Praktikumsbericht_Netzwerkaufbau - Friedrich

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Friedrich-Schiller-Universität Jena
Erziehungswissenschaft
SS 2010
Praktikumsbericht: Netzwerkentwicklung im
Gesundheitsbereich
10-wöchiges Praktikum Erziehungswissenschaft
Zeitraum: ab 15.09.2008 – 01.03.2010
Dauer: ca. 500 std.
Verfasser: Martin Preußentanz
Matrikel: 92105
8. FS (Erziehungswissenschaft, Medienwissenschaft) M.A.
[email protected]
Abgabedatum: 28.07.2010
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung ................................. 3
2.Institutionsbeschreibung ................... 4
2.1
2.2
2.3
2.4
Die Idee ................................................................................................................... 4
Ziele .......................................................................................................................... 4
Zusammensetzung .................................................................................................. 6
Realisation ............................................................................................................ 7
3. Tätigkeitsbeschreibung .................... 7
4.Analyse wahrgenommener Sachverhalte aus
erziehungswissenschaftlicher Perspektive ..... 9
4.1 Explikation des Sachverhalts ................................................................... 9
4.2 Pädagogische Aufbreitung ........................................................................... 11
4.2.1 Die gemeinsame und persönliche Situation ............................................................ 11
4.2.2 Das Schamgefühl........................................................................................ 14
4.2.3 Von der Situation zur Konstellation ........................................................................ 17
4.2.4 Netzwerktheoretische Betrachtung.......................................................................... 19
5. Resümee .................................. 23
6. Literaturverzeichnis ..................... 25
7. Anhang ................................... 26
2
1.Einleitung
„Mit
dem
freien,
selbstbewussten
Wesen
tritt
zugleich
eine
ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und
gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts“1
Diese
Zeilen
stehen
nicht
nur
in
dem
bekannten
und
bemerkenswerten Manifest der Philosophen Hölderlin, Hegel und
Schlegel. Mein Kollege Maximilian Waldmann und ich erwählten
uns im Geiste der Jenaer Frühromantik dieses Zitat, um unser
Programm eines Netzwerks für Gesundheit einzuleiten.
Im Nachhinein betrachtet, drücken diese Zeilen das Vorhaben
und
den
Verlauf
unserer
Bemühung
zur
Schaffung
einer
Gesundheitsinstitution, die dem Menschen in seiner Ganzheit,
Souveränität
und
Rückgebundenheit
nicht
nur
entgegenkommt,
sondern in sich als Institution entspricht, sehr prägnant aus.
Neben
dem
gewisse
edlen
Anspruch
Naivität,
erfasst
welche
ein
das
Zitat
Scheitern
sogleich
vorwegnimmt,
eine
um
wiederum allzu sehr den Anspruch zu affimieren.
Mein
Kollege
und
ich
arbeiteten
in
einem
Vorgängerprojekt
schon gemeinsam im Bereich der psycho-sozialen Gesundheit. Im
Kontext dieses Projekts wurden uns die Grenzen unserer Arbeit
ebenso
bewusst
fruchtbare
erreichen
wie
das
Potential,
Zusammenführung
könnte.
So
begannen
das
man
verschiedener
wir
im
Herbst
durch
eine
Professionen
2008
mit
der
Akquise geeigneter Teilnehmer und Förderer für unser Netzwerk.
Hinzu kamen unsere Arbeiten an einer Gesundheits-Deklaration,
die dem Netzwerk eine Grundorientierung geben sollte.
Ich betrachte den Umstand, den Aufbau und die Begleitung des
Netzwerks
dem
Status
eines
Praktikums
zu
verleihen
als
angenehme Applikation, zumal die Zweckmäßigkeit der Erlangung
1
Siehe „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“
3
eines Leistungsnachweises für meinen Kommilitonen Max Waldmann
und
mich
niemals
Studienordnung
ziel
kann
führend
ich
für
war.
mich
Unabhängig
eine
von
der
Bereicherung
an
Erfahrung, Fähigkeiten und persönlichem Wachstum verbuchen.
Anbei möchte ich erwähnen, dass ich zur Erläuterung bezüglich
des
Aufbaus
und
selbsterstellte
Protokolle,
der
Probleme
Materialien
erstellte
im
Netzwerk
zurückgreifen
auch
auf
werde,
wie
z.B.
für
Dritte
und
Netzwerkbeschreibungen
die erwähnte Gesundheits-Deklaration bzw. das Netzwerkkonzept.
2.Institutionsbeschreibung
2.1 Die Idee
Die
grundlegende
Gesundheit
und
Idee
des
Netzwerkes
Erwachsenenbildung
für
biopsychosoziale
ist,
eine
tragfähige
Struktur zu schaffen und zu etablieren, die es ermöglicht dem
einzelnen
Menschen
ganzheitlich,
adäquat
und
effizient
zu
helfen. Alle Mitglieder des Netzwerks sollen im Vollzug dieser
Arbeit das Netzwerk gestalten und daran wachsen.
2.2 Ziele
„Im Kern der Netzwerkarbeit liegt, das Selbst des Menschen zu stärken.
Dabei spielt die Heterogenität unserer Gruppe eine entscheidende Rolle:
Neue Ideen ergeben sich aus den verschiedenen Perspektiven der Mitglieder.
Aus der Ansammlung von Erfahrungswissen, gewonnen aus verschiedenartigen
Kompetenzen,
Zusammenarbeit
ergeben
[...].
sich
Die
vielfältige
Ideen
der
Möglichkeiten
Ganzheitlichkeit,
einer
der
fruchtbaren
Einheit,
der
Gesundheit des Menschen sind keine Sammelbegriffe für verschiedene bio-/
psycho-/ soziale- Phänomene, sondern unterstreichen eine eigene Qualität
neuer Dimension. Diese soll sozusagen innerhalb unseres Arbeitsprozesses
4
mitschwingen. [...] Durch die Zusammenarbeit im Netzwerk kann dem Einzelnen
so
in
einer
umfassenden
Form
geholfen
werden
-
ganz
im
Sinne
der
Ganzheitlichkeit.“2
Der entscheidende Unterschied zu einem Netzwerk, das sich mehr
oder weniger als Kontaktverflechtung versteht, war das Ziel
über
additionale
Expertise
zu
Zusammenarbeit
evozieren
hinaus
und
eine
eine
ganz
besondere
eigene
Inklusion
anzustreben.3
(Quasi)operative Ebene - Übersicht:4
intern/dauerhaf
intern/temporär
t
extern/dauerhaf
extern/temporär
t
Formulierung
Gegenseitge
Gemeinsames
Gemeinsame
einer Vision
Weiterbildung
Marketing
Seminarangebote
(z.B. Brüche im
Leben)
Informations-
Intervision
und
Klientinnenverm
Projekte
ittlung
Vereinbarkeit
Erfahrungsausta
von
usch
und
(z.B.
Arbeits-
Lebensmodell)
Diskussion
(z.B.
Multiprofession
Kopplung elle Beratung
Weiterbildung
von Außen
von
individuellen
Problemlagen
und
gesell.
Struktur)
2
Auszug aus dem erwähnten Netzwerkkonzept
Demgemäß ist die Bezeichnung „Netzwerk für bio-psycho-soziale Gesundheit“ irreführend
4
Die Tabelle ist das Produkt der letzten Diskussion zur formalen Zielausrichtung
3
5
Die Einteilung zwischen dauerhaft/ temporär und intern/ extern
stellte sich als zweckmäßig heraus, weil es die Grenzen des
Netzwerks
eröffnet
bezeichnet
für
beteiligt
und
Projekte,
sind,
ohne
innerhalb
bei
dabei
denen
die
des
nur
Netzwerks
Teile
gemeinsame
Räume
der
Gruppe
Orientierung
zu
verlieren.
2.3 Zusammensetzung
Die Mitglieder rekrutierten sich aus sehr unterschiedlichen
Bereichen.
Alle
psycho-sozialen
manchen
dem
arbeiten
im
weitesten
Gesundheit,
universitären
doch
Sinne
ist
Kontext
im
Gebiet
bemerkenswert,
zuzuordnen
sind,
der
dass
andere
arbeiteten kommerziell oder für öffentliche Institutionen und
wieder
andere
Beschäftigung
opferten
mit
dem
ihre
Freizeit
Thema,
für
sowie
der
die
ausgiebige
Erlangung
von
Fähigkeiten im ‚sozialen Bereich’5.
Ebenso weit gestaltete sich das inhaltliche Spektrum unserer
Gruppierung.
Einige
entstammen
dem
Bereich
psycho-sozialer
Beratung, z.B. Systemische Therapie oder Familientherapie nach
V. Satir oder sie entnehmen ihre Grundlagen den sokratischen
Lebenskunstvorstellungen.
Philosophin
reihten
Selbst
sich
bei
ein
uns
Schulpädagoge
ein.
Auch
und
eine
derjenige
Hintergrund, den unsere Teilnehmerin aus der Erwachsenbildung
mitbrachte, erwies sich als bereichert. Die Position, die mein
Kommilitone Maximilian Waldmann und ich einnahmen, wurde durch
den
studentisch-akademische
Charakter
unseres
Wirkens
umrissen.
5
Es sind semi-professionelle Qualifikationen im Umgang mit Menschen gemeint, z.B. Gruppen- und
Gesprächsleitung, gemeinsame Methodenarbeiten usw.
6
2.4 Realisation
Zur
Realisation
der
Ziele
veranstalteten
wir
regelmäßige
Treffen im Abstand von zwei Monaten in der Praxis eines der
Teilnehmer. Im Rahmen dieser Zusammenkünfte brachten wir uns
unsere verschiedenen Arbeitsfelder näher, suchten nach neuen
Perspektiven
und
Irritationen,
Projekte
fruchtbar
Treffen
immer
Netzwerks
zu
um
machen.
explizit
diskutiert.
für
Überdies
über
Zur
sie
das
verschiedene
wurde
bei
diesen
Selbstverständnis
effizienteren
Gestaltung
des
des
jeweiligen Sitzungsverlaufs etablierten sich eine Moderatorenund Protokollantenstelle.
Die gemeinsame Arbeit fokussierte sich dabei vor allem auf das
eigene
Weiterkommen
und
die
Gewinnung
professionsübergreifender Fähigkeiten, statt die Akquise von
Klienten
in
sinnvoll
den
Mittelpunkt
angesehen,
generieren,
bevor
erst
man
zu
stellen
eine
sich
bzw.
besondere
intensiver
es
wurde
als
Expertise
zu
möglichen
Klienten
widmet. Diese wiederum, unsere Zielgruppe, ergibt sich aus den
verschiedenen,
bereits
bestehenden
Klientenstämmen
der
einzelnen Teilnehmer, sowie den beworbenen ‚Neukunden’.
3. Tätigkeitsbeschreibung
Mein Aufgabenfeld verlagerte sich mit der Zeit von initiativen
Tätigkeiten
Aktivitäten
verliehen
hin
der
zu
begleitenden
Maßnahmen.
Beobachtung
und
der
Umgang
dem
Netzwerk
meinem
mit
Lediglich
die
Literaturrecherche
eine
gewisse
Konstanz.
Am
Anfang
bestand
meine
Herausforderung
darin,
Kontakte
herzustellen, um für Unterstützung zu werben. Nachdem ich mir
7
ein Pool an potentiellen Förderen erschlossen hatte, ging es
darum eine Mitglieder-Akquise zu betreiben und auch ein wenig
Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, wie z.B. einen PR-Artikel zu
ermöglichen
oder
mit
höheren
öffentlichen
Ämtern
im
Sozialbereich in intensiveren Kontakt treten. Parallel dazu
reifte
das
Netzwerkkonzept
verschiedenen
Recherchen
immer
weiter
führten
zu
aus,
einem
d.h.
die
immer
mehr
konturierten ‚Manifest der Gesundheit’.
Mit der Etablierung der Netzwerktreffen wurde ich immer zum
Moderator
und
verschiedenen
sorgte
dafür,
Sitzungen
Diskussionen
war
hauptsächlich
beschäftigt
mit
bzw.
ich
können.
bei
einem
werden
Vor-
Sinnieren
über
mich
und
Ergebnisse
Neben
den
beschäftigte
Bereitstellung
die
gesichert
befruchten
Reflexionen
dass
aus
und
den
den
nächste
inhaltlichen
und
Nachbereitung
die
Gruppendynamik
dies
vielmehr.
Aufrechterhaltung
Die
von
Kommunikationskanälen, auch zwischen den Treffen, war somit
meine
Hauptbeschäftigung
in
dieser
Phase
des
Konstitutionsprozesses des Netzwerks.
Zwischendurch eignete ich mir noch ein paar Kenntnisse zum
Thema
Fondraising
an,
stellte
dies
jedoch
ein,
da
die
Mittelbeschaffung kaum von Bedeutung für das Netzwerk war, da
sich die Gruppe erst gut genug kenne wollte und frühzeitige
Finanzierungsdebatten
jedoch
vom
Kurs
einer
freien
Zusammenarbeit abbringen würden.
Bei all diesen Herausforderungen und der Bewältigung der sich
aufdrängenden
Maximilian
Problemstellungen,
Waldmann
und
ich
arbeiteten
mein
gleichberechtigt
Kollege
in
einem
kollegialen Verhältnis zusammen.
8
4.Analyse wahrgenommener Sachverhalte aus
erziehungswissenschaftlicher Perspektive
Ich möchte den verschiedenen Antinomien, die es zu diskutieren
gibt, die Analyse eines besonderen Sachverhalts voranstellen.
Dieser
Sachverhalt
maßgeblich
viele
zeichnet
nachfolgende
sich
dadurch
Situationen
aus,
dass
vorzeichnete
er
und
dadurch, dass er exemplarisch für andere Sachverhalte steht.
Die
nun
folgenden
zuspitzen,
Divergenz
dass
von
Analysen
eine
werden
Gruppendynamik
Situation
und
sich
auf
vornehmlich
Konstellation
die
These
durch
eine
innerhalb
der
Gruppenstruktur zerstört wird.
4.1 Explikation des Sachverhalts
Mein
Kollege
Netzwerktreffen
Herr
Waldmann
arrangiert.
In
und
ich
hatten
das
der
Eröffnungsrunde
erste
stellten
sich, nach einigen Begrüßungswörtern, die einzelnen Teilnehmer
einander vor und schienen dem Netzwerkvorhaben zuversichtlich
zu begegnen. Anschließend erklärten mein Kollege und ich den
übrigen
Teilnehmern,
künftigen
wie
wir
Gruppenkonstitution
uns
die
Art
vorstellten.
und
Dass
Weise
wir
der
keine
Struktur vorgeben, da sich diese erst schöpferisch aus dem
Miteinander der sich hier versammelten heterogenen Teilnehmer
ergeben sollte. Gleichsam betonten wir unsere Faszination über
das Zusammentreffen so unterschiedlicher Professionen, worauf
sich in der Gruppe die Frage stellte, ob wir das Netzwerk
vielleicht noch mit anderen Profession irgendwann bereichen
sollten
-
entweder
als
Teilnehmer
oder
ausschließlich
als
Referenten.
Sobald ich dieses Sinnieren über die mögliche Erweiterung des
Netzwerks vernahm, insistierte ich sogleich darauf, dass mein
Kollege und ich der Gruppe bereits einen Schritt voraus seien
9
und demnächst einen Psychologen in das Netzwerk mit einbinden
werden.
Der
mir
in
jenem
Moment
keineswegs
bewusste,
eklatante
Widerspruch zu den zuvor postulierten Vorstellungen über die
Gruppenkonstitution
Gruppe,
welche
sorgte
sich
umgehend
anschickte
mir
für
Empörung
in
der
mein
Verhalten
als
ein
inakzeptables spüren zu lassen und zu verdeutlichen.
Wie konnte es dazu kommen und was folgte daraus?
An diesem Sachverhalt wurde mir bewusst bzw. ist mir wieder
eingefallen,
dass
ich
schon
immer
als
Gruppenleiter
sehr
widersprüchlich in meinem Verhalten war, sodass meine verbalen
Explikationen oft von meinem situativen Agieren konterkariert
wurden. Dies geschah meistens auf die Weise, dass ich den
Teilnehmern
Autonomie
Vorstellungen
vollendete
suggerierte,
durchzusetzen,
Tatsachen
Informationsasymmetrie
indem
stellte
zu
um
dann
ich
sie
oder
meinen
doch
entweder
eine
Gunsten
meine
vor
übermäßige
evozierte.
Mein
Verhalten war aber niemals auf einen Betrug hin intendiert.
Erst
nach
dem
Vollzug
des
jeweiligen
performativen
Widerspruchs wurde mir mein Verhalten klar.
Des Weiteren möchte ich als Erklärung den Umstand heranziehen,
dass ich die Monate zuvor viel damit beschäftigt war, einzelne
Förderer
und
potentielle
Teilnehmer
zu
werben.
Im
Rahmen
dieser Tätigkeit bin ich stets als Initiator des Netzwerks
aufgetreten und habe den jeweiligen Personen die Form, die
Ziele
und
erklärt.
das
Ich
Potential
war
also
Informationsvorsprung
meine
des
in
zu
einer
selbsterklärend
Entscheidungsgewalt.
Aber
etablierenden
Netzwerks
Position,
der
in
erscheint,
sobald
das
ebenso
erste
mein
wie
Treffen
begann, hätte ich von der Initiator- in die Moderatoren- Rolle
wechseln müssen, da ich nun einen ganz anderen Status für die
Gruppe hatte.
10
In den darauf folgenden Sitzungen war ich sehr darauf bedacht,
keine determinierenden Aussagen zu treffen und war dabei sehr
mit
meinen
Selbstreflexionen
beschäftigt.
Das
führte
dass ich die Gruppe zum größten Teil in ihre
entließ.
Da
fortwährend
die
Gruppe
sich
keine
selbst
Basis
zu
hatte,
dazu,
Eigendynamik
begann
beschreiben.
sie
Diese
Selbstbeschreibungen avancierten zum Inhalt bzw. Substrat und
impliziten
Projekt
Zweck
und
des
Netzwerks.
entwickelte
sich
Schließlich
versandete
zu
oberflächlichen
einem
das
Kanalsystem schwacher Beziehungen.
4.2 Pädagogische Aufbreitung
Um
den
geschilderten
erziehungswissenschaftliche
mich
Aspekte
Sachverhalt
Zugänge
verschiedener
zu
öffnen,
für
bediene
Netzwerktheorieansätze
und
ich
der
Leibphänomenologie nach Herman Schmitz. Im Zuge dessen werde
ich
aus
der
Fülle
des
beschriebenen
Sachverhalts
wiederum
einzelne Tatbestände herausheben, um sie zu analysieren.
4.2.1 Die gemeinsame und persönliche Situation
Ausgangspunkt
Widerspruch,
meiner
in
Analyse
welchen
ich
ist
mich
der
oben
verwickelt
erläuterte
hatte.
Die
gemeinsame Situation6, die durch die Gruppe in wechselseitiger
„Leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation sind die wichtigsten Quellen von Situationen. Eine
Situation, wie ich das Wort verstehe, wird durch drei Merkmale definert:
6
1.
2.
3.
Sie ist ganzheitlich, d.h. nach außen abgehoben und in sich zusammengehalten.
Sie wird zusammengehalten durch eine Bedeutsamkeit, die aus Bedeutungen besteht. Bedeutungen im
hier gemeinten Sinn sind Sachverhalte (dass etwas ist), Programme (dass etwas sein soll [Norm] oder
sein möge [als Wunsch]) oder Probleme (ob etwas ist). […]
Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus, in dem Sinn, dass in ihr nicht alles (eventuell gar nichts) einzeln ist,
d.h. eine Anzahl um 1 vermehrt.“ Schmitz 2009, S. 47
11
Einverleibung7 entstand, brachte mich dazu anders als in meiner
persönlichen Gesinnung üblich zu agieren.
Mit
dem
Ausdruck
der
gemeinsamen
Situation
lässt
sich
beschreiben, warum man sich z.B. gegenüber manchen Personen
immer betont herablassend gibt, obwohl man doch sonst stets
partnerschaftlich agiert.
Gerade Gruppenatmosphären stellen gemeinsame Situationen dar,
die sich über kurze Zeiträume bilden und umbilden und dabei
Unerwartbares evozieren. Da man Situationen generell nicht der
objektiven
oder
der
subjektiven
Seite
eines
Geschehens
zuordnen kann8, weil sie sich gerade dazwischen ansiedeln, kann
man
dieses
Phänomen
zuschreiben.
Situation
eigenen
Man
als
Regeln,
auch
kann
Szene
auf
Probleme
nicht
den
einzelnen
annäherungsweise
einer
und
Bühne
eine
gemeinsame
begreifen,
Sachverhalte
mit
Akteuren
die
sich
ihre
bringt,
denen man sich als Schauspieler nur schwer entziehen kann9.
Dass mich10 eine gemeinsame Situation zum Widerspruch anleitete
bzw. ihn stark begünstigte, beschreibt aber noch nicht, worin
dieser
bestand.
Es
gilt
zu
erforschen,
inwiefern
mich
die
„Jeder Eindruck besitzt eine gewissen Geschlossenheit, wodurch er als Ganzes imponiert, zugleich aber eine
Mannigfaltigkeit, die ich durch die Rede vom Vielsagenden anzudeuten suche: Einzelnes an „Bedeutungen“ […]
kann man herausheben […]; aber dieses Einzelne tritt mehr oder weniger aus einem Hof oder Hintergrund von
Andeutungen hervor, die viele sind, ohne so und so viele zu sein, weil im Binnenverhältnis zwischen ihnen nicht
oder wenigstens nicht durchgängig feststeht, welche mit welchen identisch und welche von welchen verschieden
ist. Solches Mannigfaltige nenne ich chaotisch.“ Schmitz 2008, S. 69
„Der in Einsamkeit und Gemeinsamkeit invariante dialogisch kommunikative Charakter des leiblichen
Befindens […] legt die spontane Bildung und Erhaltung übergreifender quasi-leiblicher Einheiten nahe, die […]
über den einzelnen eigenen Leib, den unmittelbaren Gegenstand des eigenleiblichen Spüren, hinausgehen.“ Ebd.,
S. 55
„Von der einseitigen asymmetrischen Einleibung ist die wechselseitige mit Oszillieren der Dominanzrolle […]
zu unterscheiden; […] Wechselseitige Einleibung ist die Basis der Sozialkontakte unter Menschen […].“ Ebd.,
S. 57
8
Vgl. ebd., S. 70
9
Es handelt sich hierbei ausdrücklich nicht um ein Phänomen, das sich ebenso gut mit Hilfe der Figur der
‚doppelten Kontingenz beschreiben lässt. Vgl. ebd., S. 74
10
Es sei kurz angemerkt, dass der ständige Selbstbezug keinen Austrag einer schillernden Egozentrik zum
Ausdruck bringen soll, sondern methodisch bedingt ist. Da ich bei phänomenologischen Deskription von meinen
eigenen Erfahrungen und Besinnungen ausgehen muss.
„Die Definition des Phänomens im Sinne der Neuen Phänomenologie lautet also: Phänomen für jemand zu einer
Zeit ist ein Sachverhalt, dem der Betreffende dann nicht im Ernst den Glauben verweigern kann, dass es sich um
eine Tatsache handelt.“ Schmitz 2009, S. 12
7
12
gemeinsame Situation von meiner persönlichen Situation11 hat
abweichen lassen.
Grob
angedeutet
handelt
es
sich
um
die
Evokation
einer
Diskrepanz von Konstellation12 und Situation. Während ich der
Gruppe
die
Vorstellungen
über
die
offene
und
schöpferische
Struktur des Netzwerks mitteilte agierte ich im Rahmen einer
personalen Emanzipation. Das heißt ich objektivierte eigene,
subjektive
Werte,
Vorstellungen
und
Wünsche
durch
eine
distanzierte Form der Verbalisierung. Gleichsam war ich durch
die
gemeinsame
Gruppensituation
daran
gehindert
meine
Explikationen in umgestalteter Form wiederum durch personale
Regression
zu
Emanzipation
introjizieren.
und
Die
Regression13
erfuhr
Dynamik
von
personaler
eine
Störung
und
kam
sozusagen in eine Schieflage.
„Die Abgrenzung des eigenen Soseins ist beim erwachsenden und erwachsenen
Menschen die Angelegenheit eines Kompromisses zwischen der Evidenz für ihn
subjektiver Tatsachen und der Anwendung objektiver Sachverhalte und Regeln
[…]. Schmitz 2008, S. 79“
Die mir aufgedrängte Übertonung der objektiven Sachverhalte,
um die es mir zwar subjektiv geht, die ich aber selbst nicht
als subjektive Tatsachen verorten kann, wurde für mich zum
Zeitpunkt
einer
des
Gewahrwerdens
temporären
des
Entfremdung14
Widerspruchs
offenbar.
als
Meine
Erlebnis
Äußerungen
„In der gängigen, unscharfen Ausdrucksweise […] könnte man sagen, daß die persönliche Situation aus dem
Temperament und dem Charakter bestehe. Das Temperament ist dann die persönliche leibliche Disposition, zu
der besonders die Vitalität und die Konstitution […] gehören.“ Schmitz 2008, S. 84
„Abgesehen von der Erinnerung und dem (potentiellen) Erinnerungsvorrat gehört zu dem, was man in der
persönlichen Situation den persönlichen Charakter nennen könnte, eine mehr oder weniger chaotischmannigfaltige Masse von Programmen und Problemen, die den prospektiven Teil der persönlichen Situation […]
ausmachen.“ Ebd., S. 85
12
Eine Konstellation lässt sich als Vernetzung aus der Situation herausgelöster, einzelner Elemente beschreiben.
Vgl. Schmitz 2005, S. 27
13
„Personale Emanzipation ist der Rückzug eines Subjekts (Bewußthabers), das sich dadurch aus der
Verschmelzung mit Hier, Jetzt, Dasein und Dieses in der primitiven Gegenwart erhebt […] Schmitz 2008, S. 79,
80
„Der personalen Emanzipation korrespondiert gegenläufig die personale Regression als Rückfall in primitive
Gegenwart […]“ Ebd., S. 80
14
Eine Entfremdung kann zum einen eine von außen erzwungene Subjektabschälung bedeuten. In diesem Fall
entspricht es jedoch der Erfahrung mit seinen konstellatorischen Explikationen nicht mehr an seine implizite
persönliche Situation anschließen zu können.
11
13
gingen nicht mit meiner Persönlichkeit überein. Anstatt meine
persönliche
Situation
zu
aktualisieren,
verblieb
diese
im
vorherigen Zustand. Oder kurz: Ich gab vor wie ein Moderator
zu sprechen, obwohl ich immer noch ein Initiator15 war. Eine
Schieflage
der
Dynamik
Regression
erscheint
von
einem
personaler
Dritten
Emanzipation
als
eine
Form
und
von
verfehlter Authentizität.
Erst mit der Störung der Dynamik von personaler Emanzipation
und
Regression
und
der
damit
einhergehenden
Diskrepanz
zwischen der situativen und konstellatorischen Ebene, wurde
für
die
Gruppe
die
Antinomie
einer
determinierten
Indeterminiertheit spürbar16.
Die Antinomie besteht darin, dass die Forderung nach offenen
Strukturen selbst nicht offen ist. Die Antinomie besteht zwar
im
Paradoxen
der
Aussage
selbst,
doch
wird
sie
erst
zum
Problem, wenn sie durch eine Diskrepanz der genannten Ebenen
zur Erscheinung gelangt.
schützen,
betonten
die
Um ihre jeweilige Souveränität zu
Teilnehmer
folglich
die,
aus
meinen
Äußerungen zur Gruppestruktur hervorgehende, explizite Seite
der Indeterminiertheit. Die konstellatorische Ebene erfuhr für
die
gesamte
Gruppe
eine
Übertonung,
zu
ungunsten
der
situativen Ebene. Die Schieflage meiner persönlichen Situation
bewirkte
zwar
nicht
in
Gänze
eine
Schieflage
im
Netzwerkgeschehen, aber sie zeichnete sie anscheinend vor.
4.2.2 Das Schamgefühl
Ein Aspekt, der diese Entwicklung mit begünstigte, war das
Entstehen einer Atmosphäre der Scham, die Eindrücke evozierte,
die alle darauf folgenden Sitzungen mit bestimmten.
15
In den Wochen zuvor, als ich mich mit den potentiellen Teilnehmern einzeln traf und das Netzwerkkonzept
explizierte, fand gleichsam eine personale Regression statt, durch die ich objektivierte Bedeutungen wiederum in
meine Persönlichkeit aufnahm. Es kam stets zu einem gelungen Kompromiss bzw. gelungen Aushandeln von
Subjektabschälung und –Aneignung, sodass ich auf der reflexiven und präreflexiven Ebene als Initiator auftrat.
16
Dies bedeutet nicht, dass ihnen die Angelegenheit reflexiv bewusst war. Sie erlebten mich in einer Diskrepanz,
die sie selbst angeht.
14
Die
bekundete
Initiative
zur
Akquise
eines
Psychologen
verstieß gegen die Norm der gemeinsamen Situation der Gruppe.
Dieser Verstoß erzeugte ein ergreifendes Gefühl17 der Scham:
„Scham
ist
dagegen
der
zentripetale
Rückschlag
einer
Atmosphäre gegen das Abprallen einer Initiative, die zurück
gewiesen wird.“18 Dies meint zum einen, dass die Scham zu den
zentrierten
Gefühlen,
bei
Husserl
würden
sie
intentionale
Gefühle heißen, gehört und zum anderen, dass sie sich als um
einen Mittelpunkt kreisend diesem aufdringlich annähren. Die
angesprochene Initiative, die die Scham auslöst, kann, aus der
Perspektive
der
empfundener,
Vorschein
Gruppe,
wenn
kommen.
Verankerungspunkt,
als
auch
Gerade
der
intendierte
latenter,
bei
der
Handlung
oder
Geltungsanspruch
Scham
beschämende
lassen
Umstand,
als
zum
sich
der
und
der
Verdichtungsbereich dieses Gefühls, der beschämte, sehr klar
von
einander
Bewegung
des
unterscheiden.19
Gefühls
die
Dabei
gesamte
kann
Gruppe
die
zentripetale
ergreifen
und
die
Empörung über das Geschehne verstärken. Zu betonen gilt es,
dass durch die Scham die Norm der gemeinsamen Situation der
Gruppe,
welche
zuvor
nur
implizit,
latent
vorhanden
war,
explizit wird und ihre, über die konkrete, aktuelle Situation
hinaus, konstituierende Wirkung entfaltet.
„Zorn und Scham sind kathartische Erregungen, die durch eine Störung, die
ihr Verankerungspunkt ist, eintreten und darauf drängen, sich an ihrem
Verdichtungsbereich
durch
einen
Angriff,
der
die
Störung
kompensiert,
auszulassen und aufzuheben.“20
17
Atmosphären der Gefühle sind in gemeinsame Situation eingebunden. Dabei darf man Gefühle, im Gegensatz
zum Fühlen wie z.B. Schmerz oder Hunger, nicht als private Seelenkonfigurationen begreifen, sondern als
Atmosphären die sich alokal ergießen. Man kann sie auf einer distanzierten Weise entweder nur wahrnehmen
oder, von ihr befangen, sie am Leib spüren. Vgl. 2005. S. 240
18
Schmitz 2010, S. 195
19
Vgl. ebd., S. 194
20
Ebd., S. 195
15
Zorn21
und
Scham
gelten
Unrechtserfahrungen22,
Rechtsempfinden
die
als
sozusagen
ausmachen,
die
die
die
ihre
elementarsten
Vorstufe
Autorität
zu
einem
direkt
und
unmittelbar aus der Macht bzw. dem Ergriffensein durch die
Atmosphäre jenes Gefühls erhält.23
Das Gefühl der Scham wirkt sich, entgegengesetzt zum Zorn,
passivierend und lähmend, auf den Beschämten und, je nach der
Intensität der Ergriffenheit24, auf die Gruppe. Es entwickelt
sich für den Beschämten ein Impuls des ‚Weg!’, der sich jedoch
nicht entladen kann, da er sich selbst vereitelt. Mit der
Scham geht einher, dass man sich in sich selbst verkriecht und
der Impuls des ‚Weg!’ richtet sich auch nach Innen, womit der
Beschämte
immer
einstimmt
und
in
den
das
Chor
Gefühl
Beteiligten
affirmiert.
Katharsis.25
Es
gibt
der
der
Die
auch
zentripetalen
Scham
Scham
für
sich
vereitelt
Situationen,
in
Erregungen
und
ihre
denen
die
eigene
sich
der
Beschämte selbst nicht schämt, was wiederum die Atmosphäre der
Scham in ihrer Virulenz mildert.
Die
sich
entwickelnde
Atmosphäre
hinterließ
einen
starken
Eindruck auf die gemeinsame Situation des Netzwerks. Sie erhob
meine Initiative zum Unrecht, was dazu führte, dass auch in
den
kommenden
Sitzungen
Aussagen,
Setzungen
verblieben
stets
auf
annährungsweise
oder
Initiativen
einer
sehr
determinierende
ausblieben.
unkonkreten
Ebene
Wir
der
Diskussion, die viel Kontingenzerleben zuließ und begünstigte.
Des
Weiteren
war
das
Niveau
unserer
Auseinandersetzungen
distanziert und kritisch-reflexiv, um die Ergriffenheit durch
21
Der Zorn ist sozusagen die Schwester der Scham. Beide sind intentionale Gefühle mit getrennten
Verankerungspunkt und Verdichtungsbereich. Die suggerierte Bewegung des Zorns ist aber eine zentrifugale,
bei dem der Zornige seinen Dominanzanspruch Geltung verschaffen möchte.
22
Vgl. ebd., S.195
23
Vgl. ebd., S. 241
24
Dies zeigt sich vor allem bei der Peinlichkeit, als spezielle Form der Scham. Vgl. ebd., S. 199
25
Vgl. ebd., S. 197
16
Atmosphären der Gefühle zu mildern und in ihren Auswirkungen
zu lähmen, - sozusagen als kollektive Überwindungsstrategie.26
4.2.3 Von der Situation zur Konstellation
Die
Leiblichkeit
mit
ihrer
Achse
des
vitalen
Antriebs,
bestehend aus den Dynamiken der Engung und Weitung, begünstigt
durch
ihre
leiblichen
dialogische
Struktur
Kommunikation,
in
verschiedene
der
sie
Formen
sich,
in
der
ihrer
Entwicklung, aber immer schon befand, - d.h. eine isolierte
Leiblichkeit gibt es nicht.27
Im
Fall
des
Netzwerks
handelt
es
sich
um
eine
leibliche
Kommunikation in der Art einer antagonistischen Einverleibung
zwischen
Personen28,
wobei
sich
verschiedene
Engungen
und
Weitungen so ineinander verschränken können, dass sie sich in
der gemeinsamen Situation erschöpfen und nicht ausschließlich
an
die
persönliche
Situation
des
jeweiligen
Teilnehmers
gebunden sind.29
Je
nachdem
wie
intensiv
man
in
eine
gemeinsame
Situation
verstrickt ist, redet man entweder von einer implantierenden
oder
einer
Situationen
inkludierenden
geben
der
eigenen
Situation.
Implantierende
Leiblichkeit,
durch
ihre
Eigengesetzlichkeit, einen enormen Halt und sind tief in die
persönliche
Situation
eingewachsen.
Die
Ablösung
von
einer
implantierenden Situation, wie z.B. der Muttersprache, ist nur
partiell
möglich
persönlichen
oder
zersetzt
Situation.30
Die
bei
der
Ablösung
gemeinsame
Teile
Situation
der
des
Netzwerks am Anfang würde ich als inkludierende beschreiben,
bei der sich ein lockeres Verhältnis eingestellt hat und in
26
Vgl. ebd., S. 198
Vgl. Schmitz 2005, S. 21
28
„Bewussthaber mit der Fähigkeit zur Selbstzuschreibung“ Schmitz 2005, S. 19
29
z.B. kann ein Teilnehmer in engender Konzentration verharren, während der Teilnehmer den er anblickt den
weitenden Part übernimmt und so vielleicht einem festgefahrenen Gespräch neue Perspektiven eröffnet.
30
Vgl. Schmitz 2005, S. 25
27
17
der
implizit
Konventionen,
Interessen,
sowie
Wünsche
aufgingen, welche das Miteinander steuerten. Gefährdet wurde
diese
Situation
durch
den
Es
scheint
Konstellationismus.
sinnvoll,
Einzelnes
aus
der
nach
und
für
nach
das
aufkommenden
Umgehen
gemeinsamen
miteinander
Situation
zu
lösen
bzw. zu explizieren, um diesem Einzelnen gegenüber zu stehen
und
etwas
damit
machen
zu
können
bzw.
sich
diesem
Aspekt
bemächtigen zu können.31 So kann man aus der Situation heraus
mehrere
Aspekte
verknüpfen
und
sich
Modelle
über
die
Welt
schaffen, um mit ihr umgehen zu können. Im Netzwerk schien die
Betonung der konstellatorischen Ebene anfangs sehr sinnvoll,
um formale Abstimmungen zu evozieren. Jedoch lösten wir uns
sehr von der gemeinsamen Situation, indem wir sie in Einzelnes
auflösten und eine hoch reflexive Konstellation bildeten. Da
wir uns von der Situation entfernten, kam es dazu, dass wir
auf
der
konstellatorischen
Ebene
ein
Bild
von
der
Gruppe
entwarfen, das der gemeinsamen Situation nicht gerecht wurde.
Wir redeten z.B. darüber, dass wir eine Vision von Gesundheit
evozieren wollen, ohne ein gemeinsames Fundament zu haben. Da
unsere Diskussionen zwar interessant waren, aber keine Früchte
trugen,
besannen
Situation,
sondern
wir
uns
nicht
versuchten
den
auf
unsere
Grad
an
gemeinsame
Formalität
zu
erhöhen, um damit umgehen zu können. So wurde aus der Vision
von Gesundheit ein Modell von Gesundheit, und aus der Absicht
einer organisch, synthetischen Expertise eigener Dimension die
Absicht einer additionalen, analytischen Sachverständigkeit.
Allerdings waren gerade die Aspekte des Schöpferischen und des
Synthetischen,
Gesundheit
die
sich
erschöpfen
in
eine
neue
sollten,
Ganzheitlichkeit
die
von
deklarierten
Grundbedingungen für die Zusammenarbeit und Strukturierung im
Netzwerk.
31
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18
„Das Phänomen des Schöpferischen steht klar im Gegensatz zum Phänomen des
Machens.
Das Schöpferische
Elementen
ist uns vollkommen unverfügbar. Es wird
hergestellt,
die
bereits
in
der
Umwelt
nicht aus
vorliegen,
sondern
bezeichnet die Selbstherstellung der Einheit und die Hervorbringung des
Neuen. Dabei ist das Subjekt nicht Ursprung eines schöpferischen Prozesses,
sondern wird durch den schöpferischen Prozess hervorgebracht.
Das Subjekt als Bedingung seiner eigenen Neukonstitution und Veränderung,
entsteht erst im Vollzug dieser Veränderung. Diese schöpferischen Prozesse
haben keinen oberflächlichen Charakter, sondern ergreifen den Menschen in
seinem gesamten Wesen. Es handelt sich hierbei um eine sehr tief greifende
Form
des
Lernens,
des
Sich-
Entwickelns,
des
konstitutiven
Umstrukturierens. Diese Prozesse zu fördern bedeutet gerade nicht, nach dem
Credo zu handeln: Immer mehr Wissen zu akquirieren, die Umwelt effizienter
zu
operationalisieren
Anpassungsdruck
und
sich
auszusetzen.
selbst
Man
ist
einen
zwar,
riesigen
von
außen
Bildungs-
betrachtet,
und
sehr
aktiv, kommt aber mit sich selbst nicht weiter.“32
Bei dieser Form des Schöpferischen steht das jeweilige Ich der
Situation nicht gegenüber, sondern versucht sich mit ihr zu
identifizieren und in ihr aufzugehen. Während des Prozesses
der Überformung der Situation konstituiert sich das Ich neu.33
Dabei bezieht sich das Ich in einer Weise auf die jeweilige
Situation,
die
sich
erschöpfen
lässt,
Handlungen
und
nicht
sondern
in
einem
darüber
stabilisierende
rationalen
hinaus
leibliche
Rahmen
ritualisierte
Prozesse
mit
einschließt.34
4.2.4 Netzwerktheoretische Betrachtung
Nun möchte ich mich dem beschriebenen Sachverhalt nochmals mit
der
Hilfe
Zuhilfenahme
netzwerktheoretischer
eröffnet
der
hier
Denkfiguren
betriebenen
nähren.
Analyse
Diese
für
die
schon beschriebenen Aspekte eine neue Perspektive und überdies
32
Siehe Anhang: Netzwerkkonzept
Vgl. Stenger 2002, S. 151
34
Vgl. ebd., S. 152
33
19
scheint mir die Netzwerktheorie, da sie im Sinne des Wortes
eine
Theorie
Prozesse
der
Netzwerke
auf
der
Gruppenkonstitution,
ist,
bestens
dafür
konstellatorischen
bei
denen
meine
geeignet
Ebene
vorhergehende
der
Analyse
endete, in ihren Verlauf weiter zu beschreiben.
Es hat sich zwar noch nicht so etwas wie eine eigenständige,
genügend
elaborierte
Netzwerktheorie
im
wissenschaftlichen
Sinne herausbilden können, aber es gibt einen Punkt in dem
sich
alle
netzwerktheoretischen
fokussieren
sozialer
weder
individuelle
Systeme,
sondern
Bemühungen
Motive
nehmen
noch
eine
gleichen:
sie
Bestandsprobleme
relationalistische
Perspektive ein.35 Der Fokus auf soziale Beziehungen erlaubt
der Netzwerktheorie, die intermediäre Ebene soziale Netzwerke
zwischen
dem
einzelnen
Individuum
und
der
Gesellschaft
zu
beschreiben.36
Die
Herausbildung
eines
Netzwerkphänomenologie
Ansatzes,
nennt,
der
sich
gestattet
mir
netzwerktheoretische Überlegungen direkt an meine zum größten
Teil
leibphänomenologischen
Beziehungen
als
Netzwerk
zu
Deskriptionen
beschreiben,
anzuschließen.
z.B.
Akteure
als
Knotenpunkte verschiedener ‚ties’ oder auch Beziehungsstränge
genannt,
setzt
immer
schon
Abstraktion
von
der
konkreten
Situation voraus und widerspricht somit dem phänomenologischen
Credo, die jeweiligen Sachverhalte stets so zu beschreiben,
wie sie sich einem zeigen. Jedoch werden soziale Kontakte von
den
Beteiligten
Netzwerken
selbst
abstrahiert
generalisiert.
Es
und
handelt
zu
sich
Relationen
um
in
sogenannte
‚Realabstraktionen’, z.B. in Form von Kategorien wie Freunde,
Verwandte,
Bekannte,
die
Wirklichkeit
ausmachen
erschöpfen.37
Durch
die
bereits
und
sich
ständigen
ein
in
Teil
ihr
der
sozialen
wirkungsmächtig
Selbstbeschreibungen
und
35
Vgl. Kneer/ Schroer, S. 253
Vgl. ebd., S. 258
37
Vgl. ebd., S. 266
36
20
Bezeichnungen werden die jeweiligen Situationen stabilisiert
und die sich in ihnen befindlichen Beziehungen verbindlich. Es
bildet sich für die Gruppe eine ‚story’ aus, die über das
Faktische hinaus das Beziehungskonglomerat mit Bedeutung füllt
und ihr einen Rahmen gibt.38 Ähnlich der Konstitution einer
gemeinsamen
Situation
kann
eine
story
nicht
als
Aggregat
individueller Absichten und Motive, sondern ausschließlich als
soziale Realität sui generis begriffen werden.
„Wenn man sich auf jemanden „verlassen kann“, generalisiert man konkrete
Erfahrungen
in
spezifischen
Situationen
zu
einem
Erfahrungskomplex
des
persönlichen Vertrauens, der sich nicht aus Rollen oder Programmen – und
erst recht nicht aus physikalischen Gesetzen – ableitet.“39
Da man stories als emergente soziale Realitäten eigener Art
begreift,
gleichwohl
Kontrollversuchen
sie
der
auf
den
Einzelnen
Interpretationen
beruhen,
kann
man
und
das
Zustandekommen des eingängig beschriebenen Widerspruchs auch
netzwerktheoretische beschreiben. Das Phänomen des ‚switching’
beschreibt den Wechsel von einem Netzwerk in ein anderes mit
anderem Beziehungstyp.40 In meinem Fall wäre dies der Wechsel
vom Initiator – potentieller Teilnehmer-Einzelgespräch hin zum
Moderator
–
Mitglieder
verschieden-artige
macht
und
–
stories,
zu
Netzwerk.
was
Konflikten,
das
Beide
Netzwerke
switching
haben
problematisch
Missverständnissen,
sowie
Widersprüchen führt.
Abschließend möchte ich die Gruppenprozesse mit Hilfe eines
strukturalistischen, netzwerktheoretischen Ansatzes erläutern.
Innerhalb
dieses
Ansatzes
werden
soziale
Relationen
beispielsweise als Muster von Knoten und Linien beschrieben.
38
Dies ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass sie die Gruppenprozesse determiniert. Sie gibt überhaupt erst
vor was als Überraschung oder Abweichung in Frage kommt. Vgl. ebd., S. 267
39
Ebd., S. 267
40
Vgl. ebd., S. 270
21
Im
Verlauf
der
einzelnen
Zentralität41,
welche
Waldmann
mich
und
aufgelöst
und
auf
Netzwerktreffen
meinen
gerichtet
die
Dichte
Kommilitonen
war,
bzw.
hat
in
eine
Intensität
sich
die
Maximilian
Dezentralität
der
‚ties’
hat
abgenommen. Dies erklärt sich daraus, dass die Rolle eines
Moderators
immer
unbedeutender
wurde
und
auf
der
konstellatorischen Ebene viele Redundanzen auftraten, die als
Folge die Kontaktfrequenz und –intensität schrumpfen lässt.42
Die Gruppe hatte sich von der gemeinsamen Situation entfernt
und kreiste sozusagen um sich selbst.
Die schwächeren ties gaben allerdings die Möglichkeit frei,
Teilgruppen
im
netzwerkfremde
Netzwerk
Regionen
Wissensressourcen,
sowie
entstehen
zu
erschlossen
und
kreatives
lassen,
somit
Potential
die
sich
verschiedene
akquirierten.
Diese ‚Broker’43 gaben einerseits neue Ideen in die Gruppe und
prägten
andererseits
die
Machtverhältnisse
in
dem
Netzwerk
durch ihren Informationsvorsprung. Die Gruppe reagierte darauf
wie gewohnt distanziert, was sich auch darin ausdrückte, dass
die Beziehungsstränge noch schwächer wurden.
Es
sei
zum
Schluss
darauf
hingewiesen,
dass
man
mit
netzwerktheoretischen Ansätzen die beschriebenen Sachverhalte
auch
detaillierter
Aufzeichnung
einzelner
immer
analysieren
narrativer
Sequenzen
Interaktionsepisoden,
genauer
den
könnte,
Sachverhalt
um
zu
oder
aus
z.B.
der
diesen
durch
die
Untersuchung
Einzelheiten
rekonstruieren.44
Geht
es
hingegen um das ganzheitliche Erfassen einer Situation, kämen
wohl eher Methoden der Leibphänomenologie zur Beschreibung in
Frage.
41
Vgl. ebd., S. 257
Vgl. ebd., S. 258
43
Als ein Ausdruck für diejenigen, die zwischen zwei Netzwerken vermitteln. Vgl. ebd., S. 259
44
Vgl. ebd., S. 270
42
22
5. Resümee
Vielleicht
bekam
der
Leser
dieses
Berichts
einen
zu
argen
negativen Blick auf die Konstitution des Netzwerks, was aber
einerseits
dem
andererseits
Anspruch
dem
einer
kritischen
Vergleich
mit
Reflexion
den
und
ursprünglichen
Vorstellungen zum Aufbau des Netzwerkes geschuldet ist.
Es
fanden
im
Rahmen
der
gemeinsamen
Netzwerkarbeit
viele
interessante Diskussionen und ein reger Austausch an Gedanken
statt. Allerdings hatten wir, mein Kollege Maximilian Waldmann
und ich, in der Phase der Akquise die potentiellen Mitglieder
mit
dem
Ausblick
auf
die
Generierung
einer
Expertise
sui
generis und der Evokation einer Vision von Gesundheit für das
Netzwerkprojekt
Zusammenarbeit
beworben
sind
und
wir
begeistert.
jedoch
Im
allzu
Verlauf
sehr
von
der
diesem
anfänglichen Fundament genommen hatte.
Diese Abweichung vom ursprünglichen Vorhaben lässt sich aus
der jeweiligen beruflichen Situation der einzelnen Mitglieder
erklären, - erschöpft sich m. E. aber nicht darin.
Viele
Mitglieder
jeweiligen
mehreren
führte
waren
Profession
Projekten
zu
einem
schon
tätig
bzw.
seit
und
vielen
engagierten
Arbeitsbereichen
zunehmenden
Jahren
Mangel
an
sich
in
ihrer
stets
gleichzeitig.
Zeitressourcen
in
Dies
und
zeigte die Grenzen des Aufbaus einer eigenen Expertise auf.
Denn so anstrebenswert eine übergreifende, eigene Expertise
auch
sei,
blieben
die
Teilnehmer
doch
in
ihrer
Teilnehmer
nicht
jeweiligen
Profession verhaftet.
Grundsätzlich
ließen
sich
die
gemeinsame
Situation
ein,
in
stattfinden
können.
Analyse
Gründe
beleuchtet.
konstellatorischen
Zu
Ebene
dafür
sehr
der
schöpferische
hatte
blieb
verhaftet,
auf
auf
ich
der
Prozesse
bereits
die
in
Gruppe
die
eine
Werte
der
der
der
Egalität und Autonomie des Einzelnen verteidigt wurden, und
23
zwar in einer Weise, die einer Ausgestaltung bzw. einer sich
bildenden,
tieferen
Charakteristika
des
Netzwerks
entgegen
stand.
Das
Netzwerk
tragfähigen
ist
derzeit
Kontakten
seiner
jeweiligen
Dieser
Umstand
Durchführung
in
besteht
Vorhaben
hilft
und
u.
Verfassung,
dem
einen
mir
eines
einer
einzelnen
gewissen
a.
bei
kommen
Gesundheitsprojekt
als
beim
dem
Aufbau
anstehenden,
Referenten
und
im
Rückhalt
Nachfolger-Projekts.
Netzwerkmitglieder
die
aus
Rahmen
bietet.
und
der
Verschiedene
universitären
Multiplikatoren
in
Frage. Wiederum geht es mir darum, über einen oberflächlichen,
konstellatorischen
Netzwerkcharakter
hinaus
schöpferische
Prozesse und eine synthetisch, ganzheitliche Perspektive zu
fördern.
Dabei
hat
Netzwerkgeschehens,
mir
die
auch
dieser
die
erneute
Bericht
mir
Reflexion
auferlegt
des
hat,
geholfen, wie sich verschiedene Ebenen der Gruppendynamik zu
einander
verhalten
können
und
welche
verschiedenen
Analysemethoden ich für die jeweiligen Ebenen als zweckmäßig
erachte. Aus wissenschaftlich-theoretischer Perspektive müsste
allerdings nochmals umfassender über die Anschlusspunkte der
verschiedenen,
Dieser
Bericht
explizierten
legt
Denkfiguren
zumindest
eine
gearbeitet
werden.
Anschlussfähigkeit
von
Phänomenologie, Netzwerktheorie und Systemtheorie nahe.
„Mit
dem
freien,
selbstbewussten
Wesen
tritt
zugleich
eine
ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und
gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts“
24
6. Literaturverzeichnis
Kneer, G./ Schroer, M. (Hrsg.) (2009): Handbuch soziologische
Theorien
Wiesbaden: VS Verlag
Schmitz, H. (2005): Situationen und Konstellationen
Freiburg: Alber
Schmitz, H. (2008): Leib und Gefühl
Bielefeld: Aisthesis Verlag
Schmitz, H. (2009): Einführung in die Neue Phänomenologie
Freiburg/ München: Alber
Schmitz, H. (2010): Jenseits des Naturalismus
Freiburg im Breisgau: Alber
Stenger, U. (2002): Schöpferische Prozesse
Weinheim/ München: Juventa
25
7. Anhang
Netzwerk Argumentation Kurzfassung
I. Der Schöpferische Mensch
II. Das synthetische Denken
III. Das Schöpferische und das Synthetische
IV. Gesundheit
V. Die Auflösung des Selbst
VI. Unsere Vision: Das Netzwerk als Hinwendung zum Selbst
I. Der Schöpferische Mensch
„Mit
dem
freien,
selbstbewußten
Wesen
tritt
zugleich
eine
ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und
gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts.“45
Die
Grundlage
des
Schöpferischen
Menschen
liegt
in
der
Annahme, dass der Mensch frei ist. Der Mensch befindet sich in
der Notlage, sich und seine Welt stets neu zu erschaffen.
Begriffe,
Regeln,
Gesetzmäßigkeiten
und
andere
berechenbare
Formen erscheinen immer erst im Nachhinein und lassen eine
Kausalität
Prozesses
vermuten.
der
Die
Förderung
Neukonstitution,
der
den
des
schöpferischen
Menschen
zu
diesem
besagten freien, selbstbewussten, mündigen Wesen werden lässt,
ist unsere Aufgabe. Das Schöpferische am Menschen ist keine
Applikation:
45
Der
Mensch
ist
nicht
Mensch
und
dann
noch
Siehe „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“
26
irgendwie
schöpferisch,
sondern
das
Schöpferische
offenbart
seine Grundwesenheit. Ganz gleich, ob wir uns dessen bewusst
sind
oder
nicht.
Wir
sind
stets
darum
bemüht,
nicht
zu
zerfallen, zu sterben, uns aufzulösen. Wir ringen ständig um
die Einheit unseres Selbst, auf der Suche nach dem Gefühl der
Kohärenz und Kongruenz. Wir streben nach Sinn und Wert und
versuchen
unsere
Welt
zu
verstehen,
sie
uns
verfügbar
und
handhabbar zu machen. Und wir entwerfen unser Selbst und die
Welt immerwährend neu, um nicht der Leere, dem Nichts, dem Tod
in Ohnmacht zu erliegen.
Als Bsp.:
Eine Person trägt eine Brille. Die Brille ist geteilt: Auf der
rechten Seite trägt die Person ein rotes Glas und auf der
linken ein grünes. Die Person trägt in einem Experiment die
Brille
drei
Monate
lang
permanent,
sie
schläft
sogar
mit
dieser Brille auf der Nase. Wenn die Brille das erste Mal
aufgesetzt wird, sieht die Welt für die Person geteilt aus:
Alle Dinge erscheinen links mit einer grünlichen und rechts
mit einer rötlichen Färbung. Das war zu erwarten. Doch dann
passiert etwas Unerwartetes: Die Welt wird allmählich wieder
einheitlich. Sie ist nicht länger in eine linke grüne und eine
rechte rote Hälfte geteilt. Die Welt wird wieder polychrom,
wie
zuvor.
Die
Person
nimmt
die
Welt
in
ihrem
gesamten
Farbspektrum wahr. Der Mensch formt in diesem Sinne die Welt
als etwas Konsistentes und Kohärentes.
II. Das synthetische Denken
Der Prozess des Schöpferischen lässt sich nicht analytisch,
also
nicht
aus
seiner
Zerlegung
heraus,
sondern
lediglich
synthetisch, aus seiner Ganzheit heraus fassen. Eine Ganzheit
die
nur
der
Mensch
hervorbringt.
Das
analytische
Denken
27
zerlegt die Dinge und führt sie auf ihre einfachen Elemente
zurück, um sie zu erklären und berechenbar zu machen.
Diese
Denkart,
wie
sie
vorwiegend
in
der
Wissenschaft
angewandt wird, hat uns Vieles gebracht, vor allem technischen
Fortschritt.
sobald
führten
der
Doch
stößt
Mensch
das
analytische
Gegenstand
Technologien,
z.B.
ihrer
des
Denken
an
Betrachtung
pädagogischen
Grenzen,
wird.
Zwar
Handelns,
zu
einer Steigerung der Qualität und Effizienz; doch zeigt sich,
dass technischer Fortschritt
bisher immer eng verbunden war
mit der Technisierung und Operationalisierung des menschlichen
Individuums.
Humankapital
Größe;
ist
Der
Mensch
verzweckt
und
wird
als
in
einigen
Ressource
zur
Bereichen
als
berechenbaren
doch der Mensch ist keine Maschine. Denn die Maschine
nicht
frei.
Diese
Trivialisierungstendenzen
wollen
und
können wir nicht abschaffen, aber wir können ihnen mit einem
Konzept von Gesundheit, gegründet auf synthetischem Denken,
begegnen.
Das synthetische Denken fügt Dinge zusammen und führt sie auf
ihre höhere Einheit zurück, um ihren Sinn zu erkennen und sie
in ihrer Ganzheit zu fassen.
Als Bsp.:
Die
menschliche
verschiedenen
Hand
versuchen
Gewebeschichten
wir
für
gewöhnlich
zu
erklären
aus
den
(Muskelfasern,
Knochen, Hautschichten etc.). Aber die Hand ist nicht für sich
selbst Hand. Sie steht zum Körper nicht im Verhältnis, wie ein
Zahnrad zum Uhrwerk. Sie ist kein Teil einer Maschine, sondern
eines Organismus. Die Hand lässt sich demnach nicht aus ihren
Einzelbestandteilen
heraus verstehen, sondern nur aus ihrem
Verhältnis zum Ganzen, zum Organismus. Das besondere an diesem
Verhältnis ist das Grundpostulat, dass das Ganze seine Teile
umschließt und durch sie bestimmt wird und gleichsam die Teile
diese Ganzheit in sich tragen.
28
III. Das Schöpferische und das Synthetische
Diese
Denkart
grenzt
mechanistischen
Phänomen
des
sich
von
Herangehensweisen
Entstehens
des
reduktionistischen
ab.
Wie
lässt
Organischen
im
und
sich
das
Gegensatz
zum
Mechanischen fassen? D.h.: Wie lässt sich das Entstehen der
Einheit des Menschen beschreiben?
Wir
könnten
vorhanden
davon
ist,
ausgehen,
der
dass
bewirkt,
dass
im
Menschen
alle
Teile
ein
als
Kern
Ganzes
zusammenwirken und eine Einheit bilden (Substanzontologie).
Wir
könnten
Ganzen
ebenso
durch
davon
allerhand
ausgehen,
dass
das
Gesetzmäßigkeiten
Phänomen
in
des
systemischen
Prozessen beschrieben werden kann (Systemtheorie).
Die
Option
Einheit
die
wie
schöpferischen
wir
wählen,
folgt:
Der
Prozessen
beschreibt
Mensch
beteiligt,
das
ist
die
die
Entstehen
der
fortwährend
an
Einheit
seiner
selbst immer wieder neu hervorbringen.
Das Phänomen des Schöpferischen steht klar im Gegensatz zum
Phänomen des Machens.
Das Schöpferische
ist uns vollkommen unverfügbar. Es wird
nicht aus Elementen hergestellt, die bereits in der Umwelt
vorliegen,
Einheit
sondern
und
die
bezeichnet
Hervorbringung
die
Selbstherstellung
der
des
Neuen.
das
Dabei
ist
Subjekt nicht Ursprung eines schöpferischen Prozesses, sondern
wird durch den schöpferischen Prozess hervorgebracht.
Das Subjekt als Bedingung seiner eigenen Neukonstitution und
Veränderung,
Diese
entsteht
schöpferischen
erst
im
Prozesse
Vollzug
haben
dieser
keinen
Veränderung.
oberflächlichen
Charakter, sondern ergreifen den Menschen in seinem gesamten
Wesen. Es handelt sich hierbei um eine sehr tief greifende
Form
des
Lernens,
des
Sich-
Entwickelns,
des
konstitutiven
Umstrukturierens. Diese Prozesse zu fördern bedeutet gerade
nicht,
nach
dem
Kredo
zu
handeln:
Immer
mehr
Wissen
zu
akquirieren, die Umwelt effizienter zu operationalisieren und
sich
selbst
einen
riesigen
Bildungs-
und
Anpassungsdruck
29
auszusetzen. Man ist zwar, von außen betrachtet, sehr aktiv,
kommt aber mit sich selbst nicht weiter. Umgekehrt scheinen
schöpferische Prozesse, als innere Bewegungen des Selbst, erst
in Zeiten der Ruhe abzulaufen. Die Förderung bedeutet also:
Den
Menschen
in
Bewegung
Entwicklungssprung,
der
zu
nicht
versetzen
an
eine
durch
einen
Ortsveränderung
oder
äußere Dynamik gebunden ist.
Die
Phänomenologie
systemtheoretische
nicht
aus,
sie
des
und
vereint
Schöpferischen
substanzontologische
sie
und
schließt
Beschreibungen
erweitert
sie
um
einige
Aspekte.
IV. Gesundheit
Gesundheit
verstanden
darf
nicht
werden,
als
sondern
passiver
als
Gleichgewichtszustand
labiles
Geschehen,
das
sich
aktiv und dynamisch reguliert.46 D.h. sie definiert sich nicht
durch das Ausbleiben von Krankheiten.
Wir fragen nicht nach dem Ursprung von Krankheiten und deren
Beseitigung,
Gesundheit.
sondern
Wie
nach
können
Bedingungen
wir
dem
für
einzelnen
das
Werden
Menschen
von
helfen,
immer wieder eine eigene Ordnung gegenüber Verfallsprozessen
auszubilden?
Dieser Begriff von Gesundheit beschränkt sich nicht auf den
Körper,
sondern
muss
die
gesamte
Person
und
dessen
Lebensumwelt einbeziehen.
Lassen
Sie
uns
Gesundheit
fördern,
anstatt
lediglich
vor
Krankheiten zu schützen.
Es
wäre
verfehlt,
Menschen
von
schädlichen
Einflüssen
isolieren zu wollen. Es wäre verfehlt, sie bewahren zu wollen.
Aber wir können ihr Selbst stärken und fördern. Auf dass sie
ihr Leben souverän gestalten können!
46
Siehe Anthropologische Medienerziehung, siehe auch systemisch- konstruktivistische Pädagogik
30
Diese
vor
Erläuterungen
Augen
sollen
führen,
Ihnen,
dass
wir
den
den
Netzwerk-Mitgliedern,
Menschen
aus
seiner
Ganzheitlichkeit heraus verstehen und dass die Grundleistung
des Menschen in der stetigen Hervorbringung der Einheit des
Menschen besteht. Diese Grundleistung ist Gesundheit.
V. Die Auflösung des Selbst
Die
Gesundheit,
also
die
Konstruktion
der
Einheit
des
Menschen, ist bedroht. Erst in der Bedrohung der Einheit wird
offensichtlich,
dass
der
Mensch
kein
bleibendes
statisches
Wesen hat. Der Mensch stellt eine Vielheit dar, die immer
wieder zur Einheit gebracht werden muss.
In Situationen, in denen sich der Mensch auf lediglich einen
Aspekt seines vielfältigen Selbst beschränken muss, löst er
sich auf. Sozusagen in Momenten, in denen er nicht er selbst
sein darf. Die Auflösung des Menschen findet sich in vielen
Bereichen:
Beispielsweise
Medizinsystems
zu
einer
führt
die
Ausdifferenzierung
fortschreitenden
Objektivierung
des
des
Menschen. Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Facharzt für
Innere Medizin, der sich auf Leberkrankheiten spezialisiert
hat. Sie werden als Träger von Leberkrankheiten behandelt und
objektiviert werden.
Neben
Prozessen
der
Ausdifferenzierung
existieren
andere
Prozesse, die eine Auflösung der Einheit des Menschen fördern.
Dies sind beispielsweise Prozesse der Individualisierung, der
Technisierung,
der
Entfremdungsphänomene.
Mechanisierung,
Dieser
Auflösung
aber
des
auch
Selbst
alle
begegnen
wir durch eine Hinwendung zum Inneren, zum Selbst.
31
VI. Unsere Vision: Das Netzwerk als Hinwendung zum Selbst
Im Kern der Netzwerkarbeit liegt, das Selbst des Menschen zu
stärken. Wir hatten festgestellt, dass der Mensch kein starres
Gebilde
aufweist,
außerordentliche
sondern
gekennzeichnet
Vielschichtigkeit
und
ist
innere
durch
eine
Zerrissenheit,
die immer wieder zur Einheit gebracht werden muss.
Um
dem
netzwerkartigen
Charakter
des
Menschen
adäquat
zu
begegnen, bilden wir selbst die Struktur eines Netzwerks aus.
Unser
Netzwerk
ist
die
Antwort
auf
das
Netzwerk,
das
wir
Mensch nennen. Dabei spielt die Heterogenität unserer Gruppe
eine
entscheidende
verschiedenen
Rolle:
Neue
Perspektiven
Ansammlung
von
der
ergeben
Kompetenzen,
einer
aus
Durch
sich
den
die
gewonnen
ergeben
fruchtbaren
sich
Mitglieder.
Erfahrungswissen,
verschiedenartigen
Möglichkeiten
Ideen
aus
vielfältige
Zusammenarbeit.
In
Analogie
zum Menschen ist es auch für uns von enormer Bedeutung, das
Netzwerk in gemeinsamer Auseinandersetzung immer wieder neu zu
konstituieren.
Auf
der
Grundlage
dieser
schöpferischen
Prozesse bilden sich Strukturen aus. Erst dann erscheint es
möglich, unser Miteinander unter den Begriff des Netzwerks für
Gesundheit zu stellen. Das bedeutet gerade nicht, dass wir die
verschiedenen
hinfällig
Ansätze
erklären.
Kompetenzen
in
Ganzheitlichkeit,
sind
keine
sozialeunseres
der
geht
der
für
im
Netzwerk
Form
geholfen
um
Professionen
Aufnahme
der
Die
Ideen
der
Gesundheit
des
Menschen
bio-/
psycho-/
unterstreichen
Sie
soll
eine
sozusagen
mitschwingen.
kann
dem
werden
ganz
eigene
innerhalb
Durch
Einzelnen
-
für
eine
verschiedene
sondern
Dimension.
es
Kontext.
Einheit,
Arbeitsprozesses
Zusammenarbeit
umfassenden
Vielmehr
Sammelbegriffe
neue
teilnehmenden
erweitertem
Phänomene,
qualitativ
der
im
so
in
Sinne
die
einer
der
32
Ganzheitlichkeit.
Prozess
des
Unsere
Hauptaufgabe
Schöpferischen
Dementsprechend
stärken
wir
im
ist
es,
Menschen
seine
den
zu
aktiven
fördern.
Gesamtkonstitution,
sein
Selbst, und verhelfen ihm zu einer besseren Gesundheit.
Die
Unberechenbarkeit
des
Menschen
lässt
uns
bei
unserer
Arbeit oft ins Straucheln kommen, zeigt uns Grenzen auf und
fordert
uns
heraus.
Lassen
Sie
uns
immer
wieder
über
den
Menschen stolpern und Krisen als Chancen begreifen! Lassen Sie
uns den Menschen immer wieder neu denken!
Mit
der
Ersten.
Gründung
Man
dieses
könnte
Netzwerks
sogar
meinen,
sind
wir
dass
bundesweit
wir
mit
die
unserer
Schwerpunktsetzung auf Ganzheitlichkeit und auf synthetisches
Denken die Tradition der Jenaer Frühromantik fortführen und
erweitern.
„Mit
dem
freien,
selbstbewußten
Wesen
tritt
zugleich
eine
ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und
gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts.“
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