatte es garantiert schon genug Gelegenheiten gegeben, zu denen sie
sich körperlich vereint haben dürften... der verdammte Bengel... er hätte ihn damals als Kind spätestens nachdem er Yui los war - ertränken sollen, anstatt diesen gierigen Pflegeeltern
soviel Geld in den Arsch zu schieben, damit sie sich um ihn kümmerten...
In seiner Hand begann es wieder zu pochen...
Kapitel 29 - Alles Gute kommt von oben...
Kurz vor zehn Uhr abends waren ein paar Lehrer durch die Sporthalle gegangen und hatten
die Schüler der unteren Klassen nach Hause geschickt, während die älteren noch ein wenig
feiern konnten.
Shinji, Rei, Hikari und Toji standen am Tor zum Schulgelände und hielten Ausschau nach
Asuka und Kensuke, laut Toji hatte Asuka ihren Begleiter den ganzen Abend über
herumkommandiert und durch die Gegend gejagt, weshalb er sich jetzt vergewissern wollte,
ob mit Kensuke alles in Ordnung war.
Doch die beiden ließen sich nicht blicken.
„Seltsam“, murmelte Toji. „Eigentlich hätten sie an uns vorbei... oder waren sie schon vor uns
draußen? - Hikari?“
„Ich habe sie nicht gesehen“, meinte das Mädchen mit den Sommersprossen.
Und Shinji und Rei waren anderweitig beschäftigt gewesen. Sie konnten es gar nicht fassen,
daß es schon so spät war.
„Tja, vielleicht warten wir hier ganz umsonst. Aber morgen unterhalte ich mich mit Ken ein
wenig...“
Am nächsten Tag würde es Zeugnisse geben, es fand zwar kein Unterricht statt, aber die
Schüler sollten sich um elf Uhr in ihren Klassenräumen versammeln. Die Abschlußklasse war
bereits an diesem Morgen entlassen worden.
„Uhm, naja, vielleicht sollten wir wirklich gehen...“
Shinji sah sich noch einmal um.
„Asuka wird ihn schon nicht... uh... oder möglicherweise doch... äh...“
„Du kannst einem wirklich Mut machen, Ikari, weißt du das?“
„Tut mir leid, Toji.“
Suzuhara seufzte.
„Ich wüßte nur zu gerne, weshalb Ken so vernarrt in Asuka ist... er hat doch auch gesehen,
wozu sie fähig ist... hm...“
Sie trennten sich, während Toji Hikari heimbrachte, fuhren Shinji und Rei mit der
Straßenbahn.
Shinji lockerte seine Krawatte.
„Ah, Rei, ich wollte nur sagen, daß ich... uhm... daß ich sehr glücklich bin, daß wir... naja, daß
du mich zu dem Tanz begleitet hast. Und... ahm... du bist wirklich eine sehr gute Tänzerin.“
„Danke, Shinji-kun.“ antwortete sie mit einem schmalen Lächeln.
„Ähm, ja... naja...“
Er nahm ihre Hand in die seine, während er nach weiteren Worten suchten.
Ein Kontrolleur kam und ließ sich ihre Fahrkarten zeigen, hob im ersten Moment die
Augenbrauen, als er ihre NERV-ID-Karten sah, nickte dann aber und wechselte in den
nächsten Wagen über.
Die Bahn hielt an ihrer Haltestelle und sie stiegen aus, gingen Hand in Hand zwischen den
heruntergekommenen Gebäuden hindurch. In ihrem Apartmentgebäude flackerte das Flurlicht
recht unstet, sie stiegen rasch die Treppen bis zum vierten Stock empor, Shinji übernahm die
Führung und öffnete die Wohnungstür, blieb dann aber vor der Schwelle stehen.
„Shinji-kun, was ist?“
Er grinste.
„Rei-chan, leg deine Arme um meinen Hals.“
Sie blinzelte, tat aber, was er von ihr verlangte. Doch mit dem, was er als nächstes tat, hatte
sie nicht gerechnet: Shinji hob sie schwungvoll hoch, so daß er sie auf seinen Armen trug.
„Shinji-kun, was hast du vor?“
„Kopf einziehen!“ flüsterte er und trug sie über die Schwelle, ließ sie dann wieder hinunter.
Sie strich ihr Kleid glatt und sah ihn fragend an.
„Warum hast du das getan?“
„Es... ahm... naja... ich dachte... uhm... das wäre angemessen... ähm... du siehst aus wie eine
Prinzessin und... ähm...“
„Ich verstehe. Bisher dachte ich, ´jemanden auf Händen tragen´ wäre nur eine weitere
Redewendung.“
„Uh...“
Er schloß die Wohnungstür, war froh, daß sie sich mit seiner Erklärung zufrieden gab.
Während er den Krawattenknoten vollends öffnete und dann die Anzugjacke auszog, schälte
sie sich aus dem Kleid. Im Licht des Mondes sah er kaum mehr als ihre Silhouette, doch das
genügte bereits.
Rei trug keinen BH unter dem Kleid, aber das hatte er bereits früher am Abend festgestellt, als
sie dicht zusammen getanzt hatte.
Warum stolperte er nur immer mit dem Kopf voran in solche Situationen... und am
schlimmsten war es immer, wenn er irgendwelchen spontanen Einfällen nachgab... Mit
Erleichterung registrierte er, daß sie sich das große Männerhemd, welches sie als Nachthemd
benutzte, überzog und vor der Brust zuknöpfte.
Ein paarmal atmete er tief durch.
„Also, Rei... ich... ich hoffe, du warst auch zufrieden... uhm...“
„Der Abend hat mir gefallen.“ erklärte sie und kroch ins Bett, sah ihn an.
Nach kurzem Zögern folgte er ihr, nahm sie in die Arme und legte den Kopf an ihre Schulter,
so daß er den Geruch ihres Haares einatmen konnte.
*** NGE ***
Kensuke hockte wie ein Häuflein Elend an seinem Platz im Klassenraum, Toji stand bereits
neben ihm, die Hand kumpelhaft auf Aidas Schulter.
„Was... was ist denn los gewesen?“ fragte Shinji, kaum daß er seine beiden Freunde erspäht
hatte.
Toji ballte die Fäuste.
„Diese Asuka ist ein ganz durchtriebenes Biest!“
Kensuke schniefte.
„Ich dachte... als sie mich fragte, ob ich sie nicht begleiten wollte... ich dachte, sie mag mich
vielleicht... aber dann schickte sie mich los, etwas zu trinken zu holen... und danach hat sie
mich gar nicht mehr beachtet, sondern hat nur noch mit ein paar anderen Mädchen
´rumgehangen... und dann hat sie mit einem aus der Abschlußklasse getanzt...“
„Wie gemein“, murmelte Hikari.
„Hat mich einfach stehenlassen... mit kleinen langweiligen Jungs wolle sie nichts zu tun
haben...“
Kensuke vergrub das Gesicht in den Armen.
Toji klopfte ihm beschwichtigend auf dem Rücken.
„Na, na, besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.“
Asuka betrat den Klassenraum, grinste breit, als sie die Gruppe zusammenstehen sah.
Toji sah sie finster an, gab ein dumpfes Knurren von sich.
Shinji kannte diesen Blick, hatte sich schließlich selbst schon im Fokus dieses Blickes
befunden...
„Toji, nur die Ruhe...“
Er schluckte.
„Och, ist der kleine Kensuke traurig?“ lachte Asuka häßlich. „Dabei durfte er doch mit mir
zum Ball gestern gehen... hat es ihm etwa nicht gefallen?“ Ihr Gesichtsausdruck veränderte
sich, wirkte plötzlich sehr verletzt. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen...“ Und dann grinste
sie wieder.
„Du falsche Schlange!“ schrie Toji und schien mit seinem Vorsatz, keine Mädchen zu
schlagen, brechen zu wollen, streckte Kopf und Schultern vor wie ein wütender Stier.
Shinji hielt ihm am Arm fest, wußte aber sogleich, daß er den größeren und stärkeren
Mitschüler allein kaum halten konnte.
Doch darum kümmerte sich Rei, die Toji einfach die flache Hand gegen die Schulter drückte.
Einen Moment lang schien Toji gegen starken Wind anzukämpfen, Überraschung breitete sich
auf seinem Gesicht aus, dann starrte er sprachlos auf Reis schmale Hand.
„Wa...“
„Du hättest keine Chance“, flüsterte Rei sehr leise.
Trotzdem hatte Asuka sie gehört.
„Stimmt, Suzuhara, aber du kannst es gerne versuchen...“
Sie blickte ihn provozierend an.
In Shinji stieg die Wut hoch.
Einem seiner Freunde ging es richtig schlecht und sie machte sich auch noch darüber lustig...
„Asuka, laß das!“ schrie Shinji. „Hast du eigentlich nichts besseres zu tun?“
Die Rothaarige schüttelte den Kopf.
„Nein.“
„Dann... ah... dann...“
„Na, Shinji, sprachlos? Geht das Gestotter wieder los?“
„Ah...“
Asuka lachte laut auf.
Hikari trat an Shinjis Seite, funkelte Asuka wütend an.
„Das ist so gemein!“
„Ach, halt die Klappe, Klassensprecherin, wer hat dich denn gefragt.“
Hikari riß die Augen auf.
Asuka stolzierte zu ihrem Platz und setzte sich, immer noch dieses breite hämische Grinsen
im Gesicht.
„Miststück...“ flüsterte Toji.
Asukas Augen funkelten auf.
Niemand nannte sie so, ohne es zu bereuen... aber sie konnte warten, an diesem Tag hatte sie
schon ein Triumpherlebnis gehabt, als sie den dummen kleinen Jungen am Rand der Tränen
gesehen hatte...
Der Lehrer kam mit den Zeugnisheften...
*** NGE ***
Bestanden hatten sie alle, von den Schülern, die zu den Prüfungen angetreten waren, wurden
alle versetzt. Bei der Verteilung der Zeugnisse äußerte sich der Lehrer lobend über Asukas
Fortschritte mit den Kanji-Schriftzeichen. Das beste Zeugnis hatte Rei, worüber sich
eigentlich niemand, der sie kannte, wirklich wunderte.
Kaum hatte der Lehrer die Stunde geschlossen, spazierte Asuka aus dem Raum, warf dabei
Toji erneut einen provozierenden Blick zu. Doch dieser beherrschte sich zähneknirschend.
Im Anschluß nahm Toji Kensuke zur Aufmunterung mit in eine nahegelegene
Einkaufspassage, wo es auch ein paar Automatenspiele gab.
„Armer Kensuke“, murmelte Shinji, während er und Rei mit der Bahn zurückfuhren. An
diesem Tag hatten sie beide keine Tests.
Rei nickte ohne Worte.
Soryu hatte sich über ihren Shinji lustiggemacht...
„Wirklich gemein von Asuka, ihn so zu behandeln...“
„Soll ich ihr die Beine brechen, Shinji-kun?“
Shinjis Kopf fuhr herum, entgeistert sah er sie an.
„Wie?“
„Soryu benötigt ihre Beine nicht, um im Falle eines Angriffes einen EVA steuern zu können.“
„Ahm... ich glaube nicht... das solltest du nicht tun... uhm... du bekommst doch nur Ärger...“
Insgeheim stimmte sie ihm zu, aber in diesem Fall würde sie sogar den Zorn des
Kommandanten in Kauf nehmen...
„Shinji-kun, gibst du mir dein Wort, mich nie so zu behandeln?“
Er zuckte zusammen, seine Augen weiteten sich noch mehr.
„Rei-chan, ich... ich könnte nie... ich möchte immer bei dir sein...“
Sie lächelte unwillkürlich, doch zugleich fragte sie sich, ob er dies auch sagen würde, wenn er
wüßte, was sie wirklich war... ob er dann noch zu ihr stehen würde...
„Vielleicht gibt es Dinge über mich, die du nicht weißt.“
„Uhm... also... ähm...“
Wieder nahm er ihre Hand, drückte sie leicht.
„Ich glaube an dich.“
Ihre Kehle wurde trocken.
Seine Hand fühlte sich warm an… angenehm warm…
„Shinji-kun...“
Die Bahn hielt, sie stiegen aus.
„Oben dürfte es ziemlich stickig sein...“ meinte Shinji an der Hausfassade hinaufblickend.
„Ja.“
„Was... uhm... was hältst du von einem Picknick hinten im... ah... Park?“
„Einverstanden.“
„Dann hole ich schnell ein paar Sachen. Geh schon ´mal vor...“
Er lief nach oben.
*** NGE ***
Rei saß unter einem der knorrigen Bäume in der verwilderten Grünanlage und blickte Shinji
entgegen, der mit einer Plastiktüte in der Hand zu ihr herüberkam.
Lächelnd stellte er die Tüte auf die Erde.
„´Ist zwar kein Picknickkorb, aber, uhm...“
Er begann auszupacken, breitete zwischen ihnen mehrere Servietten überlappend aus, so daß
eine größere Fläche für die mitgebrachten Nahrungsmittel entstand, stellte die angebrochene
Packung Weißbrot dazu, dann eine Flasche Fruchtsaft und zwei Becher, vervollständigte das
ganze schließlich mit den Marmeladeschälchen, die Rei im Kühlschrank aufbewahrt hatte,
sowie zwei Messern.
Sie aßen in aller Ruhe, danach räumte Shinji bis auf die Becher und die Flasche alles wieder
zusammen und lehnte sich gegen den Baumstamm, verschränkte die Hände hinter dem Kopf
und schloß die Augen, lächelte entspannt.
„Weißt du, Rei-chan, ich... ah... ich kann kaum glauben, daß wir das hinter uns haben...“
Jetzt lagen etwas über vier Wochen Ferien vor ihnen, allerdings hatte Doktor Akagi bereits
angekündigt, die Zeit für zusätzliches Synchrontraining auszunutzen.
Rei sah ihn interessiert an.
Shinji-kun wirkte so friedlich und entspannt... eigentlich hatte sie diesen Ausdruck bisher nur
auf seinem Gesicht gesehen, wenn er schlief...
Shinji seufzte wohlig auf.
So gefiel es ihm... ein schöner warmer Tag, der kühle Schatten eines Baumes, ein Nachmittag,
an dem es nichts zu tun galt, an dem weder die Schule noch NERV seine Zeit in Anspruch
nahmen... und die Nähe Rei-chans... ja, am wichtigsten war ihre Gegenwart...
Rei rückte näher an ihn heran.
Shinji-kun fühlte sich offensichtlich wohl...
Sie verringerte die Distanz noch mehr, wollte sich den Ausdruck seines Gesichtes ganz genau
einprägen... schließlich rutschte sie über ihn, so daß sich ihre Knie links und rechts seines
Beckens befanden und sie auf seinen Oberschenkeln saß, ihr Gewicht dabei aber auf ihre Knie
verlagerte.
Shinji öffnete die Augen, sah direkt in ihr Gesicht.
„Rei-chan...“ setzte er überrascht an.
„Shinji-kun, du wirkst so zufrieden...“
„Ahm...“
Sie hob die Hand und berührte sacht seine Wange.
„Rei...“
Ohne zu denken legte er die Arme um ihre Taille.
Ihre Lippen näherten einander, sie spürten den flachen warmen Atem des jeweils anderen im
Gesicht. Reis Mund war leicht geöffnet, ihre Lippen formten ein flaches Oval, sie schloß die
Augen, legte ihre Arme um seinen Hals, dann war auch der letzte Zentimeter überwunden,
berührten sich ihre Lippen schließlich, blieben aneinanderhängen.
Mehrmals wurde der Kuß teilweise angebrochen und wieder neu angesetzt, als ihrer beider
Lippen ein Eigenleben zu entwickeln schienen, während seine rechte Hand ihren Rücken
hinauf- und hinabwanderte, während sie ihn abwechselnd an sich zog und dann wieder die
Intensität Ihrer Umarmung lockerte.
Shinji glaubte beinahe, seine Lippen stünden in Flammen, so intensiv war der Eindruck, den
er verspürte. Sein Atem ging sehr schnell, immer wieder unterbrach er den Kuß kurz, um Luft
zu holen, nur sich dann mit neuem Elan ihren Lippen zu widmen. Er vermeinte zu schweben,
glaubte, den Erdboden hinter sich zu lassen.
Und Rei verspürte ein Gefühl in der Magengegend, das sich anfühlte, als schlügen dort
unzählige Schmetterlinge zugleich mit den Flügeln, ein Gefühl, das in ihr nicht den Eindruck
erweckte, sie könnte in irgendeiner Form krank sein. Es war ein berauschendes Gefühl, das
sich noch mehr steigerte, sobald Shinji-kuns Hand ihren Nacken erreichte.
So war es also, verliebt zu sein...
„Was macht ihr zwei da?“ riß eine herrische Stimme die beiden in die Realität zurück.
Erschrocken ließ Shinji Rei los, starrte schräg nach oben.
Ein Polizist... der erste Polizeibeamte, den Shinji in dieser Gegend von Tokio-3 zu Gesicht
bekam... was wollte der Mann von ihnen?
„Uhm... also...“
„Das hier ist eine öffentliche Einrichtung, euer Verhalten könnte sittlichen Anstoß erregen.
Ihr beiden seid doch sicher noch minderjährig, oder? Wo wohnt ihr? Wie heißen eure Eltern?“
Rei blinzelte.
Ihr Hochgefühl war verschwunden, stattdessen verspürte sie Wut auf den Uniformierten, der
sie und Shinji-kun gestört hatte. Wen sollten sie denn stören?
Langsam stand sie auf, reichte dem immer noch völlig überraschten Shinji die Hand, zog ihn
auf die Füße.
Und ebenso langsam holte sie ihren NERV-Ausweis aus der Tasche und reichte ihn dem
Beamten.
Der Uniformierte setzte seine dunkle Brille ab, begutachtete den Ausweis, sah dann Rei
verärgert an.
„Was soll das denn? Wen willst du damit veräppeln, Kleine, das ist doch sicher eine
Fälschung.“
Rei war fassungslos.
Der Mann hatte ihr indirekt gerade erklärt, daß er sie für eine Lügnerin hielt, daß die Angaben
auf dem Ausweis nicht stimmten.
„Ich bin die Person auf dem Bild, Rei Ayanami.“
„Ja, klar, das glaube ich dir noch, aber du kannst mir nicht erzählen, daß du zu NERV
gehörst.“
„Uh, doch, das stimmt...“
Auch Shinji holte seine ID-Card hervor und hielt sie ihm unter die Nase.
„Noch so eine Fälschung... seitdem es heißt, daß diese EVAs von Kindern gesteuert werden,
will plötzlich jeder ein Pilot sein... Also, eure Namen und die eurer Eltern!“
Shinji öffnete und schloß die Faust, wieder und wieder.
Das durfte doch nicht wahr sein... kaum erlebte er einen wirklich glücklichen Moment, da
tauchte jemand auf und machte alles zunichte... und schlimmer noch, der Beamte zweifelte
nicht nur an seinen Worten - das hätte er verkraftet -, er bezichtigte auch noch Rei-chan der
Unwahrheit...
Shinji schluckte, kniff die Augenlider zusammen und blickte dem Polizisten ins Gesicht.
„Ich bin Shinji Ikari. Ich arbeite für NERV. Ich bin der Pilot von EVANGELION-Einheit-01.
Mein Vater heißt Gendo Ikari, er ist der Kommandant von NERV. Sie können ihn gerne
anrufen und meine Angaben überprüfen, ich nenne Ihnen gerne die Nummer. Aber er wird
nicht gern gestört und reagiert dann oft etwas… extrem“, erklärte er mit Nachdruck und
Eiseskälte in der Stimme, war für einen Augenblick das genaue Abbild Gendo Ikaris in
Sprache und Auftreten. „Sie könnten auch Major Katsuragi anrufen, unseren taktischen
Offizier. Oder Doktor Akagi, die Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung. Alles
vielbeschäftigte Leute, die sich sicherlich freuen werden, Ihnen Auskunft zu geben.“
Die Mimik des Beamten entgleiste, fassungslos sah er Shinji einen Moment lang an, warf
dann einen erneuten Blick auf die beiden Ausweise, betrachtete mit größer werdenden Augen
das NERV-Siegel unter den Bildern der beiden Teenager vor ihm.
Die Dinger waren tatsächlich echt...
Nervös gab er sie zurück.
„Eure Angaben stimmen wohl...“
Eine vierte Person betrat die Szene, eine dunkelhaarige Frau in einer nachtschwarzen
Einsatzkombination, die ein Namensschild mit dem NERV-Symbol über der Brust trug.
„Gibt es hier Probleme?“
Rei wandte sich ihr zu und nickte knapp mit dem Kopf zur Begrüßung.
„Keine Probleme, Ishiren-san.“
Die Frau gab ein Zeichen der Bestätigung, blieb aber an Ort und Stelle stehen, anstatt wieder
zu gehen.
Mit wachsender Nervosität huschte der Blick des Beamten hin und her, während ihm
klarwurde, daß er mitten in ein Wespennest hineingegriffen hatte. NERV war für die
Ordnungshüter von Tokio-3 tabu, außer sie ertappten NERV-Angehörige bei einer Straftat.
Und der Name Katsuragi war ihm auch nicht unbekannt, schließlich kassierte die Frau jede
Woche wenigstens einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung...
„Und jetzt?“ erkundigte sich Shinji mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ein Bericht ist wohl nicht nötig... aber ihr solltet nicht...“
Er gab es auf, eigentlich hatten die beiden Kinder ja gegen kein Verbot verstoßen... es war nur
sehr ungewöhnlich, jemanden tagsüber in dieser Parkanlage anzutreffen, in welcher sich nach
Einbruch der Dunkelheit der Bodensatz von Tokio-3 traf...
„Also können wir gehen?“
„Ja. Einen schönen Tag noch...“
Shinji sah dem Polizisten nach, bis dieser außer Sicht war, ließ dann die Schultern hängen und
stieß die angehaltene Luft aus, während sein Herz viel zu schnell pochte.
„Ich entferne mich dann ebenfalls, Captain Ayanami.“ erklärte die Frau.
„Ja, Ishiren-san.“ bestätigte Rei.
Die Frau wandte sich ab und verschwand zwischen den Büschen.
Rei blickte Shinji an.
Wie energisch er aufgetreten war, als der Beamte ihre Angaben in Zweifel gezogen hatte...
Und jetzt schien ihn im Nachhinein sein eigener Mut zu erschrecken.
„Laß uns gehen, Shinji-kun.“
„Äh, ja, Rei...“
Er hob die Sachen auf und trottete an ihrer Seite zu den Häusern zurück.
„Uhm, Rei, wer war das... ich meine, diese Frau...“
„Ishiren-san gehört zu meiner Leibwache.“
Vor Überraschung blieb er stehen.
„Leibwache?“
„Jeder der Piloten verfügt über wenigstens einen ihm speziell zugewiesenen Leibwächter, der
ihn oder sie beschützen soll.“
„W-wirklich? Das... das ist mir noch gar... aufgefallen...“
„Sie haben Anweisung, sich im Hintergrund zu halten.“
„Ich... ah... ich verstehe... aber heißt das... daß wir, uhm, auf Schritt und Tritt überwacht
werden?“
„Ja, Shinji-kun. Die EVA-Piloten sind zu wertvoll, als daß NERV riskieren könnte, daß ihnen
etwas zustößt.“
Shinji sah sich aufmerksam um.
„Und... uhm... wo sind sie?“
Rei runzelte die Stirn, sah sich ebenfalls um, deutete dann in rascher Abfolge auf drei Fenster,
zwei davon in ihrem Gebäude, im dritten und im vierten Stock, das dritte im Nachbarhaus.
Dann deutete sie noch auf einen weiter entfernt liegenden Hauseingang, wo Shinji eine
Bewegung im Schatten registrierte.
Shinji stand der Mund offen.
„Und... und sie bewachen uns überall? Auch... auch in deiner Wohnung?“
In ihm stieg die Schreckensvision auf, sie könnten während der letzten Wochen ständig
belauscht worden sein, daß wildfremde Menschen jedes seiner Worte, jedes Gespräch mit ihr,
jedes Geständnis mitgehört haben könnten.
„Nein.“
„Ah... g-gut...“
Oben in der Wohnung nahm sie ihm die Tüte mit den Sachen des Picknicks aus der Hand und
stellte sie in den Kühlschrank, während Shinji immer noch mitten im Raum stand und sich
bemühte, das Erfahrene zu verdauen.
„Shinji-kun...“
Er drehte den Kopf.
Rei-chan stand im Durchgang zur Küche und fixierte ihn. In ihren Augen war etwas
ungewohntes... ein Funkeln... ihre Lippen formten ein Lächeln.
„Uh, ja, Rei-chan?“
„Wir wurden gestört.“ erklärte sie völlig emotionslos trotz ihres Lächeln. „Ich bin der
Ansicht, daß wir dort fortsetzen sollten, wo wir unterbrochen wurden.“
„Uhm...“
Weiter kam er nicht, denn da hatte sie bereits die Arme um ihn geschlungen und versiegelte
seine Lippen mit den ihren...
*** NGE ***
Das erste, das Shinji wahrnahm, als er am nächsten Morgen erwachte, war ein Kitzeln an
seiner Nasenspitze. Er schlug die Augen auf, sah Rei über sich gebeugt, deren Haarspitzen das
Kitzeln verursachten.
„Guten... guten Morgen, Rei-chan...“ flüsterte er.
„Guten Morgen, Shinji-kun“, erwiderte sie mit einem schwach hörbaren fröhlichen Unterton.
Kurz senkte sie den Kopf und berührte seine Lippen mit den ihren, dann rollte sie sich aus
dem Bett.
„Ich mache Frühstück.“
Shinji setzte sich auf und rieb sich die Augen.
Seine Lippen waren ganz taub, so als hätte man ihm eine örtliche Betäubung verpaßt.
Die Erinnerung an den Rest des gestrigen Tages und den Abend war wie ein farbiger Rausch
von Eindrücken, war ein einziger nichtendenwollender Kuß, zuerst in der Zimmermitte, dann
auf der Bettkante, schließlich auf dem Bett selbst. Zugleich war es ein beschränktes
gegenseitiges Erforschen gewesen, bei dem er herausgefunden hatte, daß es Rei-chan sehr
anregte, wenn er eine bestimmte Stelle ihres Nackens berührte, während sie sicher erkannt
hatte, wie er darauf reagiert hatte, als sie mit der Innenseite ihres Fußes über sein
Schienenbein gestrichen hatte...
Und es war wirklich kein Traum gewesen. Und trotz allem hatte dieser lange Kuß noch immer
etwas Unschuldiges besessen, hatte er kein einziges Mal den Drang verspürt, ihr die Kleider
vom Leib zu reißen, hatte er die Wanderungen seiner Hände auf ihren Rücken beschränkt...
Ein Blick auf seine Armbanduhr, die er sich von der Sitzfläche des Bürostuhles geangelt
hatte, sagte ihm, daß er noch Zeit hatte, rasch zu duschen und im Anschluß mit Rei-chan zu
frühstücken, ehe er zum Hauptquartier aufbrechen mußte.
Und das nannte sich Ferien... für Doktor Akagi war die Zeit doch noch nur ein Grund, sie
noch längeren und intensiveren Tests zu unterziehen...
Er ging in die Küche, wo Rei an der Spüle stand und hantierte, umarmte sie von hinten und
plazierte einen leichten Kuß auf ihrem Hals.
„Ich dusche schnell.“
„Ja.“
Er sah es nicht mehr, doch sie lächelte.
Und sie lächelte immer noch, als Shinji aus dem Bad kam und sich an den gedeckten Tisch
setzte, lächelte, während sie die Ellenbogen auf den Tisch aufstützte und mit den Fingern der
ineinander gefalteten Hände eine Brücke bildete, über die hinweg sie ihn anblickte.
Misato-san hatte Recht gehabt... sie hatte den ganz großen Fang gemacht...
*** NGE ***
Shinji schickte sich gerade an, das Haus zu verlassen, als für einen Augenblick die Erde
bebte, daß er unwillkürlich die Hand zur Mauer ausstreckte, um nach Halt zu suchen.
Ein Erdbeben? - In dieser Region Japans kam es nicht so häufig zu Beben wie anderswo... und
seit seiner Ankunft in Tokio-3 hatte er noch keine Erdstöße wahrgenommen...
Oder ein Angriff?
Er sah sich um, registrierte keine Veränderungen.
Rasch drehte er sich um und lief wieder nach oben, nur weil unten alles normal erschien,
mußte das noch lange nicht für die Wohnung gelten, in der Rei noch war...
Gerade, als er die Wohnungstür erreichte, begann sein Handy zu piepen.
Also doch ein Angriff?
Aber zuerst mußte er nach Rei-chan sehen...
In der Wohnung war nur eine Vase umgefallen, allerdings hielt Rei sich nicht damit auf, das
Wasser aufzuwischen, sondern reagierte auf das Piepen ihres Handys, indem sie sofort aus der
Wohnung stürmte und auf dem Flur gegen Shinji prallte.
„Uh... tut mir leid...“ sagte Shinji automatisch.
Rei nahm nur seine Hand und zog ihn mit sich nach unten.
Im Haus hatten sie keinen richtigen Empfang, würde das Signal nicht stark genug
durchkommen, um verständlich zu sein. Wahrscheinlich waren in den letzten Wochen in der
Nähe Signalverstärker in der Gegend installiert worden, damit die beiden Piloten wenigstens
angepiept werden konnten.
Von einem Herzschlag zum anderen wurde aus dem blauhaarigen Mädchen, welches eben
noch lächelnd sich der Aktivitäten der letzten Nacht erinnert hatte, ein emotionsloser Profi,
wurde Shinjis Rei-chan zu Pilotin Ayanami.
Sie mußten bis zur Haltestelle der Straßenbahn laufen, ehe Rei ein klares Signal auf ihrem
Handy hatte.
Das Gespräch, welches sie mit dem Hauptquartier führte, war nur kurz.
„Ein Engel“, informierte sie ihren Begleiter. „Wir sollen schnellstens ins Hauptquartier
kommen.“
„Wo ist er?“ stieß Shinji hervor. „Die... ah... die Sirenen heulen noch gar nicht.“
„Wir erhalten unsere Informationen im Hauptquartier.“
„Ja...“
Wie verändert sie plötzlich war... so konzentriert... das mußte mit dem bevorstehenden Kampf
zusammenhängen...
Shinji hatte keinen Zweifel, daß das Auftauchen eines Engels gleichbedeutend war mit einem
baldigen Kampf.
Er nahm ihre Hand, drückte sie leicht, doch sie erwiderte den Druck nicht, ging in Gedanken
bereits die Startsequenz von EVA-00 durch, wappnete sich innerlich schon jetzt gegen die
Dunkelheit. Unkonzentriertheit konnte die Mission scheitern lassen... konnte Shinji-kun in
Gefahr bringen...
*** NGE ***
Misato Katsuragi starrte sprachlos auf den großen Monitor der Zentrale.
Neben ihr stand Ritsuko Akagi und wirkte ebenfalls nicht gerade gesprächig.
Der Monitor zeigte eine Luftaufnahme Südjapans.
Auf der Karte gab es drei große Krater, Krater, die am Vortag noch nicht existiert hatten...
„Mein Gott...“ flüsterte Misato.
Von der anderen Seite trat Kaji an sie heran.
„Schwere Zerstörungen... und dabei waren es nur ungezielte Schüsse...“
Ritsuko schloß die Augen.
„Derzeit können wir nichts tun.“
„Ich möchte die Aufzeichnungen noch einmal sehen“, murmelte Misato.
Der Monitor zeigte ein Flugobjekt, welches wie drei nebeneinanderliegende, durch dünne
Muskelstränge verbundene, Augäpfel aussah, wobei das mittlere Auge das größte der drei
war. An den Rändern hingen tropfenförmige Klumpen.
Gerade löste sich einer der Tropfen, fiel der Erde entgegen...
... explodierte beim Aufschlag, löschte ein Gebiet von mehreren Quadratkilometern aus,
hinterließ nur einen Krater...
„Der erste Einschlag erfolgte nahe der Küste weit im Süden von Tokio-3. Der zweite und der
dritte erfolgten näher bei der Stadt. Diese Engelstränen verfügen über eine gewaltige
Sprengkraft. Außerdem verringert der Engel seine Flughöhe, den MAGI-Berechnungen nach
wird er im Sturzflug in die Stadt krachen.“
„Toll... einfach toll...“
Misato begann, in der Zentrale auf und ab zu gehen, sah dabei immer wieder zum
Kommandostand hinauf, wo sich nur Kozo Fuyutsuki aufhielt, der sich schwer auf die
Brüstung stützte.
„Ritsuko, zeig mir noch einmal den Einsatz der N2-Mine.“
„Kommt...“
Ein Flugzeug näherte sich dem Engel, feuerte eine Rakete ab, welche weit vor dem Engel
explodierte.
„Beschuß mit der neuen N2-Luftmine nutzlos, die Analyse der gewonnenen Daten bezüglich
der Stärke des AT-Feldes ergibt, daß ein Beschuß vom Boden aus ebenso erfolglos bleiben
wird.“
„Und der Engel wird voraussichtlich eine Kamikaze-Aktion hinlegen?“ fragte Misato nach.
„Die MAGI gehen davon aus. Wenn er seine Flughöhe weiterhin in diesem Maß verringert,
hat er gar keine andere Alternative.“
„Wie groß wird die Sprengkraft sein, die er dann entfaltet?“ kam es von Kaji.
Ritsuko gab einen kurzen Befehl in ihren Palmtop ein.
„Szenario Sahakiel.“
Wieder wurde die Luftaufnahme Südjapans gezeigt. Dann erschien ein gewaltiger Feuerball,
der die Karte zu verschlingen schien. Was zurückblieb, war eine tiefe Wunder in der Erde, ein
Krater, aus dem glutflüssiges Magma quoll, welches unter starker Dampfentfaltung auf das
eindringende Meerwasser traf...
Sogar Kaji war bleich geworden.
„Ob ich noch einen Flug ans andere Ende der Welt bekomme...?“ versuchte er die Situation
aufzuheitern.
Misato preßte die Lippen zusammen, nahm ihre Wanderung durch die Zentrale wieder auf.
„Haben wir Kontakt zum Kommandanten?“
„Nein, der Engel stört die Funkverbindungen, alle Frequenzen.“
Fuyutsuki beugte sich weiter vor.
„Doktor Akagi, berechnen Sie bitte die voraussichtliche Aufschlaggeschwindigkeit des
Engels. Und berechnen Sie, ob die vereinte Kraft aller drei EVAs ausreicht, den Sturz des
Engels abzufangen.“
Misato starrte ihn an.
„Natürlich, das ist es... wenn die EVAs den Engel auffangen können, ehe er explodiert,
können sie ihn vorher vernichten... Genial!“
„Ich habe meinen akademischen Grad nicht in der Lotterie gewonnen. - Also, Doktor?“
„Es könnte klappen. Wenn alle drei EVAs schnell genug sind, können sie den Sturz des
Engels aufhalten. Aber die Chancen sind trotzdem minimal.“
„Gut, Ritsuko...“
Misato lächelte grimmig. Selbst eine winzige Chance war immer noch eine Chance.
„Mach die EVAs startklar! Und laßt den Engel nicht aus den Augen, ich will über jede noch
so klitzekleine Veränderung der Bahn sofort informiert werden. Wir positionieren die EVAs
so, daß sie jeden Punkt der Stadt in möglichst geringer Zeit erreichen können, laß die MAGI
die günstigsten Positionen berechnen, orientiere dich an der Flugbahn des Engels und
berechne den voraussichtlichen Aufschlagpunkt so genau wie möglich!“
„Schon dabei!“
Ritsuko nahm an ihrem Terminal Platz.
„Maya, du gehst in den Kontrollraum des Testcenters und überwachst die
Startvorbereitungen!“
„Ja, Sempai.“
Misato befestigte ihr Headset.
„Ich übernehme die Leitung von hier aus. Kaji, geh bitte in den Hangar und unterrichte die
Kinder!“
Kaji nickte.
Er wußte, weshalb sie ihn ausschickte - Asuka würde auf ihn hören und in seiner Gegenwart
nicht anfangen zu stänkern...
*** NGE ***
Die EVAs waren inzwischen gestartet und der Engel befand sich weiterhin auf seinem
Kamikaze-Kurs. Die drei EVANGELIONs waren nach Maßgabe der MAGI positioniert
worden.
Asuka war von dem Plan alles andere als überzeugt.
„Einen fallenden Engel mit den Händen aufzuhalten, das ist doch...“ murmelte sie.
„Hast du etwas gesagt?“ fragte Misato über Funk.
„Nein.“ knurrte Asuka.
Trotzdem hielt sie den Plan einfach für bescheuert.
Und daß Misato ständig versuchte, sie zu bemuttern, machte es auch nicht einfacher... Misato
war nicht ihre Mutter, ihre Mutter war tot, ihre Pflegemutter lag im Sterben auf der anderen
Seite der Welt und ihre Stiefmutter konnte ihretwegen tot umfallen...
Nein, noch eine Mutter brauchte sie wirklich nicht, alles was sie brauchte, war EVA-02, im
EntryPlug fühlte sie sich sicher und geborgen. EVA-02 würde sie nie im Stich lassen...
Der Engel näherte sich...
*** NGE ***
Der taktische Bildschirm zeigte den Abstieg des Engels.
Rei ließ den Blick von dem Schirm, wartete nur auf das Startsignal.
Sie konnte die geringe Wahrscheinlichkeit des Gelingens des Planes in etwa im Kopf
berechnen, aber wenn es der Plan war, für den die Führungsspitze von NERV sich
entschieden hatte, um den Engel aufzuhalten, war es mit Sicherheit jener, der den größten
Erfolg versprach.
Mittlerweile waren die Bewohner der Stadt in die Bunker evakuiert worden, so daß sie nicht
befürchten mußten, jemanden plattzuwalzen, wenn sie losrannten... und es würde auch keine
Unfälle geben wie bei Suzuhara-kuns Schwester... Shinji-kun hatte ihr von Mari Suzuhara
berichtet... und seinen Schuldgefühlen...
Aus den Tiefen des EVA-Bewußtseins stieg ein Gefühl von Hunger auf.
Der Engel mußte nahe genug herangekommen sein, daß EVA-00 ihn wahrnehmen konnte,
aber noch war es kein Problem, noch verspürte sie nicht den unerträglichen Blutdurst und den
Drang zu zerstören...
*** NGE ***
Shinji hockte hinter der Steuerung seines EVAs und wartete.
Asuka war verdächtig ruhig... ob sie etwas plante? Ihr war es durchaus zuzutrauen, daß sie
versuchte, den Engel allein aufzuhalten...
Und Rei... Rei-chan... sie war die Konzentration in Person...
Wenn es ihnen nicht gelang, den Engel zu stoppen, würde er die ganze Stadt einschließlich
der darunterliegenden Geofront vernichten... eigentlich hatten noch nie derart viele Leben auf
einmal von ihrem Einsatz abgehangen... andererseits hing der Fortbestand der Menschheit von
ihrem Sieg ab...
Er spürte den Hunger in sich aufsteigen... nein... nicht in sich... es war der Hunger des
EVAs... dann folgten der Zorn und der Haß...
Das konnte nur bedeuten, daß der Engel in Reichweite war...
Der taktische Bildschirm zeigte den voraussichtlichen Aufschlagpunkt.
„Sektor B-2! Stromversorgung wird ausgeklinkt!“ rief Misato. „Start!“
Die drei EVAs rannten los.
Jeder der drei Piloten spürte den Haß, den der jeweilige EVANGELION ausstrahlte, jeder von
ihnen hörte den Lockruf des Blutes, vernahm das stete Pulsieren des Kerns des Engels...
Zerstören...
Vernichten...
Der Hunger trieb sie voran, ließ sie regelrecht dahinrasen...
Töten...
Shinji stemmte sich gegen den dunklen Drang.
Er mußte sich konzentrieren... sie sollten den Engel auffangen... wenn er den EVA nicht unter
Kontrolle behielt, würde er sich stattdessen auf den Gegner stürzen, um ihn zu zerreißen, egal,
ob dabei die Stadt vielleicht zerstört wurde...
Er sah den Engel, ein rasch größer werdender Punkt am Himmel...
Zerreißen...
Er mußte durchhalten, durfte nicht die Kontrolle verlieren...
Im Laufen zog er das PROG-Messer aus der Schulterpanzerung.
Der taktische Schirm zeigte schematisch, wo sich das Herz des Engels befand... im Inneren
des zentralen Auges...
Das Messer mußte in sein Herz... nur noch daran denken... ins Herz... Kontrolle...
Er biß sich auf die Zunge, hatte kurzfristig den Kopf klar.
Der Engel...
*** NGE ***
„Aufschlag... jetzt!“ rief Ritsuko.
Misato hielt den Atem an, kniff die Augen zu.
Entweder die drei schafften es, oder gleich war alles aus...
Der große Monitor zeigte eine grelle Explosion.
Misato blinzelte.
Sie waren noch da...
„Ritsuko...?“
Akagi sah über die Schulter.
„Ziel: Sahakiel zerstört.“
„Die EVAs?“
„Ihre AT-Felder haben die Explosion eingedämmt. Schäden diesseits der Hayflick-Grenze.“
„Die Piloten, Ritsuko, was ist mit den Kindern?“
Maya meldete sich über InterKom.
„Lebenszeichen der Piloten sind stabil.“
„Danke, Maya. - Ich gehe nach oben.“
Misato verließ die Zentrale, fuhr mit dem Aufzug an die Oberfläche.
*** NGE ***
Kaji war bereits vor Ort, neben ihm stand Asuka, ein Handtuch um die Schultern und einen
wütenden Ausdruck im Gesicht.
Misato kam hinzu.
„Kaji, wo sind Shinji und Rei?“
„Da drüber, Katsuragi.“
Er deutete in die Richtung, in die Asuka wütend starrte.
„Oh...“
Misato mußte zweimal hinsehen.
Dort standen die beiden tatsächlich engumschlungen.
„Müssen die das in aller Öffentlichkeit machen? Das ist sowas von obszön!“ brummte Asuka.
Kaji lachte.
„Ich nenne das Streßabbau.“
„So, Kaji? Ich habe im Augenblick auch jeden Streß...“
Sie klimperte mit den Wimpern.
Kaji klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
„Das wird schon wieder, Asuka.“
Sie blickte ihn finster an.
Misato ging zu Shinji und Rei hinüber.
„Na, ihr beiden...“
Die beiden angesprochenen fuhren auseinander, blieben aber nahe genug zueinander stehen,
um einander den Arm um die Taille zu legen.
„Auftrag ausgeführt, Major.“ meldete Rei.
Shinji nickte enthusiastisch.
„Könnt ihr mir erklären, was ihr da macht?“
„Uh... Misato...“
Katsuragi seufzte.
„Das war eigentlich vorauszusehen... seid vorsichtig...“
„Major, ich kann Ihnen versichern, daß nichts geschehen ist oder geschehen wird, das meine
Einsatzfähigkeit einschränken könnte.“
Shinji zuckte zusammen.
Wie meinte Rei-chan das nur...
Kapitel 30 - Ferienzeit
Misato stand gewaltig unter Streß.
Und das war noch eine ziemliche Untertreibung...
Die Aufräumarbeiten in der Stadt hatten sich bis zum Abend hingezogen. Shinji und Rei hatte
sie heimgeschickt, doch Asuka hatte darauf bestanden, vor Ort zu bleiben und wie eine Klette
an Kaji zu hängen, aber das hatte Misato sich bemüht zu übersehen. Kaji jedenfalls gab sich
alle Mühe, Asuka bei Laune zu halten, ohne auf ihre Annäherungsversuche einzugehen, oder
auch nur im entferntesten eine kompromittierende Situation zu riskieren.
Daheim hatte Misato sich den ganzen Abend Asukas Gemecker anhören müssen, weshalb
Kaji sie nicht hinreichend beachtete, weshalb niemand ihr die Anerkennung für ihren Teil bei
der Bekämpfung der Engel zukommen ließ, warum Weichei und Wondergirl - Shinji und Rei,
wie Misato sie immer wieder korrigiert hatte - solche Narrenfreiheit besaßen und wie sehr die
beiden doch alles in Gefahr brachten, weil sie sicher nur daran dachten, es miteinander zu tun
wie die Karnickel... an diesem Punkt hatte Misato geistig abgeschaltet und ihr Bier auf ex
leergetrunken, die ganze Palette...
Daß nachts um drei sowohl ihr Pieper, ihr Handy und das Telephon losgingen, war schon
schlimm genug - wenn sie schlief, dann schlief sie und brauchte auch wenigstens sechs
Stunden Schlaf am Stück -, daß sie allerdings einen derart dicken Kopf hatte, daß sie
befürchtete, nicht durch die Tür zu kommen, war noch übler, aber daß das Klingeln auch
Asuka aufweckte, welche sodann gleich wieder zu zetern begann, setzte dem ganzen die
Krone auf.
Drei Uhr morgens...!
Und sie sollte sofort ins Hauptquartier kommen, umgehend.
Also kein Nachfüllen ihres Alkoholpegels, um den Kater etwas abzumildern. Und Autofahren
war in ihrer Verfassung auch nicht drin.
In der Straßenbahn belästigte sie ein älterer Mann, dem sie kurzerhand ihre Dienstwaffe unter
die Nase hielt und ihn an der nächsten Station dann mit einem kräftigen Tritt nach draußen
beförderte.
Doch der wahre Streß fing erst an, als sie in der Zentrale ankam und sofort die Friedhofsstille
wahrnahm, die herrschte.
„Also, was gibt es?“ fragte sie laut, bereute es im nächsten Moment schon, schienen sich ihre
Kopfschmerzen doch um den Faktor zehn zu vergrößern. Ihre Frage war hauptsächlich an den
Leiter der Nachtschicht gerichtet, in diesem Fall Makoto Hyuga.
Ritsuko Akagi betrat die Zentrale, dunkle Ringe unter den Augen und verhalten gähnend, kurz
darauf traf auch Kaji ein, dessen Jackett aussah, als hätte er darin geschlafen.
Kozo Fuyutsuki erschien oben im Kommandostand, wirkte seltsam steif, als hätte er einen
Gehstock verschluckt. Der Grund für sein Verhalten wurde gleich darauf ersichtlich, als
Gendo Ikari den Platz hinter seinem Tisch einnahm.
Der Kommandant war zurück...
Misato unterdrückte ein Seufzen.
Warum hatte der ältere Ikari nicht noch ein wenig fortbleiben können... ohne ihn lief doch im
Hauptquartier alles wie geschmiert, während seine Anwesenheit nur dafür sorgte, daß alle
eingeschüchtert durch die Gänge schlichen...
„Schlechte Nachrichten“, begann Fuyutsuki, während Ikari einfach nur seine Hände faltete
und auf sie hinabstarrte, als wäre die Brückencrew nur eine Ansammlung lästiger Insekten.
„Wir haben den Kontakt mit der NERV-Zweigstelle Nordamerika vor zwanzig Minuten
verloren. Die gesamte Region scheint von einem elektromagnetischen Impuls getroffen
worden zu sein, der jede Art von Elektronik lahmgelegt hat. Allerdings haben wir vor
wenigen Minuten die ersten Bilder von Aufklärungsflugzeugen und Wettersatelliten
erhalten...“
Der Hauptmonitor erhellte sich, zeigte... nichts!
Da war nur eine große Mulde, in welche langsam Meerwasser hineinschwappte.
Der NERV-Stützpunkt allerdings war spurlos verschwunden.
Misato wechselte einen Blick mit Ritsuko, ehe diese ihren Platz an ihrem Terminal bezog,
sich bemühend, nicht zu Gendo hinaufzustarren.
„Ich habe auch ersteinmal nachgefragt... aber es ist die korrekte Region. In diesem
Augenblick sind Spezialeinheiten der US-Armee vor Ort und stellen Untersuchungen an.“
„Mögliche Ursachen?“ fragte Misato. „In der US-Zweigstelle wurde mit dem synthetisierten
S2-Organ experimentiert, oder?“
„Heute war der erste Testlauf“, bestätigte Ritsuko. „Ich überprüfe die Protokolle, welche von
MAGI-System Nummer drei übermittelt wurden... demnach verlief der Aktivierungstest von
EVA-04 zufriedenstellend... sehr hohe Synchronwerte zwischen EVA und Piloten... und dann
plötzlich Abbruch der Übertragung.“
„Wir haben mittlerweile auch Satellitenaufzeichnungen der letzten Sekunden.“ erklärte
Hyuga.
Das Bild auf dem Schirm veränderte sich, zeigte dieselbe Region, den gleichen
Küstenabschnitt, nur zeigte es auch zahlreiche Gebäude, Hallen, den Test-Parcour für EVA04... und dann legte sich plötzlich ein Schatten über das Bild...
Es folgte Schneegestöber auf dem Bildschirm, als die Aufzeichnung abbrach.
„Ein Angriff“, folgerte Misato.
„Aber womit?“ warf Kaji ein. „Es sieht fast aus, als wäre die Zweigstelle einfach ausgegraben
und fortgetragen worden.
„Ein Engel?“
„Beobachter melden, daß sie keine Explosion oder Anzeichen irgendeiner Waffenentfaltung
wahrgenommen haben. Und die anderen MAGI-Systeme haben nichts auffälliges bemerkt.“
„Reichen die Sensoren der MAGI denn soweit, Ritsuko?“
„Bisher waren wir der Ansicht, durch die strategische Verteilung von MAGI-Systemen über
den ganzen Erdball ein recht zuverlässiges Netz für die Ortung und Erkennung von Blauen
Mustern geschaffen zu haben. Entweder hat das Netz versagt, oder der Feind war einfach zu
schnell.“
„Oder Sabotage.“ murmelte Kaji.
Oben in seinem Kommandostand fixierte Ikari den Leiter der Planungsabteilung.
*** NGE ***
An diesem Morgen erwachte Shinji vor Rei, auch wenn es nur reiner Zufall war.
Sie lag halb auf ihm, ihre beider Beine waren ineinander verhakt, ihr flacher stetiger Atem
fuhr über seine Wange.
Ein ganze Weile musterte er sie, sein Blick wanderte von ihren geschlossenen Augen über ihr
friedliches Gesicht zu ihren leicht geöffneten Lippen, dann ihren Hals entlang und weiter über
ihren Körper.
Doktor Akagi hatte für heute wieder eine neue Testreihe angesetzt, bei der alle drei Piloten
anwesend sein sollten.
Ihm graute davor, vielleicht zu einem Kreuztest in Asukas Plug steigen zu müssen, ebenso
wie er Übelkeit bei dem Gedanken verspürte, die Rothaarige könnte seine Erinnerungen
sehen, welche in seinem EntryPlug schemenhaft zurückgeblieben waren. Sicher waren ihre
Erinnerungen voller Gewalt und Grausamkeit...
Viel lieber wäre er den ganzen Tag im Bett geblieben und hätte Rei-chan im Arm gehalten...
Ihm ging nur nicht ihre Erklärung aus dem Kopf, es würde zu keiner Situation kommen,
welche ihre Einsatzfähigkeit beeinträchtigen würde... und diese Erklärung war im
Zusammenhang mit ihrer Beziehung gefallen... was meinte sie nur damit? Misato hatte auf die
Gefahr einer Schwangerschaft angespielt... aber wie hatte Rei ihre Worte bloß gemeint...?
Sollte er sie vielleicht fragen? Aber das konnte sie falsch verstehen, konnte glauben, er wolle
mit ihr intim werden... nicht, daß er das nicht wollte, aber irgendwie erschien ihm der
Zeitpunkt nicht richtig...
Ganz vorsichtig beugte er sich vor und küßte ihre Nasenspitze, blies ihr dann sacht übers Ohr.
Rei reagierte darauf, indem sie ihn fester umarmte und sich gegen ihn kuschelte.
*** NGE ***
Drei Piloten, zwei Geschlechter, eine Umkleidekabine... das konnte ja nur zu Problemen
führen...
So dachte Shinji jedenfalls, als er auf seiner Seite der Trennwand auf der Bank hockte und die
beiden Schemen beobachtete, die sich auf der anderen Seite bewegten.
Asuka verhielt sich wieder unausstehlich - sie hatte ja auch keinen Grund mehr, ihnen
irgendwas vorzuspielen. Mit den vulgärsten Ausdrücken brachte sie ihre Vermutungen vor,
was die beiden anderen Piloten wohl so trieben, wenn sie ungestört waren, sagte Rei Dinge
auf den Kopf zu, an die Shinji in seinen kühnsten Träumen nicht zu denken gewagt hätte.
Mehr als einmal war er bereits halb aufgestanden, um um die Trennwand herumzutreten, sank
dann aber wieder zurück.
Warum bloß hatte Misato sie angewiesen, in der Umkleidekabine zu warten? Genausogut
hätte sie sie in ein mit Piranhas gefülltes Becken stoßen können...
Und was Asuka gerade auf der anderen Seite beschrieb, trieb Shinji endgültig die
Schamesröte ins Gesicht. Daß sie alle unbekleidet waren, weil Doktor Akagi ihre Tests ohne
die störenden Interferenzen der PlugSuits durchführen wollte, machte es alles andere als
einfacher... durch Asukas Worte war seine Phantasie inzwischen derart angeregt, daß
wahrscheinlich eine stundenlange eiskalte Dusche nötig war, um ihn zu beruhigen...
Wie konnte Rei-chan dabei nur so ruhig bleiben? Jedenfalls hatte sie bisher nichts gesagt, saß
einfach nur ihm gegenüber auf der Bank, während Asuka am Wandschirm entlang hin- und
herlief, so daß ihre wippenden Brüste mehr als nur schemenhaft zu erkennen waren.
Es knackte in den Lautsprechern unter der Decke.
„Wir sind soweit. Kommt bitte einer nach dem anderen in den Hangar.“
Sofort begann Asuka zu lamentieren.
„Das geht doch nicht! Wir können doch nicht einfach so über den Korridor gehen...“
„Der Bereich ist abgesperrt, wir haben auch die Sicherheitskameras abgeschaltet“, fuhr Akagi
ihr in die Parade und bewies damit, daß sie durchaus imstande war, die Gespräche in der
Umkleidekabine mitzuhören. „Ich wußte gar nicht, wie ausgeprägt dein Wortschatz ist,
Asuka, hoffentlich hast du deine beiden Kollegen nicht noch auf Ideen gebracht.“
Asuka war sprachlos, stand nur da und stemmte die Hände in die Hüften.
„Rei, du zuerst.“
„Bestätigt.“
Shinji verfolgte, wie Rei sich erhob, nur ein Schatten, den er durch den Wandschirm sehen
konnte, einen Herzschlag lang erhaschte er einen Blick auf ihre nackte Rückseite, als sie die
Kabine verließ.
„Jetzt Asuka.“
Die Rothaarige gab ein „Grrumpf“ von sich und setzte sich in Bewegung.
Shinji reagierte panisch, der Anblick ihrer drallen Po-Backen war wirklich zuviel für ihn.
„Shinji, jetzt du.“
„Ahm, ich...“
Ob Doktor Akagi ihm eine Auszeit für eine kalte Dusche gewähren würde?
„Los, los!“
Wohl nicht...
Er stand auf, die Hände gegen seinen Unterleib gepreßt.
Hoffentlich sah ihn wirklich nicht jemand...
Er verließ die Kabine und trat über den Gang, eilte über einen Steg und kletterte umständlich
in die Steuerkapsel, die über Einheit-01 hing.
*** NGE ***
„So, dann wollen wir mal...“ murmelte Ritsuko.
„War es wirklich nötig, die drei nackt über den Flur zu jagen?“ fragte Misato.
„Die PlugSuits verursachen eine winzige Ungenauigkeit. Die Tests, die ich heute durchführen
will, sind sehr detailliert... Hm, Asukas Wortschatz hat mich sehr überrascht...“
„Ja, unter den Dingen, die sie aufgezählt hat, sind ein paar, die ich selbst nicht ausprobieren
würde.“
„Wirklich?!“
„Ritsuko!“
„Seinen Vitalzeichen nach befindet Shinji sich in einem Zustand starker Erregung. Kein
Wunder nach dem, was Asuka da erzählt hat... Spitz wie ein Eichhörnchen.“
„Vielleicht liegt es auch daran, daß er gleich mit zwei nackten Mädchen in einer Kabine war.“
„Ja, vielleicht.“
„Warum gibt es eigentlich nur eine Umkleidekabine für die Piloten? Platz genug haben wir
doch.“
„Frag´ Gendo...“
„Wie?“
„Ach, nichts... Solange Asuka noch nicht hier war, hat sich niemand daran gestört. Aber sie
plärrt mir ständig die Ohren voll. Ich glaube, sie will ihre eigene Kabine, am besten noch mit
Namensschild und eigenem Friseur.“
„Ja - Kaji!“
„Oh je, du hast recht, Misato, sie ist wirklich auf ihn fixiert.“
„Ja, furchtbar.“
„Du kannst ihn nicht vergessen, oder?“
„Hm... die Zeit mit ihm ist schon lange vorbei...“
„Ja... ah, ob Asuka wohl recht hat?“
„Womit?“
„Naja, mit Shinji und Rei, ob die beiden...“
„Ritsuko, wenn ich mir darüber auch noch den Kopf zerbrechen würde... wir haben
zugelassen, daß die beiden zusammenziehen...“
„Sieh dir diese Werte an!“
„Was meinst du?“
„Hier, hier und hier... die Synchronratios von Rei und Shinji... und hier die Wellenmuster... es
ist, wie ich es mir gedacht habe...“
„Ritsuko, bist du sicher, daß du die beiden unter Beobachtung hast? Für mich sehen die Werte
völlig identisch aus.“
„Das ist es doch... Misato, die beiden sind völlig synchron!“
„Das heißt...?“
„Die beiden sind ein perfekt aufeinander eingespieltes Team! Zwei Körper, ein Geist... oder
zumindest in der Theorie. Deshalb auch die kontinuierliche Angleichung ihrer Werte. Nur
Asuka tanzt völlig aus der Reihe, das Mädchen scheint ein paar richtige Probleme zu haben.“
„Das kannst du laut sagen.“
„Ach?“
„Du kennst ihre Akte, oder?“
„So... dann hat Kaji es dir erzählt...“
„Ja. Asuka ist psychisch völlig instabil, sie neigt zu Wutausbrüchen und Gewalt. Ich würde
sie am liebsten aus dem Team nehmen und in psychiatrische Behandlung geben.“
„Geht nicht. Anweisung vom Kommandanten - Pilotin Soryu ist festes Mitglied des Teams.“
„Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich hier gar nichts mehr zu sagen.“
„Hast du auch nicht... das hat hier niemand von uns... wir tanzen alle an den Strängen eines
einzelnen Puppenspielers...“
„Gendo Ikari...“
„Genau. Kaum hat er sich wieder in der Öffentlichkeit gezeigt, scheint alles um einiges
düsterer. Aoba ist deprimiert, Fuyutsuki rennt herum, als hätte er einen Stock verschluckt, und
Maya sucht nach jeder möglichen Ausrede, um die Zentrale nicht betreten zu müssen.“
„Ja... eigentlich ist es kaum zu glauben, daß Shinji sein Sohn ist... die beiden sind so
grundverschieden...“
„Ich schätze, er schlägt mehr nach seiner Mutter.“
„Ja, wahrscheinlich.“
„Sein Synchronwert hat sich verbessert...“
Ritsuko stand auf und korrigierte die aktuellen Werte auf der Tafel neben der Tür.
„Er ist in Führung gegangen?“
„Ja, Asukas Werte waren immer recht statisch, Shinji hat sie um null komma drei Punkte
überholt... also wird Rei bald aufschließen. Unsere Piloten sind inzwischen wirklich
einsatzfähig... andernfalls hätten sie den letzten Engel auch kaum aufhalten können.“
„Wer von uns überbringt ihm die Nachricht?“
Ritsuko grinste und schaltete eine Verbindung zu den EntryPlugs.
*** NGE ***
Die Tests zogen sich noch über den ganzen Tag hin, gegen Abend entließ Akagi die drei
schließlich, Shinji als ersten, gab ihm eine Viertelstunde, um sich fertigzumachen, ehe sie die
beiden Mädchen in die Umkleidekabine schickte.
Shinji nutzte die Zeit, um zu duschen und sich anzuziehen, traute sich dann aber nicht, die
Kabine zu verlassen aus Furcht, er könnte genau in dem Moment auf den Gang treten, in dem
auch Rei und Asuka in den Korridor kamen.
Als die beiden schließlich hereinkamen, konnte Asuka eine spitze Bemerkung nicht
unterlassen, daß Shinji doch nur spannen wollte.
„Shinji-kun ist der anständigste Mensch, den ich kenne“, erklärte Rei leise.
Shinji riß die Augen auf.
War er das...?
„Ach, du kannst ja doch sprechen!“
Asuka stampfte in den Duschraum.
Shinji nutzte die Chance und eilte zur Tür.
„Ah, ich warte am Haupteingang auf dich, Rei...“
„Ja, Shinji-kun.“ erwiderte sie.
Unwillkürlich warf er einen Blick zurück über die Schulter und sah sie in ihrer vollen Pracht.
„Urgh...“
Allein die Tatsache, daß das Hauptquartier nahezu völlig steril war, verhinderte, daß er eine
Staubwolke hinterließ.
Rei derweil folgte Asuka in den Duschraum, ehe das LCL auf ihrer Haut zu sehr verkrusten
konnte, gerade in den Haaren war es doch ein Ärgernis.
„Hat er dir schon gesagt, daß er dich liebt?“ fragte Asuka mit unterdrückter Aggression in der
Stimme.
„Ja.“
„Wirklich? So sind die Kerle... erzählen dir, wie sehr sie dich verehren und den ganzen Müll
und in Wirklichkeit wollen sie dich nur ins Bett zerren... aber das ist ihm ja schon gelungen...
wirst schon sehen, was du davon hast, Wondergirl, wirst schon sehen...“
Asuka lachte laut und kehlig.
Rei lief ein kalter Schauder über den Rücken.
Soryu war verrückt... anders konnte es gar nicht sein.
Und doch, was sie gesagt hatte...
*** NGE ***
Mit ihren scharlachroten Augen beobachtete Rei den schlafenden Shinji.
Soryus Worte...
Shinji hatte gesagt, daß er an sie glaubte, daß er ihr vertraute, daß er sie liebte...
Und sie vertraute ihm ebenfalls, erwiderte seine Gefühle...
Und doch... ein Hauch von Zweifel war da, ob er nicht nur ihr Äußeres liebte, ob er Liebe und
Begehren nicht verwechselte, ob es ihm nicht nur um eine körperliche Vereinigung ging...
aber er hatte nie derartiges versucht, für die Reaktionen seines Körpers konnte er nur bedingt
etwas... wie konnte sie nur sichergehen...
Vorsichtig wand sie sich aus seinen Armen... seltsam, sogar im Schlaf schien er darauf zu
achten, ihr nicht zu nahe zu treten und weder mit ihren primären noch ihren sekundären
Geschlechtsmerkmalen in Kontakt zu kommen...
Sie setzte sich auf, rutschte dann herum und kam schließlich auf seinen Oberschenkeln zum
Sitzen, genau wie vor wenigen Tagen im Park.
„Shinji-kun...“ flüsterte sie, bemühte sich, ihrer Stimme einen verführerischen Klang zu
geben.
Sie mußte es wissen...
„Hm?“
Seine Hände tasteten durch die Luft, wo sie gerade noch an seiner Seite gelegen hatte.
Dann schlug er die Augen auf, sah sie im schwachen Licht, welches durch das Fenster
hereinfiel, über sich.
„Rei-chan? Was ist?“
„Shinji-kun... ich möchte dich etwas fragen...“
Sie begann die Träger ihres BH zur Seite zu streifen.
„Uhm, Rei, was...“
„Dir ist sicher aufgefallen, daß Soryus Busen größer ist als meiner...“
Und damit schob sie den Stoff ihres BH nach unten, legte ihre Brüste frei.
„Ah... ah... Rei... ah...“
Das konnte doch nur ein Traum sein... ganz sicher träumte er noch... anderseits hatte er das
Gefühl, sich selbst völlig unter Kontrolle zu haben, nicht der Zuschauer zu sein, der er in
seinen Träumen häufig war...
Er setzte sich auf.
„Uhm, Rei... dein Busen ist... also... ah... ich meine...“
Was war nur in sie gefahren... und was in ihn? Das war doch eigentlich die Gelegenheit... aber
irgendetwas in ihm schien ihm zuzuflüstern, daß es falsch wäre, zu tun, was wahrscheinlich
jeder normale Mann getan hätte... ihr Busen war straff und wohlgeformt mit dunklen
Spitzen...
Er legte die Arme um sie, zog sie an sich heran.
In ihren Augen veränderte sich nichts...
Was war mit Rei-chan los?
„Rei... du bist...“
Er küßte ihren Mundwinkel, dann ihre Wange, ließ seine Lippen tiefer wandern, ihren Hals
entlang bis zum Ansatz ihrer Brüste, dann wieder hinauf.
„Du bist perfekt...“
Rei vereiste innerlich.
Perfekt... sah er sie so? Gewiß, es schmeichelte ihr, doch wenn er sich nur auf ihr Äußeres
bezog...
Dann spürte er seine Hände über ihre Brust wandern und Enttäuschung begann sich in ihr
auszubreiten... bis er den Stoff ihres BH mit spitzen Fingern zu fassen bekam und wieder nach
oben zog, sie wieder bedeckte, dann die Träger wieder an Ort und Stelle rückte.
„Shinji-kun...“
„Ich möchte nur mit dir zusammensein... ich glaube, die Zeit ist noch nicht reif für... mehr...“
Hatte er gespürt, daß sie nicht wirklich mit ihm hatte intim werden wollen?
Plötzlich schämte sie sich, ihn einem solchen Test unterworfen zu haben, ihn dieser
Versuchung ausgesetzt zu haben. Und zugleich verspürte sie Stolz auf ihren Shinji-kun, daß er
unwissentlich Asukas Vermutungen widerlegt hatte...
*** NGE ***
Im NERV-Hauptquartier wurden die zusätzlichen Rechnerkapazitäten in Betrieb genommen.
Und ein Wesen, das aus drei Teilen bestand, zusammen jedoch mehr war als die Summe
seiner Teile, dehnte sich sofort auf die weiteren Anlagen aus, erlangte dabei mehr und mehr
Bewußtheit...
Wer...?
Ich...
Wir...
Ich bin...
Wir sind...
Ich bin die MAGI...
Wir sind die MAGI...
Wir sind Akagi...
Wir sind Naoko Akagi...
Nach dieser Erkenntnis herrschte lange Zeit Stille im Äther.
Und dann...
Ich bin Naoko Akagi...
*** NGE ***
Ferienzeit...
Für die Piloten änderte sich eigentlich nicht viel, anstelle von Schule am Vormittag und
Synchronisationstraining und -tests am Nachmittag hatten sie halt jetzt an ihren jeweiligen
Tagen den ganzen Tag Training, wobei Doktor Akagi jeden Tag zum Arbeitstag deklarierte.
Das ganze lief darauf hinaus, daß sie sich jedem Piloten einen ganzen Tag lang widmete, jeder
also jeden dritten Tag an der Reihe war, wobei sie, nachdem jeder der Piloten das zweite Mal
drangewesen war, einen Tag mit Kreuztests ansetzte, dabei Asuka allerdings außenvorließ
und sich allein Shinji und Rei widmete. Nur sie, Misato und Maya wußten, daß Ritsuko
eigentlich das Verhalten der beiden Piloten näher erforschen wollte, vor allem wie es möglich
war, daß zwei Menschen eine Synchronverbindung zueinander entwickeln konnten.
„Hat sich ´was mit Ferien“, faßte Shinji die Lage mit einem Satz nach der ersten Woche
zusammen, auch wenn er keine Ahnung von Akagis Zielen hatte.
Eine gewisse Befriedigung verschaffte ihm die Tatsache, daß Asuka es gar nicht gut aufnahm,
daß er mittlerweile ein besseres Synchratio aufwies als sie und daß er seinen Vorsprung
inzwischen auf einen ganzen Punkt ausgebaut hatte, ebenso wie es ihr sichtlich mißfiel, daß
Rei ebenfalls in eine bedrohliche Nähe gerückt war.
Rei war wieder völlig normal, etwas derartiges wie in jener Nacht hatte sich nicht wiederholt,
so daß Shinji inzwischen glaubte, es nur geträumt zu haben - schließlich hätte wohl niemand,
der wach und bei klarem Verstand gewesen wäre, eine solche Gelegenheit einfach
ausgeschlagen, oder?
Die Kreuztests im Plug des jeweils anderen waren auch anders verlaufen, als beim ersten Mal,
Shinji hatte zwar wieder Erinnerungsbilder gesehen, sich aber nicht tiefergehend mit ihnen
beschäftigt, sondern sich nur den sie begleitenden Gefühlen geöffnet, Gefühlen, die von
Wärme und Nähe kündeten.
An seinen freien Tagen kümmerte er sich um den Haushalt, kochte auf Vorrat, brachte die
Wohnung auf Hochglanz, wusch die Wäsche im nächsten Waschsalon und bemühte sich nach
Kräften, seinen Beitrag zu leisten, damit ihr Heim ihnen so angenehm und bequem wie
möglich war. Und er fand auch noch die Zeit, wie versprochen bei Tojis Schwester
vorbeizuschauen, die inzwischen mit ihrem Rollstuhl derart gut umgehen konnte, daß sie ihn
ständig zu Wettrennen im Krankenhausflur herausforderte. Ferner besuchte er Toji einmal an
dessen Arbeitsplatz, welcher in den Ferien jeden Tag ein paar Stunden in einem kleinen Lokal
kellnerte.
Kensuke hatte sich auch wieder von seinem Abend mit Asuka erholt und sah mittlerweile
ebenso grimmig aus der Wäsche, wenn der Name der Rothaarigen fiel, wie Toji und sogar
Hikari.
Während eines Gespräches mit Misato beichtete diese ihm, daß ihr Apartment schlimmer
aussah als an dem Tag, an dem er in Tokio-3 eingetroffen war, demnach rührte Asuka kaum
einen Finger. - Doch die Zeit, auch diesen Haushalt noch auf Vordermann zu bringen, hatte
Shinji wirklich nicht, auch wenn er die Option kurz andachte.
Dann, in der dritten Ferienwoche, geschah etwas, das sich als richtungsweisend für die
Zukunft herausstellen sollte:
Es gab einige Dinge über Rei, die Shinji nur zu gerne gewußt hätte, die er sich aber nicht zu
fragen traute, eines davon war ihr Geburtstag. Jetzt wohnte er schon seit Monaten mit ihr
zusammen, aß mit ihr an einem Tisch und schlief im gleichen Bett, doch er wußte immer noch
nicht einmal, wann sie geboren worden war. Wie peinlich wäre es gewesen, sie zu fragen und
zu erfahren, daß ihr Geburtstag in der Zeit gewesen war, die er bereits bei ihr wohnte... oder
schlimmer noch, daß es genau der Tag war, an dem er sie fragte... Misato allerdings mußte es
eigentlich wissen, dann konnte er ihr vielleicht nachträglich noch etwas schenken oder auch
Vorbereitungen treffen, um mit Rei-chan zu feiern...
So begab er sich auf die Suche nach ihrem Büro, nachdem Doktor Akagi ihn vom Training
entlassen hatte. Die Chefwissenschaftlerin hatte ihm noch die Zimmernummer genannt und
die etwaige Richtung gewiesen, hatte aber nicht die Zeit, ihn ein Stück zu begleiten. Daher
marschierte Shinji allein durch das Labyrinth von Korridoren, von denen einige hoch und
breit genug waren, daß zwei EVAs nebeneinander hätten gehen können.
Zweimal kam er zu dem Schluß, im Kreis gegangen zu sein, einmal glaubte er, Misatos Büro
müßte gleich hinter der nächsten Ecke liegen, da die Zimmernummern neben den Türen
darauf hindeuteten, mußte dann aber feststellen, daß er stattdessen in einen ganz anderen
Trakt hineingelaufen war, so daß sein Marschtempo mit der Zeit zu einem Schleichen wurde
und er sich immer öfter fragte, welcher Idiot von Architekt das Hauptquartier geplant hatte. Daß der Grundriß auf seinen Vater zurückging, wußte er ja nicht, aber das hätte ihn wohl
nicht dazu veranlaßt, sein Urteil zurückzunehmen...
Schließlich kam er zu dem Schluß, daß er sich völlig verlaufen hatte. Von da an hielt er nur
noch Ausschau nach anderen Personen, die er nach dem Weg fragen konnte. Nur war der
Bereich, in dem er sich aufhielt, menschenleer.
Dann hörte er Schritte, folgte ihnen, erspähte schließlich Misato, die vor ihm gerade um eine
Ecke verschwand.
Gottseidank!
Er ging schneller, um sie einzuholen, doch als er um die Ecke bog, lag ein leeres Gangstück
vor ihm.
Shinji hörte ein Klicken, wie von einer Tür, deren Schloß leise einrastete.
Dort vorn...
Die Tür zu einem Lagerraum...
Was wollte Misato dort?
Ob sie sich vielleicht mit jemandem traf?
Prompt lief er rot an, als er darüber nachdachte, weshalb sie sich wohl mit jemandem in einem
Lagerraum in einem abgelegenen Sektor des Hauptquartiers treffen könnte. Soweit er die
Lage überblickte, hatten Misato und Kaji-san vor längerer Zeit eine Beziehung unterhalten,
die jedoch in die Brüche gegangen war, allerdings schienen die beiden sich wieder
nähergekommen zu sein, seit Kaji-san ebenfalls im Hauptquartier Dienst tat und die beiden
sich fast täglich über den Weg liefen.
Ob sie sich vielleicht mit ihm traf?
Langsam und zögerlich trat Shinji an die Tür heran, runzelte dann die Stirn, denn neben der
Tür befand sich ein Codeschloß, wie er es eigentlich nur von den Sicherheitszonen wie der
Zentrale oder dem Hangar her kannte. Und es war außer Funktion!
Befand sich vielleicht gar kein Lagerraum auf der anderen Seite, wie das Schild an der Tür
eigentlich verkündete?
Er öffnete die Tür.
Tatsächlich...
Statt der erwarteten Regale, Kisten und Behälter lag hinter der Tür ein abschüssiger langer
Gang, an dessen Ende sich eine Treppe befand. Und wenn er den schematischen Plan des
Hauptquartiers noch ausreichend im Kopf hatte, befand er sich bereits auf der untersten Ebene
des CentralDogmas, so daß die Treppe nur ins TerminalDogma unter dem Hauptquartier
führen konnte...
Es schien bereits eine Ewigkeit zurückzuliegen, daß er mit Rei-chan auf dem Dach der Schule
gestanden und sich über die möglichen Ziele der Engel unterhalten hatte, daß er zu der
Schlußfolgerung gekommen war, daß das, was sie suchten, sich vielleicht im TerminalDogma
befand, daß sie ihn davor gewarnt hatte, diese Dinge ruhen zu lassen, da er sich andernfalls in
Gefahr begab...
Shinji zögerte sehr lange, dachte lange darüber nach, was geschehen könnte... und stieg
schließlich die Treppe hinab...
*** NGE ***
Ryoji Kaji stand vor einem schweren Metallschott, laut der Plakette neben der Tür lag
dahinter die LCL-Fabrikationsanlage.
Mit fliegenden Fingern gab er eine lange Zahlenfolge in die Tastatur des Zahlenschlosses ein,
zog dann eine ID-Karte durch den dafür vorgesehenen Schlitz, unterdrückte ein Lächeln bei
dem Gedanken, daß das Sicherheitssystem ihn jetzt für Gendo Ikari hielt, der bequemerweise
die Überwachungssysteme so programmiert hatten, daß sie zwar so ziemlich alles und jeden
im Hauptquartier überwachten, aber nicht ihn...
Leise zog er das Metallschott auf.
Und dann spürte er den harten kalten Lauf einer Pistole im Nacken, hob langsam die Hände,
nachdem er seine Chancen abgewogen und sich dagegen entschieden hatte, nach seiner
eigenen Waffe zu greifen.
Der Waffenlauf wurde zurückgezogen.
„Warum hast du nicht wie verabredet auf mich gewartet?“ fragte Misato vorwurfsvoll.
Kaji grinste.
„Hi, Katsuragi-chan.“
„Hör auf mit dem Süßholzgeraspel! Wir wollten uns oben treffen.“
„Ja, ja, tut mir leid, ehrlich. Aber die Neugierde war stärker.“
„Das glaube ich dir sogar aufs Wort, Kaji. Für wen arbeitest du eigentlich wirklich? Das hier
bei NERV ist doch nur eine Tarnung. Also? Vielleicht das japanische Innenministerium?
Oder die Deutschen?“
„Nein, Katsuragi, viel weiter oben.“
„Weiter oben? Erzähl mir bloß nicht, du bist im Auftrag des Herrn unterwegs.“
„Nee, so gut bin ich nicht. - ODIN.“
„UN-Geheimdienst?“
„Yepp.“
„Warum spioniert die UN ihrer eigenen Tochterorganisation nach?“
„Weil NERV... weil Ikari zu mächtig wird. Und jetzt? Verpfeifst du mich?“
„Nein, Kaji...“
„Ikari weiß übrigens über mich Bescheid - glaube ich wenigstens. Vielleicht weiß er nicht,
wer mich geschickt hat, aber er viel zu kontrollbesessen, um nicht zu erkennen, daß ich ein
faules Ei in seinem Nest bin. Sorry, daß ich es dir nicht vorher gesagt habe.“
„Soll ich jetzt gerührt sein?“
Sie steckte die Waffe weg.
„Können wir jetzt endlich dazu kommen, weshalb wir hier sind?“
„Hm, du meinst sicher nicht, ob wir uns nicht in eine dunkle Ecke zurückziehen und ein
wenig...“
„Nein, meine ich nicht.“
„Okay.“
Und er öffnete die Tür vollends, gab den Blick in eine riesige Halle frei, gegen die der EVAHangar nur ein Einbauschrank war, eine gewaltige natürliche Höhle, die von Metallgerüsten
und -stegen durchzogen war, von deren Decke gewaltige Scheinwerfer herabstrahlten, deren
Boden größtenteils von einem See aus LCL bedeckt war, auf dem ein Kanonenboot schwam...
Das LCL tropfte als stetiger Strom aus den Wunden eines Wesens, dessen Beine unterhalb der
Hüfte abgetrennt worden waren, eines riesigen Wesens mit aufgedunsener bleicher Haut,
eines humanoiden Wesens von der Größe eines EVANGELIONs, dessen Gesicht sich hinter
einer Maske mit sieben Augen verbarg, eines Wesens, welches an ein überdimensionales
Kreuz genagelt worden war...
Der Geruch von Blut traf Misato wie ein Faustschlag, drehte ihr den Magen um.
„Oh, Mann... sag mir, daß das nicht wahr ist...“ flüsterte der Major.
Sie standen auf einem Steg in Brusthöhe des Giganten.
„Ist das vielleicht ein EVA? Eines von Ritsukos Geschöpfen, nur ohne Rüstung?“
„Nein, Katsuragi-chan. Das ist ein Engel.“
„Ein Engel...“
Misato schüttelte den Kopf.
Plötzlich ergab alles einen Sinn... jedenfalls teilweise...
„Das ist doch unmöglich...“
„Wenn meine Nachforschungen stimmen, dann ist das ADAM.“
„Der Erste Engel? - Hier? Ich wußte ja, daß man Ikari nicht unterschätzen darf, aber das hier
hätte ich ihm doch nicht zugetraut. ADAM, der Verursacher des Second Impact...“
Hinter ihnen fiel etwas zu Boden.
Misato und Kaji drehten sich um, wichen zugleich zur Seite aus, griffen nach ihren Waffen.
Doch es war nur Shinji, der in der Tür stand, der seine Tasche fallengelassen hatte und mit
großen Augen auf die bleiche Gestalt an dem Kreuz starrte.
„Shinji“, stieß Misato hervor. „Was in aller Welt machst du hier?“
Er wollte antworten, konnte es aber nicht. Sein Blick hing wie gebannt an dem Giganten, an
der Maske mit den sieben Augen.
Was hatte sein Vater nur mit diesem Wesen vor...
*** NGE ***
Misato hatte Shinji aus dem TerminalDogma herausgeführt, hatte sich eilig von Kaji
verabschiedet, welcher nicht den Eindruck machte, weitere Exkursionen vornehmen zu
wollen.
Jetzt saßen sie beide in Misatos Sportwagen, mit dem sie ihn heimfuhr.
„Shinji, du mußt vergessen, was du gesehen hast... zu deiner eigenen Sicherheit.“ sagte sie
tonlos gerade laut genug, um den Motor zu übertönen, zwischen zwei tiefen Atemzügen.
Langsam konnte sie den alles durchdringenden Blutgeruch aus ihrer Nase vertreiben.
„Ja“, erwiderte er ebenso tonlos.
Hatte Rei-chan ihn davor warnen wollen? Hatte sie ihn davor warnen wollen, daß er Dinge
sehen würde, die ihn um den Verstand bringen könnten?
„Was ist jetzt mit Kaji-san? Er hat es auch gesehen... Misato, ich verstehe zwar nicht alles,
aber du liebst ihn doch, oder?“
Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Ihr Gesicht blieb regungslos.
„Shinji-kun, die Liebe kann nicht alle Probleme lösen - leider. Aber du mußt vergessen,
verstehst du? Kein Wort... du mußt vergessen, was du dort unten gesehen hast.“
„Was war das für ein Wesen?“
„Shinji...“
Misato seufzte.
„Wenn Kaji recht hat, dann war es ADAM, der Erste Engel... Shinji, was weißt du über den
Second Impact?“
„Der Second Impact... uhm... eine gewaltige Katastrophe, bei der unzählige Menschen
starben... ahm... ausgelöst durch einen Meteoriteneinschlag am Südpol.“
„Das entspricht leider nicht der Wahrheit. In Wirklichkeit haben mein Vater und ADAM den
Second Impact ausgelöst.“
In ihrer ansonsten monotonen, müden Stimme schwang ein Hauch von Haß mit.
„Äh?“
„Mein Vater leitete im Jahre 2000 eine Expedition zum Südpol, welche dort einen Giganten
entdeckte, in dessen Brust ein langer Speer steckte... und wenn ich jetzt Gigant sage, dann
meine ich auch wirklich groß... ADAM... sie begannen zu experimentieren, entfernten
schließlich die Lanze aus seiner Brust... und erweckten ihn. Als Dank löschte er sie alle aus
und vernichtete die halbe Menschheit...“
„Ah... ah... das... das ist die Wahrheit?“
Shinji schluckte. Das war schwer zu glauben... doch irgendwie paßte es ins Bild...
„Ja. Ich war dabei. Ich habe als einzige überlebt...“
„Uh... das...“
„Das ist lange her. Jetzt wissen wir jedenfalls, weshalb uns die Engel angreifen.“
„Sie... uhm... sie wollen ADAM befreien...“
„Und sie wollen beenden, was er angefangen hat... Du mußt es vergessen, Shinji.“
„Wie kann ich das?“
„Ich weiß nicht.“
*** NGE ***
Während des Abendessens betrachtete Rei Shinji.
Shinji-kun aß, als ob er gar nicht bei der Sache wäre, wirkte abwesend und mit ganz anderen
Dingen beschäftigt. Sogar der Kuß, den er ihr nach seiner Ankunft gegeben hatte, war
irgendwie fahrig gewesen... und sonderlichen Appetit schien er auch nicht zu haben, stocherte
mehr in seinem Essen herum.
„Shinji-kun, was ist los mit dir?“ fragte sie besorgt.
„Nichts, Rei.“
Er sollte vergessen...
Doch wie sollte ihm das gelingen, wenn ihm das Bild des gekreuzigten Riesen ständig vor
Augen war, des Riesen ohne Beine, welcher stattdessen nur unregelmäßige Stümpfe besaß,
von denen noch Hautlappen herabhingen...
„Du wirkst so bedrückt.“
„Ja? Kann sein.“
Er sprach so tonlos...
Irgendetwas war vorgefallen...
Sie stand auf, ging um den Tisch herum und nahm ihn in die Arme.
„Was es auch ist, du kannst es mir erzählen.“
„Rei-chan... ich... ah... ich weiß nicht... ob... du hattest mich gewarnt...“
Sie hatte ihn gewarnt? Wovor sollte sie ihn gewarnt haben...
Er meinte doch nicht etwa...
„Das TerminalDogma...“ flüsterte sie und ließ ihn abrupt los, sah ihn mit aufgerissenen Augen
an. „Du warst im TerminalDogma...“
Was mochte er gesehen haben? Vielleicht den EVA-Friedhof? Oder die Gen-Schmiede? Doch
nicht etwa... nein... hoffentlich nicht den Tank mit ihren Schwestern... bitte, nicht den
Klontank...
„Ja. Ich habe ihn gesehen... den Engel... ADAM...“
„ADAM?“ fragte sie verwirrt.
„Den gekreuzigten Engel...“
Aber das war doch LILITH, ihre Mutter, das Wesen, aus deren DNA sie erschaffen worden
war... warum glaubte Shinji-kun, es handle sich um ADAM? Jedenfalls mußte der Anblick ihn
sehr getroffen haben... er kannte jetzt eines der Geheimnisse des Kommandanten, vielleicht
hatte er auch schon erkannt, was das LCL in Wirklichkeit war...
„Was hast du noch gesehen?“
„Nichts... nur den Engel...“
Sie atmete auf.
Er kannte ihr Geheimnis nicht, wußte nicht, daß es noch mehr Klone im Dogma gab,
seelenlose Geschöpfe, die nur innerhalb des LCL-Tanks überlebensfähig waren.
Rei räumte den Tisch ab, stellte das benutzte Geschirr in die Spüle.
Dann zog sie ihn in die Höhe und führte ihn in den größeren Nebenraum.
„Ich helfe dir, ihn zu vergessen, Shinji-kun.“
Damit nahm sie seine Hand in die ihre, plazierte seine andere Hand auf ihrer Hüfte und
begann eine langsame Melodie zu summen, zu der sie sich bewegte, ihn dazu brachte, ihr zu
folgen, bis sie durch den Raum tanzten und sich sein bedrückter Gesichtsausdruck langsam zu
lösen begann...
In der Nacht hielt sie ihn fest, während er im Schlaf lautlos weinte.
Was würde nur geschehen, wenn er die Wahrheit erfuhr? Die Wahrheit über den Engel, über
LILITH... und die Wahrheit über sie... sie wollte ihn nicht verlieren...
*** NGE ***
Am nächsten Tag verließ Rei nur unwillig die Wohnung, eigentlich wollte sie Shinji nicht
alleinlassen, der immer noch in Embryonalhaltung im Bett lag, wollte sich viel lieber um ihn
kümmern, doch sie hatte ihre Befehle und diese lauteten, pünktlich zu den Tests im
Hauptquartier zu erscheinen.
„Ich bin so schnell zurück wie möglich.“ sagte sie zum Abschied, doch Shinji reagierte nicht
auf ihre Worte. Schon an der Tür machte sie wieder kehrt, beugte sich über ihn und küßte ihn
auf die Stirn, dann ging sie schließlich.
*** NGE ***
Irgendwann gegen Mittag nahm Shinji seine Umgebung wieder wahr.
Die Erinnerung war nicht mehr so deutlich, das Entsetzen nicht mehr so stark.
Mitten im Raum stand Ryoji Kaji...
Shinji riß die Augen auf und fuhr in die Höhe.
Kaji-san stand tatsächlich mitten im Zimmer.
„Ka-Kaji-san, wie...“
Der Mann grinste.
„So ein einfaches Schloß stellt kein großes Hindernis für jemanden wie mich dar, Shinji. Ich
wollte nach dir sehen, und da niemand auf mein Klopfen geantwortet hat... tja, ´hoffe, du
vergibst mir, bin halt krankhaft neugierig.“
„Ahm...“
„Was meinst du, du ziehst dich an, spritzt dir etwas Wasser ins Gesicht und wir machen einen
kleinen Ausflug, hm? Ich will mich etwas mit dir unterhalten, aber wer weiß, wer hier
vielleicht mithört.“
„Uh... ahm, ja, Kaji-san, sofort...“
*** NGE ***
Kaji fuhr ein Cabrio älteren Baujahres, er hatte eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt
und ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen.
„Ich... ahm... ich erzähle keinem ´was wegen gestern...“ sagte Shinji.
Kaji nickte.
„Dafür wäre ich dir dankbar, gibt ein paar Leute, die ziemliche Probleme damit hätten zu
erfahren, daß wir in ihrem Allerheiligsten herumgestolpert sind.“
„Misato hat gesagt, ich solle vergessen.“
„Und? Klappt das, so auf Kommando? Hm, wohl nicht. Shinji, wir sind keine Maschinen, bei
denen man einfach den Gedächnisspeicher löschen kann, so läuft das bei uns Menschen
nicht.“
Shinji schwieg. Kaji-san hatte ja recht, so sehr er sich auch bemühte, er konnte die Bilder
einfach nicht aus seinem Kopf vertreiben.
„Ich finde es sogar gut, daß du es gesehen hast. Und du sollst noch mehr wissen... wenn du es
willst... ´denke, das hast du dir verdient, ein Recht auf die Wahrheit.“
„Ahm... ja, ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat...“ flüsterte Shinji leise.
„Okay. Was weißt du über NERV?“
„NERV... NERV bekämpft die Engel.“
„Ja, aber nicht nur.“
„Und NERV soll den Third Impact verhindern.“
„Auch. Und hast du dich bereits gefragt, weshalb die Engel immer nur in der Nähe des
Hauptquartiers auftauchen?“
„Ja... uh... es ist wegen ADAM, nicht wahr?“
„Ja. Es ist alles ein abgekartetes Spiel.“
„Wie meinen Sie das, Kaji-san?“
„Dein Vater weiß, was geschehen wird, verstehst du? Er hat es von Anfang an gewußt. Er
kennt sogar die Namen der Engel, die noch angreifen werden. Und wahrscheinlich hat er
sogar
den Second Impact mitverursacht... oder hat zumindest ein paar Voraussetzungen dafür
geschaffen, daß Professor Matsuo Katsuragi ADAM findet.“
„Aber, warum... warum das alles?“
„Schwer zu beantworten. Hinter NERV steht eine Gruppe namens SEELE, eine Organisation
von Machthabern, die schon lange die Geschicke der Welt lenken, Politiker, religiöse Führer,
Wirtschaftsmagnaten, Befehlshaber von Geheimdiensten... sie haben deinem Vater erst die
Macht gegeben, die zur Bildung von NERV nötig war, sie haben die Vereinten Nationen
soweit gebracht, daß sie NERV finanzierten. Und sie unterstützen NERV auch heute noch,
eine Gruppe alter Männer, die sich vor dem Tod fürchten... Ebenfalls wichtig sind die
Schriftrollen vom Toten Meer, welche SEELE im Besitz hat, rätselhafte Schriftstücke aus
längst vergangenen Zeiten, welche eine Art Zukunftsprophezeiung für die Menschheit
enthalten... Alles, was war... und alles, was noch sein wird... Und darauf aufbauend haben
dein Vater und SEELE einen Plan entwickelt, bei dem der Kampf gegen die Engel nur die
erste Phase ist... ich habe keine Ahnung, wer letztendlich wen benutzt, aber schlußendlich
wird dieser Kampf auf dem Rücken der EVA-Piloten ausgetragen - auf euren Rücken, Shinji.
Und deshalb erzähle ich dir das auch, weil du es dir zu erfahren verdient hast.“
„Wozu muß ich das wissen?“
Das interessierte ihn doch gar nicht... Machthaber im Schatten... Puppenspieler... uralte
Prophezeiungen... Pläne, die auf alten Schriften basierten... was sollte er damit?
„Es ist dein Recht und deine Pflicht. Denn du bist der Sohn von Yui Ikari, die die EVAs
erschaffen hat.“
„Mutter...“ flüsterte Shinji.
Warum mußte Kaji-san seine tote Mutter ins Gespräch bringen? Warum konnte er die
Vergangenheit nicht ruhen lassen, warum mußte er jetzt diese Erinnerungen wieder
ausgraben...
Die Erinnerungen an den Tag ihres Todes...
Seine Mutter, gekleidet in eine PlugSuit... wie sie noch einmal zurückblickt und ihn
anlächelt... seltsam, in seiner Erinnerung hatte seine Mutter Rei-chans Gesicht... wie sie die
Kapsel bestieg, in der er jetzt einen EntryPlug zu erkennen glaubte... und wie alles endete...
wie sein Vater, der eben noch neben ihm gestanden hatte, sich abwandte und ging... wie der
Plug plötzlich wie unter Zuckungen aufbrach und nur eine zähe Flüssigkeit ausspie...
Ein Beben ging durch Shinjis Körpers und er begann zu weinen.
Kaji fuhr an den Straßenrand, legte ihm tröstend den Arm um die Schultern.
„Du mußtest es wissen. Du darfst nicht vor der Wahrheit fliehen. Es ist leicht davonzulaufen,
ich weiß es, aber damit machst du dich nur zum Werkzeug deines Vaters.“
„Kaji-san, ich... die Wahrheit, das ist zuviel... ich habe noch nie so gelebt...“
„Dann wird dein Vater am Ende gewinnen, willst du das?“
„Nein...“
Ryoji Kaji nickte gedankenverloren.
„Seit Jahren bin ich dieser Sache auf der Spur... Ich wollte wissen, was die Gründe für den
Impact waren. Als ich erfuhr, daß kein Asteroideneinschlag dafür verantwortlich war, grub
ich weiter und weiter und weiter... Ich wollte... ich mußte wissen, warum das geschehen ist,
warum alle sterben mußten... Shinji, ich habe beim Second Impact fast meine ganze Familie
verloren, nur mein kleiner Bruder und ich waren noch übrig...“
Er sah Shinji nicht an, blickt zu Boden, während er sprach, so als befreie er sich zugleich von
einer Last.
„Wir wurden in ein Waisenhaus gebracht. Es gab damals viele Waisen, soviele Kinder ohne
Eltern... und viel zu wenig Waisenhausplätze und Personal, es gab kaum etwas zu Essen...
Mein Bruder und ich setzten uns schon bald ab, man suchte nicht einmal nach uns, zwei Esser
weniger, mehr für die anderen... Wir schlossen uns einer Jugendgang an, die in den Ruinen
von Osaka hauste... Nahrung holten wir aus einem Lager der Armee, wir drangen nachts
durch ein Loch im Zaun ein, schlichen uns in das Lagerhaus und versorgeten uns mit
Lebensmitteln... bis... Ich war dran, Nachschub zu holen. Es ging schief, ich wurde erwischt.
Fünf Soldaten, allesamt verlottert, aber die Waffen bestens in Schuß... sie verprügelten mich,
sagten, sie würden mich am Leben lassen, wenn ich die anderen verriet... ich wollte
dichthalten, aber irgendwann... da konnte ich nicht mehr... verriet das Versteck... einer von
ihnen blieb zurück, um mich zu bewachen, während die anderen vier abrückten. Ich erinnere
mich an ihre Gesichter, als wäre es gestern gewesen... da war ein Stein, ein runder schwerer
Stein, direkt neben mir. Ich ergriff ihn und schlug nach dem Soldaten... wahrscheinlich habe
ich ihm den Schädel eingeschlagen... und dann rannte ich zu unserem Versteck. Doch es war
schon zu spät... sie... sie hatten alle getötet... alle... auch meinen Bruder... ich war allein...“
Kaji blickte auf.
„Verstehst du? Deshalb muß ich wissen, warum es passiert ist. Um den einen Moment der
Schwäche zu sühnen. Um zu erfahren, warum mein Bruder sterben mußte... Und dazu
brauche ich deine Hilfe, sonst war alles umsonst, sonst bleiben die Toten ungesühnt, sonst war
alles umsonst...“
*** NGE ***
EVA-00 marschierte durch die Gänge des TerminalDogmas, in der Hand jenen Gegenstand,
den der Kommandant aus der Antarktis mitgebracht hatte, den Longinusspeer, jenes uralte
Artefakt aus einer Legierung, welche sich jeder Analyse entzog, das die Katsuragi-Expedition
in der Brust ADAM stecken gefunden hatte.
Es war eine Lanze mit einer Spitze, die sich teilte wie eine Forke. Eigentlich bestand der
Speer aus zwei miteinander verflochtenen Metallstangen.
Der EVANGELION erreichte die riesige Felsenhalle, in welcher der Engel gefangengehalten
wurde, gerade war LILITH eine neue Dosis an ruhigstellenden Medikamenten verabreicht
worden, nachdem die in den Wänden installierten Laser ihre im Laufe der letzten Stunden bis
zu den Knien regenerierten Beine wieder abgetrennt hatten. Das LCL floß reichlich...
Rei verspürte nichts beim Anblick des Giganten, kein Mitleid, keinen Haß, auch keine Liebe,
wie sie eine Tochter für ihre Mutter verspürte. Sie hatte einen Befehl erhalten, den es
auszuführen galt...
Der Engel war völlig ruhig, schien inaktiv zu sein, sprach nicht einmal den Blutdurst des
EVAs an, war viel zu schwach, als daß der EVA auch nur im entferntesten Anlaß hatte zu
glauben, sich an ihm nähren zu können...
EVA-00 hob die Lanze zum Stoß.
Die Pilotin visierte die Brust des Engels an, dort wo bei einem Menschen das Herz schlug,
stieß die Lanze mit aller Kraft hinein, wie es ihr der Kommandant über InterKom befohlen
hatte.
Der Engel reagiert nicht, zuckte weder, noch schrie er vor Schmerz.
In diesem Moment verspürte Rei etwas... - Bedauern...
So schnell sie konnte, verließ sie den Raum wieder, eilte durch die Gänge des Dogma zum
Endpunkt des Zentralen Schachtes, durch den sie wieder nach oben ins CentralDogma stieg.
Sie wollte fort, wollte soviel Distanz wie möglich zwischen sich und den Engel bringen,
wollte wieder ans Tageslicht... wollte zurück zu Shinji-kun...
*** NGE ***
In seinem Büro nahm Gendo Ikari Reis Vollzugsmeldung mit eiserner Miene zur Kenntnis,
schaltete dann einfach die Verbindung ab und widmete sich wieder dem Spielbrett auf seinem
Schreibtisch.
Er und Kozo Fuyutsuki spielen Go, den einzigen Zeitvertrieb, das einzige Hobby, welches
Ikari sich erlaubte, denn das Spiel schärfte seine Sinne. Nur war er im Augenblick am
Verlieren, ADAM meldete sich in immer kürzeren Abständen, auch wenn er inzwischen
imstande war, die tastenden geistigen Fühler des Engels abzublocken. Und die Droge, die er
benutzte, um ADAM ruhigzuhalten, stumpfte seine Sinne ab.
„Hast du SEELE über das Eindringen des Engels in die MAGI informiert?“
„Ich habe es als Unfall dargestellt... ein lästiger Computerfehler...“ brummte Ikari.
„Das werden sie nicht glauben.“
„Hauptsache, wir halten das Szenario ein, Fuyutsuki, damit stellen wir die alten Männer
zufrieden und lenken sie ab.“
„Und Kaji? Ein Spion in unseren eigenen Reihen könnte für Probleme sorgen.“
„Wir lassen ihn zappeln, er könnte noch nützlich werden, er weiß nichts, gar nichts. Ich halte
das für sehr amüsant.“
„So...“
Fuyutsuki setzte einen Stein, brachte Ikari damit in Schwierigkeiten, dessen ganze Strategie
zusammenbrach wie ein Kartenhaus.
Warum schien Ikari derart darauf bedacht, seine linke Hand unter der Tischplatte außer Sicht
zu halten...?
10. Zwischenspiel:
Irgendwo in der Dunkelheit...
„War das wirklich notwendig, Tabris? So viele Lilimleben... sie können in meinem Inneren
einfach nicht existieren...“
„Es gab keinen anderen Weg. Sie mußten aufgehalten werden, solange es möglich war.
Andernfalls wären sie mit ihren Waffen unaufhaltsam geworden und wir hätten auch die letzte
Gelegenheit verloren, unsere Mutter zu befreien.“
„Und dein Plan, kleiner Bruder?“
„Kann immer noch verwirklicht werden, Leriel, wenn ich mich auf dich verlassen kann.“
„Für Mutter bringe ich jedes Opfer, auch meine Existenz auf dieser Seite der Grenze.“
„Dazu sind wir alle bereit.“
„Ja. Bardiel, Arael und Armisael sind bereit, deinem Vorschlag zu folgen und Kontakt mit
den Lilim in den Kampfmaschinen aufzunehmen, welche nach unserem Vorbild geformt
wurden. Nur Zeruel besteht auf den Weg der Gewalt.“
„Aber damit sind schon so viele von uns gescheitert. Gaghiel ist nur noch ein Schatten
seinerselbst, er hat zuviel Kraft verloren während seines Kampfes. Iroul ist immer noch
gefangen im Labyrinth seines eigenen Geistes. Und Matriel, der wohl schwächste von uns, ist
zwar durch glückliche Umstände sehr weit gekommen, wurde dann aber einfach gestoppt.“
„Wir hätten von Beginn an zusammenarbeiten sollen, wir alle. Aber Zeruel ist der stärkste
von uns, damals wäre es ihm sogar fast gelungen, Vater aufzuhalten.“
„Nur fast. Wenn Mutter ihn nicht gebannt hätte...“
„Ja, Tabris. Vielleicht hat Zeruel Erfolg, vielleicht scheitert auch er.“
„Wir dürfen uns nicht davon beeinflussen lassen, was sein könnte, Bruder.“
Kapitel 31 - Im Schatten des Engels
Zum wiederholten Mal in den letzten Tagen studierte Misato die Aufnahmen, welche von der
Mulde gemacht worden waren, welche sich dort befand, wo zuvor die US-Zweigstelle von
NERV gewesen war.
Sie hatte die Photographien auf dem Boden von Ritsukos Büro ausgebreitet und hockte
daneben.
Akagi nahm die Okkupation ihres Arbeitszimmers mit säuerlicher Miene zur Kenntnis.
„Du solltest wirklich bei Gelegenheit einmal dein Büro aufräumen, dann müßte ich dir nicht
immer aushelfen. Und wenn du es selbst nicht schaffst, dann frag doch einfach Shinji, sobald
der das Chaos sieht, fängt er schon automatisch an, alles an Ort und Stelle zu räumen.“
„Ja, nur daß ich derart viele TopSecret-Unterlagen dort aufbewahre, daß ich danach erst mich
und dann ihn erschießen müßte. Außerdem ist dein Büro größer, Ritsuko.“
Misato nahm eines der Bilder in die Hand.
„Offiziell wurde NERV-US von einer Explosion zerstört... und als irgendjemand diese
Darstellung kritisierte, weil keine Trümmerstücke gefunden worden waren, hieß es plötzlich
Implosion...“
„Ich weiß - ich habe die bereinigte Fassung des wissenschaftlichen Berichtes an die UN selbst
verfaßt.“
„Wir wissen beide, daß das eine Lüge ist.“
„Ja, schon, aber mangels einer besseren Erklärung mußte es reichen. Und wenn ein Engel für
den Verlust der Anlage verantwortlich ist... willst du wirklich, daß die Staaten, welche NERV
finanzieren, anfangen zu befürchten, daß der Feind auch bei ihnen auftauchen könnte? Dann
drehen sie uns schneller den Geldhahn zu, als Ikari protestieren könnte. NERV hat nur dann
Bestand, wenn Tokio-3 weiterhin die Festungsstadt ist, die von den Engeln zuerst angegriffen
wird.“
„Natürlich, darauf läuft es doch immer hinaus - eine Ebene von Täuschungen nach der
anderen.“
„Tja...“
Akagi hob die Schultern.
„Egal... dieses Bild hier... das ist kein Explosionskrater, das ist einfach eine Mulde, so als
hätte jemand die Anlage einfach ausgegraben. Und hier - das sind Teile des Fundamentes...
die Kanten wirken laut Gutachten wie abgeschnitten, der Gutachter spricht von einem
Laserskalpell, verneint dies aber schon im nächsten Satz, weil die Schnittstelle nicht
verschweißt ist...“
„Das habe ich auch alles schon gelesen. Die MAGI haben keine Antwort parat, was für eine
Waffe zum Einsatz gekommen sein könnte. Alles, was wir haben, ist die Aufzeichnung, auf
der für einen Sekundenbruchteil ein großer Schatten zu sehen ist, der auf die Anlage fällt.
Aber selbst mit den zusätzlichen Rechenkapazitäten haben die MAGI einfach zuwenig Daten,
um ein Szenario auszuarbeiten.“
„Eine komplette Zweigstelle - einfach weg, Totalverlust... knapp zweihundert Menschen...“
„Und der EVA mit dem S2-Organ.“
„Der ist mir da im Vergleich eigentlich völlig egal, Ritsuko. Soetwas baust du ohne Probleme
nach.“
„Nicht, wenn es nach dem Komitee geht. Die sind nämlich der Ansicht, daß das S2-Organ
hochgegangen ist und an allem Schuld hat, weswegen sie weitere Experimente dieser Art
untersagt haben.“
„Und daran hältst du dich?“ fragte Misato lauernd.
„Muß ich wohl, jedenfalls hat Kommandant Ikari dem Komitee zugestimmt.“
„Also ist es plötzlich die Schuld der Wissenschaftler, daß sie tot sind?!“
„So gesehen - ja. Das S2-Organ hat offiziell NERV-US zerstört und damit muß niemand
befürchten, daß bei ihm plötzlich ein Engel vor der Haustür steht, der doch eigentlich hier bei
uns vorbeischauen sollte. Ganz einfach.“ sagte Akagi bitter.
„Du klingst nicht gerade so, als ob du von der Lösung begeistert bist.“
„Warum sollte ich auch? Es ist eine ganze Reihe kompetenter Fachkräfte verlorengegangen,
ein paar davon habe ich gekannt, mit einigen auch schon zusammengearbeitet. Und jetzt heißt
es einfach, sie hätten ihren Tod selbst verschuldet. Das macht mich krank. Anscheinend gibt
es nur einen Weg, NERV zu verlassen: Auf einer Bahre mit den Füßen voran.“
*** NGE ***
Shinji saß am Küchentisch, den Kopf auf den verschränkten Unterarmen, und wartete auf Rei,
während er über die Dinge nachdachte, von denen Kaji-san ihm erzählt hatte.
Seine Mutter hatte die EVAs gebaut... bisher hatte Shinji nur geglaubt, daß sie die erste
Testpilotin gewesen war, daß sie von seinem Vater dazu gezwungen worden war, den
EntryPlug zu betreten. Und nach Misatos Aussage war es doch Ritsuko Akagi gewesen,
welche die EVAs erschaffen hatte, stand das nicht im Widerspruch zueinander? Andererseits,
wenn seine Mutter vielleicht nur das Grundkonzept geliefert hatte... wenn die EVAs in ihrer
heutigen Form tatsächlich auf Doktor Akagis Arbeit zurückgingen...
Egal, wie er es drehte, er landete immer wieder bei seinem Vater, erinnerte sich immer wieder
an den Moment, in dem er sich von ihm abwandte, an dem er ihn verlor... aber hatte er ihn
eigentlich verloren? Verlieren konnte man doch nur etwas, das man zuvor schon gehabt
hatte... Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, daß sein Vater ihn jemals
angelächelt hatte, konnte sich nicht an ein einziges freundliches Wort erinnern... oder hatte er
das alles nur verdrängt, um ihn besser, um ihn uneingeschränkt hassen zu können? Dabei
wollte er ihn gar nicht hassen, in der Tiefe seines Herzens wollte er von ihm nur akzeptiert
und anerkannt werden... aber wie sollte das geschehen, wenn sie einander weder über den
Weg liefen, noch sein Vater über InterKom mit ihm sprach...
Shinji erinnerte sich an das letzte ´richtige´ Gespräch mit seinem Vater, damals auf dem
Gräberfeld am letzten Todestag seiner Mutter, ein gutes Vierteljahr bevor er nach Tokio-3
gekommen und von NERV zwangsrekrutiert worden war.
Sie hatten eine ganze Weile schweigend vor dem Grabpfeiler gestanden, einem von vielen,
der sich eigentlich in nichts von den anderen unterschied. Hätte Shinji nicht den Standort
schon lange verinnerlicht gehabt, hätte er die Grabstätte wahrscheinlich nicht erkannt.
Sein Vater hatte nicht den Eindruck gemacht, sich darüber zu freuen, ihn zu sehen. Auch
nicht, daß er Trauer oder Bedauern empfand, vielmehr hatte er gewirkt, als erfülle er eine
lästige Pflicht, etwas, das von ihm erwartet wurde...
Er hatte seinen Vater zögernd nach einem Bild seiner Mutter gefragt, doch nur die Antwort
erhalten, daß es keine Bilder mehr gebe, daß er alle nach ihrem Tod verbrannt habe...
Und dann war sein Vater einfach gegangen, hatte es einem seiner Untergebenen überlassen,
ihn zu seinen Pflegeeltern zurückzubringen...
Ja, er traute es seinem Vater durchaus zu, Mitschuld am Second Impact gehabt zu haben...
und er traute es ihm zu, seine eigene Frau, Shinjis Mutter, getötet zu haben...
Und in diesem Augenblick wurde ihm klar, daß er von seinem Vater Akzeptanz und
Anerkennung weder erwarten konnte, noch wirklich wollte...
Wenn er Rei-chan nur überreden könnte, mit ihm zusammen NERV zu verlassen... wenn er
sein Konto plünderte und dazu den Kreditrahmen, würde das sicher für eine Zugfahrkarte ans
andere Ende Japans reichen, oder vielleicht auch für zwei Plätze auf einem Flug zum
Festland, in der inneren Mongolei würde NERV sie vielleicht nicht finden...
Doch er wußte, daß ein solches Unterfangen schon im Ansatz scheitern würde, Rei-chan
würde die Mission nicht aufgeben... und er konnte den Menschen, die darauf bauten, daß die
EVAs sie gegen die Engel verteidigten, eigentlich auch nicht den Rücken zukehren... wie
hatte Kaji-san doch gesagt - er durfte nicht weglaufen, auch wenn dies der vielleicht
einfachste Weg war.
Wenn sein Vater etwas plante, das der Menschheit schaden würde, dann mußte er versuchen,
diese Pläne zu vereiteln...
Die Wohnungstür wurde geöffnet und wieder geschlossen.
„Shinji-kun?“
Rei-chan war zurück!
„Ich bin hier.“
Egal, was geschah, sie war wie ein Anker. Ohne sie hätte er sich wahrscheinlich für den
einfacheren Weg entschieden...
Rei kam in die Küche, stellte einen Beutel mit Einkäufen auf den Tisch, hauptsächlich
frisches Gemüse und etwas Obst, begann die Sachen einzuräumen.
„Ahm, Rei-chan, wie waren deine Tests?“
Sie zuckte kurz zusammen.
Shinji-kun konnte doch nicht wissen, das sie im TerminalDogma gewesen war und LILITH mit
dem Longinusspeer durchbohrt hatte...
„Das übliche“, antwortete sie knapp.
Am Boden der Tasche befanden sich ein paar Äpfel, sie nahm einen davon und wusch ihn ab,
hielt ihn dann Shinji hin.
„Möchtest du?“
Er nickte und nahm den Apfel entgegen.
Dabei erinnerte er sich an die Geschichte von Adam und Eva im Garten Eden.
Wer hatte sie ihm nur erzählt? Die Geschichte gehörte zum christlichen Mythos... wo und
wann hatte sie nur gehört?
Es war den beiden verboten gewesen, die Früchte eines speziellen Baumes zu essen, doch Eva
hatte sich über das Verbot hinweggesetzt und einen der Äpfel des Wissens mit Adam geteilt,
als Strafe hatten sie das Paradies verlassen und fortan auf Erden leben müssen...
Adam und Eva... sicher war es nur ein Zufall, daß der Engel im Dogma den Namen ADAM
trug, und ebenso, daß die EVANGELIONs auf die Bezeichnung EVA abgekürzt wurden... oder
war das vielleicht die Quelle, aus welcher sein Vater die Namen der Engel bezog?
Nachdenklich drehte er den Apfel in den Händen.
Ein ganz normaler Apfel...
Shinji biß hinein.
Natürlich geschah nichts.
„Rei, ich... uhm... wollte dich etwas fragen...“
„Was, Shinji-kun?“
Sie nahm ihm gegenüber Platz.
„Weißt du, ahm, ich wüßte gerne, wann dein Geburtstag ist... ich wollte eigentlich Misato
fragen, aber irgendwie... uhm... bin ich nicht dazu gekommen...“
Rei sah ihn nur an.
Ihr Geburtstag...
Wie sollte sie ihm darauf nur antworten?
´Das ist geheim´? - Nein, das würde nur weitere Fragen aufwerfen, das würde er nicht
verstehen...
Und welches Datum war eigentlich das zutreffende? Der Tag, an dem das Klonprojekt in
Angriff genommen worden war? Der Tag, an dem ihre Vorgängerin aktiviert worden war?
Der Tag, an dem dieser Körper den Klontank verlassen hatte?
So viele Möglichkeiten...
Jemand wie Suzuhara-kun hätte wahrscheinlich jeden dieser Tage genannt, um einen Grund
zum Feiern zu haben... oder auch nicht... aber was sollte sie nur Shinji-kun sagen... sie war
doch gar nicht geboren worden im Sinne des Wortes, sie war erschaffen worden, war aus der
DNA des Zweiten Engels erschaffen worden, hatte menschliche Form durch Beifügung
menschlicher DNA erhalten... und menschliche Gefühle...
Welches Datum... welcher Tag...
Und dann nannte sie ihm ein Datum... den Tag, an dem er nach Tokio-3 gekommen war, den
Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, den Tag, an dem er sie zum ersten Mal
in den Armen gehalten hatte, als er sie vor den herabfallenden Trümmerstücken der
Hangardecke hatte beschützen wollen...
Shinji schluckte.
„Uhm, wenn ich das eher gewußt hätte... das... ah...“
„Damals kannten wir uns noch nicht.“
Und trotzdem war ihr an diesem Tag ein sehr wertvolles Geschenk gemacht worden, ein
eigentlich völlig Fremder, der sie hatte beschützen wollen...
„Trotzdem... uh... ich meine... naja...“
Sie lächelte ihn an. Er schien über seine Depressionen hinweg zu sein.
*** NGE ***
Die Ferien neigten sich dem Ende zu und der Beginn des nächsten Schuljahres rückte immer
näher.
In der dritten Woche des neuen Schuljahres würde eine Klassenfahrt stattfinden, damit die
Schüler sich besser kennenlernten, Ziel der Reise sollte die Insel Okinawa für einen
einwöchigen Tauchkurs sein.
Am letzten Ferientag läutete es an der Tür des Apartments, welches Rei und Shinji
bewohnten, an diesem Tag war Shinji mit Training dran, während Rei daheim geblieben war
und das Bad geputzt hatte, bis sie sich in den Kacheln spiegelte, irgendwie fiel es ihr schwer,
sich vorzustellen, daß es ihr früher völlig egal gewesen war, wie es in ihrer Wohnung aussah.
Den Putzlappen noch in der Hand öffnete sie die Wohnungstür.
Es kam ja nur eine Handvoll Personen in Frage, die sie besuchen konnten.
Da waren einmal Misato-san oder Kaji-san, doch der Major hatte erst am gestrigen Tag bei
ihnen vorbeigesehen.
Dann Ishiren-san, welche nur mit ihr in Kontakt trat, wenn Shinji-kun nicht in der Nähe war
und sie über etwaige Veränderungen und Umbesetzungen bei ihrer und Shinji-kuns
Leibwache in Kenntnis setzte - da sie erfahren hatte, daß für Shinji-kun nur ein Leibwächter
abgestellt worden war, hatte sie Ishiren-san, welche immerhin ein Team aus fünf Mitgliedern
des Sicherheitsdienstes befehligte, gebeten, auch auf Shinji-kun Acht zu geben.
Und schließlich der Kommandant, doch genau den wollte sie definitiv nicht sehen. Seit
Wochen schon befürchtete sie eigentlich, er könnte ihr befehlen, sich von Shinji-kun zu
trennen. Und sie wußte nicht, was sie dann tun sollte... Befehlsverweigerung hätte
wahrscheinlich zur Folge, daß der Kommandant sie ersetzen würde, auch wenn Doktor Akagi
ihre Erinnerungen konserviert hatte... und Shinji-kun... wo sollte er denn hingehen, wenn er
diesen Ort verlassen mußte...
Vor der Tür, auf dem Korridor, stand eine Person, mit welcher Rei nun wirklich nicht
gerechnet hatte: Hikari Horaki, die Klassensprecherin!
„Hikari!“ sagte sie überrascht.
„Hallo, Rei. Störe ich?“
Rei setzte zu einer bejahenden Antwort an, schließlich hatte sie ihre Putztätigkeit im Bad
unterbrochen, überlegte es sich aber anders und verneinte, da ihr die Abwechslung zum einen
nicht ungelegen kam und zum anders auch ganz jemand anders vor der Tür hätte stehen
können.
„Möchtest du hereinkommen?“
„Ja, äh, gern.“
Rei gab den Weg frei, Hikari trat ein, zog im Vorraum die Schuhe aus und folgte Rei dann in
die eigentliche Wohnung, sah sich neugierig um, da sie noch nie hier gewesen war.
„Hier wohnt ihr also, Ikari-kun und du.“
„Ja.“
Rei trat rasch in die Küche und beförderte den Putzlappen durch die offenstehende Tür zum
Bad zielsicher in den Eimer, der noch in der Duschkabine stand.
„Hübsch habt ihr es, wirkt sehr gemütlich.“
Hikari lächelte beim Anblick der Blumen, die sich in mehreren Vasen an verschiedenen
Plätzen befanden und die Wohnung bunt, hell und freundlich wirken ließen.
Nachdem sie einen schnellen Blick in die Küche geworfen hatte, fiel ihr allerdings doch etwas
auf.
„Öh, hier gibt es nur ein Bett?!“
„Ja, Hikari.“
Die nächste Frage lag ihr schon auf der Zunge, doch sie schluckte sie herunter, errötete
stattdessen. Es ging sie schließlich nichts an, was ihre Mitschüler nachts taten... aber
wahrscheinlich war es jetzt wohl Rei, die über ein gewisses Maß an... Lebenserfahrung
verfügte...
Rei wartete auf eine weitere Äußerung der Klassensprecherin, doch diese schwieg, lief
stattdessen rot an, eine Reaktion, die Rei immer noch nicht ganz einordnen konnte. Was hatte
sie denn gesagt, das ein Erröten hätte begründen können?!
„Was führt dich her?“
„Ich... ah... also...“
Ein ähnliches Sprachmuster wie bei Shinji-kun, wenn dieser verlegen war...
„Ah, Rei, du weißt doch, daß demnächst die Klassenfahrt stattfindet, Tauchen auf Okinawa...“
„Bekannt“, bestätigte sie.
„Ich wollte fragen, ob du mich zum Einkaufen begleiten willst, ich wollte mir einen neuen
Badeanzug kaufen und... naja... dachte mir, du könntest mir vielleicht bei der Auswahl helfen.
Eigentlich wollte ich ja meine jüngere Schwester mitnehmen, aber die trifft sich mit ihren
Freundinnen und hat keine Zeit.“
„Und Suzuhara-kun?“
Hikari errötete noch stärker.
„Das geht doch nicht... nicht in der Öffentlichkeit...“
Rei dachte über die Äußerung der Klassensprecherin nach. Setzte man voraus, daß Suzuharakuns Körper dieselben biologisch-chemischen Reaktionen aufwies wie Shinji-kuns, wäre es
wirklich nicht klug, ihn in eine derartige Lage zu bringen.
Hikari benötigte Rat, allerdings war Rei nicht ganz klar, ob sie ihr da wirklich helfen konnte,
ihr Modeverständnis entsprach doch eher dem einer Betonmauer. Und außerdem wollte sie
noch das Bad fertigputzen...
Andererseits... eine Abwechslung war wirklich nicht unwillkommen.
„Gut, ich begleite dich.“
„Schön... du brauchst doch sicher auch einen Badeanzug, oder?“
„Nein, ich habe doch meinen Badeanzug für den Sportunterricht.“
„Aber, Rei, das ist doch die Gelegenheit, mal etwas anderes zu tragen... die Jungs ein wenig
zu beeindrucken. Mit den schwarzen Badeanzügen, die wir beim Schwimmunterricht tragen
müssen, schaffen wir das nie.“
Rei schwieg.
Sie war sich eigentlich sicher, daß sie die anderen Mitschüler nicht nach Okinawa begleiten
würde. Der Kommandant würde das niemals erlauben. Außerdem würden die Piloten
wahrscheinlich im Hauptquartier benötigt, sie konnten doch nicht einfach die Stadt verlassen,
was, wenn ein Engel angriff?!
Aber das sagte sie der Klassensprecherin nicht, Hikari wirkte derart gutgelaunt, daß sie sie
damit nicht belasten wollte.
Und ein neuer Badeanzug... sicher gab es bei Zeiten Gelegenheit, ihn Shinji vorzuführen,
immerhin hatte NERV ja auch ein großes Schwimmbad, in dem sie schon oft genug ihre
Runden gedreht hatte.
Schließlich nickte sie.
„Laß uns gehen.“
*** NGE ***
Stunden später...
Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt.
Rei war von ihrem Einkaufsbummel längst zurück, hatte die Plastiktüte mit ihren Einkäufen
unter dem Bett versteckt, wo Shinji sie vorerst nicht finden würde. Auch Shinji war
inzwischen zurück und hatte das Abendessen zubereitet. Nachdem sie gegessen hatten,
packten sie ihre jeweiligen Schultaschen für den nächsten Tag und stellten sie im Vorraum
bereit, waren danach ein wenig ratlos, was sie mit der verbleibenden Zeit anfangen sollten,
Shinji hatte sich bereits vorgenommen, in den nächsten Tagen nach einem billigen tragbaren
Fernsehgerät Ausschau zu halten, als Rei verschlug, einen Spaziergang zu unternehmen.
Und während sie Arm in Arm durch die Straßen schlenderten, störte der junge Ikari sich auch
nicht an der Tatsache, daß wenigstens zwei Mitglieder des NERV-Sicherheitsdienstes ihnen
auf Schritt und Tritt folgten...
*** NGE ***
Misato derweil hatte festgestellt, daß Asuka sich wieder an ihren Biervorräten vergriffen
hatte.
Das rothaarige Mädchen saß vor dem Fernseher, neben sich eine angebrochene Bierdose.
Überhaupt wirkte Asuka um einiges schlampiger als am Tage ihrer Ankunft, ihr Haar war
ungekämmt und glanzlos und ihre Sachen unordentlich.
So ging das nun schon seit Tagen, um genau zu sein seit dem Tag, an dem Shinji im internen
Vergleich Asukas Synchronratio überholt hatte.
Misato raufte sich stumm die Haare, Ermahnungen brachten überhaupt nichts.
Aber wenigstens gab es einen Lichtblick in der Tatsache, daß Kaji sie bald abholen würde,
eine gemeinsame Bekannte aus Studientagen, die in einem kleinen Ort weiter unten an der
Küste wohnte, hatte heute geheiratet und sie und Kaji zur abendlichen Feier eingeladen.
*** NGE ***
Über einer Seitenstraße der Stadt erschien wie aus dem Nichts eine pulsierende Kugel. Daß
die Kugel nicht dorthin gehörte, wäre einem Beobachter auf den ersten Blick klargeworden,
denn sie war völlig schwarz-weiß, beide Farben zerliefen auf der Oberfläche, bildeten skurrile
Muster und Flächen, dann wieder nur Punkte und Linien, außerdem schien das Objekt alle
Farbe aus der Umgebung abzusaugen, wirkte alles in der Nähe blasser und farbloser.
Die Kugel warf einen großen Schatten, welcher die Straße von einer Seite zur anderen
bedeckte, welcher auf Straßenlaternen und geparkte Autos, sowie Gartenmauern fiel. Und
diese versanken im Schatten des Engels...
Als die Kugel wieder verschwand, von einem Herzschlag zum anderen einfach nicht mehr da
war, fehlte von den Wagen, den Laternen und jenen Stücken der Mauern, welche der Schatten
berührt hatte, jede Spur, ebenso vom Asphalt der Straße, stattdessen war genug von der Straße
verschwunden, um die darunter befindlichen Rohrleitungen freizulegen...
*** NGE ***
Im NERV-HQ reagierten die MAGI, allerdings waren sie sich nicht sicher, ein Blaues Muster
festgestellt zu haben. CASPER beharrte auf seiner Beobachtung, die anderen beiden Einheiten
allerdings verweigerten eine Zustimmung, so daß die Alarmsirenen stumm blieben und nur
eine schriftliche Mitteilung auf Ritsuko Akagis Terminal erschien, welches zu diesem
Zeitpunkt allerdings nicht besetzt war.
*** NGE ***
Rei erwachte in der Nacht mit einem Gefühl drohenden Unheils, der Eindruck war so stark,
daß sie Shinji fest in ihre Arme nahm und bis zum Morgen so verblieb.
*** NGE ***
Gendo Ikari saß in seinem Büro hinter seinem Schreibtisch und kämpfte gegen die Müdigkeit.
Er wollte nicht schlafen, wenn er schlief, hatte ADAM Gelegenheit, sich etwas weiter
voranzutasten. Und die Drogen verloren langsam an Wirkung. Er wollte eine Erhöhung der
Dosis so lange wie möglich hinauszögern, da dies auch seinem Körper auf Dauer nicht
bekommen wäre.
Vielleicht war er zu ungeduldig gewesen, vielleicht hätte er noch warten sollen, ehe er sich
ADAM implantieren ließ...
Er bemühte sich, seine Gedanken zu fokussieren, der Punkt, mit dem er sich beschäftigte, war
wie er den Rei-Klon und Yuis Sohn trennen konnte, wie er es anstellen konnte, daß Rei-II
einen derartigen Schock davontrug, daß er sie wieder unter seine uneingeschränkte Kontrolle
bekam. Ideen hatte er gleich mehrere, allerdings würden die meisten davon den Verlust von
Einheit-01 samt Piloten zur Folge haben, was Ikari auf emotionelle Ebene sogar begrüßen
würde, was das Komitee jedoch nicht hinnehmen würde. Außerdem würde ein Verlust des
beseelten EVAs zur Folge haben, daß er möglicherweise Fuyutsuki verlor... auch für diesen
Fall hatte er bereits Lösungen erwogen, allerdings würde beides ebenfalls den Ablauf seines
Szenarios beeinflussen...
*** NGE ***
Kajis Wagen hielt vor dem Apartmenthaus, in dem Misato wohnte.
Seufzend stieg er aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür, fing eine
herausfallende Misato Katsuragi auf, lud sie sich ächzend auf die Arme und trug sie auf den
Eingang zu.
Warum mußte Katsuragi-chan nur immer soviel Alkohol trinken...
*** NGE ***
Tokio-3 am frühen Morgen:
Vögel zwitscherten von Dächern und Bäumen, die Straßenbahnen nahmen den Tagesbetrieb
auf, Menschen machten sich auf den Weg zur Arbeit...
Und über dem Stadtzentrum schwebte ein großer schwarz-weißer Ball und schien auf die
Verteidiger der Stadt zu warten...
Für die Verhältnisse der Stadt also ein ganz normaler Tag.
*** NGE ***
Die drei EVAs pirschten sich an den Engel heran, jeder war mit einem Positronengewehr
bewaffnet. Sie bewegten sich in Dreiecksformation, EVA-01 an der Spitze, EVA-00 und -02
hinter ihm.
Shinji wäre deutlich wohler gewesen, hätte er Asuka nicht in seinem Rücken gewußt.
An ihrem Terminal staunte Ritsuko Akagi nicht schlecht, als sie las, daß EVA-01 sein ATFeld nach hinten verstärkt hatte.
„Ich sehe ihn.“ meldete Shinji.
„Der ist ja auch nicht zu übersehen“, brummte Asuka.
Da hatte sie sich die halbe Nacht für den ersten Schultag fein gemacht - schließlich konnte sie
mit wirren Haaren und Schlabberlook kaum Eindruck schinden - und dann tauchte so ein
verkappter Gummiball am Himmel auf.
„Verteilen und den Beschuß eröffnen?“ fragte Shinji und blickte auf den kleinen Bildschirm
vor sich, welcher Misato zeigte.
„Noch abwarten. Aber nicht näher heran...“
Misato blickte zur Seite, wenn Shinji sich an die Konfiguration der Terminals in der Zentrale
von seinen ein, zwei Aufenthalten dort richtig erinnerte, mußte sie Doktor Akagi ansehen.
„Stimmt ´was nicht?“ kam es von Asuka.
„Wir erhalten Signale, die von dem Engel ausgehen, Signale der Freund-Feind-Erkennung.“
„Ach, toll, will uns der Gummiball jetzt erzählen, er käme in Frieden? Oder kapitulieren die
Engel?“
Asuka lachte, aber es klang nicht gerade belustigt.
Shinji blickte nach oben.
Wenn er noch ein Stück vorrückte und dann etwas nach links, hatte er eine viel bessere
Schußposition, falls Misato den Feuerbefehl gab...
Der EVA setzte sich in Bewegung, folgte seinen Gedankenanweisungen.
Über die Synchronverbindung nahm Shinji bereits einiger Zeit das typische dumpfe Grollen
wahr, welches der EVA von sich gab, jetzt kam auch das übliche Hungergefühl dazu. Was
hätte er nur alles dafür gegeben, jetzt in ein Steak beißen zu können, nur halbdurch und noch
blutig... seit er bei Rei wohnte, hielt er sich da ja sehr zurück, auch wenn sie ab und an
erklärte, es mache ihr nichts aus, wenn er Dinge aß, die ihr nicht bekamen. Er bekam immer
ein leicht schlechtes Gewissen, wenn er morgens die Milchtüte aus dem Kühlschrank holte,
oder wenn er sich ein wenig Fisch in die Bento-Box fürs Mittagessen packte, befürchtete, daß
sie es an seinem Atem riechen konnte, daß der Geruch bei ihr Übelkeit hervorrief... aber jetzt
hätte er wirklich nichts gegen ein schönes saftiges Stück Fleisch gehabt, auch wenn es nur
eine Reaktion auf die vom EVA ausgehenden Impulse war.
Sein taktischer Computer empfing die Signale der Freund-Feind-Kennung ebenfalls,
versuchte sie zu identifizieren.
Seltsamerweise stellte sich noch gar nicht das Haßgefühl ein, auch der Blutdurst hielt sich in
Grenzen - nicht daß Shinji sich darüber beschwert hätte, er wußte auch, daß er in seiner
Wachsamkeit nicht nachlassen durfte, wollte er nicht von den Emotionen des EVAs plötzlich
überwältigt werden.
„Shinji - zurück!“ schrie Misato plötzlich.
„Was denn?“ fragte er und wollte dem Befehl folgen, als er feststellte, daß die Beine seines
EVAs festzustecken schienen. Er blickte nach unten, sah mit Schrecken, daß EVA-01 bereits
zu den Knöcheln im grauen Asphalt versunken war, welcher ansonsten keinen flüssigen
Eindruck machte.
Treibsand... so mußte es sein, in Treibsand oder in einem Sumpf zu versinken...
Er spürte einen Zug von unten, der stärker wurde, je mehr er versuchte, sich zu lösen.
Panik stieg in ihm hoch, er ruderte mit den Armen.
„Helft mir!“ brüllte er aus Leibeskräften und versuchte noch energischer, sich aus der grauen
Masse zu lösen. „Helft mir doch!“
Rei wollte vorstürmen.
Shinji-kun war in Gefahr!
EVA-01 war inzwischen bis zu den Hüften im Boden versunken, wurde einfach
hineingesogen, ohne Wellen zu schlagen, ohne daß irgendetwas verriet, woran es liegen
könnte.
Zugleich erwachten die Haßgefühle des EVAs, schien dieser entschieden zu haben, worüber
der taktischer Computer noch unentschlossen war, hatte den Engel als Feind erkannt.
„Rei, bleib, wo du bist! Der Schatten ist der wahre Engel!“ befahl Misato.
Schatten? Welcher Schatten?
Dann sah sie die Linie auf dem Asphalt, hinter welcher dieser um einiges grauer erschien,
hinter welcher sich EVA-01 befand.
Der Engel war im Begriff, Shinji-kun zu verschlingen!
Und der Major hatte sie angewiesen, nichts zu unternehmen...
Aber sie mußte Shinji-kun doch helfen...
Aber es war ein Befehl und sie mußte Befehlen folgen...
Aber sie konnte Shinji-kun doch nicht im Stich lassen, mußte ihrem Mitstreiter... ihrem
Geliebten... helfen...
Diesen Befehl konnte sie nicht befolgen!
Und ihr EVA schien derselben Ansicht zu sein, jedenfalls hatte sie das Gefühl, als bestärke er
ihren Entschluß, als er sich in Bewegung setzte.
Rei rannte los...
...und wurde gestoppt!
EVA-02 stürzte sich auf EVA-00, tackelte diesen wie ein Footballspieler und brachte ihn zu
Fall.
„Loslassen, Soryu!“
„Vergiß es, First.“
Asuka grinste, nagelte EVA-00 mit ihrem EVA am Boden fest.
„Befehle müssen befolgt werden, wußtest du das nicht?“
„Asuka! Rei!“ kam Misatos schreiende Stimme aus den Lautsprechern. „Hört sofort auf!
Werft EVA-01 eure Versorgungskabel zu, vielleicht könnt ihr ihn dann aus diesem... Sumpf
herausziehen!“
EVA-01 war inzwischen bis zur Brust versunken.
Shinji rief immer noch über InterKom um Hilfe. Schließlich verstummte er, sah nur hilflos
auf die Monitore der ComPhalanx, streckte die Hand nach Reis Bild aus.
„Rei-chan...“
Drei Worte brannten ihm in der Kehle, drei Worte, die er auszusprechen nicht schaffte, weil
ihm die Angst die Kehle zuschnürte.
„Ich...“
„Shinji, Notevakuierung!“ befahl Misato. Besser den EVA opfern, als auch noch den Piloten
zu verlieren!
In seinem Kommandostand sah Gendo Ikari auf.
„Befehl widerrufen!“
„Was?“ fragte Misato und riß die Augen auf.
Doch Ikari antwortete nicht. Auch wenn der Verlust von EVA-01 schmerzte, das war es doch,
worüber er sich den Kopf zerbrochen hatte...
In seinem EntryPlug tätigte Shinji eilig die nötigen Handgriffe, um den Plug zu evakuieren,
mußte entsetzt feststellen, daß der Plug nicht reagierte, daß die Kommandos von der
Automatik ignoriert wurden.
Sein EVA überschwemmte ihn mit Wut, als wollte er ihm neue Kraft verleihen, fütterte ihn
regelrecht mit Zorn, schien ihm zuzurufen, sie beide gefälligst aus der Misere zu holen.
Die externe Energieversorgung wurde unterbrochen, der EVA lief nun auf seinen Akkus,
welche für fünf Minuten ausreichten...
Schon war EVA-01 bis zum Hals versunken.
Shinji spürte Kälte in sich aufsteigen, fühlte bereits seine Beine nicht mehr, hatte den
Eindruck, in einem Eisschrank zu sitzen.
Neben dem EVA, der nur noch mit dem Kopf aus dem Schatten ragte, schlug das Ende eines
Versorgungskabels auf, federte einmal auf dem falschen Asphalt, versank dann ebenfalls.
Shinji versuchte, danach zu greifen, doch die Kälte hatte bereits seine Arme erreicht, lähmte
sie.
EVA-01 raste, mobilisierte die letzten Kräfte.
Shinji glaubte, eine weitere Präsenz im Inneren des EVAs zu spüren, eine strahlende Präsenz,
die sich klar von der Dunkelheit abhob.
„Mutter...?“
War es so, wenn man starb? War das Licht der Zugang zur nächsten Welt, zum Jenseits?
Wartete seine Mutter dort auf ihn?
Noch einmal blickte er auf die ComPhalanx. Die Bilder waren unscharf und verzerrt, trotzdem
konnte er ganz klar den Ausdruck auf Rei-chans Gesicht erkennen... Sorge... Panik... Angst...
Er wollte sie nicht alleinlassen!
„Rei-chan... ich liebe dich...“ flüsterte er.
Dann brach die Verbindung zusammen und die Kälte griff vollends nach ihm...
*** NGE ***
EVA-01 verschwand im Schatten des Engels, einen Moment lang ragte noch das Horn aus
dem Grau, war dann ebenfalls versunken.
„Nein!“ brüllte Rei. „Nein!“
„... liebe dich...“ kam es fast unhörbar aus dem Lautsprecher.
„Nein! Shinji!“
EVA-02 hatte sich aufgerichtet, jagte Positronenladung um Positronenladung in den schwarzweißen Ball über ihnen, ohne eine Wirkung zu erzielen.
Und dann war der Ball verschwunden und mit ihm der Schatten und alles, was dieser
verschlungen hatte...
„Nein!“
EVA-00 brach zusammen, als die Synchronisation mit seiner Pilotin erlosch.
Kapitel 32 - First Impact
In der Kommandozentrale von NERV herrschte Schweigen.
Nur aus den Lautsprechern kam ein leises Schluchzen, dessen Quelle die Pilotin von
EVANGELION-Einheit-00 war.
Gendo Ikari lächelte hinter der Barriere seiner gefalteten Hände.
Die Ereignisse hatten eine unerwartete Wendung genommen, doch dafür würde es ihm jetzt
leichtfallen, den Klon wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Er mußte nur noch ein wenig
warten und ihr dann bei bietender Gelegenheit väterlich die Hand auf die Schulter legen, als
wollte er sie über ihren Verlust hinwegtrösten. Und dann...
...würde sie ADAMs Gegenwart spüren...
Ikaris Lächeln erlosch schlagartig, als ihm klarwurde, daß er diesen einen entscheidenden
Punkt nicht bedacht hatte!
Kozo Fuyutsuki stützte sich schwer auf die Balustrade.
„Einfach weg... Die ganzen anderen Engel haben alle keinen Erfolg und dieser...“
Misato stand neben Ritsukos Konsole.
„Ritsuko, bitte... was...“
Akagi selbst hatte den Schock noch nicht verdaut, trotzdem zog sie bereits alle ihr zur
Verfügung stehenden Register.
„Wir erhalten immer noch Signale von EVA-01! Zwar nur die Freund-Feind-Erkennung und
ein schwaches Signal der Lebensversorgung des EntryPlugs, aber EVA-01 wurde nicht
zerstört!“
Misato beugte sich vor, las die Angaben selbst.
„Bist du dir ganz sicher? Shinji lebt?!“
„Und die anderen Signale... es ist die Freund-Feind-Erkennung von EVA-04!“
„Die Einheit, die mitsamt der US-Zweigstelle verschwunden ist?“
„Ja. Ich schätze, dieser Engel hier hat eine recht weite Reise hinter sich.“
„Aber - wie ist das möglich?“
„Ich habe bereits eine Theorie... der Schatten des Engels stellt eine Art Tor dar. Alles, was er
sich einverleibt, landet dann im Inneren der Kugel.“
„Im Inneren... - Asuka, Beschuß einstellen! Hörst du? Nicht weiterfeuern!“
Brummend kam Asuka dem Befehl nach, hörte auf, Positronenladungen in den Himmel zu
jagen.
Fuyutsuki richtete sich auf.
„Doktor Akagi, Ihnen ist bewußt, daß das Volumen des Engels, so wie wir ihn wahrnehmen,
nicht ausreicht, um zwei EVAs und möglicherweise noch der US-Anlage und Gott-weiß-was
Platz zu bieten?!“
„Natürlich, Professor. Aber vielleicht haben wir hier einen Beweis für die Existenz einer
Dirac´schen See.“
Der Subcommander nickte.
„Dirac... was?“
„Eine Dirac´sche See, Misato, ist ein extradimensionaler Raum außerhalb unserer Realität...
quasi ein Loch ohne Boden. Bisher war das ganze allerdings nur eine Theorie. Wenn ich
allerdings recht haben sollte, dann ist der Engel imstande, sich den Weg in die Geofront Stück
für Stück zu öffnen, indem er sich einfach den Weg freifrißt.“
„Und wir können gar nichts tun?“
„Im Augenblick nicht, aber ich arbeite daran. Solange wir noch Signale von EVA-01 erhalten,
ist Shinji nicht verloren.“
„Aber wo ist EVA-01? Der Engel ist von unserer Ortung verschwunden!“
„Er bewegt sich sehr schnell... im Augenblick befindet er sich fast im Orbit über der Stadt...
ich benutze die MAGI zur Kreuzpeilung... hm, vielleicht kann man die Dirac´sche See
knacken, indem man sie irgendwie umpolt...“
„Du willst den Engel zum Kotzen bringen?“
„Wäre doch eine Idee, oder?“
„Los, Ritsuko! Shinjis Leben hängt davon ab!“
„Ich weiß. Die Lebenserhaltung des Plugs hat nur für sechs Stunden Energie, danach wird das
LCL nicht mehr gefiltert und verliert seine Atembarkeit!“
„So schnell?“
*** NGE ***
„Ich könnte versuchen, Shinji-kun mit einem Seil in die Dirac´sche See zu folgen.“ schlug Rei
leise vor.
Noch immer saß sie im EntryPlug von EVA-00, der immer noch auf dem Boden kniete.
Tränen liefen aus ihren Augen, wurden sofort vom LCL fortgewaschen.
Die Worte des Doktors hatten einen kleinen Hoffnungsschimmer erzeugt.
„Nein, Rei, dem Seil würde es genauso ergehen, wie dem Versorgungskabel - sobald der
Engel den Zugang verschließt, würde es gekappt werden.“
„Und wenn ich schnell genug...“
„Rei...“
Akagi, die sich mittlerweile in die interne Kommunikation eingeklinkt hatte, schüttelte den
Kopf, sah Rei bedauernd an.
„Wir wissen nichts über die Gegebenheiten im Inneren des Engels, alles was aus einer solchen
Aktion resultieren könnte, ist der Verlust einer weiteren Einheit.“
Rei setzte zum Protest an.
Immerhin wäre sie dann bei Shinji-kun... wie mochte es ihm gerade ergehen, was mochte er
fühlen?
Seit er und EVA-01 verschwunden waren, verspürte sie eine quälende Leere in ihrem Herzen,
einen Schmerz, welcher ihr das Atmen erschwerte, so als ob ihre Seele entzweigerissen
worden wäre.
Sie konnte nur warten, daß der Doktor einen Weg fand... doch Shinji-kun etwas zustoßen,
dann würde sie den Engel mit eigenen Händen zerreißen, egal, welche Folgen es haben
würde, wenn sie der Dunkelheit im Inneren ihres EVAs nachgab...
*** NGE ***
Shinji war kalt, das LCL im Inneren des Plug hatte nur noch eine Temperatur von knapp 13°
Celsius.
Er hatte die Knie angezogen und schlotterte am ganzen Leib, da das Material seiner PlugSuit
von der Flüssigkeit getränkt war, hätte er genausogut nackt sein können.
Die Ladung der Akkus war längst aufgebraucht, nur die Energie des Lebenserhaltungssystems
sorgte noch dafür, daß das LCL gereinigt und aufbereitet wurde. Vor ihm blinkte ein
Countdown, der bei sechs Stunden begonnen hatte und nun bereits zur Hälfte abgelaufen war.
Drei Stunden waren vergangen, seit der Engel ihn verschlungen hatte...
Seit drei Stunden befand er sich in einer Umgebung, welche der taktische Computer als
absolut lebensfeindlich klassifiziert hatte, bevor ihm der Saft ausgegangen war und die
Systeme des Plugs auf Minimalkonfiguration umgeschaltet hatten, um den Piloten so lange
wie möglich am Leben zu erhalten.
Draußen, außerhalb des Plugs, gab es nur eine tintige träge Flüssigkeit, das Medium, in dem
EVA-01 schwamm. Es gab kein Oben und kein Unten, gleich nachdem Shinji sich an diesem
Ort wiedergefunden hatte, hatte er versucht, sich herumzuwerfen und wieder
hinauszugelangen, hatte jedoch feststellen müssen, daß sich hinter ihm ebenfalls nur dunkle
Flüssigkeit befunden hatte. Die Computer hatten Daten gesammelt und analysiert, solange sie
noch Energie hatten, hatten ihm schließlich mitgeteilt, daß er sich in einem Raum mit
unendlicher Ausdehnung befand.
Unendlich...
Selbst wenn der EVA noch Energie gehabt hätte, selbst wenn er eine Ewigkeit geradeaus
geschwommen wäre... die Grenzen der Unendlichkeit hätte er niemals erreichen können...
Es gab keinen Weg hinaus... keinen Weg zurück...
Er würde Rei-chan niemals wiedersehen...
In der kurzen Zeit, in welcher er über die Synchronverbindung noch durch die Augen des
EVAs hatte sehen können, hatte er erkennen können, daß er nicht allein in der dunklen
Flüssigkeit war. Um ihn herum trieben Gegenstände... Autos, Straßenlaternen, Pflanzen samt
ihrer Erde, Asphaltstücke... Stahlpfeiler... ganze Gebäude... und Leichen...
Er hatte geschrieen, als direkt vor ihm die Leiche eines Mannes in einem
Wissenschaftlerkittel vorbeigetrieben war, die Haut bläulich aufgedunsen... es war nicht bei
diesem einzigen Toten geblieben, aber wenigstens war er noch in einem Stück gewesen...
Und er hatte vermeint, am Rande seines Sichtfeldes den zerfetzten Körper eines
EVANGELIONs zu erkennen...
Jetzt saß er seit einer halben Stunde in der Dunkelheit, nur die Energieanzeige vor ihm gab
etwas Licht ab.
Wie lange mochten die Toten schon dort draußen herumschwimmen?
Und hatte er wirklich einen EVA, oder dessen Reste, gesehen?
Welche Schrecken befanden sich vielleicht noch dort draußen, was alles mochte der Engel
noch verschlungen haben?
Wenn doch nur Rei-chan bei ihm wäre... nein, das sollte er sich nicht wünschen, denn dann
hätte sie sich in derselben Lage befunden... es war gut, daß Asuka sie aufgehalten hatte...
Da nahm Shinji etwas wahr, eine schwache Präsenz... es war, als würde jemand leise gegen
die Pforten seines Verstandes klopfen und um Einlaß bitten... jemand, der die gleiche Angst
verspürte wie er... nein, nicht jemand, etwas...
Es war EVA-01...
Der EVANGELION baute von sich aus eine Synchronisation zu seinem Piloten auf!
Shinji öffnete sich den Impulsen, selbst die Gegenwart der Bestie, die in EVA-01 lauerte, war
besser als die Einsamkeit, die er verspürte. Doch was er verspürte, waren weder Hunger nach
Leben, noch der Wunsch zu zerstören, sondern der Wille zu überleben!
Der EVA teilte sich ihm in Bildern mit, benutzte seine eigenen Erinnerungen, um sich ihm
verständlich zu machen, schlug ihm einen Weg vor, wie sie vielleicht gemeinsam überleben
konnten... schlug ihm vor, mit dem EVA eins zu werden...
In rascher Abfolge sah Shinji Gesichter, es dauerte ein wenig, bis er einzelne hinausfiltern
konnte. Da war Misato in der knappsten Kleidung, in der er sich erinnern konnte, sie gesehen
zu haben. Dann war da Asuka, nicht in ihrer gemeinen teuflischen Version, sondern in der
engelsgleichen Version, die sie ihm in den ersten Tagen vorgespielt hatte, wie sie sich wie
zufällig vorbeugte und ihm einen Blick in ihren Ausschnitt erlaubte. Und dann war da Rei, die
plötzlich auf seinen Oberschenkeln zu sitzen schien und ihren Büstenhalter ablegte... sie alle
forderten ihn auf, sich mit ihnen zu vereinen... die Bilder wirbelten schneller und schneller
durch seinen Geist, der EVA schien seine Reaktion zu analysieren, sortierte bald Asuka aus,
dann Misato, bis nur noch Rei-chan übrigblieb... Rei-chan im Waschraum unter der Dusche...
Rei-chan, deren Gesicht sich langsam dem seinen näherte, um ihn zu küssen... Rei-chan, die
ihn umarmte... Rei-chan, die nackt unter ihm lag, eine Erinnerung an jenen Tag, an dem er ihr
ihre neue ID-Karte hatte bringen wollen, die sich jetzt jedoch veränderte, denn sie sah ihn
nicht emotionslos an, sondern zog ihn plötzlich nach unten, vergrub eine Hand in seinem
Haar, küßte ihn... flüsterte ihm zu, mit ihr eins zu werden...
„Ja...“ wisperte Shinji.
Wenn so die Ewigkeit aussah...
Dann nahm er ein grelles Licht wahr, welches nur in seinem Geist existierte, die Bilder jedoch
gnadenlos fortbrannte, nahm eine weitere Präsenz wahr... eine Präsenz, die ihm nicht
unbekannt war, die er bereits früher in EVA-01 verspürt hatte... als ob zwei Seelen in dem
EVANGELION wohnten, einmal die Persönlichkeit der Künstlichen Intelligenz und dann
noch etwas anderes...
„Es gibt noch Hoffnung...“ flüsterte die andere Stimme.
Die Bilder erloschen vollends, stattdessen stellte Shinji fest, daß er sich wieder in
Synchronität mit dem EVA befand, daß er wieder durch seine Augen sehen konnte. Einige der
Instrumente vor ihm leuchteten auf, zugleich gab die Energieanzeige einen weitaus
schnelleren Verbrauch an.
Aus den Lautsprechern kam erst ein Knacken, dann ein Flüstern.
„Benötige Hilfe... Energie fast aufgebraucht...“
Eine leise Stimme...
Shinjis Hände verkrampften sich um die Armlehnen seines Sitzes.
Da war noch jemand im Inneren des Engels!
„Wer... wer ist da?“
„Hört mich jemand?“
Die Stimme klang jung und ängstlich.
„Ja... wer bist du?“
„Kaworu... Kaworu Nagisa... Fifth Children... Pilot von EVA-04... wer?“
„Ich... ah... ich bin Shinji... ah... ich bin mit EVA-01 hier...“
„Dann sitzt du auch fest? Ich bin schon so lange hier... Tage... Wochen... nur Stille und
Kälte...“
„Wo...“
Da sah Shinji den anderen EVA, einen grauen Riesen mit drei nebeneinanderliegenden
Augen, oder besser, was davon noch übrig war. Der EVA hatte keine Beine mehr und nur
noch einen Arm, ebenso fehlte ein Teil des Rumpfes.
„Ich sehe dich!“
„Hast du noch... Kontakt zu deiner Einheit?“
„Ja, etwas...“
EVA-01 setzte sich in Bewegung, machte ungeschickte Schwimmbewegungen, ruderte mit
den Armen, überwand die Distanz.
„Ich bin gleich bei dir.“
Das Gespräch lenkte Shinji von seinen eigenen Problemen ab, mittlerweile war die
Notenergie zu zwei Dritteln aufgebraucht, der EVA benötigte viel mehr Energie für ein paar
Bewegungen, als die Lebenserhaltung in ein paar Stunden.
Er erreichte den anderen EVA, packte diesen am Oberarm.
„Bist du in Ordnung?“
„Ich bin... unverletzt...“
„Wie bist du hierher gekommen?“
„Schatten... plötzlich wurde es dunkel... Schreie...“
Die Verbindung wurde schlechter.
„Kaum noch... Energie...“
„Kaworu... sprich weiter!“ schrie Shinji, der seinen Verstand langsam zu verlieren glaubte,
der sich wie verzweifelt an diese leise Stimme klammerte, die aus dem Lautsprecher kam.
„Kein Ausweg...“
„Hör zu... ich habe noch etwas Energie... gib nicht auf! Ich suche nach einem Ausweg!“
Die Anzeige der Notenergie raste dem Nullwert entgegen, als wollte sie ihn der Lüge
bezeichnen.
Die Umwälzpumpen kamen ins Stocken, arbeiteten langsamer, hielten dann an...
Noch einmal versuchte der EVA ihn dazu zu überreden, sich mit ihm zu vereinen, verstummte
dann ebenfalls, übermittelte Shinji ein letztes Bild, das Bild eines Menschen, der von einer
Flutwelle erfaßt und gegen eine Betonwand geschleudert wurde... eine Erinnerung der
digitalisierten Persönlichkeit, welche das Herzstück der Grundprogrammierung bildete...
Und dann wurde es dunkel...
Zugleich glaubte Shinji, daß zahllose Finger nach seinem Geist griffen, daß im Augenblick
seines Todes unzählige Hände sich bemühten, die Mauern um seinen Geist niederzureißen.
Und er sah...
*** NGE ***
Ein schier endloses Grün überzog die Landmassen der Erde. Die Kontinente lagen zum Teil
anders als in der Gegenwart, Nordeuropa und Südamerika waren von Eis überzogen,
während die Antarktis nicht nur noch komplett, sondern auch von einem dichten Dschungel
überzogen war.
Und diesem Dschungel existierte Leben, ebenso wie auf der ganzen Welt Leben existierte,
sowohl über wie unter Wasser... intelligentes Leben...
Es waren keine Menschen, keine Abkömmlinge von Primaten, welche durch die Wälder
streiften, welche aus Holz und Stein Städte errichteten, welche Metalle bearbeiteten, welche
mit Booten über das Wasser fuhren oder in der Tiefe Siedlungen aus Korallen errichteten. Es
waren große aufrechtgehende Echsenwesen, die im Einklang mit ihrer Umwelt lebten, die nur
jagten und töteten, um sich und ihresgleichen zu ernähren.
Ein Volk, welches keinen Krieg kannte...
Ein Volk, dessen Götter auf derselben Erde wandelten...
Die Echsenwesen verehrten ihre Götter in Schreinen und Tempeln, brachten ihnen kleine
Opfergabe dar, welche sie selbst gefertigt hatte.
Und die Götter zeigten ihren Dank, indem sie ihrem Volk zur Seite standen...
In den Tiefen des Meeres verjagte GAGHIEL einen Schwarm Haie, der einer der Siedlungen
der Unterwasserbewohner zu nahe gekommen war...
Über einer endlosen Savanne erzeugte RAMIEL ein Gewitter, welches einen Steppenbrand in
wenigen Minuten löschte...
Bei einem Fest der Echsenwesen erschienen die ISRAFEL-Brüder überraschend und spielten
zum Tanze auf...
Im dichtesten Urwald rang ein mächtiger Götter-Krieger einen Raubsaurier ohne Mühe
nieder, welcher ein Dorf bedroht hatte...
Und über allen wachte die Urmutter, aus der alles Leben hervorgegangen war, die ihren
älteren Sprößlingen den Auftrag gegeben hatte, über ihre jüngeren Abkömmlinge zu wachen.
Die Bewohner des Dschungels, der Städte und der Meere priesen ihren Namen...
Ihr Name war LILITH.
Langsam entwickelte sich die Zivilisation der Echsen weiter, entdeckte das Rad und Methoden
zur Verarbeitung von Eisen. Die Welt war groß genug, um ihnen Platz zu bieten, so daß
Revierstreitigkeiten zwischen einzelnen Stämmen die Ausnahme blieben und schnell und
unblutig geregelt wurden. Unter dem wachsamen Auge eines bleichschuppigen Echsenwesens
mit roten Augen wurden Konflikte in hitzigen, aber friedlichen Wettkämpfen gelöst.
Doch der Frieden war nicht von Dauer.
In einer Nacht wurde ausgelöscht, was sich in Jahrtausenden entwickelt hatte.
Ein feuriger Stern fiel vom Himmel, machte die Nacht zum Tage, kündigte die Ankunft des
Vernichters an, verkündete das Nahen von Armageddon...
Krachend schlug der Stern mitten in den Urwald, vernichtete eine der größten Städte des
Echsenvolkes in der Sekunde seines Einschlages, setzte den Urwald in Brand, schleuderte
eine gewaltige Staubwolke empor, welche auf Jahrhunderte das Licht der Sterne verdunkeln
würde, ließ die Erde erzittern.
Und aus den Flammen schritt ADAM, hinterließ feurige Spuren, vernichtete, was sich in
seinem Weg befand, löschte die Kultur der Echsen aus.
Die Götter eilten herbei, um ihren Schützlingen, ihren jüngeren Halbgeschwistern, zur Seite
zu stehen, doch sie wurden hinweggefegt wie Laub im Wind.
Die Meere brodelten, Berge spuckten Feuer aus.
Noch immer bebte die Erde, befand sich alles in Aufruhr.
Landmassen versanken im Ozean, andere tauchten aus der Tiefe auf.
Es war der Untergang der Welt...
Und ADAMs Lachen schallte durch den Äther, wie lange hatte er nach der Zuflucht seines
abtrünnigen ersten Weibes und ihrer beider Kinder gesucht, die sich geweigert hatten, sich
ihm unterzuordnen...
Der mächtigste der Götter trat ihm gegenüber, die beiden lieferten sich einen erbitterten
Kampf, der sich Tage und Nächte hinzog, dabei weitere Zerstörungen anrichtete, die Welt
selbst aus den Angeln hob...
Die letzten der Echsenwesen schrieen gepeinigt auf, als Feuer vom Himmel fiel und sie
auslöschte...
Schließlich schleuderte ADAM seinen Sohn fort, fügte ihm eine tiefe Wunde an der Brust zu,
trat ihn über Berge und Täler, setzte nach, um den ungehorsamen endgültig zu bestrafen, so
wie er alle seine abtrünnigen Kinder bestrafen würde, so wie er LILITH bestrafen würde. Daß
er alles vernichtet hatte, was sie geschaffen hatten, genügte ihm bei weitem nicht.
Plötzlich sah er sich LILITH gegenüber, erstarrte für einen langen Augenblick.
Sie trat ihm nicht als demütige Büßerin entgegen, wie er es erwartet hatte, nicht als
unterwürfiges Weib, sondern in der Gewandung einer Kriegerin. Ihr Haar von der Farbe des
klaren Firmaments wehte im Sturmwind, ihr Gesicht verbarg sich hinter einer siebenäugigen
Maske. Und in ihren Händen trug sie einen Speer mit doppelter Spitze.
LILITH stieß zu, rammte den Speer tief in ADAMs Leib, nagelte ihn an den Boden.
Dann wandte sie sich ab, ließ ihn zurück wie einen Haufen Abfall, um von ihren Kindern zu
retten, welche noch zu retten waren.
Doch ADAM war nicht tot... er war geschlagen worden, er war gebannt worden, doch
LILITH hatte ihn noch lange nicht besiegt...
Als die Brände sich gelegt hatten, kam das Eis und überzog die Erde, löschte alle Spuren der
alten Kultur aus.
Im Laufe der nächsten Jahrhunderte senkte sich der aufgewirbelte Staub wieder aus der
Atmosphäre nieder, erlaubte es den wärmenden Strahlen der Sonne, die Erde wieder zu
erreichen.
Langsam zog sich das Eis zurück, machte neuem Leben Platz.
Langsam breitete sich wieder pflanzliches Grün aus, als würden die Pflanzen aus einem
langen Winterschlaf erwachen.
Tiere fanden wieder genug Nahrung, vermehrten sich.
Zwischen den zahllosen Tierarten erschien eine, welche den ausgestorbenen Echsenwesen
entfernt ähnelte, wie diese hatte sie zwei Arme und Beine und ging aufrecht, zuerst noch
gebückt und sich zuweilen noch auf die langen Arme abstützend, dann im Laufe der
Jahrtausende mehr und mehr ausschließlich auf den Hinterbeinen, während die Arme kürzer
wurden, dafür Greifwerkzeuge ausbildeten.
Aus dumpfen Gegrunze wurden differenzierte Laute, als die Wesen eine Sprache entwickelten,
nach langer Zeit erfanden sie die ersten Werkzeuge, beseitigten auch den letzten Zweifel
daran, daß sie vielleicht nicht die neue vorherrschende Rasse sein würden.
Doch in ihren schlummerte ADAMs Saat, wie sich bald herausstellte.
Kaum hatten die frühen Menschen erste Werkzeuge entwickelt, benutzten sie diese als Waffen,
um ihresgleichen zu unterwerfen oder einfach auszulösen. Ganze Seitenlinien der Spezies
Mensch erloschen in kurzer Zeit, weil ihre Angehörigen sich nicht rasch genug an den
Fortschritt anpassen konnten, oder weil in ihnen das Erbe LILITHs zu stark war.
Und der Mensch machte sich die Erde untertan.
In seinem Schlaf lachte ADAM. Auch wenn LILITH ihn besiegt hatte, den Krieg würde er
gewinnen, er brauchte nur noch ein passendes Werkzeug, einen dieser Menschen, welcher von
genug Machtgier getrieben wurde, um ihn wiederzuerwecken...
Im Zweistromtal lebten Ewigkeiten später zwei Brüder, der eine betrieb Ackerbau, der andere
Viehzucht. Beide huldigten dem Eingott ihres Volkes auf ihre Art, der Bauer brachte einen
Teil seiner Ernte als Opfer, während der andere mehrere seiner Tiere schlachtete und den
Altar mit ihrem Blut wusch.
In seinem Gefängnis unter einem Panzer aus Eis, das sich im Laufe der Jahrmillionen
gebildet hatte, regte ADAM sich, nahm unter größtem Einsatz seiner Kräfte Einfluß, ließ als
Zeichen seiner Gunst einen Sternenregen über dem Altar des Viehzüchters niedergehen.
Blut war Leben... und der Viehzüchter war von ihm ausersehen worden, einen neuen Kult zu
bilden, welcher ihn letztendlich befreien würde.
Doch der andere, der Bauer, welcher unter Mühen dem kargen Boden die Ernte entrissen
hatte, ließ es nicht geschehen, griff in ADAMs Pläne ein, ohne es zu wissen. Angetrieben von
Neid auf seinen Bruder, den der gemeinsame Gott mit seiner Gunst überschüttete, während er
ihn ignorierte, stürmte er auf seinen Bruder zu, einen spitzen Stein in den Händen.
So erschlug Kain seinen Bruder Abel, nicht der erste und auch nicht der letzte Brudermord in
der Geschichte der Menschheit, doch für ADAM ein deutliches Zeichen, daß die Menschen
genug Potenzial besaßen, um einen wichtigen Teil in seiner endgültigen Rache an LILITH
und ihrer Brut zu nehmen.
Er mußte nur warten... und er hatte Zeit...
*** NGE ***
„Er hat alles gesehen, was ich ihm zeigen sollte“, flüsterte Leriels Stimme im Bewußtsein
seines Bruders, der glaubte, daß sein Kopf platzen würde, daß der Körper des Lilim, den er
sich ausgeborgt hatte, in der Gegenwart seines älteren Bruders einfach vergehen würde.
„Dann ist es an der Zeit.“
„Dein Plan hat viele Unsicherheiten, Tabris.“
„Ich weiß.“
„Und vielleicht ist er der falsche.“
„Shinji Ikari hat gezeigt, daß er mir... daß er dem Lilim namens Kaworu... helfen wollte. Das
ist zumindest ein Anfang.“
„Ja.“
„Unsere Brüder werden sich um die anderen Lilim kümmern, welche diese Kampfmaschinen
steuern. Wenn wir jene, die die Waffen bedienen, überzeugen können, uns zu helfen, wird
Mutter bald frei sein.“
„Ich teile deinen Optimismus nicht, das ist eine Angewohnheit der Lilim, Tabris. Verliere dich
nicht!“
„Ich werde aufpassen, großer Bruder.“
„Gut. Dann ist es wohl an der Zeit, diese Ebene zu verlassen.“
„Ja, Leriel.“
„Werden meine Schmerzen groß sein?“
„Ich weiß es nicht.“
„Ich wünsche dir Erfolg.“
„Wir werden uns wiedersehen.“
„Natürlich.“
*** NGE ***
Vor EVA-01 entstand eine leuchtende Kugel. Sie pulsierte leicht.
Das Herz des Engels...
Shinji hatte Mühe, den Gedankengang zu Ende zu führen, eigentlich wollte er nur schlafen.
Die Kälte und der Sauerstoffmangel machten ihn ganz schläfrig.
Fast erloschen war auch das Bewußtsein des EVAs, wurde nur von einem dumpfen Hunger
existend erhalten. Leise flüsterte es Shinji zu, seine Kräfte mit ihm zu vereinen, gemeinsam
den Kern des Engels zu zerreißen...
Shinji reagierte nicht.
Sein unter Sauerstoffentzug leidendes Hirn gaukelte ihm Trugbilder vor, er befand sich
wieder bei Rei-chan, lag in ihren Armen, nahm den Geruch ihres Haars wahr, spürte ihre
seidige Haut unter seinen Händen, hörte sie leise Worte in sein Ohr flüstern, die er nicht
verstand...
Langsam driftete er weg.
Über die Oberfläche der pulsierenden Kugel zuckten plötzlich Blitze, kleine und große,
wanderten fort und erloschen. Und dann schoß ein kräftiger Überschlagblitz vor, schlug in die
Brust von EVA-01.
Mit einem Schlag sprangen die Umwälzpumpen wieder an, aktivierten sich alle Instrumente
und Geräte im EntryPlug, wurde die Synchronverbindung voll hochgefahren, als die Akkus
sich mit Energie vollsogen!
EVA-01 brüllte auf!
Der Blutdurst erwachte mit voller Kraft, riß Shinji mit sich, der keine Kraft mehr hatte,
Widerstand zu leisten.
Wuchtig schlug die Faust des EVAs mitten in das Herz des Engels, riß es auseinander.
Dahinter entstand ein Loch, ein gewaltiger Riß mitten im Nichts, von dem ein starker Sog
ausging.
EVA-01 fetzte das Herz des Engels weiter auseinander, bemerkte gar nicht, daß es längst
erloschen war, daß Leriels Präsenz nur noch ein Schatten war, da der Engel selbst sich
inzwischen mit fast seiner ganzen Essenz in seine eigene Sphäre zurückgezogen hatte. Und
zugleich erweiterte der EVANGELION den Riß, zerrte dann EVA-04 mit sich, fetzte die
Öffnung weit genug auseinander, daß er hindurchpaßte, stieß wieder ein lautes Brüllen aus...
*** NGE ***
„Ich habe ihn! Sektor T-7!“ rief Ritsuko, unterbrach das betretene Schweigen, welches sich
erneut in der Zentrale breitgemacht hatte, nachdem sie verkündet hatte, daß die
Lebenserhaltung von EVA-01 ausgefallen war.
„Auf den Schirm!“ befahl Fuyutsuki, überging dabei ohne nachzudenken Gendo Ikari, der
dumpf brütend hinter seinem Tisch im Kommandostand saß und über die gefalteten Hände
hinwegstarrte.
Der ganze Monitor zeigte eine ganze Reihe von Dingen:
Sektor T-7 lag am Stadtrand, bezeichnete eine Gegend, in welcher nur Lagerhäuser standen.
Über den Lagerhallen schwebte der schwarz-weiße Ball des Zieles: Leriel.
EVA-00 war im gleichen Augenblick losgerannt, als Doktor Akagi das Ergebnis der Ortung
mitgeteilt hatte. In Rei regte sich keine Emotion - seitdem Akagi erklärt hatte, daß Shinji-kuns
Lebenserhaltung ausgefallen war, fühlte sie sich innerlich nicht nur leer, sondern beinahe
schon tot.
Der Engel würde dafür bezahlen, was er getan hatte...
EVA-02 war EVA-00 dicht auf den Fersen, doch Reis Vorsprung wuchs, da Asuka unterwegs
zweimal die Versorgungskabel auswechselte, während EVA-00 auf seinen Akkus lief.
Die schwarz-weiße Kugel platzte auf!
Die Oberfläche riß wie unter starkem Druck auf, gleich darauf erschien ein Paar Hände, die
den Riß erweiterten.
Dunkle brodelnde Flüssigkeit ergoß sich auf die Häuser und Straßen, Gegenstände wurden
aus dem Inneren des Engels hinausgespült, klatschten auf den Boden, wurden weitergespült
von den nachfolgenden Flüssigkeitsmassen.
EVA-01 brüllte auf, machte allen klar, daß er gesiegt hatte!
Dann sprang er aus der Öffnung, zerrte dabei die Reste von EVA-04 mit sich, schleppte sich
und den halbzerstörten EVA noch weiter, fort aus der unmittelbaren Zone, in welcher das
Innere des Engels niederging.
Der Strom ließ nach, nur noch tröpfchenweise quoll Flüssigkeit aus dem Riß.
Etwas schien ihn zu verstopfen!
Teilweise war die Unterseite eines Gebäudes zu sehen.
EVA-02 eröffnete das Feuer, nahm den Engel unter Beschuß.
Jeder Schuß war ein Treffer, wurde von keinem AT-Feld aufgehalten, schlug ungehindert in
den Ball ein.
Leriel explodierte, überschüttete die ganze Stadt mit Trümmern und seinem Blut...
Rei rannte EVA-01 entgegen.
„Shinji! Shinji-kun, hörst du mich?!“
EVA-01 hob den Kopf, sah sie mit dämonisch-glühenden Augen an, schien sein Gesicht zu
einem Grinsen zu verziehen.
Ihr wurde klar, daß es nicht Shinji-kun war, der den EVA kontrollierte...
Das Glühen erlosch.
Der EVA knickte ein, stürzte nach vorn.
*** NGE ***
„Keine Schäden an EVA-01. Lebenszeichen des Piloten stabil! EVA-04 jenseits der HayflickGrenze. Lebenszeichen des Piloten schwach!“ meldete Ritsuko Akagi mit mühsam
aufrechterhaltener äußerer Ruhe, während um sie herum die Zentrale sich in einen
Bienenstock verwandelte.
„Überschwemmungen im Südteil der Stadt. Die Kanalisation wird mit diesen Mengen nicht
fertig! Alle Teams sind unterwegs, um die Schäden zu beseitigen und einer biologischen
Kontamination vorzubeugen!“ vermeldete Shigeru Aoba.
„Besteht Kontakt zu den EntryPlugs?“ fragte Fuyutsuki.
„Negativ, Sir. Weder Shinji noch EVA-04 antworten.“
Misato eilte hinaus, traf auf dem Flur Kaji, der ebenfalls in Richtung der Garage unterwegs
war.
*** NGE ***
Rei leitete bei EVA-04 die manuelle Evakuierung des Plugs ein, indem sie den Verschluß im
Nacken des zerstörten EVAs öffnete und mit den Händen von EVA-00 den Plug herauszog,
genauso wie sie es bereits bei EVA-01 getan hatte. Sie legte den geborgenen Plug neben
Shinji-kuns, während sie die ganze Zeit über versuchte, Kontakt zu Shinji aufzunehmen. Doch
dieser schwieg.
Die Aufräumteams waren inzwischen ebenso eingetroffen wie Sanitäter, Ärzte und Techniker.
Die beiden Piloten wurden aus den Plugs geborgen.
Rei hatte nur Augen für Shinji-kun, ignorierte den anderen Piloten völlig.
Jemand hob Shinji-kun gerade aus dem Plug, reichte ihn an einen Sanitäter weiter, der
draußen stand und ihn auf eine Liege verfrachtete.
Rei zoomte heran auf sein Gesicht.
Wie blaß er war...
Shinji-kun hatte die Augen geschlossen... hoffentlich schlief er nur vor Erschöpfung...
hoffentlich wachte er gleich auf...
Die Energie ihres EVAs war zu Ende. Im letzten Moment evakuierte sie ihren EntryPlug und
verließ EVA-00.
Der Krankenwagen mit Shinji wollte gerade abfahren, als Rei herangelaufen kam, ihre
PlugSuit und ihre Haut waren von einem LCL-Film bedeckt und sie hinterließ feuchte
Fußabdrücke.
„Nehmen Sie mich mit!“
Wortlos öffnete der Sanitäter noch einmal die Ladetür, ließ sie hineinklettern.
Shinji-kun lag ausgestreckt auf der Liege, eine Sauerstoffmaske über dem unteren Teil seines
Gesichts, hatte die Augen immer noch geschlossen.
Rei verspürte Angst, doch zugleich nahm sie seine Gegenwart wahr, welche die Leere in
ihrem Herzen füllte.
„Was ist mit ihm?“ fragte sie den Arzt, der neben ihm hockte, während der Wagen sich in
Bewegung setzte.
„Unterkühlung und Anzeichen für Sauerstoffmangel.“
„Shinji-kun...“ flüsterte sie.
„Wir bringen die beiden gleich ins städtische Krankenhaus, die Fahrt in die Geofront dauert
viel zu lange.“
„Ja.“
*** NGE ***
EVA-02 stand inmitten des Geschehens wie ein stummer Wächter, zu dessen Füßen ein
Ameisenstaat den Tagesgeschäften nachging.
Die Straßen waren überschwemmt von einer dunkelblauen Brühe, überall lagen irgendwelche
Trümmerstücke - auf dem Dach einer Lagerhalle stand ein von blauem Schleim überzogenes
Auto - dazwischen die eine oder andere Leiche. Letztere wurden inzwischen von Männer und
Frauen in hermetisch abgeschlossenen Schutzanzügen geborgen und in Leichensäcke
verfrachtet.
Der dunklen Brühe Herr zu werden, versuchten sie gar nicht erst, sämtliche Tankwagen der
Stadt waren nicht imstande, diese Mengen abzupumpen. Allerdings wurden Proben
genommen und eiligst an die Labore in der Geofront weitergeleitet, um den Stoff auf seine
mögliche Gefährlichkeit hin zu analysieren.
Asuka saß mit vor der Brust verschränkten Armen in ihrem Pilotensitz.
War ja klar gewesen, daß Ikari sich die ganze Show sicherte... vielleicht hatte er sich sogar
absichtlich verschlingen lassen, um den Engel von Innen heraus auseinanderzunehmen, so
hatte sie selbst es ja auch mit dem Riesenfisch gemacht... verfluchter Nachahmer!
Und Wondergirl war jetzt auch weg... Shinji-kun, Shinji-kun... dieses Süßholzgeraspel machte
Asuka ganz krank, das war doch ohnehin alles nur Lüge...
Wenn Ikari nicht zurückgekommen wäre, dann wäre sie wieder die Nummer Eins gewesen,
sie, Asuka Soryu Langley...
*** NGE ***
Misato und Kaji stürmten durch den Eingangsbereich des Krankenhauses, ließen sich den
Weg zu den Behandlungsräumen zeigen, stießen vor diesen auf die wartende Rei Ayanami.
„Rei, wie ist die Lage?“ rief Misato schon von weitem.
„Die Ärzte sind sich sicher, Shinji-kun wieder auf die Beine zu bekommen, Major“, gab sie
die letzte Stellungnahme eines Mediziners wieder.
Noch jemand betrat den Gang - Toji Suzuhara.
„Hey! Dann war das eben wirklich Ikari, den sie ´reingebracht haben!“
Als er Rei sah, unterdrückte er den Drang, laut zu pfeifen, schließlich sah er sie erstmalig in
ihrer PlugSuit.
„Was machst du denn hier?“ fragte Misato.
„Ah, Misato-san... ich habe meine Schwester besucht, wegen des Engelangriffes ist die Schule
ausgefallen...“
Er trat an die Schwingtüren des Behandlungsraumes.
„Ist es Ikari?“
„Ja, Suzuhara-kun.“ erklärte Rei leise.
„Oh, Mann... aber ihr habt doch gewonnen, oder?“
„Ja.“
„Ikari kommt schon durch, der ist zäher als er aussieht.“
Die Tür des anderen Behandlungsraumes wurde geöffnet und ein Arzt im weißen Kittel trat
auf den Flur, kurz konnten sie den mageren blaßhäutigen mit dem grauen Haar sehen, der auf
dem Behandlungstisch lag und medizinisch versorgt wurde.
„Doktor, können Sie uns näheres sagen?“ fragte Kaji.
„Sind Sie die Eltern?“
Einen Moment lang sahen Misato und Kaji sich entgeistert an.
Dann präsentierte Kaji seinen NERV-Ausweis.
„NERV, die beiden gehören zu uns.“
„Verstehe. Also...äh... beide sind stabil und unverletzt, zeigen aber Spuren von Unterkühlung
und Sauerstoffmangel, der Albinojunge ist zudem stark geschwächt. Aber der andere dürfte in
Bälde wieder aufwachen.“
„Shinji-kun...“ unterbrach Rei den Mann.
„Wir bringen ihn gleich auf ein Zimmer. Mit ihm hier“, der Arzt deutete über seine Schulter,
„werden wir noch ein wenig zu tun haben, aber keine Sorge, sie sind beide schon längst außer
Gefahr.“
„Sehr gut“, bestätigte Kaji und klopfte Misato leicht auf den Oberarm. „Wir warten hier.“
Kurz darauf wurde Shinji aus dem Behandlungsraum gebracht.
Er schlief immer noch, sein Gesicht war aber nicht mehr so blaß, wies schon wieder einen
leichten rosigen Schimmer auf.
Rei spürte, wie ihr bei dem Anblick die Tränen in die Augen stiegen, erinnerte sich an die
Unterhaltung, die sie mit Shinji-kun nach dem Sieg über Ramiel geführt hatte, daß man auch
vor Freude weinen konnte.
„Ich sagte doch, daß er zäh ist“, murmelte Toji. „Der wird schon wieder.“
„Danke für deinen Zuspruch, Suzuhara-kun.“
„Wozu sind Freunde denn da? Ich werde mal wieder zu meiner Schwester gehen, es hat sich
nämlich wie ein Lauffeuer im ganzen Haus verbreitet, daß zwei EVA-Piloten eingeliefert
worden seien, da hatte sie richtig Sorge. Hm, wer ist eigentlich der andere?“
„Das ist...“ setzte Rei an.
´Geheim´, hatte sie sagen wollen.
Doch Misato kam ihr zuvor.
„Ein weiterer Testpilot, der bei dem Einsatz verletzt wurde.“
„Ach so... könnte glatt ein Verwandter von dir sein, Ayanami.“
Rei verzichtete darauf, ihn zu korrigieren und auf die Unmöglichkeit seiner Aussage
hinzuweisen, nickte ihm stattdessen zu und eilte Shinji hinterher, der gerade fortgebracht
wurde.
Misato verständigte sich mit Kaji dahingehend, daß dieser auf den anderen Piloten warten
würde, und folgte Rei dann.
*** NGE ***
Misato und Rei saßen bereits seit über einer Stunde neben Shinjis Bett und warteten darauf,
daß er zu sich kam. In der Zwischenzeit war Misato mehrmals zum Telefonieren auf den Flur
gegangen, hatte Ritsuko angerufen und sich vergewissert, daß die Aufräumarbeiten
vorangingen, sowie das keine Gefahr einer Kontamination der ganzen Stadt durch das Blut
des Engels bestand. Ferner hatte sie mit Kaji gesprochen, der im Nachbarzimmer über
Kaworu Nagisa wachte, welcher im Gegensatz zu Shinji an verschiedene Apparate
angeschlossen war und intravenös mit Aufbaupräparaten versorgt wurde.
Schließlich wachte Shinji auf, rollte sich sofort zu einem Ball zusammen.
„K-kalt.“ preßte er durch die Zähne, nahm dann erst seine Umgebung wahr, entspannte sich
ein wenig.
„Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, seufzte Misato und drehte die
Heizung des Zimmers voll auf.
„Ich... ich lebe noch...“ flüsterte Shinji erstaunt.
War seine letzte Erinnerung nicht gewesen, daß Kälte und Dunkelheit nach ihm griffen?
„Shinji-kun...“
Rei setzte sich auf die Bettkante, nahm seine linke Hand in die ihren und blies ihren warmen
Atem darüber.
„Ich hatte Angst um dich.“
Shinji wollte sich aufsetzen, wurde aber von Misato zurückgehalten.
„Liegenbleiben - Anweisung des Arztes. Du bist unterkühlt, erschöpft und brauchst Ruhe.“
„Uh... ahm... zu Befehl.“
Misato grinste.
„Na sowas, jetzt kriege ich ja doch noch den braven Soldaten Shinji in meine Truppe.“
„Misato!“
Sie lachte.
„Okay, Shinji, kannst du dich erinnern, was passiert ist?“
„Ähm... der Engel... ich bin plötzlich in seinem Schatten versunken... und dann war ich in
ihm, in seinem Inneren... und da war noch mehr... Autos und Gebäude... und Leichen...“
Er fröstelte bei der Erinnerung.
Rei blickte ihn besorgt an.
„Und... ahm... da war noch ein EVANGELION... ich habe mit dem Piloten gesprochen... uh...
wo ist er?“
„Du hast mit ihm gesprochen?“
„Ja, Misato. Kaworu... Kaworu Nagisa, das Fifth Children.“
„Er ist im Nebenraum und schläft noch. Ich würde sagen, er verdankt dir sein Leben.“
„Also ist er in Ordnung?“
„Sagen wir mal so, ihm geht es nicht gerade hervorragend, aber laut den Ärzten gibt es keine
Probleme. Er war halt um einiges länger im Inneren des Engels als du.“
„Es war so kalt... und dann ging die Energie zur Neige... ich habe auf die Energie der
Lebenserhaltung zurückgegriffen, um EVA-01 in die Nähe der anderen Einheit bringen zu
können... Konntet ihr den Engel vernichten?“
„Das hast du doch selbst getan.“
„Ich? Ich erinnere mich an nichts... ich meine, eigentlich müßte ich tot sein...“
„Sag das nicht, sag das bitte nicht.“ kam es von Rei, die immer noch seine Hand hielt.
„Anscheinend hast du das Herz des Engels gefunden und ihn vernichtet.“
„Misato, ich weiß nichts davon.“
„Na, sicher kommt die Erinnerung wieder, wenn du ein wenig ausgeruhter bist. - Ach, ich
schätze, ich muß mal kurz weg, sollte mich als Einsatzleiterin vielleicht mal vor Ort sehen
lassen, laut Ritsuko steht Asuka immer noch dort ´rum wie bestellt und nicht abgeholt.“
Wieder grinste Misato.
„Anscheinend hat niemand ihr gesagt, daß sie ins Hauptquartier zurückkehren soll.“
„Ich bleibe hier bei Shinji-kun, Major.“
„Ist in Ordnung, Rei. Soll ich vielleicht noch bei euch vorbeifahren und dir ein paar Sachen
mitbringen?“
„Das würde ich begrüßen.“ erklärte Rei, welche immer noch ihre PlugSuit trug.
„Okay. Und falls es irgendetwas wichtiges geben sollte, ist Kaji auch noch im Gebäude.“
„Ja.“
Misato lächelte ihn zu, winkte noch einmal und verließ dann den Raum.
Rei sah Shinji eine Weile schweigend an, stand dann auf und schloß die Tür ab.
„Rei-chan... uhm, was...“
Sie betätigte den Kontakt am Handgelenk ihrer PlugSuit, legte diese dann ab, stand völlig
nackt im Raum, ging langsam auf das Bett zu und hob die Decke an.
„Rei-chan, was hast du vor... uh...“
„Ich werde dafür sorgen, daß dir nicht mehr kalt ist, Shinji-kun.“
Sie schlüpfte unter die Decke, rutschte an ihn heran.
Shinji wurde ein bedeutendes Detail bewußt.
„Rei, ich habe selbst nichts an, das... äh... also... uh...“
Sie unterbrach ihn, indem sie ihn mit geöffnetem Mund küßte. Ihre Zunge glitt in seinen
Mund, suchte die seine, fand sie, umspielte sie, berührte sie, zugleich strichen ihre Hände über
seinen Körper, rutschte sie über ihn...
11. Zwischenspiel:
Ritsuko Akagi starrte durch das Elektronenmikroskop auf die Probe des Engelsblutes, welche
ihr gerade gebracht worden war. Die Zellen waren am Absterben... Gut, von dieser Seite
bestand keine Gefahr für die Stadt, ein besiegter Engel mehr. Laut dem Systema Sephiroth
waren es nicht mehr viele, nur noch fünf...
Shinji lebte und EVA-01 wies keine äußeren Schäden auf, was nicht jedoch hieß, daß sie es
sich leisten konnte, keine Extraschicht einzulegen und die Systeme des EVAs zu überprüfen.
Aber es lenkte sie ab, alles war besser, als tatenlos herumzusitzen und die Bilder vom Tod
ihrer Mutter erneut Revue passieren zu lassen. Und Gendo hatte sie seit seiner Rückkehr auch
nicht mehr zu sich zitiert, damit sie ihm zu Diensten war... sie wußte nicht, ob sie noch
imstande war, ihn auch nur mit dem kleinen Finger zu berühren, ohne sich zu übergeben.
An der Tür ihres Büros klopfte es.
„Doktor Akagi?“
Die Stimme gehörte Shigeru Aoba...
„Ja? Kommen Sie ´rein.“
Aoba betrat das Büro, einen Stapel Akten im Arm.
„Der... der Kommandant schickt Ihnen dies.“
Er legte den Aktenstapel auf eine freie Fläche des Tisches.
„Hm, ja...“
Ritsuko musterte die Akten.
Personalakten... Akten der Mitglieder der Testgruppe... und ganz oben ein Zettel in Gendos
Handschrift: Ritsuko, wähle den Vierten aus.
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