ARBEITSGEMEINSCHAFT ÖFFENTLICHES RECHT I Bruno Binder/Margit Mayr-Weber 26. März 2014 1. TEST NAME: _____________________________________ VORNAME SS 2014 Punkte [50] ______ ZUNAME [in Blockbuchstaben!] 1. STREICHEN SIE FALSCHE TEXTPASSAGEN DURCH [5 Fehler] ! (1) Die Menschen leben in der Gesellschaft nach ihren gesellschaftlichen Normen. Die gesellschaftlichen Normen nennen wir „Ethik“ oder „gute Sitten“, sie beruhen auf moralischen Vorstellungen. Mit diesen gesellschaftlichen Normen befasst sich die Rechtswissenschaft.1) (2) Normen wollen durch Verhaltensmuster, die Menschen für andere Menschen formulieren, das tatsächliche Verhalten von Menschen ändern. Eine Norm zeigt daher, wie das Verhalten eines Normadressaten gerade nicht ist, weil ansonsten die Norm keinen Sinn hätte. Jede Norm gibt Antwort auf tatsächliches Verhalten, wir sprechen vom „Antwortcharakter der Normen“. (3) Der Staat wird mit den zwei2) Begriffen „Staatsvolk“ und „Staatsgebiet“ definiert. Er ist eine Organisation, die das Monopol physischer und psychischer3) Gewalt beansprucht und mit dieser Gewalt die Normen des Staats gegenüber jedem durchsetzt. „Gewaltmonopol“ des Staats bedeutet, dass nur der Staat körperliche Gewalt üben darf. Für die Menschen besteht ein Verbot, körperliche Gewalt zu üben. Dieses Gewaltverbot setzt der Staat – wenn nötig – mit körperlicher Gewalt durch. (4) Für das Rechtsverständnis entscheidend ist die Frage, woher das Recht kommt. Das „Vernunftrecht“4) meint, dass das Recht nur vom Staat kommt, also nur das Recht des Staats Recht ist. Die Meinung, dass nur staatliches Recht „Recht“ ist, nennt man „Rechtspositivismus“. (5) Wenn das Recht im Sinne des Rechtspositivismus nur vom demokratisch legitimierten Staat kommt, hat der Begriff der „Gerechtigkeit“ im Recht keinen Platz. Im Rechtspositivismus geht es um Gesetzmäßigkeit. Ob das gesetzmäßige Verhalten auch gerecht ist, ist eine Frage der politischen Beurteilung. Im Rechtspositivismus beschränken sich Gerechtigkeitsüberlegungen auf den Gleichheitssatz, also auf die Verpflichtung des Staats alle Menschen gleich zu behandeln und niemanden zu diskriminieren. (6) Dass die österreichische Bundesverfassung auf dem Standpunkt des Rechtspositivismus steht, damit Naturrecht, Vernunftrecht und Gottesrecht als verbindliches Recht ablehnt, folgt aus der Präambel des B-VG, die ausdrücklich den Rechtspositivismus als Grundlage der Rechtsordnung erklärt.5) 1. Der Begriff „Staat“ wird durch die drei „Staatselemente“, nämlich „Staatsgebiet“, „Staatsvolk“ und „Staatsgewalt“ definiert. X 2. Der Staat ist eine Organisation, die für sich das „Gewaltmonopol“ beansprucht. NEIN 2. KREUZEN SIE AN ! JA [5] ___ X 3. Unter „Gewaltmonopol“ des Staats versteht man den Anspruch des Staats, allein physische und psychische Gewalt ausüben zu dürfen. X 4. Der Staat verbietet allen Menschen auf seinem Staatsgebiet die Anwendung körperlicher Gewalt gegen andere Menschen (= „Gewaltverbot“). X 5. „Normen“ sind ein Phänomen des Staats, „Rechtsnormen“ sind ein Phänomen der Gesellschaft. Cyber-Arbeitsgemeinschaft Öffentliches Recht I SS 2014 X 1. TEST/Seite 1 6. Eine „Rechtsnorm“ ist eine verbindliche Anordnung des Staats, die er gegebenenfalls mit körperlicher Gewalt durchsetzt. X 7. Der „Konstitutionalismus“ verlangte insbesondere die Festlegung von Rechtserzeugungsregeln, die Festlegung der Gewaltenteilung, die Festlegung der parlamentarischen Demokratie und die Festlegung der Freiheitsrechte der Menschen in einem Verfassungsgesetz. X 8. In der „konstitutionellen Monarchie“ übt ein Monarch (= Alleinherrscher) die Staatsgewalt uneingeschränkt und unverantwortlich aus, weil Gott ihn als Herrscher eingesetzt hat (Gottesgnadentum). X 9. Der Staat, in dem die Ausübung der Staatsgewalt durch Verfassungsgesetze geregelt ist, ist ein „Verfassungsstaat“. X 10. In einer Rechtsordnung, die auf einem Stufenbau der Rechtsordnung beruht, die also „Verfassungsgesetze“ und „einfache Gesetze“ kennt, unterscheiden wir eine „Verfassung im formellen Sinn“ und eine „Verfassung im materiellen Sinn“. X 11. Die „Verfassung im formellen Sinn“ umfasst – ohne Einschränkung auf die förmlich als „Verfassungsgesetz“ beschlossenen Gesetze – alle Verfassungsgesetze und einfachen Gesetze des Staats, welche die politischen Forderungen des Konstitutionalismus (insbesondere Rechtserzeugungsregeln, Gewaltenteilung, Demokratie und Freiheitsrechte) umsetzen. X 12. Wir unterscheiden eine „Verfassung im materiellen Sinn“ und eine „Verfassung im formellen Sinn“ deswegen, weil Verstöße gegen die Verfassung im formellen Sinn als bloße „Formsache“ unbeachtlich sind. X 13. Die Verfassung sieht bestimmte Rechtsatzformen vor und überlässt die Schaffung weiterer Rechtssatzformen dem einfachen Gesetzgeber. X 14. Grundlage für die heute in Österreich geltende Verfassung (im formellen Sinn) ist das „Verfassungs-Überleitungsgesetz (V-ÜG) 1920“. X 15. Das Verfassungs-Überleitungsgesetz 1945 setzte die zuvor geltende „Ständische Verfassung 1934“ außer Kraft und das vor der Ständischen Verfassung 1934 geltende Bundes-Verfassungsgesetz 1920 (B-VG) wieder als Verfassung ein. X 16. Österreich wurde durch die Dezemberverfassung 1867 zur „konstitutionellen Monarchie“. X 17. Die „Ständische Verfassung 1934“ war Grundlage für das demokratische Österreich. X 18. Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) begründete 1918 die „Republik Österreich“. X 19. Österreich entstand 1918 als Republik unter Bruch der Dezemberverfassung 1867, also „revolutionär“. X 20. Vom Verfassungs-Überleitungsgesetz 1945 abgesehen, besteht die österreichische Bundesverfassung aus dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), aus weiteren Verfassungsgesetzen wie dem Staatsgrundgesetz 1867, dem Finanz-Verfassungsgesetz (F-VG) 1948, dem Neutralitätsgesetz 1955, aus vereinzelten Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen, etwa im Parteiengesetz und im Datenschutzgesetz 2000 (DSG 2000), und aus Verfassungsbestimmungen in Staatsverträgen, wie etwa in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (= EMRK). X 21. Die „Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)“ ist ein vom Europarat erarbeiteter multilateraler Staatsvertrag. X [7] ___ Cyber-Arbeitsgemeinschaft Öffentliches Recht I SS 2014 1. TEST/Seite 2 1. Art 9a Abs 3 B-VG: „Jeder männliche Staatsbürger ist wehrpflichtig.“ X 2. § 1 Parteiengesetz 2012. X 3. Nationalrats-Wahlordnung 1992 (NRWO). materiell formell 3. KREUZEN SIE AN ! FORMELLES UND/ODER MATERIELLES VERFASSUNGSRECHT ? X X 4. Art 8a Abs 1 Oö Landes-Verfassungsgesetz: „Die Farben des Landes Oberösterreich sind weiß-rot“. X 5. Art 24 B-VG: „Die Gesetzgebung des Bundes übt der Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat aus“. X X X 6. Art 82 Abs 1 B-VG: „Die ordentliche Gerichtsbarkeit geht vom Bund aus“. X 7. Neutralitätsgesetz 1955. X 8. Staatsgrundgesetz 1867 (StGG) X X 4. KREUZEN SIE AN ! NEIN JA [4] ___ 1. Das im Verfassungsrang stehende „Verbotsgesetz 1947“ untersagt jede politische Betätigung für die NSDAP oder ihre Ziele. Das Verbotsgesetz 1947 ist die verfassungsgesetzliche Grundlage der antifaschistischen Haltung der österreichischen Verfassungsordnung. X 2. Jede extremistische politische Betätigung gilt als „faschistisch“ und ist nach dem Verbotsgesetz 1947 und nach dem Staatsvertrag Wien 1955 verfassungsgesetzlich verboten. X 3. Totalitäre Regime, die mit der Ideologie des „Nationalsozialismus“ nicht in Zusammenhang stehen, sind vom Verbotsgesetz 1947 und vom Staatsvertrag von Wien 1955 nicht erfasst. X 4. Kennzeichen des „Faschismus“ sind Militarismus, Chauvinismus, Rassismus und Imperialismus. X 5. Der österreichische Ständestaat 1934 bis 1938/45 wird von manchen als „Austrofaschismus“ bezeichnet. X 6. Österreich ist „immerwährend neutral“. Die Neutralität ist im Neutralitätsgesetz 1955, das ein Bundesverfassungsgesetz ist, und im Staatsvertrag von Wien 1955 verankert. X 7. Österreich darf nach dem „Neutralitätsgesetz 1955“ keinem Militärbündnis beitreten. Ein Beitritt zur NATO wäre dennoch möglich, weil die Mitgliedschaft in der NATO ohnedies nur demokratischen Staaten vorbehalten ist. X 8. Die „Neutralität“ verpflichtet Österreich, sein Staatsgebiet und seine Souveränität mit allen zu Gebote stehenden Mitteln aufrecht zu erhalten und zu verteidigen. X 9. Die Mitwirkung Österreichs an der Gemeinsamen Sicherheitspolitik der Europäischen Union ist unbeschadet der österreichischen „Neutralität“ durch die besondere Bestimmung des Art 23j B-VG verfassungsrechtlich gerechtfertigt. X 10. Österreich ist ein „Sozialstaat“. Die Bundesverfassung richtet Österreich nicht ausdrücklich als Sozialstaat ein, doch lässt sich die Sozialstaatlichkeit mittelbar, insbesondere mit der Staatlichkeit und mit der egalitären Demokratie, begründen. X 11. Der „Sozialstaat“ verpflichtet die Staatsorgane, insbesondere die Parlamente, nach einer sozial gerechten Ordnung der Gesellschaft zu streben. Cyber-Arbeitsgemeinschaft Öffentliches Recht I SS 2014 X 1. TEST/Seite 3 12. Statt „Sozialstaat“ kann man auch „Wohlfahrtsstaat“ sagen. Dem Sozialstaat geht es – ebenso wie dem Wohlfahrtsstaat – ausschließlich um die Sicherung der Versorgung der Menschen mit lebensnotwendigen Gütern und Leistungen. X 13. Die Gleichstellung von Frau und Mann ist durch den Gleichheitssatz (Art 7 Abs 1 B-VG) verfassungsgesetzlich bestimmt. Art 7 Abs 1 B-VG gewährleistet, dass Frau und Mann tatsächlich in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Familie die gleiche Stellung einnehmen. X 14. Unter „positiver Diskriminierung“ verstehen wir (idR) Frauen bevorzugende Maßnahmen der staatlichen Organe zur Herstellung der tatsächlichen Gleichstellung von Frau und Mann. X 15. Der Staat ist verpflichtet, insbesondere durch Förderungen, auf die tatsächliche Gleichstellung und auf die Beseitigung tatsächlicher Ungleichheiten in der Stellung von Frau und Mann hinzuwirken (Art 12 B-VG). X [5] ___ 5. STREICHEN SIE FALSCHE TEXTPASSAGEN DURCH [8 Fehler] ! (1) Österreich ist nach der Bundesverfassung eine Demokratie. Das B-VG allerdings schließt das Volk von den Sachentscheidungen aus, lässt es dafür Vertreter, die man Abgeordnete nennt, in das Parlament wählen. Die Volksvertreter im Parlament treffen für das Volk die Sachentscheidungen. (2) Das B-VG kennt auch Volksabstimmungen, Volksbegehren und Volksbefragungen, weswegen man Österreich als „plebiszitäre Demokratie“ bezeichnet. Als „parlamentarische Demokratie“ gilt vor allem die Schweiz. (3) Österreich ist eine egalitäre Demokratie. Jeder Staatsbürger hat das gleiche politische Gewicht, gleichgültig, welche Herkunft, welche Bildung, welches Vermögen, welche Fähigkeiten ua er hat. Das zeigt sich insbesondere darin, dass jedem jedes politische Amt im Staat offen steht, wenn er durch entsprechendes politisches Vertrauen in dieses Amt berufen wird. Für die egalitäre Demokratie ist beispielsweise selbstverständlich, dass auch jemand ohne jede Schulbildung bei entsprechendem politischem Vertrauen Finanzministerin oder Finanzminister sein kann. (4) Die politischen Parteien bestimmen das politische Leben in Österreich. Politische Parteien treten bei der Wahl zu den Parlamenten als „Wahlparteien“ an. Die politischen Parteien sind im Parteiengesetz 2012, das zur Gänze im Verfassungsrang steht, geregelt. § 1 Abs 1 Parteiengesetz 2012 lautet: „Österreich ist eine demokratische Republik“. Politische Parteien dürfen in Österreich nur durch Bundesverfassungsgesetz verboten werden. Das Verbotsgesetz 1947 – ein einfaches Bundesgesetz – verbietet die Wiedererrichtung einer Partei mit den Zielen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), die Deutschland von 1933 bis 1945 und das von Deutschland okkupierte Österreich von 1938 bis 1945 beherrschte. (5) Die österreichische Bundesverfassung hat eine lange Geschichte. Die Geschichte der Verfassung beginnt im 19. Jahrhundert. Der Konstitutionalismus rang dem Monarchen die Dezemberverfassung 1867 ab. Die Verfassung schrieb die gesetzgebende Gewalt des Volks fest. Die Monarchie wurde damit zur „absoluten“ Monarchie. Österreich überwand schließlich die Monarchie und wurde 1945 zur demokratischen Republik. (6) Staatsoberhaupt der demokratischen Republik ist der Bundeskanzler. Das Staatsoberhaupt ist in der Republik für seine Amtsführung verantwortlich, der Monarch hingegen verantwortete sein Staatshandeln nicht und berief sich als Rechtfertigung für seine Macht auf das „Gottesgnadentum“. [8] ___ Cyber-Arbeitsgemeinschaft Öffentliches Recht I SS 2014 1. TEST/Seite 4 6. BEANTWORTEN SIE ! Österreich ist nach Art 1 B-VG eine demokratische Republik. Was versteht das B-VG unter „Republik“ ? Als Staatsform steht die Republik im Gegensatz zur Monarchie. In der Republik wird das Staatsoberhaupt ernannt oder gewählt, es ist für seine Tätigkeit verantwortlich. Das Staatsoberhaupt der Republik Österreich ist der Bundespräsident, der vom Volk gewählt wird. _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ [2] ___ 7. STREICHEN SIE FALSCHE TEXTPASSAGEN DURCH [10 Fehler] ! (1) Österreich ist ein gewaltenteiliger Rechtsstaat. Die Gewaltenteilung hat das Ziel, die Staatsgewalt in einzelne Staats(teil)gewalten aufzuteilen, das Gewaltpotenzial des Staats so zu reduzieren und eine wechselseitige Kontrolle der Staatsteilgewalten zu erreichen. Die Gewaltenteilung unterteilt die Staatsgewalt in eine Gesetzgebung, in eine Verwaltung und in eine Gerichtsbarkeit. (2) Die Gewaltenteilung ist kein Verfassungsgrundsatz, sie ergibt sich aus den Regelungen der einfachgesetzlichen Rechtsordnung. Gewaltenteilung ist ein altes Organisationsprinzip des Staats, schon die absolute Monarchie war gewaltenteilig organisiert. (3) Im Sinne der Gewaltenteilung ist die Staatsorganisation in eine Gesetzgebung der Parlamente und in eine den Parlamenten politisch verantwortliche Vollziehung geteilt. Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit zusammen nennt man „Vollziehung“. Im Rahmen der Vollziehung ist die Rechtsprechung der Richter unabhängig und der politischen Verantwortung entzogen. (4) An der Spitze der Vollziehung steht eine vom Parlament gewählte oder dem Parlament zumindest politisch verantwortliche Regierung, deren Aufgabe es ist, den Willen des Parlaments in der Vollziehung durchzusetzen. Die Regierungen (Bundesregierung und Landesregierungen) sind ihrem jeweiligen Parlament für ihr eigenes Tun, aber auch für alle Vorgänge in der Vollziehung politisch verantwortlich. Wegen dieser politischen Verantwortung ist die Unterwerfung der gesamten Vollziehung unter die Leitung der Vollziehungsspitze unerlässlich. Deshalb erlaubt die Bundesverfassung auch keine weisungsfreien Bereiche in der Vollziehungsorganisation. (5) Die politische Spitze der Vollziehung, die Regierung, leitet sowohl die Verwaltungsorganisation als auch die Gerichtsorganisation, sie ist für beide Organisationen dem Parlament politisch verantwortlich. Die Richter sind aber weisungsfrei gestellt und mit den richterlichen Privilegien der Unversetzbarkeit und der Unabsetzbarkeit vor politischen Einflussnahmen und Pressionen geschützt. Cyber-Arbeitsgemeinschaft Öffentliches Recht I SS 2014 1. TEST/Seite 5 (6) Österreich ist nicht nur gewaltenteilig organisiert, auf der Grundlage der Gewaltenteilung ist Österreich auch ein Rechtsstaat. Der Rechtsstaat verlangt die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Vollziehungshandelns anhand von generellen, allgemein kundgemachten Gesetzen. Es muss für jedermann anhand der Verfassung vorhersehbar und berechenbar sein, welche Regelungen das Parlament inhaltlich in seinen Gesetzen erlässt. (7) Die Tätigkeit der Verwaltung können wir inhaltlich mit „Daseinsvorsorge“, die Tätigkeit der Gerichte mit „Streitentscheidung“ beschreiben. (8) Im idealtypischen Sinn des Konstitutionalismus ist „Gesetzgebung“ der Erlass generell-abstrakter Rechtsnormen, die in der parlamentarischen Demokratie dem vom Volk gewählten Parlament vorbehalten ist. „Vollziehung“ hingegen ist der Erlass individuell-konkreter Rechtsnormen auf der Grundlage der Gesetze. Das B-VG orientiert sich an dieser Vorstellung, übernimmt sie aber nicht präzise. So erlaubt es das B-VG den Parlamenten, in Gesetzesform auch individuell-konkrete Rechtsnormen, etwa sogenannte „Einzelfallgesetze“, zu erlassen. Der Verwaltung gestattet die Verfassung, auch generelle Rechtsnormen, die „Verordnungen“, zu erlassen (Art 18 Abs 1 B-VG). Weil das B-VG von der idealtypischen Vorstellung der Gewaltenteilung abweicht, unterscheiden wir Gesetze „im materiellen Sinn“ und Gesetze „im formellen Sinn“. Gesetze im materiellen Sinn sind alle vom Parlament beschlossenen Rechtsnormen ohne Rücksicht auf ihren Inhalt. Gesetze im formellen Sinn sind alle Rechtsnormen mit generell-abstraktem Inhalt ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Parlament oder von der Vollziehung erlassen werden. Verordnungen sind Gesetze im formellen Sinn. (9) Weil sich das B-VG nicht präzise an die idealtypische Vorstellung der Gewaltenteilung hält, unterscheidet es auch innerhalb der „Gesetzgebung“ die „Verwaltung“ und die „Gerichtsbarkeit“ nicht nach materiellen, sondern nach formellen Gesichtspunkten. „Verwaltung im materiellen Sinn“ wäre die Sorge der Vollziehung für das Wohl der Allgemeinheit (= Daseinsvorsorge), „Gerichtsbarkeit im materiellen Sinn“ die Streitentscheidung. Das B-VG sieht ohne Rücksicht auf den Inhalt alles als Verwaltung, was Verwaltungsorgane tun. Und alles als Gerichtsbarkeit, was Richter tun. Typisch für die Stellung der Verwaltungsorgane ist ihre Weisungsbindung, typisch für die Stellung der Richter sind ihre richterlichen Privilegien der Weisungsfreiheit, der Unabsetzbarkeit und der Unversetzbarkeit. Daher versteht das B-VG unter Verwaltung das staatliche Handeln weisungsgebundener (oder weisungsgebender) Vollziehungsorgane, unter Gerichtsbarkeit das staatliche Handeln von mit den richterlichen Privilegien ausgestatteten Vollziehungsorganen. Das B-VG geht so von einem formell-organisatorischen Verwaltungsbegriff aus. [10] ___ 8. BEANTWORTEN SIE ! 1. Was bedeutet „Unabhängigkeit der Justiz“ ? Unter der Unabhängigkeit der Justiz verstehen wir die Unabhängigkeit der Richter, die sich in den richterlichen Privilegien zeigt: Im sachlichen Privileg der Weisungsfreiheit; und im persönlichen Privileg der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit der auf Lebenszeit bestellten Richter. Die gesamte Vollziehung – sowohl die Verwaltungsorgane als auch die Gerichtsorgane – untersteht der Leitung der Regierung. So gibt es zwar keine von der Regierung unabhängige Gerichtsbarkeit, wohl aber in den rechtsprechenden Aufgaben unabhängige Richter. _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ 2. Warum ist die Justiz unabhängig ? Die Justiz ist unabhängig, weil ansonsten die Regierung als oberstes Organ der Vollziehung die Rechtsprechung missbrauchen könnte, um politisch missliebige Personen, insbesondere mit dem Strafrecht, zu verfolgen. Versuche der Regierung, Menschen aus politischen Gründen durch die Gerichte verfolgen zu lassen, nennen wir Kabinettsjustiz. Cyber-Arbeitsgemeinschaft Öffentliches Recht I SS 2014 1. TEST/Seite 6 _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ _________________________________________________________________________________ 1. X „Rechtsnormen“ können generell, individuell, abstrakt, konkret sein. NEIN 9. KREUZEN SIE AN ! JA _ [3] ___ 2. Nach ihrem Adressatenkreis werden „abstrakte“ und „konkrete“ Rechtsnormen unterschieden. 3. Eine „generelle“ Rechtsnorm gilt grundsätzlich für alle. X X 4. Eine „individuelle“ Rechtsnorm hat immer eine Regelung zum Inhalt, die sich auf einen bestimmten Sachverhalt bezieht. X 5. Die gesetzliche Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen ist keine „generelle“ Rechtsnorm, weil sie nur für Autolenker gilt. X 6. Das Finanzamt fordert von einem Unternehmer eine Steuernachzahlung in der Höhe von € 10.000,--. Diese Rechtsnorm ist generell-abstrakt. X 7. Die Studiengesetze verlangen, dass Studierende, die ein Studium an der Universität aufnehmen wollen, die Matura haben. Diese Rechtsnorm ist individuell-konkret. X 8. Die Behörde nimmt einem Autofahrer den Führerschein ab. Diese Rechtsnorm ist individuell-konkret. X 9. Die „Gewaltenteilung“ teilt die Staatsgewalt in eine Gesetzgebung und in eine Vollziehung, die Vollziehung in die Verwaltung und in die Gerichtsbarkeit. 10. An der Spitze der Vollziehung steht die „Regierung“. X X 11. Die „Regierung“ als oberstes Organ der Vollziehung kann vom Parlament für alles, was in der Vollziehung geschieht, politisch verantwortlich gemacht werden. X 12. Die „parlamentarische Demokratie“ geht davon aus, dass der politische Wille des Volks im vom Volk gewählten Parlament und in den Gesetzen des Parlaments festgelegt und formuliert wird. Die Vollziehung wird (von Ausnahmen abgesehen) nicht vom Volk gewählt. Die Spitze der Vollziehung (Regierung) wird jedenfalls nicht vom Volk gewählt; sie ist aber dem Parlament (Volksvertretung) politisch verantwortlich. X 13. Die „politische Verantwortung“ der Regierung bedeutet die Möglichkeit zur Abberufung der Regierung bei Vorliegen eines gesetzwidrigen Verhaltens der Regierung bzw eines Regierungsmitglieds. X 14. Parlamentarisches Regierungssystem meint ein Regierungssystem, in dem das Parlament die Regierung wählt und diese auch wieder abwählen kann. Die Regierung ist daher vom Vertrauen des Parlaments abhängig, dem Parlament verantwortlich. Das parlamentarische Regierungssystem gilt uneingeschränkt im Bund und in den Ländern. X 15. Der „Rechtsstaat“ ist ein Gesetzesstaat. Das Handeln der Vollziehungsorgane ist in allgemein kundgemachten Gesetzen festgeschrieben. X 16. „Polizeistaat“ ist der begriffliche Gegensatz zum Rechtsstaat. Im vorkonstitutionellen Polizeistaat, der insbesondere keine Gewaltenteilung kennt, liegt die gesamte Staatsgewalt undifferenziert und uneingeschränkt in der Hand eines Machthabers. 17. X Im „Rechtsstaat“ ist die Gesetzgebung vorhersehbar und berechenbar. X 18. Dem Rechtsstaat liegt der Grundsatz der „Trennung von Staat und Gesellschaft“ zugrunde. X [6] ___ Cyber-Arbeitsgemeinschaft Öffentliches Recht I SS 2014 1. TEST/Seite 7