INSTITUT FÜR DEMOSKOPIE ALLENSBACH Akzeptanzprobleme großer Infrastrukturprojekte Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativumfrage Zurzeit befinden sich zahlreiche größere Infrastrukturvorhaben in einer schwierigen Abstimmungsphase. Stuttgart 21 ist nur der bekannteste Fall, aber keineswegs ein Einzelfall. Mittlerweile ist die Mehrheit der Bürger überzeugt, dass sich große Bauprojekte in Deutschland generell nur schwer durchsetzen und realisieren lassen.1 1 Die Befragungsergebnisse stützen sich auf eine Repräsentivbefragung der Bevölkerung ab 16 Jahre; im August 2011 wurden dafür insgesamt 1.771 Personen befragt. -1- Gerade die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 haben den Bürgern verstärkt bewusst gemacht, dass Investitionen in große Bauprojekte an vielen Voraussetzungen hängen – nicht nur an dem Bedarf und den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln, sondern auch an den politischen Entscheidungsprozessen, der Planungssicherheit für die beteiligten Unternehmen und der Akzeptanz durch die Bevölkerung. Die Mehrheit ist nicht sicher, ob die Voraussetzung Planungssicherheit heute flächendeckend gegeben ist. In diesem Zusammenhang wächst die Überzeugung, dass ein Scheitern des Stuttgarter Projekts eine Signalwirkung und negative Auswirkungen auf andere Großprojekte hätte. -2- Trotzdem ist das Verständnis für Proteste gegen große Bauprojekte groß. 76 Prozent der Bevölkerung haben generell Verständnis, wenn Bürger gegen große Bauprojekte protestieren. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen besteht weit verbreitet die Überzeugung, dass die Bürger bei den Entscheidungen über große Bauvorhaben zu wenig eingebunden werden. 71 Prozent der Bevölkerung sind dieser Auffassung, lediglich 10 Prozent überzeugt, dass die Information und Beteiligung der Bürger im Allgemeinen ausreichend ist. Ein weiterer Grund liegt in der Einschätzung des Nutzens großer Infrastrukturprojekte, der in hoch entwickelten Volkswirtschaften mit einer nach Wahrnehmung der meisten gut ausgebauten Infrastruktur oft geringer veranschlagt wird als in den aufstrebenden Volkswirtschaften. So schätzt zurzeit die große Mehrheit der Bürger sowohl den Zustand der Verkehrsinfrastruktur wie der Versorgungsinfrastruktur im Bereich Energie positiv ein: 59 Prozent halten die Verkehrsinfrastruktur, 64 Prozent die Infrastruktur für die Energieversorgung für gut oder sehr gut. -3- Entsprechend ist in Bezug auf die Verkehrsinfrastruktur nur ein Drittel der Bürger überzeugt, dass größere Maßnahmen zur Verbesserung und zum Ausbau notwendig sind. In Bezug auf die Energieversorgungsinfrastruktur ist nach der Energiewende immerhin 49 Prozent bewusst, dass künftig größere Infrastrukturmaßnahmen erforderlich sein werden. -4- Die Vorstellungen, welche Infrastrukturmaßnahmen für die Sicherung der künftigen Energieversorgung notwendig sind, richten sich jedoch in erster Linie auf den Bau der Energieversorgungsanlagen durch erneuerbare Energien, deutlich weniger auf den Bau und die Erneuerung von Energietrassen. 85 Prozent der Bevölkerung gehen von einem großen Bedarf an Infrastrukturmaßnahmen für den Ausbau erneuerbarer Energien aus, nur 43 Prozent in Bezug auf den Bau und die Erneuerung von Energietrassen. In Bezug auf den Bau konventioneller Kraftwerke ist die Mehrheit überzeugt, dass hier nur wenig Bedarf besteht. Diese Einschätzung vertreten 54 Prozent in Bezug auf den Bau von Gaskraftwerken, 74 Prozent in Bezug auf den Bau von Kohlekraftwerken. Auch die persönliche Grundhaltung zu verschiedenen Infrastrukturprojekten zeigt, dass vor allem bei Energie- und Entsorgungprojekten oft nur schwer Akzeptanz zu gewinnen ist. Es gibt durchaus zahlreiche Bauprojekte, die grundsätzlich in der -5- eigenen Region befürwortet werden. Dazu zählen vor allem der Bau von Kindergärten und Schulen, von Krankenhäusern und Energieversorgungsanlagen für erneuerbare Energien sowie der Ausbau des Straßennetzes und hier insbesondere der Bau von Umgehungsstraßen. Dagegen ist die Mehrheit gegen den Bau von Energietrassen, Kläranlagen, Gas- und vor allem Kohlekraftwerken und neuen Anlagen zur Müllentsorgung. -6- Angesichts der Auseinandersetzungen um große Infrastrukturprojekte stellt sich die Frage, wie Entscheidungsprozesse über solche Projekte künftig organisiert werden können, ohne die in Deutschland ohnehin oft langen Planungs- und Realisierungszeiträume weiter zu verlängern und die Planungssicherheit zu beeinträchtigen. Ordnungsgemäße Planungs- und Entscheidungsverfahren werden heute von vielen Bürgern nicht mehr als ausreichende Legitimierung anerkannt. So haben 68 Prozent der Bevölkerung Verständnis für Proteste gegen Bauprojekte, die bereits die ordentlichen Genehmigungsverfahren durchlaufen haben. 62 Prozent vertreten die Auffassung, dass Entscheidungen über Infrastrukturprojekte, die von der Mehrheit der Bürger abgelehnt werden, auch im Nachhinein korrigiert werden sollten. -7- Wenn allerdings offensiv die Legitimierung kommunaler Gremien mit dem Argument verteidigt wird, dass ihre Vertreter durch die Bürger gewählt worden sind und entsprechend die Bürger auch die Entscheidungen eines demokratisch gewählten Gremiums mittragen müssen, ergibt sich ein wesentlich ausgewogeneres Meinungsbild. In diesem Fall votieren 43 Prozent für fortgesetzten Widerstand gegen die Entscheidung des Gremiums, 39 Prozent dagegen für die Akzeptanz dieser Entscheidung. Besonders bemerkenswert ist jedoch das große Verständnis für den Widerstand der Betroffenen – selbst wenn sie nur Minderheiten ausmachen. So hat die überwältigende Mehrheit der Bürger grundsätzlich Verständnis für Versuche von Anwohnern, Projekte zu verhindern, auch wenn die Mehrheit der Bürger das jeweilige Projekt befürwortet. Besonders groß ist das Verständnis bei Versuchen, Hochspannungsleitungen zu verhindern – auch wenn diese Leitung Ökostrom -8- transportiert und von der Mehrheit der Bürger befürwortet wird. 76 Prozent der Bürger haben in diesem Fall Verständnis für Versuche von Anwohnern, das Projekt zu verhindern. 78 Prozent haben ähnliches Verständnis im Fall des Baus einer Umgehungsstraße, 64 Prozent auch in dem Fall, dass eine solche Umgehungsstraße den Ort massiv entlastet und daher von der Mehrheit der Bürger befürwortet wird. Angesichts dieser Ergebnisse stellt sich die Frage, wieweit eine stärkere Demokratisierung von Entscheidungsprozessen einen durchschlagenden Erfolg verspricht, wenn gleichzeitig das Mehrheitsprinzip gegenüber den Interessen betroffener Minderheiten geringgeschätzt wird. Allensbach am Bodensee, am 9. September 2011 INSTITUT FÜR DEMOSKOPIE ALLENSBACH -9-