Die Welt – 13.09.12 – Kommentar Thomas Schmid Wo in Europa der Hammer der Macht hängt Karlsruhe hat gesprochen – und wie so oft schon scheint es seinem unerbittlichen Kurs des Einerseits-andererseits gefolgt zu sein. Mehr noch: Es ist mit gleicher Wucht und Entschiedenheit in die eine wie in die andere Richtung gelaufen. Das zeugt von der Kunst der Verfassungsrichter zur salomonischen List. Es zeugt aber auch von den Grenzen des Bundesverfassungsgerichts, das ein Fremdkörper im europäischen Institutionengefüge zu werden droht. Einerseits: Die Richter haben in diesen schwankenden Zeiten, in denen jeder spürt, dass Zeit ein kostbares Gut ist und hinter der nächsten Ecke eine europäische Katastrophe lauern kann, den ins Astronomische davongaloppierenden Rettungsversuchen des Euro keinen Riegel vorgeschoben. Sie haben sich bescheiden gegeben, haben sich auf die Rolle des Verfassungsschützens zurückgezogen – und in Richtung Berlin sehr laut Ja gerufen. Andererseits: An zwei Punkten haben die Richter jenen aus der Seele gesprochen, denen angesichts der aufzubringenden Rettungssummen schwindelig wird, die eine nach oben unbegrenzt offene Belastung Deutschlands befürchten oder die um die demokratische Legitimation der EuroRettungspolitik besorgt sind und eine Entmachtung des Parlaments kommen sehen. Beiden Sorgen ist das Gericht mit seinen Einschränkungen verklausuliert gerecht geworden. Die 190 Milliarden dürfen nicht klammheimlich überschritten werden, und nichts darf an Bundestag und Bundesrat vorbei entschieden werden. Indes: Das Gericht weiß, um es martialisch auszudrücken, wo inzwischen in Europa der Hammer der Macht hängt. Das hat es dadurch unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass es Peter Gauweilers – freilich maßlosen – Eilantrag verwarf, den EZBBeschluss vom vergangenen Donnerstag für inkompatibel mit dem Grundgesetz zu erklären. Das Bundesverfassungsgericht muss so tun, als bewege es sich ausschließlich im Raum des Rechts und nicht in der wirklichen Wirklichkeit. Deswegen durfte es die Tatsache nicht kommentieren, dass die EZB just sechs Tage vor der Karlsruher Entscheidung beschlossen hat, unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen. Das war natürlich auch ein Akt, mit dem Druck auf das Bundesverfassungsgericht ausgeübt wurde, das vielerorts in Europa als ein seltsam übermächtiges Gericht, als altmodische Trutzburg deutscher Selbstbehauptung angesehen wird. Auch Karlsruhe bewegt sich in der wirklichen Wirklichkeit. Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat in schöner Klarheit der Politik den Vortritt gelassen: Sie alleine habe die Aufgabe, die Zukunft zu gestalten. In einer hübschen Wendung gab er zu verstehen, dass auch das Bundesverfassungsgericht in dem Nebel stochert, in dem wir alle stochern. Niemand könne sagen, was das Beste sei. Und er gab zu, dass die Zukunft des ESM sowohl im Hinblick auf die Höhe der von Deutschland bereitzustellenden Summe wie auch im Hinblick auf die Unterrichtung von Bundestag und Bundesrat "mit einigen Unsicherheiten behaftet" sei. Tiefer kann man kaum stapeln. Die Karlsruher Entscheidung öffnet den Weg zur Unterzeichnung durch Bundespräsident Joachim Gauck. Sie eröffnet aber auch neuen Klagen und neuen Bürgerinitiativen den Weg. Das Bundesverfassungsgericht schaut aufs deutsche Geld und auf die Frage der demokratischen Legitimation. Der EZB-Beschluss mag angesichts der mit Übermacht drängenden Zeit unumgänglich gewesen sein. Doch es ist nicht zu leugnen, dass er auch die Möglichkeit geschaffen hat, 1 den Weg in die bodenlose Transferunion zu beschreiten. Und es ist ebenfalls klar, dass es um die demokratische und verfassungsmäßige Legitimation des Wegs in die weitere Vertiefung der europäischen Integration schlecht bestellt ist. Das muss, das wird neue Kläger auf den Plan rufen. Das Bundesverfassungsgericht ist der Rolle gerecht geworden, die es seit seinem MaastrichtUrteil von 1993 spielt. Es fürchtet angesichts der Einigkeit fast aller Parteien in Fragen der EU um sein Wächteramt. Und es ist von einem Unbehagen gegenüber dem europäischen Integrationsprozess getrieben, der auch zu Zentralismus und Aushöhlung nationaler Souveränität führen könnte. Aus diesen Gründen hat es die Bürger quasi ermuntert, das Kontrollamt zu übernehmen und den Weg nach Karlsruhe zu gehen. Wenn diese dort aber ankommen, werden sie zwar nicht ganz, aber – wie soeben wieder geschehen – in der Hauptsache enttäuscht. Das Bundesverfassungsgericht, das uns fast so heilig ist wie die Deutsche Bundesbank, ist auch nur ein Spieler im europäischen Spiel, und nicht (mehr) der mächtigste. Andreas Voßkuhle hat vor einiger Zeit gemeint, es brauche Momente der Entschleunigung, es brauche Reflexionsschleifen. Wie wahr – und wie unrealistisch. Die Rettung der Währungsunion ist aus Gründen, die wohl niemand überblickt, ein Wettlauf mit der Zeit geworden. Die EZB gibt den Takt vor, nicht Karlsruhe oder Berlin oder Paris oder Rom. Nur als legitimierte Rechtsgemeinschaft habe Europa eine Zukunft, sagte Voßkuhle bei der Urteilsbegründung. So hätten wir Alt- und Neueuropäer es alle gerne. Doch noch ist längst nicht klar, ob die EU in der Lage sein wird, das, was sie tut, demokratisch und verfassungsmäßig einzuholen. Quelle: http://www.welt.de/print/die_welt/article109184589/Wo-in-Europa-der-Hammer-derMacht-haengt.html Kommentar Menke-Glückert : Thomas Schmid ist zuzustimmen in Analyse ALS-OB-Tenor ESM-EuroRettung-Urteil BuVerfG. Präsident Voßkuhle hat seine begrenzte judikative NationalKompetenz voll ausgereizt. Und zugleich um Vertrauen für das Merkel-Management Eurokrise geworben – bei unbestritten Angst-Traumatra der Bundesbürger zur Rutschbahn in die SchuldenUnion im Euro-Land. Gerade noch einmal ist Voßkuhle der Balanceakt zwischen Hüter der Verfassung und zugleich politischer ALS-OB-Letzt-Entscheider (zumindest nationaler Mit-Akteur ) gelungen. Das Institut Allensbach hat unlängst in einer Umfrage belegt, daß die Karlsruher Richter fast doppelt so hoch in Glaubwürdigkeit und Ansehen bewertet werden (mit 75 %) als Bundestagsabgeordnete (mit 39 %). Dabei werden Verfassungsrichter nicht vom Volk gewählt, wohl aber Bundestagsabgeordnete. Soviel zu von Voßkuhle beklagtem “Demokratiedefizit“. 2