Evangelischer Diakonissenverein Siloah, Pforzheim

Werbung
Infobroschüre: Freiheitseinschränkende bzw. freiheitsentziehende
Maßnahmen
Sehr geehrte Bewohnerin,
sehr geehrter Bewohner,
werte Angehörige,
Freiheitseinschränkende Maßnahmen (FEM) – z.B. beidseitige Bettgitter, Gurte oder
Sitzhosen im Stuhl – können in der Pflege einzelfallbezogen eingesetzt werden. Der am
häufigsten vorkommende Grund für FEM ist die Befürchtung, dass Bewohner stürzen und
sich verletzen könnten. Sieht man sich internationale Studienergebnisse an, zeigt sich in
diesem Zusammenhang aber ein ernüchterndes Ergebnis. FEM halten nicht, was man sich
von ihnen verspricht. Bewohner mit FEM sind zwar „geschützt“ während sie an Bewegung
gehindert werden.
Da die Maßnahmen jedoch nicht permanent angewendet werden sollen und können, sind
die Betroffenen in den Phasen ohne deren Anwendung sogar häufig vermehrt sturzgefährdet. Das ist einleuchtend, denn das ruhig auf einem Platz sitzen führt zu nachlassender
Beweglichkeit und erhöht damit das Risiko zu stürzen.
Darüber hinaus haben FEM noch weitere potenzielle Nebenwirkungen. Das Übersteigen
eines Bettgitters ist z.B. gefährlich, weil es zu einem Sturz aus größerer Höhe mit Verletzungen und Knochenbrüchen führen kann. Außerdem wurden Druckgeschwüre, Blasenschwäche, vermehrte Unruhe oder Aggressivität und andere Erscheinungen als Folge der
Anwendung von FEM berichtet. Es handelt sich also nicht um harmlose, sondern durchaus
einschneidende Maßnahmen.
Sowohl national als auch international besteht Einigkeit unter Praktikern und Wissenschaftlern, dass die Anwendung von FEM die absolute Ausnahme sein sollte. Die Gesetzeslage
in Deutschland ist eindeutig. FEM verstossen grundsätzlich gegen das Gesetz und können
daher nur in Ausnahmefällen und mit richterlicher Genehmigung für einen umschriebenen
Zeitraum genehmigt werden.
Gerade Bettgitter werden offensichtlich als scheinbar nützliche und ungefährliche Hilfsmittel betrachtet. Viele Einrichtungen haben sich nun das Ziel gesetzt, FEM soweit als möglich
zu vermeiden. Sie als Angehörige, Bevollmächtigte und/oder Betreuer haben hierbei eine
zentrale Rolle bei Entscheidungen über die Anwendung und Vermeidung von FEM. Sie
sind wichtige Fürsprecher der Pflegebedürftigen und können die Vermeidung von FEM
häufig aktiv unterstützen.
Was sind FEM?
Prinzipiell wird zwischen körpernahen und körperfernen FEM unterschieden. Unter körpernahen FEM sind alle Maßnahmen zu verstehen, die direkt auf die Bewegungsfreiheit
einer Person Einfluss nehmen. Dazu zählen u.a. beidseitig hochgezogene Bettgitter, Fixiergurte, die der Bewohner nicht öffnen kann, und feste Stecktische am Stuhl oder Rollstuhl.
Unter körperfernen FEM sind alle Maßnahmen zu verstehen, die indirekt auf die Bewegungsfreiheit einer Person Einfluss nehmen. Dazu gehören u.a. abgeschlossene Wohnbereiche bzw. Zimmer und Trickschlösser. Auch das Wegnehmen von Hilfsmitteln zur Fortbewegung kann eine FEM sein, ebenso die Verabreichung bestimmter Medikamente, wie
Psychopharmaka.
Seite 1 von 4
Wirkungen und Nebenwirkungen von FEM im Bezug auf Stürze
Vermeintliche Wirkungen
Es ist nicht belegt, dass durch FEM nachhaltig Stürze vermieden werden können. Untersuchungen zeigen, dass die längerfristige Anwendung von FEM sogar zu mehr Stürzen
und Verletzungen führen kann. FEM verhindern Bewegung und können dadurch Gleichgewicht und Muskelkraft negativ beeinflussen. Dementsprechend zeigen Studien, dass der
Verzicht auf FEM im Regelfall nicht zu einer Zunahme von Stürzen und Verletzungen führt.
In jedem Fall hat beim Einsatz im Rahmen einer Sturzgefährdung eine Abwägung der
Risiken zu erfolgen. Verstärkt ist hier zudem dem in einer etwaigen Patientenverfügung
dokumentierten Wunsch Rechnung zu tragen, ob z.B. Werte wie die persönliche Freiheit
oder aber die Unverletzlichkeit des Körpers individuell höher bewertet werden.
Nebenwirkungen
Neben der vermehrten Bewegungsunfähigkeit, Gelenkversteifung und möglicher schwe-rer
Verletzungen, z.B. durch Sturz bei Überwinden eines Bettgitters, werden Druckgeschwüre,
Stress und aggressive Verhaltensweisen beschrieben.
Derzeitige Gesetzliche Regelung in Deutschland
Im Zusammenhang mit Entscheidungen über FEM werden immer wieder juristische Argumente ins Feld geführt. Gleichzeitig ist bekannt, dass es bei den Beteiligten wichtige Unklarheiten bezüglich der gesetzlichen Voraussetzungen gibt. FEM sind nach unserer
Rechtsordnung schwerwiegende Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte pflegebedürftiger Menschen
Der Schutz der persönlichen Freiheit, insbesondere der Fortbewegungsfreiheit, ist ein
hohes geschütztes Gut. Das deutsche Grundgesetz und internationale Menschenrechtsübereinkommen garantieren dieses Gut. Mit Einführung des Betreuungsrechts 1992 hat
der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass auch Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bewohner
von Pflegeheimen dem grundgesetzlichen Schutz unterliegen. Dies gilt auch dann, wenn
die Eingriffe aus Fürsorge heraus erfolgen.
Das Betreuungsrecht stellt klar: Die Entscheidung über FEM kann nicht von Ärzten oder
Pflegenden allein getroffen werden, sondern nur von und mit den Betroffenen selbst oder
ihren Betreuern bzw. Bevollmächtigten. Betreuer bzw. Bevollmächtigte müssen ihre Entscheidungen pro FEM zudem vom Betreuungsgericht genehmigen lassen.
Wenn es keinen Betreuer bzw. Bevollmächtigten gibt, besteht die Verpflichtung, das Betreuungsgericht darüber zu informieren, so dass ein Betreuer bestellt werden kann. Bis zu
der Entscheidung des Gerichts (oder Betreuers) trifft die Einrichtung alle Entscheidungen,
die sie für unabwendbar bzw. pflegefachlich erforderlich hält, selbst und in eigener Verantwortung.
Eine stellvertretende Entscheidung der Pflegenden, der Ärzte oder der Angehörigen ohne
formelle Legitimation ist nach deutscher Rechtsordnung nur für Notfälle in einem eng umschriebenen Zeitraum zulässig, nicht jedoch für regelmäßig wiederkehrende oder dauerhafte Maßnahmen. Ärzte und Pflegende bringen nur ihre Fachkenntnisse in den
Entscheidungsprozess ein und schlagen bestimmte Maßnahmen vor.
Das betreuungsgerichtliche Verfahren zur Entscheidung über die Erteilung einer Genehmigung für eine FEM ist streng formalisiert. Es soll einen wirksamen Rechtsschutz vor
Seite 2 von 4
übermäßigen Grundrechtseingriffen garantieren: Die Betroffenen müssen angehört werden, möglichst in ihrer üblichen Umgebung. Eine sachverständige Aussage muss eingeholt
werden, die die Frage nach der Eignung, der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit
der beabsichtigten Maßnahmen prüft.
Das Gericht beauftragt einen Arzt (der Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie hat oder
Facharzt für Psychiatrie ist) mit der Erstellung eines Gutachtens. Dieses soll auf einer
persönlichen Untersuchung basieren. Neuerdings bestellen Gerichte ( auch das Pforzheimer ) zusätzlich einen Pflegeexperten als Gutachter oder Verfahrenspfleger. Im Rahmen des Verfahrens kann auch der Leiter der Pflegeeinrichtung eine Stellungnahme
abgeben.
Wichtig: Die Entscheidung des Betreuungsgerichtes dient lediglich der formellen Legitimation und der Sicherstellung einer Überprüfung der Erforderlichkeit von FEM. Die richterliche
Genehmigung ist aber nicht als „dauerhafte Anordnung“ zu verstehen. Vor jeder Anwendung einer FEM muss deren Angemessenheit durch die Pflegenden immer neu überprüft
werden. Die Aufsicht über das Verfahren hat der Betreuer. Dieser muss sofort den Verzicht
auf eine FEM einleiten, wenn sie nicht mehr erforderlich ist. Um die Aufsicht praktikabel zu
machen, ist eine gute Kommunikation zwischen Betreuer und Pflegenden unverzichtbar.
Halten Pflegende eine FEM in dem genehmigten Umfang nicht mehr für erforderlich, müssen sie unverzüglich den Betreuer informieren und auf einen Verzicht der Maßnahme hinwirken. In der Pflegedokumentation sind die entsprechenden Absprachen festzuhalten.
Beim speziellen Fall der Weglaufgefährdung kann es sein, dass ein Mensch in einer Einrichtung besserr aufgehoben ist, in welcher er sich frei, aber in einem geschützten Rahmen
bewegen kann. Diese Einrichtung heissen im Fachjargon „Gerontopsychiatrien“.
Was wird in den Einrichtungen getan?

Beratung: wir versuchen von Anfang an, die unterschiedlichen Risiken, die gesundheitsbedingt bei einem Menschen vorliegen bzw. neu hinzutreten, einzuschätzen. Auf dieser Basis versuchen wir gemeinsam mit ihm / seinem gesetzlichen Vertreter die Lösung zu erarbeiten, die dem Wunsch, den Bedürfnissen und den konkreten Erfordernissen der Situation am ehesten entspricht.

Balance- und Kraftübungen: In den meisten Einrichtungen werden im Rahmen der
sog. „Sturzprophylaxe“ Programme mit Balance- und Kraftübungen angeboten. Ziel
ist hier eindeutig die Erhaltung der Muskulatur und die Schulung des Gleichgewichts. Für Demenzkranke sind diese Übungen aber leider häufig nicht geeignet, da
sie den Anweisungen zu den Übungen häufig nicht mehr folgen können

Bewegung: „Laufen und laufen lassen“: Jede Bewegung ist wichtig; von daher
versucht man Menschen, die eine motorische Unruhe in sich tragen, soweit als
möglich Freiraum zu geben, um die Unruhe auch in Bewegung umsetzen zu können. Mit Menschen, die schlecht bzw. kaum noch laufen können wird ein kontrolliertes Gehtraining gemacht, um die Muskulatur so gut als möglich zu erhalten

Inkontinenz: Da Stürze und Unruhezustände häufig auch im Zusammenhang mit
dem Thema Inkontinenz und den damit verbundenen Toilettengängen auftreten,
versuchen wir gerade diese Situation relativ konkret mit Ihnen zu lösen. Hierzu
gehören z.B. auch ein Gang zur Toilette zu festen Zeitpunkten, aber auch die
Auswahl des richtigen Produkts zur Inkontinenzversorgung
Seite 3 von 4

Physiotherapie: Zur begleitenden Wiederherstellung nach längeren Liegenszeiten
ist es häufig sinnvoll die Mobilität und den ganzen Bewegungsapparat unter Zuhilfenahme eines Physiotherapeuten wieder zu stärken bzw. zu kräftigen. Wir besprechen im Einzelfall gemeinsam mit Ihnen und Ihrem Arzt die Sinnhaftigkeit einer solchen Therapie. Die letztliche Verordnungshoheit unterliegt aber allein dem Arzt

Strukturierte Erfassung und Evaluation: FEM werden in Pflegeeinrichtungen
ausführlich dokumentiert und im Rahmen des sog. Risikomanagements immer
wieder neu hinterfragt. Besteht weiterhin eine grundsätzliche Notwendigkeit oder
können Maßnahmen reduziert bzw. sogar ganz abgesetzt werden?
Wir haben uns wie viele andere auf den Weg gemacht, weitgehend auf FEM zu verzichten.
Dies bedeutet im Alltag viel und gute Beratung, aber vor allem auch den Abbau von Ängsten bei allen Beteiligten. Wir würden uns freuen, wenn auch Sie sich entscheiden könnten, diesen Weg mit uns zu gehen, wenn bei Ihnen oder Ihrem Angehörigen eine entsprechende Entscheidung anstehen sollte. Wie so häufig gilt auch hier:
Haben wir Mut zum Leben und damit natürlich auch zum Risiko und versuchen wir unter
allen Umständen bei all unseren Entscheidungen dem mutmasslichen Willen des Betroffenen gerecht zu werden! Denn: Schon morgen können wir in die Verlegenheit geraten,
dass andere auch für uns entscheiden müssen!
Bitte unterstützen Sie daher unsere Initiative für eine würdige und individuelle
Altenpflege, die weitgehend sichere und freie Bewegung ermöglichen will,
aber dafür bestimmte Risiken in Kauf nehmen muss.
Für nähere Infos zum Thema FEM empfehlen wir Ihnen folgende Internetseiten:
www.redufix.de
www.leitlinie-fem.de
www.justiz.bayern.de/gericht/ag/gap/daten/02939/
Seite 4 von 4
Herunterladen