Durch die Sünde zur Erlösung

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Durch die Sünde zur Erlösung
Die Faszination, die Georg Lukäcs auf die westliche Intelligenz ausgeübt hat, hat ihren Grand
in der Ablehnung des gewöhnlichen Menschenverstandes und der konventionellen Moral, in
der Schaffung einer esoterischen Lehre für eine Elite und dem Glauben an diese Elite. Lukäcs
lieferte die berauschende Vision des seligmachenden Augenblicks nach den „letzten Dingen".
Was könnte ein Eingeweihter mehr verlangen?
Den ersten Hinweis auf diese Geheimlehre gab Franz Borkenau, der früher selbst Kommunist
gewesen war, in seinem 1939 in England erschienenen Buch „The Communist International".
In einem Abschnitt über die verschiedenen Fraktionen innerhalb der kommunistischen
Parteien Österreichs und Ungarns zitierte er einen Artikel über Lukäcs, den Ilona Duczynska,
die Frau von Karl Polänyi und selbst „apostolisches Mitglied" des Zirkels, verfaßt hatte: „Ein
Theoretiker, der vielleicht der einzige Kopf des ungarischen Kommunismus war,
beantwortete meine Frage, ob Parteiführer ihre eigenen Genossen belügen und täuschen
dürften, mit folgender Feststellung: Die kommunistische Ethik mache die Anerkennung der
Notwendigkeit, Böses zu tun, zur höchsten Pflicht. Dies, so erklärte er, sei das größte Opfer,
das uns die Revolution abverlange. Der wahre Kommunist sei davon überzeugt, daß sich das
Böse durch die Dialektik der Geschichte in Gutes verwandele Die dialektische Theorie des
Bösen ist nie veröffentlicht worden — Dennoch hat sich dieses kommunistische Evangelium
als eine Geheimlehre von Mund zu Mund ausgebreitet, bis man darin schließlich den
eigentlichen Maßstab für einen wahren Kommunisten erblickte Diese Bemerkungen fanden
damals wenig Beachtung, denn sie standen versteckt in einem Kapitel über die „Fraktionen"
einer obskuren kommunistischen Bewegung, das sich mit den Anschauungen von „ungefähr
dreißig Leuten, die in Wiener Kaffeehäusern herumsitzen", beschäftigte. Und der Theoretiker
selbst, den Borkenau als Lukäcs identifizierte, war außerhalb kommunistischer Zirkel damals
praktisch unbekannt. In verkappter Form hat Thomas Mann in seinem Roman „Der
Zauberberg" (1924) ein beklemmendes Portrait von Lukäcs entworfen — in der Gestalt Leo
Naphtas, des jüdisch jesuitischen Revolutionärs, der den liberalen Settembrini entsetzt, indem
er den Terror kaltherzig als Mittel zur Befreiung der Epoche von dem dümmlichen liberalen
Glauben an das Gute befürwortet. „Das Proletariat (so Naphta) hat das Werk Gregors des
Großen aufgenommen, sein Gotteseifer ist in ihnij und so wenig wie er wird es seine Hand
zurückhalten dürfen vom Blute. Seine Aufgabe ist der Schrecken zum Heile der Welt und zur
Gewinnung des Erlösungsziels, der Staats- und klassenlosen Gotteskindschaft "
Als Settembrini. Naphta die Ungereimtheiten seines Glaubens an, den Dualismus von
christlichem„Msia;nismus, und Spzialisirms; vorhält, entgegnet Naphta: „Gegensätze mögen
sich reimen " Daß Lukäcs in mancher Hinsicht für die Gestalt Naphtas Modell stand, hat
schon Arthur Eloesser 1925 in der ersten autorisierten Thomas MannBiographie angedeutet,
wo er versucht, die lebendigen Vorbilder für die verschiedenen Gestalten des „Zauberbergs"
zu identifizieren. Daß Mann selbst sich zu dieser Verbindung nicht äußern mochte, ist
verständlich.
In der faszinierenden Gestalt Leo Naphtas, dieses „rasenden Theoretikers und stählernen
Logikers", wie Eloesser ihn nennt, und in der rätselhaften Person von Georg Lukäcs gehen
Maske und Gesicht nahtlos ineinander über. Ist es Naphta oder Lukäcs, der sagt: Wenn wir
die Saat des Zweifels tiefer säen, als es das gegenwärtige, modische Freidenkertum je wagte,
dann wissen wir durchaus, was wir tun. Nur aus radikaler Sepsis, aus dem moralischen Chaos,
kann das Absolute hervorgehen, der geweihte Schrecken, dessen unsere Zeit bedarf "
Georg Lukäcs wuchs im Milieu des assimilierten jüdischen Großbürgertums auf, das in
Ungarn unterhalb einer älteren Schicht von Aristokraten rangierte und das, wie es in vielen
kosmopolitischen „Kompressionskammern" dieser Art der Fall war, eine bemerkenswerte
Zahl außergewöhnlicher Individuen hervorbrachte: Naturwissenschaftler wie Michael Polänyi
und John von Neumann; Intellektuelle wie Oskar Jäszi und Karl Polänyi; Soziologen wie Karl
Mannheim, Kunsthistoriker wie Arnold Hauser und Frederick Antal. Viele von ihnen
gehörten zu Lukäcs „Sonntagskreis", der sich während des Ersten Weltkriegs regelmäßig in
Budapest versammelte.
Es gab wenige Familien, die so reich und einflußreich waren wie die von Jözsef Löwinger,
dem Vater von Georg Lukäcs. Jözsef Löwinger, Sohn eines Steppdeckenfabrikanten aus der
südungarischen Provinzstadt Szeged, verließ mit dreizehn Jahren die Schule, wurde mit
achtzehn Angestellter einer Bank und war mit fünfzig Direktor der Ungarischen Allgemeinen
Kreditbank und zugleich einer der mächtigsten Männer in Österreich Ungarn.
Die Mutter, in Budapest geboren, aber deutschsprachig, stammte aus einer der ältesten und
wohlhabendsten jüdischen Familien in Osteuropa; diese Familie hatte während der
voraufgegangenen zweihundert Jahre einige der bekanntesten Talmudgelehrten und Rabbis
hervorgebracht. Lukäcs Familie war zwar vollkommen assimiliert, aber Georgs Privatlehrer
kam aus einer der tonangebenden jüdischen Familien; der Bruder dieses Lehrers, ein
Kantianer, war Oberrabbi der Zentralsynagoge. Georg Lukäcs, geboren 1885, trat im Alter
von zweiundzwanzig Jahren zum evangelischen Glauben über, allerdings, wie es scheint,
nicht aus intellektuellen Gründen, sondern aus Klugheitserwägungen.
Jözsef Löwinger wurde im Jahre 1901 geadelt, wofür er eine beträchtliche Summe zahlte, und
führte seither den Namen „von Lukäcs". 1906 wurde er Hofrat und außerdem Ratgeber und
persönlicher Freund von Istvan Tiza, dem erzkonservativen Staatsmann und
Ministerpräsidenten. Insofern spielte er in kleinerem Maßstab eine ähnliche Rolle wie der
jüdische Bankier Bleichröder in bezug auf Bismarck.
Spannungen innerhalb der Familie ergaben sich daraus, daß Lukäcs Verhältnis zu seiner
Mutter ganz anders beschaffen war als das zu seinem Vater. Während er seinen Vater
respektierte, verabscheute er seine Mutter — ihr großbürgerliches Gehabe, die leeren
Gesellschaftsrituale, ihren matriarchalen Despotismus und vielleicht auch die Tatsache, daß
sie den älteren, geistig trägen Bruder Jänos bevorzugte. Georg Lukäcs hat ihn in seinen
Erinnerungen nie erwähnt. Jänos starb während des Zweiten Weltkriegs in einem deutschen
Konzentrationslager. Georg quälte seine Mutter, indem er sich mit ihr auf ungarisch
unterhielt, einer Sprache, die sie nie ganz beherrschte. Stolz behielt Georg Lukäcs das „Von"
vor seinem Namen, bis er der Kommunistischen Partei beitrat, und lebte während dieser Jahre
von den ansehnlichen finanziellen Zuwendungen seines Vaters. Aber schon im Gymnasium
faszinierte ihn, wie sein Freund Lajos Fülep bemerkte, die franziskanische Armut. Die
„absolute Wahrheit" des heiligen Franziskus „machte auf Lukäcs und einige seiner Freunde
einen nachhaltigen Eindruck". In jenen frühen Jahren pflegte Lukäcs nacheinander mit drei
Freunden eine „mystische Bruderschaft" - mit Leo Popper, Ernst Blöch und Bela Baläsz,
obgleich Popper ein Hedonist war, Bloch ein Nassauer und Baläsz ein Frauenheld, während
Lukäcs meist eine asketische Haltung einnahm.
Ihre große Offenbarung fanden sie in Nietzsche, dem „größten Propheten des Zeitalters". Zu
jedem erdenklichen Thema, das ihn interessierte — literarischer Stil, Eros, Religion,
Schicksal — konsultierte Lukäcs die Werke von Nietzsche und ließ sich in imitatione dei
sogar einen Schnauzbart wachsen. Immerzu ging es in diesen Freundschaften um
Selbstdarstellung, und jeder der Beteiligten spielte seinen eigenen Dämon — Lukäcs den
Faust und Baläsz den Don Juan.
Dreh- und Angelpunkt in Lukäcs früher Zeit war eine heftige Schwärmerei für die Malerin
Irma Seidler, „die Gebieterin seiner Seele", die er idealisierte, während er in erotischer
Beziehung Distanz wahrte. Aus dem Blickwinkel Otto Weiningers sah Lukäcs nämlich im
Mann das schöpferische Wesen, in der Frau hingegen die bloße Natur. Aber Irma verwirrte
ihn. Gequält von ihrer unerfüllten Liebe zu Lukäcs und gedemütigt durch die Art, wie Baläsz
sie zum Opfer seiner sexuellen Begierde machte, beging sie im Mai 1911 Selbstmord.
Von Schuldgefühlen erschüttert und gepeinigt von dem Gedanken, ein großer Sünder zu sein,
fand Lukäcs den rettenden Ausweg in Dostojewski], der mehr als jeder andere zum
Ariadnefaden in das Labyrinth des Minotaurus wurde. Dostojewski] lehrte Lukäcs, daß ein
Leben in Rechtschaffenheit die Reinheit oder Lauterkeit voraussetzt, daß man aber durch die
Sünde zur Erlösung gelangen kann.
Das Thema Reinheit und Sünde trieb Lukäcs jahrelang um und führte ihn über gespenstische
Pfade auf Friedhöfe, von denen er nie mehr zurückkehrte. Von Dostojewskij lernte er die
doppelte Wahrheit: die Pflicht gegenüber den Institutionen und die Pflicht gegenüber der
Seele. Die erstere lehnte er ab, die letztere machte er sich zu eigen. Während vieler Jahre
kämpfte Lukäcs mit einem Buch über Dostojewskij — einem ethischen System, das den
Mystizismus mit dem revolutionären Terror, die Verdammnis mit der Erlösung vereinen sollte
, aber schließlich gab er das Projekt auf und ließ das Manuskript in einem Bankschließfach in
Heidelberg zurück, das erst nach seinem Tod wieder geöffnet werden sollte. Wenn dieses
Milieu durch eine bestimmte Stimmung geprägt war, dann durch die Angst. Aus der zeitlichen
Distanz läßt sich schwer klären, wie ernst man die klischeehaften Ausrufe nehmen soll, die
aus dieser alles durchdringenden Angst hervorbrechen „Wie verachtenswert sind die
grotesken, philisterhaften Bürgerseelen. Wie ich dieses Leben hasse", schrieb Lukäcs in sein
Notizbuch.
In einer Richtung lag der subtile, parfümierte Ästhetizismus Stefan Georges, der sich ganz der
Dichtung, der Schönheit und der Idealisierung des Homoerotischen im Kultus der Jugend
verschrieben hatte. Sein Bild von Hellas leitete dieser Ästhetizismus von Hölderlin her; sein
ganzer Habitus war vom Glauben an den Adel des Geistes geprägt.
Diese Welt, so attraktiv sie sein mochte, war Juden verschlossen, auch wenn sie jener
Generation angehörten, die ihren Namen zum erstenmal ein „Von" hinzugefügt hatte. Die
entwurzelten Kinder dieser Generation schnitten zugleich aber auch alle Verbindungen zur
Welt ihrer Eltern ab. Das Jüdische war nur für einzelne unter ihnen, für Franz Rosenzweig,
Martin Buber und Gerhard (Gershom) Scholem (dessen Bruder Kommunist wurde), ein Weg,
aber dieser Weg führte von den klassischen Traditionen der europäischen Kultur fort, die sich
Lukäcs und viele andere seiner Generation zu eigen machen wollten.
In der kulturellen Orientierungslosigkeit dieser Generation wurde die Idee der Entfremdung
für viele ihrer Angehörigen zur Initiation in die Mysterien, und ihre Schutzpatrone fanden sie
in Autoren, die diese Leidenschaft in einer religiös geprägten Sprache ausdrückten - in
Kierkegaard und Dostojewskij. Religiös war sie allerdings im Sinne einer Suche nicht nach
Gott, sondern nach einer Gottheit, in der das Ich mit dem Absoluten verschmolz.
In den beiden bedeutenden Essaybänden, die Lukäcs während seiner Heidelberger Jahre
veröffentlichte („Die Seele und die Formen" und „Die Theorie des Romans"), taucht immer
wieder das Thema der „Seelenlosigkeit" des gegenwärtigen Lebens auf, die nur durch die
ästhetische Form bezwungen werden könne. Der Bezirk der Ästhetik ist die von Entfremdung
unberührte, autonome Wertsphäre, eine Welt idealer Wesenheiten. Der Künstler selbst hat es
mit konkreten Bildern zu tun, aber ihre Bedeutung liegt in den Formen, und sie zu
entschlüsseln ist Aufgabe der philosophischen Kritik.
Die alte Form war das Epos, die homerische Welt, in der sich die Seele keines Zwiespaltes
zwischen ihr und der Welt bewußt war, die organische Welt der „Gemeinschaft", die von
Entfremdung nichts wußte — ein merkwürdiges Beispiel für eine Ideologie im klassischen
Sinne von Marx, typisch für die deutsche Romantik, die die Sklaverei im antiken
Griechenland nicht zur Kenntnis nahm. Das Epos, so schrieb Lukäcs in der „Theorie des
Romans", könne nur erneuert werden, wenn die Wirklichkeit wieder zur „naiv erlebten
Selbstverständlichkeit" werde, wenn sie als eine „neue und abgerundete Totalität" erfahren
werde, in der wir „unsere gespaltene Realität" so überwunden haben, wie wir die Welt der
Natur hinter uns gelassen haben.
Dem Motiv der Totalität fügt Lukäcs die Idee der Geschichtlichkeit hinzu. Lukäcs war, wie
Lee Congdon bemerkt hat, fasziniert von der Geschichtsphilosophie, die Fichte zwei Jahre vor
dem Erscheinen von Hegels „Phänomenologie des Geistes" in seinen „Grundzügen des
gegenwärtigen Zeitalters" (1804 1805) umrissen hatte. Lukäcs griff auf einen Begriff von
Fichte zurück und machte ihn zum Leitmotiv seines Buches. Wir leben, so erklärte er im
Anklang an Fichte auf der letzten Seite seines Buches (1914 15), in der „Epoche der
vollendeten Sündhaftigkeit" — und nur in den Werken Dostojewskijs (der „keine Romane
geschrieben hat") finde sich die verlockende Vision eines neuen Zeitalters.
Fichte war der Auffassung, jede Epoche müsse ihren tiefsten Punkt durchlaufen, ehe sie in die
nächste Epoche übergehen könne. Der aus Ungarn emigrierte Schriftsteller Ervin Sinkö
(dessen Roman „Die Optimisten" eine unschätzbare Quelle für die Zeit der Ungarischen
Räterepublik darstellt) hat berichtet, daß Lukäcs oft über Fichte sprach: „ der gesagt hat, die
Menschheit müsse auf dem Weg zu ihrer Rechtfertigung das Zeitalter der absoluten
Sündhaftigkeit durchlaufen. Heute ist dieses Zeitalter gekommen, und wer es versäumt, das
Gebot der Zeit zu befolgen, der lehnt nicht die Sünde ab, sondern den einzigen Weg, der aus
der Sünde herausführt " Im Bereich der Ästhetik, so schrieb Paul Tillich einmal, herrscht eine
„Spannung zwischen dem Formschaffenden und dem Formzerstörenden, auf der das
Dämonische beruht". In dem Streben nach Überwindung der Entfremdung wird das
Dämonische zum Mittel der Negation „bei der vergeblichen Suche nach einer absoluten
Wirklichkeit", die die ästhetische Distanz zu den dämonischen Mächten und den Widerstand
gegen sie überstrahlen soll.
Die außerordentliche Bedeutung von Georg Lukäcs für die Geschichte der modernen
Intelligenz besteht demnach darin, daß er zum erstenmal bewußt — in dem Wissen um die
Gefahr, die mit einem solchen Sprung über den „Abgrund der Sinnlosigkeit" verbunden ist —
aus dem Bezirk der Ästhetik in den der revolutionären Politik überwechselte und dabei die
dämonischen Mächte mitbrachte. Das Dämonische, so könnte man sagen, ist das Pendant zu
Hegels „Weltgeist". Im Dezember 1918, kurz nach der Gründung der Ungarischen
Kommunistischen Partei, veröffentlichte Lukäcs einen Aufsatz mit dem Titel „Der
Bolschewismus als moralisches Problem". Wird die Revolution, so fragte er dort, in
Unterdrückung enden? Wenn man diese Frage bejahe, dann müsse man „das Schlechte als
Schlechtes, die Unterdrückung als Unterdrückung, die neue Klassenherrschaft als
Klassenherrschaft bezeichnen". Die von Razumichin in „Schuld und Sühne" geäußerte
Ansicht, daß es möglich sei, „sich durchzulügen bis zur Wahrheit", sei ein Glaube, ähnlich
dem Zeilen", so Lukäcs, „kann diesen Glauben nicht teilen, und daher sieht er in den Wurzeln
der bolschewistischen Position ein unlösbares moralisches Problem "
Eine Woche später trat Lukäcs der Kommunistischen Partei bei. Wie Kierkegaard hatte er den
Sprung über den Abgrund des Glaubens getan, der zur „Metamorphose der ganzen Existenz
eines Menschen" führt, in diesem Fall jenen Sprung zum Politischen, der — auf gleichsam
eschatologische Weise — eine ganze Gruppe von „Virtuosen" der politischen Moral
hervorbrachte, deren Leben sich in einem ständigen Wechsel zwischen Sünde und Läuterung
bewegte und die ständig in schrecklicher Ungewißheit darüber lebten, ob am Ende die
Erlösung oder die Verdammnis stehen würde. Aber hinter Lukäcs Schritt stand keine Regine
Olson, wie bei Kierkegaard, sondern eine halbverrückte russische Revolutionärin, Jelena
Grabenko, die Lukäcs erste Frau wurde. 1913 hatte Lukäcs sie kennengelernt, eine kleine,
temperamentvolle, fiebernde Frau. Sie war Mitglied einer Terroristengruppe der Russischen
Sozialrevolutionären Partei gewesen und hatte einmal ein Baby ausgeliehen und mit sich
herumgetragen, um darunter eine Bombe zu verstecken.
Bela Baläsz notierte in seinem Tagebuch: „Sie ist ein wundervolles Beispiel der
DostojewskijGestalten. Alle ihre Geschichten, alle Einfalle und Gefühle könnten aus
Dostojewskijs phantastischsten Kapiteln stammen. Sie war Terroristin. Jahrelang
eingekerkert. In der entsetzlichen Arbeit hat sie Nerven, Magen und Lunge zugrunde
gerichtet. Jetzt ist sie krank und müde Mit ihrer Neigung zur Promiskuität und zum
Bohemeleben war sie für Lukäcs das Ebenbild der heiligen Hure Sonja. Und zum Entsetzen
seiner Familie heiratete er sie.
Es wurde eine Groteske daraus. Sie bezogen ein Haus in Heidelberg, das sich bald zu einer
meKlavier; Lukäcs machte die Betten und wusch das Geschirr ab, und ihr Liebhaber, der
Pianist Bruno Steinbach, stapfte wütend herum und schlug Jelena gelegentlich. Bald waren
die drei mit den Nerven so fertig, daß sie sich in Behandlung zu Karl Jaspers begaben, der
damals als Psychiater praktizierte. Der Nervenzustand von Lukäcs führte zu seiner Befreiung
vom Militärdienst. Aber Jelena machte Lukäcs auch mit den Schriften von Boris Sawinkow
bekannt, dem Terroristenführer der Sozialrevolutionären Partei, der 1909 unter dem
Pseudonym V. Ropschin den Roman „Das fahle Pferd" mit seinen Anklängen an die
Apokalypse des Johannes veröffentlicht hatte. Für Ropschin war der Terrorismus ein Akt der
Liebe, eine Tat, die, wie die Auferstehung Christi, in den „Sozialismus und den Anbruch des
Paradieses auf Erden" münden werde.
Diese Passagen, die Jelena für Lukäcs übersetzte, wurden der Angelpunkt seiner
„Konversion". In dem Aufsatz „Taktik und Ethik", seiner Version einer „Zustimmungslehre",
den er kurz nach seinem Parteibeitritt verfaßte, rechtfertigt es Lukäcs, daß der einzelne „auf
dem Altar der höheren Idee sein minderwertiges Ich opfert", um dem „Befehl der
welthistorischen Situation" zu genügen. Der Aufsatz endet mit einem Verweis auf die Thesen
von Sawinkow: „Morden ist nicht erlaubt, es ist eine unbedingte und unverzeihliche Schuld;
es darf zwar nicht, aber es muß dennoch getan werden. Mit anderen Worten: Nur die
mörderische Tat des Menschen, der unerschütterlich und alle Zweifel ausschließend weiß, daß
Mord unter keinen Umständen zu billigen ist, kann — auf wahrhaftige und tragische Weise —
moralischer Natur sein "
Auf den Zusammenbruch der Donaumonarchie folgte in Ungarn eine demokratische
Regierung unter der Leitung des Grafen Mfäly Kärolyi. Die Kommunistische Partei, 1918 von
dem gerade aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Bela Kun gegründet,
erklärte ihre Opposition. Die Parteizeitung Vöris proletarischen Revolution auf und
verkündete, das Proletariat habe das Recht, die Bourgeoisie „zu hängen und zu begraben".
Um die zunehmende Gewalt unter Kontrole zu bringen, ließ die Regierung Kärolyi den
größten Teil des Zentralkomitees der Partei, darunter B61a Kun, verhaften. Ein neues
Zentralkomitee unter der Führung von Tibor Szamuely und Lukäcs trat an seine Stelle. Ohne
Wissen Kuns begannen sie mit den Vorbereitungen für einen bewaffneten Aufstand. Dazu
Rodney Livingstone: „Es sollte mit einem Generalstreik beginnen, gefolgt von einer
bewaffneten Erhebung, der Exekution bürgerlicher Geiseln und einer dreitägigen Herrschaft
des Lumpenproletariats von Budapest. Dann sollte die Partei die Ordnung wiederherstellen
und eine proletarische Republik bilden "
Der Aufstand fand nicht statt, weil der Druck der Entente Mächte auf die territoriale Integrität
Ungarns zum Zusammenbruch der Regierung Kärolyi führte. Ein von Kun aus dem Gefängnis
heraus vereinbarter Zusammenschluß von Soziademokraten und Bolschewisten führte zur
Proklamation der Ungarischen Räterepublik. Mit stets wachem Gespür für den Zeitgeist
schrie: Lukäcs einen Aufsatz unter dem Titel „Partei und Klasse", in dem er erklärte „Die
Parteiei hörten auf zu existieren — es gibt jetzt ein einheitliches Proletariat: Das ist die
entscheidend; theoretische Bedeutung dieser Vereinigung. Die ungarische Revolution hat
gezeigt, daß diese Revolution ohne den Bruderkampf der Proletarier möglich ist. Somit
gelangt die Weltrevolution in ein immer fortgeschritteneres Stadium Die Ungarische
Räterepublik währte 133 Tage. Sie war zwar nicht durch einen Aufstand, sondern durch ein
friedliches Abkommen zustande gekommen, aber ihre Vorkämpfer, die sogenannten
Szamuely Kommandos, durchstreiften das Land, um Terror zu verbreiten. Lukäcs wurde
stellvertretendei (faktisch aber leitender) Volkskommissar für Unterricht und erklärte, seine
Aufgabe sei die , volutionierung der Seelen". Er gründete einen Nationalrat für Erzeugnisse
des Geistes. Die Buchhandlungen wurden geschlossen und durch Büchertische ersetzt, die die
Literatur bei allen öffentlichen Versammlungen vertreiben sollten. Das Urheberrecht wurde
abgeschafft, und die Schriftsteller erhielten, entsprechend ihrer Einordnung in ein bestimmtes
Kategorienschema, über die ein Sonderausschuß befand, einen Monatslohn. Die Theater
wurden verstaatlicht, und ihren Leitern wurde gesagt, was sie nicht mehr aufführen sollten
(ungarische Operetten zum Beispiel). Für volle Säle wurde gesorgt, indem man die
ungarischen Proletarier in langen Marschkolonnen von den Fabriken in die Theater führte.
Das alles schmeichelte den Schauspielern und Theaterdirektoren so lange, bis sie selbst in die
Provinz abkommandiert wurden, und dann traten sie in den Streik. Daraufhin ließ Lukäcs die
Theater unter dem Vorwand schließen, es sei kein Papier für Programmhefte vorhanden.
Welcher Mystagoge ist in seinen Träumen nicht auch Militärbefehlshaber? Lukäcs wurde
Politkommissar der Fünften Division. In den letzten Gesprächen mit seinem Biographen
Istvän Eörsi erinnert er sich: „Ich meldete mich für diese Arbeit und wurde nach Tiszafüred
geschickt. Die Verteidigung Tiszafüreds war sehr schlecht gelungen, weil die Budapester
Rotarmisten, ohne auch nur einen Schuß abzugeben, davonliefen. Und da habe ich auf sehr
energische Weise die Ordnung wiederhergestellt, das heißt, als wir nach Poroszlö übersetzten,
rief ich ein außerordentliches Kriegsgericht zusammen und ließ dort auf dem Marktplatz acht
Leute dieses davongelaufenen Bataillons erschießen. Dadurch war dort die Ordnung im
großen und ganzen wiederhergestellt " Und welcher Politkommissar könnte der Versuchung
widerstehen, Reden zu halten? In Knickerbockers, grünen Strümpfen und schweren
Wanderschuhen sprach Lukäcs zu den erschöpften Truppen: „Die Jugend verlangt nach
Terror. Terror an sich. Danach sehnt ihr euch, und dazu werdet ihr es bringen. Wenn Blut
vergossen werden kann, und wer wollte bestreiten, daß es vergossen werden kann, dann haben
wir das Recht, es zu vergießen. Kurz, Terror und Blutvergießen sind eine moralische Pflicht
oder, direkter gesagt, eine Tugend "
Auf den eschatologischen Anfall folgt immer auch der nächste Morgen. Konterrevolutionäre
Truppen tauchten vor Budapest auf. Ein letzter Hilferuf B61a Kuns an Lenin blieb
unbeantwortet, und am 2. August 1919 kapitulierte Kun. Unter seiner Führung bestiegen die
meisten kommunistischen Kommissare einen Zug nach Wien, dem diplomatische Immunität
garantiert worden war. Lukäcs erhielt den Befehl, zusammen mit Otto Korvin
zurückzubleiben und die Partei im Untergrund zu „führen". Als Korvin verhaftet und zum
Tode verurteilt wurde, beschloß Lukäcs zu fliehen. Im Gespräch mit Eörsi erinnerte er sich:
„Meine Familie bestach so einen Oberleutnant aus Mackensens Armee. Mit dem verließ ich
als dessen Chauffeur das Land. Da ich aber nicht Auto fahren konnte, banden wir meinen
Arm hoch, als hätte ich unterwegs einen Unfall gehabt, und der Offizier chauffierte das Auto.
Die Wahrheit ist, daß die Angelegenheit ein reines Geschäft war "
jRei Am Beginn der neuzeitlichen Politik, so sagte Karl Mannheim in seinem Buch
„Ideologie und Utopie", stand der „orgiastische Chiliasmus der Wiedertäufer", jener
Augenblick des Jahres 1534, in dem die Wiedertäufer die Stadt Münster eroberten und mit
Feuer und Schwefel dal Rejch Gottes auf Erden verkündeten. Vieileic ht hatte Mannheim
Lukäcs vor gen, als er schrieb: „Für das absolute Erleben des Chiliasten wird das
Gegenwärtige zur Einbruchstelle, wo das, was früher innerlich war, nach außen schlägt und
die Außenwelt plötzlich mit einem Schlage verändernd ergreift "
In einer bemerkenswerten, wenig später verfaßten Analyse der ungarischen Ereignisse
unterschied der liberale Schriftsteller Oskar Jäszi drei Arten von Revolutionsführern: zunächst
die Leninisten, politische Manipulatoren, denen es gleichgültig war, ob das Proletariat auf
ihrer Seite stand oder nicht; ihr Ziel war die Diktatur. Zu ihnen gehörte B61a Kun. Die zweite
Gruppe „bestand aus Verrückten, psychisch unausgeglichenen Menschen, die nach Rache
dürsteten und von der Idee des Tötens besessen waren, von dem jakobinischen Hang zum
Blutopfer". Man könnte wohl sagen, daß Tibor Szamuely diesen Typus verkörperte.
Und die dritte Gruppe: diese „metaphysische Generation religiöser oder gar mystischer
Seelen" bildete eine bizarre Mischung, sie „wurzelte im Boden des deutschen Idealismus und
eines ethischen Rigorismus. Angesichts der schrecklichen Sünden des Kapitalismus und
seiner Kriege entdeckten sie in unbarmherziger Gewalt den einzigen Weg zum Heil "
Am besten hat das alles vielleicht Max Weber ; Au?
begriffen. Gegen Ende seines Vertrags „Politik als Beruf" aus dem Jahre 1918 erklärte er nach
langen, ziemlich dürren Ausführungen über Parteien und Politiker mit plötzlich aufbrechender
Leidenschaft: „In der Welt der Realitäten machen wir freilich stets erneut die Erfahrung, daß
der Gesinnungsethiker plötzlich umschlägt in den chiliastischen Propheten, daß zum Beispiel
diejenigen, die soeben Liebe gegen Gewalt gepredigt haben, im nächsten Augenblick zur
Gewalt aufrufen — zur letzten Gewalt, die dann den Zustand der Vernichtung aller
Gewaltsamkeit bringen würde. Auch die alten Christen wußten sehr genau, daß die Welt von
Dämonen regiert sei und daß, wer mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als
Mitteln, sich einläßt, mit diabolischen Mächten einen Pakt schließt und daß für sein Handeln
es nicht wahr ist: daß aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne, sondern oft
das Gegenteil. Wer das nicht sieht, ist in der Tat ein politisches Kind. Die materialistische
Geschichtsdeutung ist auch kein beliebig zu besteigender Fiaker und macht vor den Trägern
von Revolutionen nicht halt!"
Weber nennt keine Namen. Dachte er damals an Lukäcs? Heute wissen wir, daß er es tat.
Lukäcs hatte von Marx nicht viel gelesen (und das, was er gelesen hatte, als
Vulgärmaterialismus abgelehnt); auch von Lenin hatte er nicht viel gelesen. Lukäcs stand
unter dem Einfluß eines Anarcho Syndikalisten, Ervin Szabö, des ungarischen Übersetzers
von Marx und Engels. Tatsächlich standen die ersten radikalen Gruppen, die sich der
Komintern anschlössen, großenteils unter der Führung von Syndikalisten wie Jack Tanner aus
Großbritannien, Billy Haywood aus den Vereinigten Staaten, Alfred Rosmer aus Frankreich
und Bordiga aus Italien. Für Lenin bedeutete das alles eine Infragestellung seiner Auffassung
und der von der Komintern erhobenen Forderung, alle Mitglieder müßten die Autorität der
russischen Partei anerkennen. 1920 formulierte Lenin unter dem Titel „Der linke
Radikalismus — die Kinderkrankheit im Kommunismus" einen vernichtenden Angriff gegen
die Theoretiker der „Spontaneität", die glaubten, eine Revolution könne durch revolutionären
Elan entfacht werden. Lenins Broschüre richtete sich vor allem gegen den holländischen
Marxisten Herman Gorter, aber auch Lukäcs, der damals als Parteiführer von untergeordneter
Bedeutung galt, war in den Angriff einbezogen. Dies also war der Hintergrund von Lukäcs
Buch „Geschichte und Klassenbewußtsein", das ihm seinen Ruf als großer gnostischer Lehrer
des Marxismus eingetragen hat. Leider gerät Arpad Kadarkay in seiner Lukäcs Biographie
(„Georg Lukäcs: Life, Thought and Politics", Blackwell) über der Darstellung dieses Buches
fast in Verzückung: „In seiner kontroversen Brillanz, seinem intellektuellen Schwung und
seiner Leidenschaft", so schreibt er, „legt es den Vergleich mit Machiavellis Schrift Der Fürst
nahe. Es wurde sofort als marxistischer Klassiker anerkannt Nichts von alledem trifft zu. Das
Buch wurde nicht sofort „anerkannt", und naqh 1924, als Lukäcs in Moskau gezwungen
wurde;, sich, von ihm zu distanzieren, wurde kaum nochdarüber gesprochen. Der Vergleich
mit Machiavelli ist völlig abwegig, denn „Geschichte und Klassenbewußtsein" ist weder ein
Handbuch der Politik noch eine prägnante Sammlung von Aphorismen, sondern ein Text von
weitschweifiger Undurchsichtigkeit.
Dennoch verlieh „Geschichte und Klassenbewußtsein" der damals ziemlich
heruntergekommenen marxistischen Theorie neuen Glanz, indem es eine neue Theorie des
proletarischen Bewußtseins entwarf. Für den marxistischen Materialismus, vor allem in der
Version von Engels, bestand die Gesellschaft aus zwei Ebenen, der ökonomischen Basis und
dem ideologischen (politischen, rechtlichen, kulturellen) Überbau. Da die „Materie" Vorrang
vor den „Ideen" hatte, bewegte sich die Materie dialektisch, und Erkenntnis war infolgedessen
Widerspiegelung der materiellen Praxis. Diese Anschauungen führte Lenin in der simplen
Abbildtheorie seines Buches „Materialismus und Empiriokritizismus" weiter aus, mit der
Folge, daß Einsteins Relativitätstheorie und die Quantentheorie in der Sowjetunion
jahrzehntelang verboten waren und nicht gelehrt werden konnten. Lukäcs lehnte dieses
mechanistische Denken ab und bemühte sich um eine neue philosophische Grundlage. Drei
Motive, so könnte man sagen, bilden das Gerüst seiner Überlegungen. Zum einen der Begriff
„Totalität", das Schlüsselwort des Hegelianismus. Lukäcs lehnte die Dialektik der Natur und
den Primat des Ökonomischen ab und versuchte die hegelsche Denkweise zu erneuern. In
seiner Phänomenologie entwickelte Hegel eine Vorstellung von der Entwicklung des
Bewußtseins, angefangen bei der inneren Anlage des Begriffs bis hin zu dessen manifesten
Erscheinungsformen, als eines umfassenden Zusammenhangs, gleich einem in viele Kammern
unterteilten Schneckenhaus: die Ökonomie als Vergegenständlichung der Natur; die Polis
oder die Gemeinschaft als verbindendes Prinzip des gesellschaftlichen Lebens; die Religion
als Grundlage von Mythos, Ästhetik und Moral und das Denken als Paläontologie des Geistes.
Die Geschichte ist für ihn der Prozeß der Entfaltung des Selbstbewußtseins, in dessen Verlauf
alle diese innerhalb jeder Epoche miteinander verbundenen Elemente dialektisch auf immer
höhere Stufen gelangen, dergestalt daß am Ende der Geschichte die entfremdete Spaltung von
Objekt und Subjekt, von Natur und Geschichte im Triumph der Vernunft überwunden wird.
Das historische Subjekt, die Kraft, durch die der Weltgeist wirkt, war für Lukäcs nicht Hegels
„welthistorisches Individuum", das die Strukturen der alten Gesellschaften aufbricht
(Alexander, Caesar, Napoleon), sondern das Proletariat.
Das zweite Motiv war die Idee der Verdinglichung — jener Prozeß, in dem Gegenstände und
Menschen zu „Dingen" werden und dadurch ihre Fähigkeit verlieren, eine Identität
auszubilden. Verdinglichung wurde für Lukäcs zur wichtigsten Form der Entfremdung — ein
Begriff, von dem sich Marx selbst im Zuge seiner Entwicklung zu einer naturalistischen
Auffassung mehr und mehr gelöst hatte. An die Stelle der vier Spielarten von Entfremdung in
den „Pariser Manuskripten" setzte er später die Ausbeutung als den ökonomisehen Dreh- und
Angelpunkt von Herrschaft. Den Begriff der Verdinglichung, der auf die Abschnitte über
Entfremdung und Rationalisierung in Georg Simmels „Philosophie des Geldes" zurückgeht,
wandte Lukäcs auf Überlegungen zur Klassenbedingtheit und Verdinglichung des Denkens
an.
Lukäcs Buch, dem Max Scheler unabhängig davon ein Werk mit ähnlichen Überlegungen an
die Seite stellte, wurde auf diese Weise zu einer Anregung für die Wissenssoziologie, vor
allem für Karl Mannheim (der Lukäcs mehr verdankt, als er zugegeben hat). Grundlage der
Wissenssoziologie war die Annahme, daß sich eine bestimmte Denkweise als Idealtypus
konzipieren und dann einer sozialen Gruppe zuschreiben lasse. In diesem Sinne schrieb
Lukäcs dem Proletariat Klassenbewußtsein zu — obgleich sich die Klasse dieses Bewußtseins
nicht völlig bewußt war.
Wenn man den verschiedenen sozialen Gruppen oder, direkter, den verschiedenen Klassen
unterschiedliche Denkweisen zuschreibt, wie läßt sich dann noch zwischen authentischem
Wissen und Ideologie unterscheiden? Die positivistische empirische Wissenschaft antwortet
hier mit dem Hinweis auf das Experiment, die Verifizierung oder, mit Popper, die Nicht
Falsifizierung. Aber aus der Sicht der marxistischen Soziologie bleiben dabei die Perspektive
des Wissenschaftlers und sein Klasseninteresse und vor allem die inneren
Wandlungsprozesse, durch die man die Wahrheit findet, unberücksichtigt. An diesem Punkt
tritt die Dialektik in Erscheinung. Für Hegel ist das Gegenwärtige, das Daseiende, das
Aktuale nicht die wahre Wirklichkeit, denn es ist unvollkommen. Wahrheit findet sich erst in
der Vollendung des Bewußtseins, am Endpunkt der Geschichte. Für Hegel wirkte der
Weltgeist auf der manifesten Ebene durch die „Nationen", aber einer solchen historischen
Vereinzelung fehlte jene immanente Geschlossenheit, die die Geschichte zur Universalität
vorantreiben konnte. Für Lukäcs war die Vollendung der Geschichte natürlich mit dem
Schicksal des Proletariats verbunden, und Wahrheit war infolgedessen die Wahrheit einer
Klasse.
In alledem lag nun allerdings viel intellektuelle Kühnheit, die eines Leo Naphta durchaus
würdig war, insofern nämlich, als die Theorie zur Praxis rie nicht modifizieren, denn die
Praxis ist selbst beschränkt und von Zufällen abhängig. Allein in der Theorie liegt Wahrheit.
Und hier, mit einem Sprung zu Lenin, erhebt Lukäcs die Partei, die den Sinn der Geschichte
enträtselt hat, zur Quelle jener Wahrheit. Die kommunistische Partei, so Lukäcs, müsse als
unabhängige Organisation existieren, „damit das Proletariat erkennen kann, wie sein eigenes
Klassenbewußtsein Gestalt annimmt".
Die Partei ist eine Totalität, die „die verdinglichten Spaltungen in Nationen, Berufe durch ihr
Handeln transzendiert". Ihre „eiserne Disziplin und ihre Forderung nach totaler Hingabe zieht
den Schleier der Verdinglichung beiseite, der das Bewußtsein des Individuums in der
kapitalistischen Gesellschaft vernebelt". Als Werkzeug der Geschichte fordert sie, daß jedes
Mitglied „seine ganze Persönlichkeit und sein ganzes Dasein der Partei widmet".
Nach dem Scheitern der ungarischen „Revolution" lebte Lukäcs noch fast fünfzig Jahre, und
wenige Angehörige seiner Generation machten so außerordentlich reiche Erfahrungen wie er,
vor allem deshalb, weil so viele während der großen Säuberungen in der Sowjetunion und
während der kleinen Säuberungen in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ums Leben
kamen.
Die zwanziger Jahre verbrachte Lukäcs größtenteils in Wien. Hier war er in die kleinlichen
Fraktionskämpfe verwickelt, wie sie für Emigrantenparteien typisch sind, deren Mitglieder
nichts anderes zu tun haben, als sich gegenseitig die Fehler der Vergangenheit zur Last zu
legen.
Lukäcs wurde aus dem Zentralkomitee der winzigen ungarischen Partei und aus der
Redaktion der in Wien erscheinenden Zeitschrift Kommunisnoch direkt in die Politik ein, als
er 1928 dem Kongreß der Ungarischen Kommunistischen Partei die sogenannten Blum
Thesen vorlegte (Blum war sein Deckname im Untergrund), die die Taktik der Fraktion um
Bela Kun verurteilten und eine Volksfront mit Sozialdemokraten und Bauern vorschlugen,
statt die linksrevolutionäre Haltung der Komintern zu übernehmen, die von der Annähme
ausging, der Kapitalismus sei angesichts der bevorstehenden ökonomischen Krise in sein
„letztes" Stadium eingetreten. Auf die Blum Thesen ist Lukäcs immer stolz gewesen, und in
einem posthum 1971 veröffentlichten Interview mit der waren mein Rückzugsgefecht
gegenüber dem Sektierertum der Dritten Internationale, die auf der These beharrte,
Sozialdemokratie und Faschismus seien Zwillingsbrüder Die Komintern dachte hierüber ganz
anders. Wie Neil Mclnnes in seinem ausgezeichneten Buch „The Western Marxists" schreibt,
wurden die Blum Thesen als das „Werk eines Rechtsabweichlers, eines Anti Leninisten, fines
halben Sozialdemokraten, eines Liquidators der Ungarischen Kommunistischen Partei
angegriffen. Blum habe nicht erkannt, daß die Sozialdemokraten zu Sozialfaschisten
geworden seien und daß es für die Bolschewisten nun an der Zeit sei, gegen demokratische
Illusionen zu kämpfen "
Lukäcs wurde nach Moskau zitiert und blieb fünfzehn Jahre dort, bis zu seiner Rückkehr nach
Budapest im Anschluß an den Krieg. Die Jahre in Moskau waren wahrscheinlich die
bedrückendste und demütigendste Phase seines Lebens. Er überlebte. Die meisten anderen
führenden Emigranten, die damals in Moskau lebten, überlebten nicht, unter ihnen fast die
gesamte Führungsspitze der Polnischen Kommunistischen Partei, Bela Kun und die meisten
anderen Ungarn, viele deutsche Kommunisten wie Heinz Neumann und so weiter und so
weiter. Das Überleben war eine Frage des Glücks, der Protektion und zufälliger Beziehungen
und Allianzen in der Vergangenheit. Bela Kun hatte sich mit Sihowjew verbündet, und
deshalb hatte Lukäcs als sein Gegner Unterstützung bei Stalin gesucht. In Moskau wurde
Lukäcs von den fanatischsten Philosophen Stalins, etwa von Judin, protegiert.
Und Lukäcs wußte, wie man einen Kniefall macht. Vor der Philosophischen Sektion der
Kommunistischen Akademie vollzog er, nach den Worten von Morris Watnick, einen „Akt
der Selbsterniedrigung, wie man ihn jämmerlicher kaum je erlebt hat, und sparte nicht mit
Worten, um das Publikum von seiner unverbrüchlichen Orthodoxie zu überzeugen".
Die Jahre in Moskau, Jahre, die sein Freund Ervin Sinkö als „gähnenden Abgrund zwischen
gesellschaftlicher Wirklichkeit und ethischem Empfinden" bezeichnete, waren (Kadarkay
zufolge) für Lukäcs „die harmonischsten Jahre seines Lebens". Ist das ironisch gemeint? Wie
in all seinen Schriften aus dieser Zeit gab es die doppelten Wahrheiten und die Lügen zweiten
Grades. Er wahrte Distanz zu den Emigrantenkreisen, sah nur hin und wieder Eugen Varga,
den wichtigsten marxistischen Fachmann für Fragen der Weltwirtschaft. Er arbeitete für die
Zeitschrift Internatiolismus und Romane aus dem Ausland schrieb. (Russisch lernte er nie )
„Der historische Roman", sein Hauptwerk aus dieser Zeit, befaßt sich mit der Entfaltung des
historischen Bewußtseins in der Literatur, wobei es die Romane von Walter Scott als erste
Verkörperung dieser Tendenz betrachtet, und sieht in Balzac und Tolstoi] die bedeutendsten
Vertreter des Realismus, den er als das Bemühen definiert, ein umfassendes Bewußtsein von
Gesellschaft und Geschichte zu entwikkeln. Zugleich singt dieses Buch aber auch tendenziöse
Loblieder auf den „demokratischen Humanismus", hebt Autoren wie Lion Feuchtwanger,
Romain Rolland und Heinrich Mann, die allesamt die Sowjetunion zu jener Zeit unterstützten,
hervor.
Wie Brecht in seinen Lehrstücken hat Lukäcs immer anerkannt, daß das Individuum seine
Freiheit notfalls der höheren Sache opfern müsse. Aber auch, daß es mit zwei Zungen
sprechen müsse. Als Brecht auf der Grundlage eines alten japanischen No Spiels sein
Lehrstück „Der Jasager" schrieb, in dem sich ein Junge, um seine Gefährten nicht
aufzuhalten, damit einverstanden erklärt, daß man ihn tötet, da hieß es, man könne darin auch
ein Plädoyer für die preußischen Tugenden Gehorsam und Disziplin erblikken. Brecht schrieb
daraufhin eine neue Fassung unter dem Titel „Der Neinsager" und erklärte: „Wer A sagt, muß
nicht auch B sagen Lukäcs sagte immer A und B. Es ist jedoch klar, daß er sich auf einer
bestimmten psychischen und philosophischen Ebene nach „Totalität" sehnte und die
Unaufrichtigkeit hinnahm, die dies voraussetzte. So bemerkt Kadarkay: „So verführerisch er
ihn in Dialektik kleidete, seinen Stalinismus hat sich Lukäcs selbst zurechtgelegt Und im
Hinblick auf Lukäcs Moskauer Jahre kam Isaac Deutscher zu dem Schluß, daß die
Stalinverehrung und seine Unterwerfung unter den Stalinismus „e cht" gewesen seien.
Bei den Säuberungen wurden achtzig Prozent der ungarischen Emigranten in der Sowjetunion
ermordet. Lukäcs Freund Johannes Becher, der später unter Walter Ulbricht in Ostdeutschland
Kulturminister wurde, unternahm während seiner Zeit in der Sowjetunion mehrere
Selbstmordversuche. Und Lukäcs Stiefsohn, Ferenc Jänossy, der Sohn seiner geliebten Frau
Gertrud Bortstieber, wurde wegen „antisowjetischer Aktivitäten" verhaftet und versuchte sich
in einem sowjetischen Arbeitslager das Leben zu nehmen — durch Erfrieren.
Im April 1945, als sein sechzigster Geburtstag gefeiert wurde, bereitete sich Lukäcs darauf
vor, als Mitglied des neuen Parlaments nach Ungarn zurückzukehren. Er vertraute Eugen
Varga an, wie peinlich es ihm sei, zurückzukehren, während sein Stiefsohn im Arbeitslager
stecke. Zwei Wochen später war Jänossy wieder zu Hause. Später berichtete er darüber:
„Varga sagte, er spiele jeden Donnerstagabend mit Berija Bridge. Am nächsten Bridgeabend
wolle er meinen Fall zur Sprache bringen. Es muß eine sehr gute Bridgepartie im Kreml
gewesen sein "
Lukäcs Inferno, die Gefilde seiner Verzweiflung waren das endlose Kreisen zwischen
Himmel und Hölle. 1945 wurde er auf den Lehrstuhl für Ästhetik an der Universität Budapest
berufen. In einer Rückbesinnung auf seine alte Vision erklärte er, in der Antike seien Kunst
und Literatur ein integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens gewesen, und deshalb
sollten Kunst und Literatur auch in der kommunistischen Gesellschaft darauf zielen, den
„Menschen als gesellschaftliches Wesen" darzustellen. Als sein alter Freund Lajos Fülep, mit
dem er seine erste Zeitschrift A Szellem herausgegeben hatte, ihm ziemlich überrascht
schrieb, in der Welt, in der er jetzt lebe, hätten die Kommunisten keine Unterstützung im
Volk, erwiderte Lukäcs: „Die Dialektik der Geschichte beweist, daß das, was aus subjektiven
Gründen geschehen ist, zum objektiven Faktum wird "
Am 30. Mai 1949 wurde der ungarische Innenminister Läszlö Rajk verhaftet und
unterzeichnete bald darauf ein handschriftliches Geständnis, demzufolge er mit Tito gegen
Stalin konspiriert habe. Die neuen Säuberungen hatten begonnen. (In Paris schrieb Julien
Benda, der früher einmal den Einzug der clercs in die Politik verurteilt hatte, einen Artikel, in
dem er das Todesurteil gegen Rajk guthieß ) Wenn Rajks Schicksal eine Warnung für die
Partei war, geriet eine Kritik an Lukäcs zur Warnung für die Intelligenz. Das Teuflische daran
war, daß die Anschuldigungen von Läszlö Rudas und Jözsef Revai formuliert wurden, die
1919 beide Gefolgsleute von Jenö Landler, einer der ehrwürdigen Gestalten des ungarischen
Kommunismus, gewesen waren. Rudas war schon früh zum erbitterten Feind von Lukäcs
geworden, aber Revai war sein Schüler gewesen, und im neuen ungarischen Regime war er
der Kulturminister. Rudas beschuldigte Lukäcs des Idealismus, des Kosmopolitismus, der
Verunglimpfung Lenins — lauter alte Vorwürfe. Kosmopolitismus war das Schlüsselwort
Schdanows für jene, die „vor der westlichen Kultur den Kotau machten" und sich dem
sozialistischen Realismus widersetzten. Revai führte den vergifteten Dolch eher verstohlen.
Er rühmte Lukäcs für seine Angriffe gegen den Modernismus, die Dekadenz und den
Existentialismus Sartres. Sein Irrtum jedoch, so erklärte Revai, bestehe darin, daß er sich
weigere, den Fortschritt der sowjetischen Literatur anzuerkennen. Wie könne man guten
bürgerlichen Werken den Vorzug gegenüber schlechten sozialistischen Werken geben, da
doch die bürgerliche Ideologie der proletarischen Ideologie prinzipiell unterlegen sei. Und
war denn die Sowjetunion kein proletarischer Staat?
Lukäcs saß in der eigenen Falle. Er gab klein bei und verfaßte eine neue Selbstkritik. Es wäre
nutzlos gewesen, Revai mit Zitaten aus seinen, Lukäcs, früheren Werken zu begegnen. Die
Partei wollte keine Debatte, sie wollte Unterwerfung. In „Kritik und Selbstkritik", erschienen
im August 1949, räumte Lukäcs ein, in seiner Arbeit habe der notwendige „aufmerksame
Blick nach Moskau" gefehlt. Zur Wiedergutmachung publizierte er zwei Aufsätze über
sowjetische Romane.
Als Lukäcs treue Schüler ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck brachten, daß er, wie
Galilei, den Kompromiß gewählt hatte, erwiderte Lukäcs (nachzulesen in dem Buch „Revolt
of the Mind" von Tomas Aczel und Tibor Meray, zwei führenden kommunistischen
Schriftstellern, die nach 1956 geflohen sind): „Was wollt ihr eigentlich, im entscheidenden
Punkt habe ich nicht Selbstkritik geübt!" Die Studenten sahen ihn verständnislos an „Was war
der entscheidende Punkt?" fragten sie „Ist euch das denn nicht aufgefallen?" fragte Lukäcs
ernst „In meinem Artikel habe ich kein einziges Wort gegen Hegel gesagt "
Im Oktober 1956 kam es zum Ausbruch der ungarischen Revolution, initiiert von
kommunistischen Intellektuellen aus dem Petöfi Kreis, geführt von Mitgliedern der
Kommunistischen Partei — und wunderbarerweise bildeten sich überall im Land spontan
Arbeiterräte zur Unterstützung der Revolution. Innerhalb des Petöfi Kreises schloß sich
Lukäcs den Intellektuellen an, die sich für eine Veränderung aussprachen, doch, wie
Kadarkay schreibt, „in jeder Einzelfrage mel , dete sich Lukäcs mit einem einschränkenden
Kunst müsse aufhören, aber das könne nicht Chancengleichheit für alle literarischen
Richtungen bedeuten. Marxisten und Nichtmarxisten sollten einen Dialog aufnehmen, aber
die freie Meister der Moderne sollten zugänglich gemacht werden, aber das könne nicht
heißen, die Werke von Kafka und Joyce zu propagieren "
Der Wendepunkt der Ereignisse war die ehrenvolle zweite Bestattung der sterblichen
Überreste Rajks auf dem Heldenplatz des Budapester Friedhofs. Zweihunderttausend
Menschen nahmen daran teil. Zu diesem Zeitpunkt war die stalinistische Partei so sehr in
Mißkredit geraten, daß sie nach Lukäcs Meinung bei einer Wahl nicht mehr als „fünf Prozent"
der Stimmen erhalten hätte. Am 25. Oktober nahm Lukäcs einen Posten im Kabinett von Imre
Nagy an.
Binnen einer Woche hatte Moskau beschlossen, die „Konterrevolution" zu zerschlagen. Am
selben Tag, als Nagy beschloß, das Einparteiensystem abzuschaffen, entwarf Lukäcs sein
Rücktrittsgesuch. Als Grund nannte er in seinem Schreiben, die Regierung enthalte noch
immer stalinistische Elemente, aber Kadarkay, der alle erdenklichen Zeugnisse hierzu geprüft
hat, gelangt zu dem Schluß, daß der listige Überlebenskünstler von dem bevorstehenden
Eingreifen der Russen erfahren hatte und nun hastig den Rückzug antrat. Nagy und seine
Regierung, darunter auch Lukäcs, flohen in die jugoslawische Botschaft. Schließlich ließen
die Sowjets Nagy das gleiche grausige Schicksal widerfahren wie Rajk. Seine Leiche wurde
ohne Sarg irgendwo außerhalb von Budapest verscharrt.
Lukäcs überlebte. Einer der Gründe hierfür war vielleicht die Intervention von Bertrand
Russell, der drohte, von seinem Posten als Präsident des Weltfriedensrates zurückzutreten,
falls Lukäcs nicht freigelassen würde. Außerdem hatte Lukäcs auch privat die Nähe zu Kadar
gesucht. Als er Monate später nach Budapest zurückkehrte, versprach er Revai, er werde sich
nie wieder in die Politik einmischen. Er bat darum, ihm sein Parteibuch zurückzugeben. Zehn
Jahre später, wenige Jahre vor seinem Tod, bekam er es.
Georg Lukäcs war kein Feigling. Er hatte den scharfen Verstand und den eisernen Willen des
gläubigen Gnostikers. Und, was das Entscheidende in solchen Fällen ist: Charakter,
Temperament und Ideologie verschmolzen bei ihm zu einer Einheit.
In den letzten Monaten seines Lebens, als er schon an Krebs litt, im Alter von 86 Jahren,
versuchte Lukäcs, eine autobiographische Skizze zu verfassen, „Gelebtes Denken", aber seine
Kraft reichte nicht mehr aus, und das Resultat waren 57 Seiten kryptischer Andeutungen.
Zwischen März und Mai 1971 machte sein früherer Schüler Istvän Eörsi, der mit Tibor Dery
nach der Revolution von 1956 eine Zeitlang im Gefängnis gesessen hatte, eine Reihe von
Interviews, in denen er Lukäcs bat, sich zu seinen Notizen zu äußern. Dort hatte Lukäcs zum
Beispiel geschrieben: „Guerillakampf mit Mutter: Dunkelkammer circa 8 Jahre. Vater:
Befreiung ohne Sichentschuldigen Dazu gab Lukäcs nun folgende Erläuterung: „Gegen meine
Mutter führte ich einen Partisanenkrieg. In der Wohnung gab es eine Holzkammer, eine
Dunkelkammer. Es gehörte zu den Strafen meiner Mutter, daß sie uns dort einsperrte, bis wir
sie um Verzeihung baten. Meine Geschwister baten auch sofort um Verzeihung, während ich
scharf differenzierte. Wenn sie mich morgens um zehn einsperrte, dann bat ich fünf Minuten
nach zehn um Verzeihung, und alles war in Ordnung. Mein Vater kam um halb zwei nach
Hause. Meine Mutter vermied es nach Möglichkeit, daß es bei der Ankunft meines Vaters
Spannungen gab. Dementsprechend hätte ich um nichts in der Welt um Verzeihung gebeten,
wenn ich nach ein Uhr eingesperrt wurde, weil ich wußte, daß ich fünf Minuten vor halb zwei
auch herausgelassen werden würde, ohne um Verzeihung gebeten zu haben Hierzu Eörsi:
„Diese Logik wirft auf den späteren SelbstkritikMechanismus ein grelles Licht. Der kindliche
Guerillero und der erwachsene Partisan übten übereinstimmend nur dann Selbstkritik, wenn
sie die Lage so einschätzten, daß der rettende Papa nicht rechtzeitig nach Hause kommen
würde " Erstaunlich ist, daß Lukäcs sich selbst nun sogar mit Stolz in der Gestalt Leo Naphtas
wiedererkennt. Zu Eörsi sagte er: „Es besteht überhaupt kein Zweifel, daß er bei der Figur
Naphtas mich als Modell genommen hat. Er war jedoch zu intelligent, als daß er nicht gewußt
hätte, daß Naphtas Anschauungen nicht meine Anschauungen waren Aber Eörsi schreibt in
seiner Einleitung: „Thomas Mann hat die heiklen, man könnte sagen, unlösbaren
Widersprüche dieser geistigen Beschaffenheit und Situation sehr feinfühlig erfaßt. Naphta ist
Jesuit. Infolge seines scharfen Intellekts steht er aber gleichzeitig auch außerhalb der
Bewegung, der er seine Kraft widmet Und über Lukäcs schreibt Eörsi, es sei schwer für ihn
gewesen, mit einer Konfliktsituation fertig zu werden, die ihn „an den Rand der als
todbringend empfundenen Exkommunikation trieb".
Welche Überzeugung könnte für Intellektuelle verführerischer sein als die, daß man die
Wahrheit besitzen und zugleich verspeisen könne? Aber das Jahrhundert des Betrugs geht zu
Ende. Und wie vielleicht auch Lukäcs im Jenseits erkannt hat, kann man den „Abgrund der
Sinnlosigkeit" nicht in zwei Schritten überwinden.
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