Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ULRICH REBSTOCK Politische islamische Systeme Vortrag an der Volkshochschule Kirchheim am Neckar, 20.10.2012 Poltische islamische Systeme Ulrich Rebstock VHS Politische Systeme 2012 Am 17.12.2010 übergoß sich der mobile Gemüsehändler Muhammad Buazizi in Sidi Bouzid, einer Kleinstadt in West-Tunesien, mit Benzin und zündete sich an, weil er das Bestechungsgeld für die Verlängerung seiner Geschäftskonzession nicht mehr aufbringen konnte. Er setzte mit seiner Selbsttötung eine Bewegung in Gang, die rasch die Grenzen des Landes überschritt und auf immer weitere Länder der Region, dann der weiteren arabischen Welt übergriff und im Zuge dieser Ausbreitung die verschiedensten Schlachtrufe und Forderungen hervorbrachte. Die Zeitgeschichte hat sich wieder einmal als eine überzeugende Dramaturgin gezeigt: Sie hat eine ungemein spannende Geschichte erzählt, und das dazu noch plausibel und verständlich, weil im historischen O-Ton. Man scheint die Geschehnisse nur befolgen und kommentieren zu müssen. Aber genau da liegt das Problem. Die Geschehnisse im arabischen Orient seit Dezember 2010 werden nämlich auf ganz verschiedene Weise kolportiert. „Diktatorendämmerung in Arabien“1 war da in ganz und gar unpassendem wagnerischem Ton bei uns zu lesen, in Anlehnung an den Prager Frühling 1968 wurde daraus der „Arabische Frühling“ oder gar die „Arabellion“, in Anlehnung an die franz. Revolution von 1789. Dies sind Bezeichnungen aus der Distanz, wenn auch mit Empathie gewählt. Im islamischen Orient sind das allesamt fremde Bezüge, Vergleiche, die dort nicht geläufig waren und jetzt noch nicht so richtig sind. [1 Che] So versteht man auch besser, daß es eine neue Richtung dieser arab. Revolutionäre gibt, die der franz. Revolution genau dieses Patent auf „Revolution“ ab- und – raten Sie! – sich selbst zuspricht. Im Orient werden die Geschehnisse schärfer und selbstbewußter kolportiert. [Die Karikaturen sollen Ihnen zeigen, daß dabei auch oft bitterer Humor und Selbstironie im Spiel sind. Sie stammen aus der Feder des sudanesischen Karikaturisten Khalid Albaih] Man spricht hier eigentlich schon – wie Ende August die syrische Opposition in ihrem Strategiepapier es formulierte - von der Zeit danach, von einer fundamentalen Veränderung der politischen Systeme. Bei dieser Beschreibung werden die beiden Adjektive „fundamental“ und „politisch“ ins Zentrum gerückt. Unausgedrückt bleibt das dritte und vielleicht wesentlichste Adjektiv: „islamisch“, das Adjektiv, das – wenn auch auf ganz verschiedene Weisen – überall zu den überkommenen Ordnungen gehörte, das aber auch – und dies wohl ebenfalls auf ganz verschiedene Weisen – auch überall zu den gerade anbrechenden neuen Ordnungen gehören wird. Wie sich nun diese drei Merkmale in den verschiedenen Reformbewegungen in Nordafrika und dem Vorderen Orient zueinander verhalten und welche Perspektiven sich für das Danach daraus ergeben, und zwar nach innen wie von außen, das soll uns heute etwas näher beschäftigen. Als Islamwissenschaftler werde ich (aber das werden Sie ja bereits ahnen) besonders die Bedeutung des Adjektivs „islamisch“ ins Visier nehmen. Ich möchte also Überlegungen darüber anstellen, welche Färbungen das Adjektiv „islamisch“ annehmen könnte und mit welchen religionspolitischen Argumenten diese islamischen Schwerpunkte im Zuge der 1 So die Überschrift des Analysenteils in Blätter für deutsche und internationale Politik 3/11, S. 41-58, hier S. 41. fundamentalen Veränderungen der politischen Ordnung in den betroffenen Regionen bereits eingefordert werden oder dies noch werden könnten. Als ich (1. Mal) vor fast drei Jahren hier über die „Freiheit des Individuums und seine Pflichten in der muslimischen Gemeinschaft“ sprach, war noch nichts von dem abzusehen, was heute – zumindest im arabisch-islamischen Orient – überall diskutiert wird: Inwieweit kann die islamische Glaubensethik dem Individuum die ihm zustehenden und die von ihm geforderten Freiheitsrechte ungeschmälert zugestehen bzw. umgekehrt: Inwieweit können diese Freiheitsrechte zum Wohle der islamischen Glaubensgemeinschaft eingeschränkt werden. Auch ein Jahr darauf (2. Mal) , als wir bei dem Thema „Zwischen Toleranzzwang und Anpassung“ u.a. von dem fast überall in der islamischen Welt verankerten Gleichheitsgrundsatz in den Verfassungen hörten, im selben Atemzug aber auch davon, daß der Islam gleichzeitig fast überall Staatsreligion ist und die Scharia die, oder eine Grundlage von Gesetzgebung und Rechtsprechung ist, ahnten wir noch nicht, was aus der damals gerade einsetzenden tunesischen „Demokratiebewegung“ erwachsen sollte. [2 Stuhl] In Tunesien galt der wie ein Flächenbrand umsichgreifende Protest, der vom Land in die Stadt schwappte und bald alle Generationen und Schichten, Männer wie Frauen, ja sogar Mitglieder der reichen Bourgeoisie umfaßte, zuerst nur der Figur des Präsidenten Ben Ali und dem Clan seiner zweiten Ehefrau Leila Trabelsi. Unter den Tunesiern betitelte man das Paar zusammen als „Ben Ali und die 40 Trabelsis“ (in Anlehnung an die Räuberbande in der bekannten Geschichte aus 1001 Nacht). In den überwiegend friedlichen Wirren, die nach dem 14.1.2011, mit der Flucht der Präsidentenclique nach Saudi-Arabien, in geordnete Bahnen gelenkt werden konnte, wurden ganz unterschiedliche Forderungen laut. Von einem „islamischen Staat“ war die Rede, von Demokratie natürlich, aber auch von einer „zivilen Republik“. Über allem aber stand die Entwicklung einer Verfassung, zu deren Formulierung schon 8 Monate später, am 23.10.2011, eine verfassungsgebende Versammlung einberufen wurde. Der gehören 9 politische Parteien an, darunter die islamische Ennahda (217), die linkssäkulare Kongresspartei (29) sowie die Tunesische Kommunistische Arbeiterpartei (3). Seit einigen Wochen ist klar, daß vor dem kommenden Frühjahr 2013 keine Verfassung verabschiedet werden wird. Dazu ist auch klar erkennbar, daß – anders als lange erwartet und anders auch als vor allem vom Westen erhofft – der Einfluß der islamischen Parteien auf die Inhalte der Verfassung zunimmt. Vor allem die Frauen Tunesiens, die seit den 90er Jahren ein für ein islamisches Land besonders modernes islamisches Zivilrecht auf ihrer Seite hatten (das betrifft etwa das Ehe-, Scheidungs- und Erbrecht – also die Rechte, bei denen Frauen der Gleichheitssstatus verwehrt wird), wehren sich gegen die zur Zeit gängigste Formulierung zur Geschlechtergleichstellung in den gerade reformierten Verfassungstexten. Diese islamistisch gefärbte Formulierung lautet, daß „Männer und Frauen einander ergänzen“ – eine Formulierung, die die in der „Ergänzung“ logisch enthaltene Ungleichheit elegant verdeckt. Die Entwicklungen, die 14 Tage nach der Selbsttötung des tunes. Gemüsehändlers in Ägypten spontan einsetzten, dann nach Libyen übergriffen, nach Jemen und Bahrain, sowie seit dem vergangenen Oktober in Syrien geradewegs in einen brutalen Bürgerkrieg mündeten, setzten anfänglich alle an der Kritik der Regierungsführung an [3 Gaddafi]. Die Rücktrittsforderungen der Zehntausenden auf dem Tahrir-Platz (Platz der Befreiung) in Kairo an Husni Mubarak, an Mu’ammar al-Gaddafi in Bengasi, an den seit 1978 amtierenden yemenitischen Präsidneten Ali Abdallah Salih in Sanaa und an den König von Bahrain, Hamad b. Isa al-Khalifa, vorgetragen am 14.2.2011 auf dem Perlenplatz in Manama, hatten 2 aber noch mehr gemeinsam. Die zum Rücktritt aufgeforderten Machthaber wurden allesamt als Despoten, als Teile einer der Korruption und des Diebstahls nationalen Eigentums überführten Clique und als Exponenten einer durch Militär, Polizei, Geheimdienst und Zivilverwaltung organisierten politischen Barbarei bezeichnet. [4 Asad] Die Exponenten dieser politischen Barbarei – und das ist für die folgenden Überlegungen nicht unwichtig – hatten diese Rolle seit Jahrzehnten wenn nicht immer mit Förderung, dann doch immer mit Wissen und Duldung des Westens und für den Westen übernommen.2 Das tausendfach gerufene und geschriebene Schlagwort „Demokratie“ (das auch im Arabischen mit „dīmuqrāṭī“ ein Fremdwort geblieben ist) wurde somit den „Mutterländern“ der Demokratie, den USA und Frankreich, als Kampfruf entgegengeschleudert. Die Ironie der sog. Arabellion ist ihre demokratisch erzeugte, massenhaft und über alle Standes- und Staatsgrenzen hinweg erhobene Anklage gegen die postkoloniale anti-demokratische Politik der westlichen Kralshüter der Demokratie. Wir sind alle mehr oder weniger gut informiert über die Fortgänge der Rebellion in den arabischen Ländern Nordafrikas und des Vorderen Orients. In Libyen übergab der Chef des Nationalen Übergangsrats, Mustafa Abdeldjalil, am 9. August, genau ein Jahr nach der Vertreibung des Gaddafi-Clans aus Tripolis, die Macht offiziell an das am 7. Juli gewählte Parlament, die libysche Nationalversammlung. Eine knappe Mehrheit der fast 60% Wähler der Wahlberechtigten (mehr als bei den meisten unserer Landtagswahlen) hatte überraschenderweise nicht den islamischen Parteien ihre Stimme gegeben – wie in Tunesien und in Ägypten, wo die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei den Ingenieur M. M. Mursi und langjährigen Funktionär der ägyptischen Muslimbrüderschaft schließlich sogar zum Präsidenten kürte –, sondern der säkularen „Allianz der Nationalen Einheit“ unter Führung des Mahmoud Djibril. Die Partei der Muslimbrüder kam nur auf den zweiten Platz. Damit hat das Land die erste Hürde genommen: Die Nationalversamlung wird nun eine Regierung beauftragen, die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung vorzubereiten und abschließend ein Referendum zur zukünftigen Verfassung abzuhalten. So liest sich der formale Fahrplan zum demokratischen Aufbau des neuen libyschen Staates. Es ist jedoch zu erwarten, daß die neue Umverteilung des nationalen Eigentums der ca. 7 Mio. Libyer, die Erlöse aus der Ölproduktion – es geht immerhin um mehr als 50 Mrd. Dollar jährlich - noch zähe Machtkämpfe auslösen wird. Eine Zivilgesellschaft exisitiert noch nicht. Die regionalen Verwaltungsstrukturen sind noch überwiegend den Stammesinteressen angepasst. Nicht das Geld ist das Problem - Libyien führt mit 12 T $ Jahreseinkommen / Kopf die afrikanischen Länder an – es geht um den Aufbau eines respektierten Staats- und Verwaltungswesens, eines unabhängigen Rechtsapparates und eines der Politik verantwortlichen Militärs, die diese junge Wahldemokratie noch viel Schweiß und noch mehr Blut kosten werden. Ganz ähnlich sieht das in den anderen Länder der Arabellion aus. Ich möchte bei diesem Begriff aus gleich nachvollziehbaren Gründen bleiben. Die für Libyen genannten Problemfelder belasten auch die Aufbruchbewegungen in Tunesien, Ägypten, Jemen und Syrien (welches ich hier nur am Rande erwähnen möchte [5 Syrien]), aber auch in Algerien und Marokko, wo die Proteste allerdings (noch) lokaler Natur und deshalb weniger hörbar sind. In allen diesen Ländern kommt – im Vergleich zu Libyen - aber noch das schwache Volkseinkommen bzw. die extrem niedrigen Durchschnittsverdienste der Menschen hinzu. Genauer betrachtet befindet sich jedes dieser Länder in einer ganz spezifischen und 2 Die frz. Außenministerin Michèle Alliot-Mario machte vor wenigen Jahren noch als Verteidigungsministerin auf Einladung des Diktators Ben Ali Urlaub in Tunesien. 3 prekären Lage; ökonomische, soziale, ethnische und kulturelle Konflikte und Spannungen ergeben ein jeweils anderes und immer ähnlich komplexes Bild. Die Gemeinsamkeiten, die man für diese Bereiche durchaus in einer genaueren Analyse ebenfalls herausarbeiten könnte, wurden schon oft, wenn auch meist unbelegt, mit Schlagworten wie „orientalische Despotie“ oder „arabische Diktatur“ beschrieben. Ich möchte diese leicht ins Polemische abdriftende Einteilung nicht weiterverfolgen. Sie dient Zwecken der Politik der Verallgemeinerung und der Vorurteile. Ich möchte aber in zweierlei Hinsicht auf Gemeinsamkeiten anderer Art hinweisen. Da ist zuerst der bemerkenswert ähnliche Charakter der Protest- und Aufstandsbewegungen zwischen Euphrat und Atlantik, in Monarchien oder Republiken, in Öl- und Beduinenstaaten, in urbanen und ländlichen Milieus, in der Millionenstadt Kairo, in der Kleinstadt Sidi Bouzid: Überall gingen Leute auf die Straße, die man sonst nicht zusammen sieht: Männer und Frauen; Kinder, Jugendliche und Erwachsene; Arme und Reiche; Studenten und Bauern; Intellektuelle, Staatsbeamte und Unternehmer; Rechte und Linke;; Religiöse und Säkulare; Islamisten und Christen; ja sogar (im weiteren Verlauf v.a.) Militär neben Zivilisten. Nicht überall waren alle diese gesellschaftlichen Gruppen vertreten, überall aber waren bei den Protesten alle gesellschaftliche Gruppen – wenn auch unterschiedlich stark - vertreten, die ihre Existenz nicht ausschließlich dem herrschenden Staatsapparat verdankten. In dieser Buntheit der gemeinsamen Aktionen gibt es weder in der europäischen noch in der orientalischen Geschichte eine Parallele (auch die im Libanon 2005, in Pakistan 2007/8 gegen Musharraf, und 2009 in Iran gegen die Wahlfälschungen des Regimes nicht 3). Es waren überall Massenbewegungen - und dies eben in doppeltem Sinne. [6 Pharao] Sie richteten sich – und nun komme ich zum zweiten Bereich der Gemeinsamkeiten – gegen Regime, gegen Apparate und Machtkomplexe, die jeweils über eine Staatsideologie verfügten, die nurmehr als beliebig verwendbare Instrumente ihrer Machtinteressen benutzt wurde. In Libyen vertrat das „Grüne Buch“ längst nicht mehr eine nationalistische islamische Alternative, sondern degenerierte zum Symbol des ideologischen Systems des Mu’ammar al-Gaddafi. Die Ideologie der links-nationalen Ba’ath-Partei, die in Syrien und Irak mehrheitlich, in den meisten anderen arabischen Staaten aber ebenfalls, wenn auch mit anderem Etikett, seit den 60er Jahren die Politik bestimmte, hat ihre Kraft und Ausstrahlung – die sie zweifellos hatte - auf die Bevölkerungen des Nahen Ostens fast vollständig verloren. Die militärisch gedeckten Regime in Ägypten und Algerien, Bahrain und Jemen machten sich nicht einmal mehr die Mühe, eine politische Ideologie vorzuspielen; der Machterhalt – im Westen nannte man das Stabilität – war ihnen Staatsraison genug. Für die rapide nachlassende Akzeptanz dieser sog. Staatsideologien macht der frz. Sozialanthropologe Emmanuel Todd (auf dessen kluge Analysen ich auch dieses Jahr wieder zurückgreife4) auch eine weitere „massenhafte“ Gemeinsamkeit verantwortlich. Die infolge von Korruption und Unterdrückung aller Perspektiven beraubte Jugend – und das heißt in den Ländern, von denen wir sprechen: der absoluten Mehrheit der Bevölkerung – verfügt nämlich über Eigenschaften, die von den Regimen, oft unter Druck des Westens, selbst in Gang gesetzt wurden und die sich nun gegen sie – und den Westen – richten: Da sind zuerst die hohen Bildungs- und Ausbildungsniveaus dieser neuen Jugend zu nennen, die diese Perspektivlosigkeit besonders ungerecht erscheinen lassen; dazu die sprunghaft gewachsenen Zugangsraten zu den Kommunikationsmitteln – Stichwort „facebook3 Diese Parallele aber zieht Jochen Hippeler in „Die arabische Revolution: Von der Diktatur zur Demokratie?. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/11, S. 69-79, hier S. 70. 4 Zitiert im Vorwort von W. Schwendeman zu Sadik Hassan: Der Islam in der Diskussion. These und Antithese. Freiburg: FEL 2011, S. 10. 4 Revolution“ –, die die alten Regime nicht zu kontrollieren vermochten; und damit schlußendlich über die Voraussetzungen zu verfügen, den maroden und betrügerischen Charakter der Clandiktaturen zu erkennen, zu analysieren und öffentlich anzuklagen, der vom Westen über Jahrzehnte und oft lauthals mit sog. Demokratisierungskampagnen verdeckt wurde. Ob Revolution oder Demokratie: Auch die arabischen Rebellen scheinen ihre französischen und amerikanischen Idole auffressen zu wollen, und dies dazu mit deren eigenen Mitteln. Zu den Charaktereigenschaften dieser Diktaturen gehören aber neben ihren scheindemokratischen Theaterspielen auch bestimmte hochwirksame und populäre religiöse Dogmen, die seit Jahrhunderten in der islamischen Welt unhinterfragt zur Stützung solcher Art von Regimen instrumentalisiert werden. Damit sind wir bei der Rolle des Islam als Staatsreligion angelangt. Halten wir zuerst einmal fest, daß die beiden Protagonisten eines pointiert islamistischen Staatsmodells, Iran und Saudi-Arabien, längst zu autoritären Regimen erstarrt sind. Im Zuge der immer schwieriger zu gestaltenden Machterhaltung waren sie gezwungen, ihre religiösen Saatsmodelle Stück für Stück von ihren lästigen Inhalten zu befreien. Die sog. Studentenrevolution von 2009 in Iran sowie die immer wieder auch in Saudi-Arabien aufflackernden Demonstrationen sprechen beredt Zeignis davon. Daß keine dieser bisher im postkolonialen arabischen Orient dominierenden Ideologien, weder die oben angesprochenen säkularen noch diese religiösen, maßgeblich an der Arabellion beteiligt war und daß zugleich in allen Ländern, in denen seither Wahlen stattfanden, sich starke, aber moderate religiöse Kräfte im politischen Tagesgeschäft zu engagieren und auszudrücken beginnen, ist eine höchst bemerkenswerte weitere Gemeinsamkeit dieser Bewegungen. Ich möchte nun mit einigen Grundüberlegungen herausarbeiten, inwieweit sich die religiöse Ideologie eines politischen Islam für die Ziele dieser Bewegungen, nämlich Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit - um die meist genannten zu erwähnen - unter dem Dach der Demokratie eignen kann. Dazu paßt, daß es obengenannter Muslimbruder und ägyptischer Staatspräsident Mursi war, der vor wenigen Monaten in Teheran genau diese Schlagworte seinen schiitischen Glaubensbrüdern und Gastgebern als islamische Werte ins Gedächtnis rief. Was er an so prominenter und zugleich sensibler Stelle ansprach, könnte man als offizielle Werteliste der ägyptischen Arabellion betrachten: Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Welche Bedeutung und Wertigkeit aber besitzen diese Begriffe im Umfeld der religiösen politischen Ideologie in Koran und Recht? a. Da wären also zuerst die persönlichen Freiheiten (die ... zu und ... von) zu nennen: In erster Linie wird dazu im Kontext des Islam meist die umstrittene Religionsfreiheit thematisiert. Beschränken wir uns hier darauf. Man kann dazu die Texte, auf die sich die religiöse Lehre des Islam beruft, befragen, man kann und muß natürlich dann gleich darauf die Geschichte befragen, wie es denn mit der Umsetzung der Texte in den Niederungen der Wirklichkeit aussieht. Der Gedanke einer von Gott gewollten religiösen Pluralität läßt sich jedoch durchaus aus dem Koran ableiten. Duldende Toleranz wurde – wie wir letztes Jahr ja gehört haben - islamrechtlich früh verankert und lange praktiziert. Der vollen Anerkennung anderer Religionen stehen allerdings gewichtige religiöse Vorbehalte entgegen. Daß man auch dem Koran die Aufforderung zur Glaubensfreiheit ablesen kann, zeigen die folgenden Stellen, die immer wieder in diesem Zusammenhang zitiert werden: „Es gibt keine Zwang (lā ikrāha) in der Religion“ (al-Baqara / Die Kuh 2:256), und (al-Kahf / Die Höhle 18:29) “Und sprich“, so wird der Prophet Muḥammad aufgefordert, „Es (d.h. der Islam, das 5 was ich euch offenbare) ist die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun will, möge glauben, und wer will möge nicht glauben (oder: ungläubig sein!).“ Diese Stellen sind ganz unterschiedlich gedeutet worden. Dem ersten Vers etwa wird oft entnommen, daß man innerhalb „der“ Religion, also innerhalb der verschiedenen islamischen Strömungen und Richtungen insofern freie Glaubenswahl hat, als hier keinerlei Sanktion oder gar Bestrafung möglich ist. Dem zweiten Vers entnimmt eine ganze Theologenschule, daß mit der Wortwahl „wer will ... und wer will“ die menschliche Willens- und Entscheidungsfreiheit postuliert wird. Damit wären wir bereits jenseits aufklärerischen Denkens. Andererseits lautet der Rest des Verses: „... Für die Frevler haben wir (im Jenseits) ein Feuer bereitet, das sie mit seinen Flammen völlig einschließt. Wenn sie um Hilfe rufen, wird ihnen mit Wasser geholfen, das so heiß ist wie flüssiges Metall und ihnen das Gesicht brät - ein schlimmes Getränk und ein schlechter Ruheplatz. (30) Diejenigen aber, die glauben, und tun, was recht ist ...“ Mit diesem Anfang des Folgeverses wird klar, daß die Glaubenswahl nicht unbedingt frei zu nennen ist und daß sie zu einem möglicherweise äußerst schmerzhaften Vabanque-Spiel geraten könnte. b. [7 Che] Zur Gleichheit: Im Kontext des islamischen Rechts ist die Gleichheit gleich in mehrfacher Hinsicht ein umstrittenes Gut. Wie man es von der historischen Gegenwart, in der der Koran offenbart wird, erwarten muß, fordert er etwa weder die Abschaffung der Sklaverei noch die völlige Gleichstellung der Frau. Beide Freiheitskategorien werden jedoch angesprochen und gezielt reformiert: Die Freilassung von Sklaven wird als verdienstvoll beschrieben und die Frau als gleichwertiger Partner im Glauben und der Familie. Allerdings bleiben in beiden Kategorien eine ganze Reihe von unmißverständlichen koranischen und rechtlichen Ungleichheiten bestehen. In der Umgebung von Verfassungen und Rechtsordnungen, denen – wie man sagt – die šarī´a zugrundeliegt – ist das bis heute so. Erinnern wir uns an die „Ergänzungsvariante“! Anders verhält es sich mit den anderen Gleichheitskategorien, die zumindest ebenso elementar – insbesondere auch für unsere eigene Geschichte - und kultur- und gesinnungscharakteristisch sind: die Gleichheit der Menschen in Hautfarbe, Rasse, Herkunft und Sprache. Als Schlüsselverse werden dazu die Sure ar-Rūm / Die Byzantiner 30:22 zitiert: „Und zu seinen Zeichen gehört die Erschaffung von Himmel und Erde und die Verschiedenartigkeit eurer Sprachen und Farben (oder: Arten). Darin liegen Zeichen für die Wissenden.“ Aber eben zugleich auch al-Ḥuğurāt / Die Gemächer 49:13 „Ihr Menschen! Wir haben euch geschaffen, in dem wir euch von einem männlichen und weiblichen Wesen abstammen ließen, und wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr euch untereinander kennt. Als der Vornehmste gilt bei Gott derjenige von euch, der am frömmsten ist.“ Mit dieser religiösen Adelung – der Vornehmste ist der Frömmste - überwindet der Koran – mit der kleinen Ausnahme des Sklaventums – die rechtlich definierte soziale Ungleichheit. Diese soziale Ungleichheit wird aber auch bis zur amerikanischen Declaration of Independence 1772 in keinem anderen rechtlichen Grundsatzdokument völlig überwunden. c. Zuletzt zur Gerechtigkeit: Die islamischen Theologen und Juristen sind sich selten einig. In der Einschätzung der Gerechtigkeit (ar. ´adl, oder ´adāla) dagegen herrscht über alle konfessionellen Grenzen hinweg Konsens: Die šarī´a hat neben der Läuterung des Individuums durch die gottesdienstlichen Verrichtungen (´ibādāt ) und 6 der Verwirklichung von nützlichen Interessen (s. o.: maṣāliḥ) eine zentrale Aufgabe: die Schaffung von Gerechtigkeit innerhalb der islamischen Gemeinschaft, d.h. der sozialen Gerechtigkeit, des angemessenen Umgangs miteinander. Auch der Koran liefert Anlaß, der Gerechtigkeit innerhalb eines islamischen Gemeinwesens über die Konfessionsgrenzen hinweg einen unverrückbaren Platz zu geben. In der Sure 60 (Die Prüfung / al-Mumtaḥina), Vers 8, steht: „Gott verbietet euch nicht, gegen diejenigen pietätvoll und gerecht zu sein, die nicht der Religion wegen gegen euch gekämpft haben und die euch nicht aus euren Wohnungen vertrieben haben. Gott liebt die, die gerecht handeln.“5 Gerechtigkeit ist also ein Wert, der über die Religion hinaus Gültigkeit hat. Er ist zudem kein absoluter Wert: Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten kann es verschiedene Vorstellungen von Gerechtigkeit geben. Das sog. Gewohnheitsrecht (ar. ´urf ) zeigt davon. Im Osten trugen die Männer eine obligate Kopfbedeckung, im Westen schmälerte ein blanker Schädel nicht die Mannestugend. Und zur Gerechtigkeit gehört Rechtmäßigkeit und Rechtschaffenheit (auch ar. ´adāla): Nur wer rechtschaffen ist, kann rechtmäßig etwas ausüben. Die islamische Rechtsprechung ist also im doppelten Sinne an Gerechtigkeit gekoppelt: Die rechtliche Amtsperson ist ohne von der Gemeinschaft ausgestelltes Zertifikat der Rechtschaffenheit – eine Art modernes polizeiliches Führungszeugnis – nicht autorisiert, für „Recht und Gerechtigkeit“ zu sorgen. Zur Umsetzung dieser Ziele aber bedarf es eines Staates, dessen Geschicke Volksvertreter bestimmen, die durch politische Wahlen legitimiert sind. Und es bedarf einer Rechtsordnung, die als eine souveräne Macht die Wahrung der Interessen des Volkes garantiert. Zu den meist diskutierten Problemen der islamischen Religionspolitik gehört daher die prinzipielle Frage, ob und inwieweit die Aufgaben und Interessen von Religion und Staat (ar. dīn wadaula), getrennt werden können. Ob es also dem Staat möglich ist, seine politischen Ziele – wir haben oben die wichtigsten definiert – ohne religiöse Zensur oder gar Einschränkung zu verfolgen, oder ob er dabei vielmehr mit den Zielen der islamischen Religion in Konflikt geraten könnte. Für den bekannten Apologeten einer islamischen Staatslehre, den Ägypter Yūsuf al-Qaraḍāwī, ist der Islam eine universale Religion und für alle Menschen. Somit ist in ihm keine Trennung zwischen Politik und Religion vorgesehen. Damit vertritt al-Qaraḍāwī eine Art absolutistisches Herrschaftssystem, an dessen Spitze eine Kalifenfigur steht, die jede Form der Gewaltenteilung ad absurdum führt. Die Hoffnungen der rebellierenden Bevölkerungen sind dagegen auf die Gewährung von Freiheiten, auf soziale Gerechtigkeit und auf die Bekämpfung der Korruption gerichtet, die ja gerade Gleichhbehandlung außer Kraft setzt. Noch 2005 argumentierte al-Qaraḍāwī so: „Der Säkularist, der das Prinzip der Vorrangigkeit des islamischen Rechts ablehnt, ist nur noch dem Namen nach ein Muslim. Er ist sicherlich ein Abtrünniger“6 – und steht deshalb vor der Alternative Reue oder Todesstrafe. Die Frage nach dem Wesen des Staates ist überdies sehr ungenau und wird meist gestellt, um dem Gefragten ein Bekenntniss zu entlocken. Weit über 90% der arabischen Bevölkerungen sind Muslime, in den meisten arabischen Staaten ist der Islam Staatsreligion. Übersetzung Rudi Paret. In seiner Koranübersetzung ergänzt Adel Khoury, daß es zu diesem Vers verschiedene Deutung gibt: diejenigen, die ein Abkommen mit dem Propheten hatten; diejenigen, die geglaubt haben, aber nicht die Hidschra vollzogen; Frauen und Kinder. 6 Zitiert aus Khadija Katja Wöhler-Khalfallah: „Die Stunde der Muslimbruderschaft?“. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/11/74-79, hier S. 77. 5 7 Mir geht es hier darum, zu fragen, ob es hinter den Kulissen des sog. Staates, an den Wirkstätten der islamischen Ethik – also nicht nur, wie oben gehört, in den Texten des Koran und der Sunna – ob es dort einen Platz gibt für die zentralen Werte der Arabellion. Der Anspruch des Islam ist es ja, einerseits, lückenlos und umfassend, die Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer, und, andererseits und ebenso lückenlos und umfassend, sämtliche Beziehungen zwischen den Menschen untereinander zu regeln. Wenn nun die Grund- und Richtwerte dieser menschlichen Beziehungen zueinander und dies im demokratischen Kontext bedeuten sollen: Freiheit des Glaubens, Freiheit der Meinung, Freiheit der Entscheidung; universale bzw. kulturübergreifende Menschenrechte; Gerechtigkeit und Menschenwürde – dann muß das Regelwerk, das die Beziehungen des Menschen zu seinem Schöpfer, die vertikalen Beziehungen also, regelt, dem Einzelnen die Möglichkeit geben und garantieren, daß er diese Grund- und Richtwerte auch verwirklichen kann, für sich selbst und zusammen mit dem Anderen.7 Aus diesem Regelwerk getaltet sich dann Politik. Die Praxis der islamischen Religion umfaßt somit zwei Bereiche, den vertikalen und den horizontalen. In meinem ersten Vortrag habe ich diese als Bereiche der individuellen Pflichten und Rechte von den kollektiven geschieden. In dem man die Perspektive des Staates einnimmt, könnte man diesen individuellen Bereich auch als privaten Bereich vom öffentlichen Bereich absetzen. Beide Bereiche werden ausschließlich und vollständig von der Scharia, der Synthese aus Koran, Sunna (also der überlieferten Praxis des Propheten) und dazu den weiteren, aber sekundären d.h. erst später, nach der Offenbarungszeit ausgearbeiteten Rechtsquellen geregelt. Nun besitzt diese islamische Scharia in ihren gesetzlichen Bestimmungen drei wesentliche Zweckrichtungen: Erstens sorgt sie dafür, daß sie dem Individuum durch die ´ibādāt, durch die – wie Sie vielleicht noch wissen – „gottesdienstlichen Handlungen“ (Gebet, Fasten, Pilgerfahrt etc.), Regeln zur individuellen Läuterung an die Hand gibt. Diese Regeln umfassen, im Wesentlichen, die privaten Rechte und Pflichten. Zweitens obliegt der Scharia die Schaffung von Gerechtigkeit innerhalb der islamischen Gemeinschaft und im Umgang mit anderen. (...) Und drittens obliegt ihr die Verwirklichung von Nutzen oder von all dem, was im allgemeinen Interesse (maṣlaḥa) ist. (...) Diese beiden letzteren Zweckrichtungen gelten gänzlich dem öffentlichen Bereich der Recht und Pflichten. [8 Arab citizen] Betrachten wir nun diesen öffentlichen Bereich und die dort vorgesehenen Regelungen genauer. Er ist schließlich der Raum, in dem sich die Verträglichkeit der Scharia-Regelungen mit einem demokratischen Staatssystem entscheidet. Ich will dabei aber nicht den Finger auf eine allseits beliebte Wunde legen: den offensichtlichen Widerspruch zwischen einerseits „Alle Macht des Staates geht vom Volke aus“ und andererseits „die Quelle allen Rechtes ist die Scharia“ – diese beiden Prinzipien (und ihre Varianten) ließen sich ja nur vereinen, wenn man entweder dem Volk göttliche Qualtität zubilligen würde, oder umgekehrt der Scharia völkische Qualität. Beides ist nicht denkbar. Ich möchte vielmehr tiefer in die islamische politische Ethik vordringen und einige ihrer Grundwerte herausstellen. 7 Sadik Hassan: Der Islam in der Diskussion, S. 89-100. 8 Zuerst, und darin ist die islamische Rechtstheorie sich einig: In Koran und Sunna gibt es keine gesetzlich geregelte Angelegenheit, die nicht wahren Nutzen in sich trägt.8 Oder umgekehrt: Gott hat nichts umsonst offenbart, er ist – sozusagen - effektiv. Damit sind Koran und Sunna also über die engeren religionsrechtlichen Bestimmungen hinaus maßgeblich auch an der Ausformung unserer zweiten und dritten Zweckrichtung, der Herstellung von Gerechtigkeit und der Bedienung der öffentlichen Interessen, beteiligt. Nun sind sämtliche rechtmäßige Interessen (maṣāliḥ) – und dies ist der wohl zentralste Terminus der modernen islamischen Rechtsreform - seien sie privater oder öffentlicher Natur, in drei Kategorien einteilbar. 9 Es sind dies die a. notwendigen (ḍarūrāt) Interessen, die b. bedürfnisbezogenen (ḫāğīyāt) Interessen und die c. auf Verbesserung gerichteten (taḥsīnāt) Interessen. Was bedeutet das im Einzelnen? [Sie haben es zurecht befürchtet: nun kommt etwas Akademisches!] a. Notwendig sind „Interessen“, die unverzichtbar sind für das Bestehen der menschlichen Gesellschaft und der Existenz des einzelnen Gläubigen, sowohl im Diesseits als auch im Jenseits, also vor dem Tage der Abrechnung und danach. Die Sprache kommt hier auf die 5 Grundwerte des Islam, die „5 Universalgüter“ (alkullīyāt al-ḫamsa), von denen im alltäglichen Gespräch über den Islam selten die Rede ist, bei denen es sich jedoch – wie der Name schon sagt – um die elementarsten Rechtsgüter handelt, die zu garantieren jede islamische Gemeinschaft, bis hinunter zum Einzelnen, aufgefordert ist. Diese Universalgüter stehen in einer absteigenden Reihenfolge: 1. Stelle Religion (dīn), dann Leben (nafs), Vernunft (´aql ), Reinheit der Abstammung (nasl), Vermögen (māl ); manchmal kommt als sechstes noch die Ehre (´irḍ ) hinzu [ist eigentlich in 1 – 5 enthalten]. Bei allen Rechtsentscheiden, insbesondere bei solchen, die „neu“ sind, will heißen, die einen neuartigen Sachverhalt, der keinen historischen Vorgänger hat, entscheiden, müssen der Muğtahid, der dazu befugte Gelehrte, und der Muftī, der also, dem die Entscheidung angetragen wird, an oberster Stelle und prioritär diese Grundwerte berücksichtigen. Wichtig ist, daß diese Universalgüter von den islamischen Juristen als Bestandteil aller Offenbarungsreligionen, vor allem auch dem Christentum, und bis zu einem gewissen Grade auch jeder menschlichen Gesellschft betrachtet werden. Sie entsprechen nämlich der natürlichen, biologischen Veranlagung des Menschen (Religion, Selbsterhaltung, Vernunft) und sichern seine Grundbedürfnisse (Leben, Vermögen) . b. Bedürfnisbezogene Interessen sind solche, die dem Menschen Erleichterung seiner Lebensbewältigung in Aussicht stellen. Das Gesetz verlange nämlich von den Menschen manchmal Dinge, die – wenn sie unterlassen würden – keinerlei Chaos oder Unheil nach sich zögen, deren Vernachlässigung also genauso gut mit Nachsicht und Milde betrachtet werden könnte. Manchmal ist es im gegenteiligen Falle auch vorstellbar und statthaft, daß Dinge verübt werden, die nicht vorgesehen, mißbilligt oder nur in besonderen Situationen geduldet sind. Es geht im Kern darum, daß allen rechtlichen Bestimmungen das Prinzip der Erleichterung vorgeschaltet ist. 8 az-Zuḥailī: Uṣūl al-fiqh al-islāmī. Damaskus: Dār al-Fikr 1986, S. 1017, zitiert in Krawietz: Hierarchie, S. 223-224. 9 Die folgende Zusammenfassung beruht auf den Ausführungen von B. Krawietz: Hierarchie, S. 229237. 9 Der Vers 185 der Sure 2 drückt das eindeutig aus: „Gott will für euch Erleichterung, er will für euch nicht Erschwernis.“ Hier – bei der sogenannten Aufhebung einer Vorschrift durch Bedrängnis und Abwehr von Schäden - entsteht im islamischen Recht (und insbesondere im Reformislam) ein Freiraum, der zu einer „Vorwärtsbewegung“ führt, zu einer flexiblen Anpassung und Verbesserung der Lebensumstände. c. Die dritte Art von Bedürfnissen umfaßt die taḥsīnāt und kamālīyāt, also die Interessen, die „der Optimierung und der Vervollkommnung“ dienen (5:6, 7:32: „Wer hat denn den Schmuck verboten, den Gott für seine Diener hervorgebracht hat, und auch die köstliche Dinge des Lebensunterhalts? Sie sind im diesseitigen Leben für die bestimmt, und am Tag der Auferstehung besonders ihnen vorbehalten.“). Interessanterweise erstrecken sich diese Bedürfnisse auf alle Bereiche der islamischen Lebensbereiche, nicht nur auf die Beziehungen der Menschen untereinander. Dort sollen ja Nutzen aus zeitgenössischen Entwicklungen und Erfahrungen gezogen und der Gemeinschaft zum Wohle integriert werden. Auch die Beziehungen zu Gott können „verbessert“ werden.. Man kann ja nicht nur im Alltag manierlich, sauber und pünktlich sein, sondern auch in Bezug auf Gott und seine Verehrung im Gebet und Ritual. Man kann Frauen gegenüber nicht nur respektvoll sein, sondern ihnen durchaus auch richterliche oder Vorbeteraufgaben übertragen. Aber als solche „Verfeinerung der Sitten“ kann auch und dies besonders in konservativen und frommen Kreisen geltend gemacht werden, daß Frauen nicht „herusgeputzt außer Haus herumlaufen“. Wie eng miteinander verwoben diese drei Kategorien von Bedürfnissen sind, zeigt etwa das ganze Feld der Luxusgüter (z.B. Radio, Fernsehen, Autos, Waschmaschinen), die im Zuge der Industrialisierung der arabischen Gesellschaften rasch von taḥsīnāt zu ḥāğīyāt, also von optimierungsbezogenen zu bedürfnisbezogenen Interessen wurden. Ähnliches trifft pikanterweise auch auf die modernen Kommunikationsmittel zu, die – im Sinne des Verses 185 der Sure 2 – den Gläubigen ja eine Erleichterung bedeuten, je stärker sie ein allgemeines Bedürfnis befriedigen. Das islamische Recht bietet mit dieser Dreistufigkeit der rechtmäßigen Interessen sich sozusagen an, selbst für seine ständige Adaptierung an die gesellschaftliche moralische und technische Realität zu sorgen. Fassen wir zusammen: Über den Grundbedürfnissen der Menschen erstreckt sich ein wachsender und sich verändernder Überbau aus sekundären Interessen, aus solchen also, die aus den sich verändernden muslimischen Gesellschaften erwachsen und die in unterschiedlicher Weise zu Bedürfnissen des Einzelnen und des Kollektivs werden. Dazu beziehen sie vom islamischen Recht ihre Legitimität, als Interessen oder Bedürfnisse (maṣāliḥ). Durch die allgemeinen Entwicklungen bilden sich nun Grauzonen, deren Regelung durch Verbote und Beschränkungen die Erfüllung von Bedürfnissen verhindern würden. Bedürfnisse, deren Erfüllung das Wohl der Gesellschaft stärken und erhöhen könnten. Zu regeln sind, in Anbetracht des Anspruchs des islamischen Rechts, sämtliche Bereiche des menschlichen Lebens, und naturgemäß besonders Bereiche, in denen man, wie ja auch wir und mit demselben selbsironischen Unterton sagen, „fünfe auch mal gerade lassen sollte“. Man könnte – aus islamrechtlicher Sicht – hier schließen, daß dies der Raum ist, in dem sich aus den modernen Bedürfnissen der Gesellschaft und ihrer Mitglieder ihre demokratischen Forderungen ergeben. Forderungen eben, die „neu“ sind, die noch nicht durch den konkreten Wortlaut der Quellen geregelt sind, die aber auf eine gemeinsame und demokratisch legitimierte Veränderung der gesellschaftlichen Umstände abzielen, Forderungen, die die 10 Zulassung von Handlungen und Regelungen erstreben, die der Gesellschaft und dem Muslim nicht schaden, sondern, insgesamt betrachtet, gerade wegen ihrer Nützlichkeit in der Sache, die allgemeinen Lebensbedingungen stärken und verbessern. Das Fazit kann jetzt kurz ausfallen: Die Flexibilität des islamischen Rechts – und damit meine ich die ihm innewohnenden Rechtsprinzipien und nicht die einzelnen Rechtsbestimmungen – erzeugt Varianz und Vielstimmigkeit: Es können sich daraus durchaus aber auch Konzepte ableiten, die der Arabellion mit religiös legitimiertem Widerstand entgegentreten. [Am 16. Juli 2012 veröffentlichten [9 Schreibmaschine] verschiedene kuwaitische salafitische Gelehrte (Dr. Nathem Al-Meshab, Sheikh Mohammad Al-Senin, Dr. Mohammad Al-Hamoud etc.) ein Fatwa, in welchem Seminare, Demonstrationen und Kundgebungen zu politischen Zwecken verboten werden. Die Gelehrten waren der Ansicht, daß Aktivitäten dieser Art dazu führten, revolutionäre Stimmungen und Spaltungen im Lande herbeizuführen und deshalb ihre Nachteile größer seien als ihre Vorteile. Einzig in religiösen Angelegenheiten seine Seminare und Konferenzen erlaubt, aber nur solange sie nicht gegen Gesetze oder Regierungsverordnungen verstießen. Am 15. August formulierte der ägyptische Gelehrte Hashem Islam im ägyptischen Fernsehen (MEMRI TV) ein Fatwa im Vorgriff auf die für den 24. August geplante Demonstration gegen den gerade neu gewählten Präsidenten Mohamed Mursi. Er bezeichnet darin die Teilnahme an dieser Demonstration als „Revolution gegen die Revolution vom 25. Januar [2011]“ und fordert deshalb das ägyptische Volk auf (Zitat): „Ägypter, stellt euch gegen diese Leute! Wenn sie euch bekämpfen, dann bekämpft sie, und solltet ihr getötet werden, kommt ihr ins Pardies; wenn ihr sie töten solltet, dann müßt ihr kein Blutgeld bezahlen, denn es ist erlaubt, sie zu töten.“10 Es muß sogleich dazu gesagt werden, daß nicht nur Zuschauer der Show sofort protestierten, sondern daß sich auch die Fatwā-Kommission der renommierten Al-Azhar Universität in Kairo umgehend und entschieden von diesen Äußerungen distanzierte.] [10 Egypt] Genauso legitim können sich jedoch auch politische Ideologien auf das islamische Recht berufen, die die Ziele der Arabellion: Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aufstellen – solange diese Ziele sich nicht im Widerspruch zur islamischen Glaubenslehre befinden. Was ein Widerspruch ist, muß jedoch wiederum vom Recht beschlosen werden. Vor zwei Wochen erließ unser o.zit. Yūsuf al-Qaraḍāwī eine Fatwā, die – in ganz anderem Geiste als noch vor 8 Jahren - staatliche Gewalt gegen die rebellierenden Demonstranten grundsätzlich ausschloß. Ohne islamisches Recht wird es keine staatliche Ordnung in der arabischen Welt geben. Deshalb werden auch demokratische, republikanische Muslime ein gottgewolltes Leben führen können. Was rechtens ist, ist genau genommen Juristensache. Gott hat nur den Rahmen gesetzt, für die Inhalte aber und die Ausgestaltung sind die Menschen, ist die Gesellschaft verantwortlich. Beide Fatwas sind abrufbar im „Fatwa-Newsletter“ von M. Brückner (www.cyberfatwa.de und Homepage der Islamwissenschaft der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg). 10 11 Glossar zu „Politische Systeme im Islam“ (Kirchheim/N VHS 20.10.2012) Muhammad Buazizi (st.17.12.2010) Khalid Albaih = sudanesicher Karikaturist Ennahda = tunesische Partei der Muslimbrüder Ta?rīr-Platz = Platz in Kairo ? usnī Mubārak = ehemaliger ägyptischer Präsident Mu’ammar al-? addāfī = ehemaliger libyscher Präsident ´Alī ´Abdallāh ? āli? = ehemaliger jemenitischer Präsident ? amad b. ´Īsā al-Khalīfa = König von Ba?rain Manāma = Haupstadt von Ba?rain dīmuqrā?ī = arab.: demokratisch Mu??afā ´Abdeldjalīl = Chef des libyschen Nationalen Übergangsrats Ma?moud Djibrīl = Chef der libyschen Allianz der Nationalen Einheit Mu?ammad M. Mursī = neugewählter ägyptischer Präsident (Muslimbrüder) Ba’ath-Partei = links-nationale Partei in verschiedenen arabischen Ländern Ziiterte Koranverse: Die Kuh 2:256, Die Höhle 18:29, Die Byzantiner 30:22, Die Gemächer 49:13, Die Prüfung 60:8 šarī´a = Scharia, islamisches Gesetz ´adl, oder ´adāla = Gerechtigkeit ma?āli? (sing. ma?la?a) = nützliche Interessen, öffentliches Wohl ´ibādāt = gottesdienstliche Verrichtungen ´urf = Gewohnheitsrecht dīn wa-daula = Religion und Staat Yūsuf al-Qara?āwī = islamischer Jurist und Prediger ?arūrāt = notwendige Interessen ?āğīyāt = bedürfnisbezogene Interessen ta?sīnāt (und kamālīyāt) = auf Verbesserung gerichtete Interessen al-kullīyāt al-?amsa = die fünf Universalgüter [Religion (dīn), Leben (nafs), Vernunft (´aql ), Reinheit der Abstammung (nasl), Vermögen (māl ); Ehre (´ir? )] 12