INHALT Vorwort 2 Lese-Rechtschreibschwäche Dummheit? Faulheit? Mangelnde Konzentration? 3 Lese-Rechtschreibschwäche hat mit Dummheit nichts zu tun und sie wächst sich auch nicht aus 4 Lese-Rechtschreibschwäche hat mit Faulheit nichts zu tun und sie ist auch keine Konzentrationsschwäche 5 Ursachen einer Lese-Rechtschreibschwäche 7 Alarmsignale 8 Was ist eine Lese-Rechtschreibschwäche? 10 Diagnose 10 Therapie 11 Probleme in und mit der Schule 13 Üben, üben, nochmals üben? Wie können Eltern helfen? 15 Vorwort 17 Jahre nach der ersten Auflage dieser Broschüre stellen wir fest, dass sich an der Ausgangssituation, die uns damals dazu anregte, einen Ratgeber für Eltern zu schreiben, nicht viel verändert hat: Nach wie vor hören wir von • • • • Müttern, die stundenlang mit ihrem Kind üben und daran verzweifeln, dass nichts "hängenbleibt", Vätern, die fassungslos registrieren, dass ihre wohlgemeinten Tips wie "Bohne schreibt man mit h, das hört man doch" im besten Falle dazu führen, dass ihr Kind nun das Wort "Boden" ebenfalls mit h schreibt, Fachkräften, die immer noch daran glauben, dass sich das Problem irgendwann auswächst, Lehrern, die davon überzeugt sind, dass es an ihrer Schule - bzw. überhaupt - keine Legasthenie gibt. Während der langjährigen praktischen Arbeit mit lese-rechtschreibschwachen Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen sowie der die praktische Arbeit begleitenden theoretischen Befassung mit dem Problem der Legasthenie haben wir unser therapeutisches Konzept ständig weiterentwickelt. Die sechste Auflage des Ratgebers erforderte deshalb eine umfangreiche Überarbeitung. Wir wollen mit der Broschüre Eltern, pädagogischen und psychologischen Fachkräften und Ärzten • unsere Erfahrungen weitergeben, um das Verständnis für die Situation eines legasthenen Kindes zu erleichtern und mehr Sicherheit im Umgang mit dem Problem zu vermitteln, • Aufschluss geben über die Formen der Störung, ihre Folgewirkungen sowie unsere Hilfen zu ihrer Behebung, • durch Dokumentation der staatlichen Verordnung zur "Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechtschreiben" Informationen darüber geben, welche Rechte auf Rücksichtnahme ein legasthenes Kind in der Schule hat. Lese-Rechtschreibschwäche Dummheit? Faulheit? Mangelnde Konzentration? Um Probleme, die der Schulanfang und speziell das Lesenund Schreibenlernen einem Kind bereitet, besser zu verstehen, versuchen Sie doch einmal, die nebenstehenden Wörter von unten nach oben flüssig zu lesen. Es wird Ihnen sicher nicht leicht fallen. Für jedes Kind, das zum ersten Mal mit Geschriebenem konfrontiert wird, bedeutet es eine weitaus größere Anstrengung: Es muss die Buchstaben erst kennen lernen, die Ihnen längst geläufig sind. N E N R E L N E S E L R E W H C S T S I Ein lese-rechtschreibschwaches Kind ist darüber hinaus in einer besonderen Situation: Es hat Schwierigkeiten, die Lese- und Schreibrichtung beizubehalten, Laute zu unterscheiden, formähnliche Buchstaben auseinander zu halten und Lautfolgen zu erkennen. Folglich behilft es sich eben, so gut es kann: Es setzt sein Gedächtnis auf eigene Weise ein, um seine Schwächen auszugleichen. Ein Kind in der ersten Klasse kann so z. B. das 'Lesen' üben, ohne auf die Wörter zu schauen: Es orientiert sich an den nebenstehenden Bildern und kann allmählich den Text auswendig. Es ist deshalb keine Seltenheit, wenn ein Kind flüssig und richtig 'liest' und dabei das Erstlesebuch verkehrt herum hält! In höheren Klassen wird das ortho-photographische Gedächtnis assoziativ aktiviert, um eine Leseschwäche zu kompensieren. Das Kind richtet sich nach Wortlänge, ausgewählten Buchstabenfolgen und einem möglichen Sinnzusammenhang. So liest es z. B. 'Schaufel' statt 'Schlaufe' oder 'Baum' statt 'Raum'. Beim Prozess des Schreibens ist beim legasthenen Kind die Fähigkeit zur kontinuierlichen Umsetzung von gehörten Lauten in Buchstabenzeichen nicht oder nur eingeschränkt vorhanden. Wenn das Kind etwa einzelne Laute beim Hören nicht unterscheiden oder Lautfolgen nicht in Buchstabenfolgen umsetzen kann, kommt es beim Schreiben zu Auslassungen, Hinzufügungen, Verdrehungen oder Lautersetzungen: Das Kind schreibt 'seden' statt 'senden', 'Tulope' statt 'Tulpe' , 'faul' statt 'flau' oder 'Prief`' statt 'Brief'. Während dem Normalschreiber jedoch diese Falschschreibungen sofort auffallen, verfügt ein lese- und rechtschreibschwaches Kind über keine Kontrollmechanismen, die es ihm erlauben würden, unterlaufene Fehler zu korrigieren. Aufgrund der gestörten Integration von auditiver und visueller Wahrnehmung kann es den Unterschied von 'seden' und 'senden' nicht so selbstverständlich erkennen wie der Normalschreiber. Beim lauten Lesen unbekannter Texte gerät das Kind ins Stocken, verfällt in ratendes Lesen oder der Leseprozess bricht vollständig zusammen. Beim Schreiben ungeübter Diktate werden plötzlich Störungen sichtbar, die das Kind bisher bei geübten Diktaten noch bis zu einem gewissen Grad ausgleichen konnte. Lese-Rechtschreibschwäche hat mit Dummheit nichts zu tun und sie wächst sich auch nicht aus Mancher hält lese-rechtschreibschwache Kinder immer noch für 'dumm' oder 'beschränkt', weil er daran gewöhnt ist, Intelligenz am Stand der schulischen Leistungen zu messen. Kein Wunder, dass dann ein solches Kind spätestens am Anfang der dritten Klasse, in der der grundlegende Lese- und Schreiblehrgang als abgeschlossen unterstellt ist, leicht den Eindruck erweckt, minderbegabt zu sein. Dem steht jedoch die Tatsache entgegen, dass das Kind im Rechen- oder Sachkundeunterricht oder auch im außerschulischen Bereich beim Spielen oder anderen Freizeitbeschäftigungen logische Zusammenhänge genauso schnell und richtig erfasst wie alle anderen. 1 Aber auch, wenn das Versagen sich nicht mehr nur auf das Lesen und Schreiben beschränkt, kann die Ursache eine bisher unerkannt gebliebene Lese-Rechtschreibschwäche sein: Ein solches Kind hat Schwierigkeiten, - Texte in vorgegebener Zeit sinnverstehend zu lesen und/oder den verlangten Antwortsatz aufzuschreiben. Es scheitert deshalb bei Mathematikarbeiten, die ihm rechnerisch kein Problem sind. 1Dieses Phänomen ist der Grund "Teilleistungsstörung" genannt wird. dafür, dass die Lese-Rechtschreibschwäche - beim Aufsatzschreiben das, was es gedanklich formuliert hat, auch genauso zu Papier zu bringen; Ausdrucksfehler und dauernde Wiederholungen einfachster Wortgebilde häufen sich. Es benutzt die Wörter, über deren Schreibweise relative Sicherheit existiert. Für das Kind ist also alles sehr viel schwieriger, so dass ein Leistungsabfall auch in anderen Fächern nicht verwunderlich ist. Nach einer anderen weit verbreiteten Auffassung handelt es sich bei den auffälligen Symptomen um Anfangsschwierigkeiten in den ersten beiden Klassen, die sich auswachsen. Die Wahrnehmungsprozesse, die für das Lesen und Schreiben aktiviert werden müssen, entwickeln sich jedoch nicht automatisch. Lesen und Schreiben werden als geistige Leistungen erworben und gezielt trainiert. Das schließt ein natürliches Auswachsen von Fehlfunktionen aus. Ohne gezielte Hilfe begleiten nun die Schwierigkeiten das Kind von Klasse zu Klasse. So sind nicht nur Kinder im Grundschulalter, sondern auch Kinder/Jugendliche aller Schulstufen und -formen, Studenten und Berufstätige von dieser Teilleistungsstörung betroffen. Mögen auch einige Fehlerarten verschwinden, mag auch ein Wort plötzlich öfter richtig als falsch geschrieben werden: Was bleibt, ist eine generelle Unsicherheit und in der Folge eine Abwehrhaltung allem Geschriebenen gegenüber. Lese-Rechtschreibschwäche hat mit Faulheit nichts zu tun - und sie ist auch keine Konzentrationsschwäche Gerade Erwachsene, denen Schreiben und Lesen etwas ganz Selbstverständliches ist und die sich deshalb ein gesprochenes Wort sofort vor ihrem inneren Auge geschrieben vorstellen können, meinen oft, dass das Lesen und Schreiben der Muttersprache doch das Einfachste von der Welt und nur eine Frage des guten Willens sei. Während sie für falsch gelöste Mathematikaufgaben noch eher Verständnis aufbringen, vermuten sie bei den Rechtschreibfehlern ihres Kindes, es wolle einfach nicht lernen oder passe im Unterricht nicht richtig auf. Nun sind bei Legasthenikern durchaus Symptome festzustellen, die diesen Verdacht zu bestätigen scheinen: • • Oft lässt ein Kind deprimiert den Kopf hängen und sitzt Stunde um Stunde an den Hausaufgaben, ohne sich zu konzentrieren. Es kann aber auch sein, dass es aggressiv, geltungssüchtig und laut wird und so versucht, die Leistungsanforderung abzuwehren. Beide Haltungen können psychoreaktive Symptome der LeseRechtschreibschwäche sein und sollten ernst genommen werden: Wenn ein Kind ständige Misserfolgserlebnisse zu verkraften hat, wenn alle seine Bemühungen nicht zu besseren Leistungen führen, gibt es irgendwann auf. Sein Selbstwertgefühl leidet, unter Umständen wird es sogar krank - es setzt Abwehrmechanismen in Gang und baut Vermeidungsstrategien bezüglich aller Anforderungen auf, die mit Lesen und Schreiben verbunden sind. Der Beratungslehrer-Informationsdienst Nr. 2/93, der der Fortbildung der Beratungslehrer in Baden-Württemberg dient, führt zum Stichwort "Konzentrationsschwäche" folgendes aus: "Kinder mit Teilleistungsstörungen arbeiten ... sehr häufig auf einem permanent erhöhten Anstrengungsund Konzentrationsniveau; dieses Niveau lässt sich jedoch beim besten Willen nicht über längere Zeit aufrechterhalten ... . Das Problem dieser Kinder ist also nicht eine Konzentrationsschwäche, wie oft vermutet wird, ... sondern ein psycho-physisch nicht bewältigbares zu hohes Konzentrationsniveau - also das gerade Gegenteil. Man muss sich einmal vorstellen, wie einem solchen Kind zumute sein muss, das ständig zu hören bekommt, es solle sich besser konzentrieren, wo es doch gerade bis aufs äußerste angespannt ist - nicht zuletzt aus diesem Grunde sollte die Diagnose Konzentrationsschwäche möglichst unterbleiben!" Ursachen einer Lese-Rechtschreibschwäche Seit es das Phänomen der Lese-Rechtschreibschwäche gibt und die Symptomatik wissenschaftlich beschrieben wurde, haben die verschiedensten Fachrichtungen Theorien über die Ursachen entwickelt. Sowohl die älteren als auch die neueren Erklärungsmodelle lassen in ihren Untersuchungsergebnissen jedoch bis heute die Frage nach dem Grund für die Entstehung einer Lese-Rechtschreibschwäche offen. Der Ansatz der Milieutheorie untersuchte, inwieweit soziale Milieufaktoren als Ursachen einer LRS anzusehen waren. Schichtzugehörigkeit, Bildungsniveau und Erziehungsstil der Eltern sowie familiäre Wohn- und Lebensverhältnisse standen dabei im Vordergrund. Die individualpsychischen Entstehungsfaktoren einer legasthenen Störung werden in den Wissenschaften Psycholinguistik, Entwicklungs- und Lernpsychologie erforscht. Übereinstimmend wird in diesen Ansätzen eine LRS als Ausdruck einer psychischen Störung betrachtet. Seit den 60er Jahren ist eine verstärkte Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der medizinischen Hirnforschung zu verzeichnen. Diese neueren Forschungsansätze betrachten das Phänomen LRS als eine Ausfallerscheinung, die durch spezielle Dysfunktionen des Gehirns (hirnorganische Ursachen) oder des zentralen Nervensystems (neurophysiologische Ursachen) verursacht wird. Die Sinnesverarbeitung, v. a. die zentrale Hörverarbeitung (F. Warnke) und die defizitäre Sprachwahrnehmungsleistung (H. Breuer) stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen. Die Behandlung und Förderung von lese-rechtschreibschwachen Kindern bleibt beim derzeitigen Stand der Forschung auf eine diagnostische Erfassung der sichtbar gestörten Prozesse verwiesen. An den von den Kindern gemachten Fehlern selbst wird die Art der Wahrnehmungsdefizite2 bestimmbar (optische Strukturierungs- und phonematische Differenzierungsschwächen), die die korrekte Erfassung von Lauten und Lautfolgen sowie die Umsetzung von Lauten in Zeichen erschweren oder gar verunmöglichen. 2Zum richtigen Verständnis des Begriffs der Wahrnehmung ist es wichtig zu wissen, "dass unsere Sinneswahrnehmungen nicht allein durch die Empfangsorgane wie Auge, Ohr und Zunge bestimmt werden, sondern dass unser Gehirn der eigentliche Produzent dieser Wahrnehmungen ist." (Alfred Maelicke, Vom Reiz der Sinne, Weinheim 1990). Verarbeitung von Erfahrung und Verstandesleistungen (Kognition) sind daher nicht von der Wahrnehmung zu trennen. Alarmsignale Wenn Sie die folgenden Symptome bei Ihrem Kind bemerken, sollten Sie hellhörig werden: Schwierigkeiten, bezogen auf den Schreibprozess: • Probleme im Umgang mit Bleistift und Füller, evtl. eine verkrampfte Fingerhaltung oder die unkoordinierte Haltung des ganzen Oberkörpers • Schwierigkeiten mit der Orientierung auf beim Bearbeiten von Übungsblättern • auffällig verlangsamtes Schreiben und/oder ein zerfallendes Schriftbild; auffallend undeutliches Schreiben bei älteren Kindern • Unfähigkeit, Wortbilder zu speichern einer Seite im Heft oder Schwierigkeiten, direkt auf die Schriftsprache bezogen: • auditive und visuelle Differenzierung von m/n, o/u, i/e, ö/ü oder f/ß/w, s/ß,ch/sch: Diktiert wird 'Turm'. Das Kind schreibt aber 'Torm'. Oder es wird 'Zweig' diktiert. Das Kind schreibt 'Zfeig'. • Schreiben und Lesen von Buchstaben, die formähnlich sind: Das Kind liest 'Leder' statt 'Leber' oder schreibt 'bepem' statt 'bequem'. • Buchstabenauslassungen oder -hinzufügungen, Buchstabenverdreher oder -ersetzungen: Das Kind schreibt z.B. 'Bume' oder 'Bulme' statt 'Blume', 'Zahrn' statt 'Zahn', 'afu' statt 'auf', 'Leita' statt 'Leiter'. • Unterscheidung von lang oder kurz gesprochenen Vokalen (Fehler bei Wörtern mit Konsonantenverdopplung oder Dehnung von Vokalen): So schreibt es z.B. 'Flame' statt 'Flamme' oder 'rahmen' statt 'rammen'. • differenzierte kognitive Verarbeitung des Unterschieds von Laut und zugehörigem Zeichen (Fehler bei den verwechselbaren Mitlauten am Wort- und Silbenende b/p, d/t, g/k und in der Unterscheidung von e/ä und eu/äu): Das Kind schreibt 'Laup' statt 'Laub' oder 'bund' statt 'bunt', 'Krefte' statt 'Kräfte' oder 'Geule' statt 'Gäule'. • Fehlerhäufungen in der Groß- und Kleinschreibung, obwohl die Wortarten bekannt sind • auffällige Fehler in der Zusammen- und Getrenntschreibung: So wird aus dem 'kleinen Baum' der 'kleinebaum' oder aus dem Schwimmbad das 'schwimm Bad' • Das gleiche Wort wird im gleichen Text mal falsch, mal richtig geschrieben. • stockendes, zu schnelles und/oder ratendes Lesen "ohne Punkt und Komma"; Ersetzen des Lesens durch Wiedergabe des auswendig gelernten Textes3 Mehrfach geübtes Diktat eines zwölfjährigen Jungen, das die Bandbreite nahezu aller möglichen Fehlerarten zeigt, die eine legasthene Störung ausmachen können: Was ist eine Lese-Rechtschreibschwäche? Der Begriff "Lese-Rechtschreibschwäche"4 umschreibt die vielfältigen Phänomene, die zu beobachten sind, wenn ein Kind im Vergleich zu den Schülern seiner Klassenstufe über einen längeren Zeitraum überdurchschnittlich viele Fehler beim Lesen und/oder Schreiben macht. Diese quantitative Norm ist ein erster Anhaltspunkt für das Vorliegen einer Lese-Rechtschreibschwäche. Qualitativ gesehen sind Symptome ausschlaggebend, die sich wechselseitig bedingen und daher meist nicht isoliert auftreten: • Schwächen in der Graphomotorik • eingeschränktes sinnverstehendes Lesen • mangelndes Wortspeichergedächtnis • breite Streuung der Fehlleistungen in den für den Schriftspracherwerb notwendigen Wahrnehmungsfeldern 3Vgl. auch die SYMPTOMLISTE für umschriebene Entwicklungsstörungen beim Schriftspracherwerb im Anhang. 4Die Begriffe "Lese-Rechtschreibschwäche" und "Legasthenie" werden synonym gebraucht. • • Verhaltensauffälligkeiten wie Abwehrreaktionen, Depression oder Aggression Konzentrationsstörungen Die Diagnose Legen die beobachteten Symptome den Verdacht auf eine LeseRechtschreibschwäche nahe, sollte eine diagnostische Abklärung erfolgen. Das Diagnoseverfahren unseres Instituts besteht im Kern aus der Ermittlung des individuellen Lese- und Rechtschreibstatus. • Zunächst erfassen wir mit standardisierten Rechtschreibtests das Ausmaß der im Einzelfall vorliegenden Fehlfunktionen beim Schriftspracherwerb. Mittels einer qualitativen Analyse des individuellen Fehlerbildes diagnostizieren wir die verschiedenen Formen der Fehlfunktionen in der visuellen und auditiven Wahrnehmung. • Mit Lesetests ermitteln wir die Lesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit sowie das Leseverständnis. • Ein Lautdiskriminationstest gibt Aufschluss über Ausfälle in der Lautunterscheidungsfähigkeit hinsichtlich sowohl der Art als auch des Schweregrades der Minderleistung. • Je nach Einzelfall werden gesonderte Tests zur Erfassung der visuellen und auditiven Wahrnehmung, der Raumlageorientierungsfähigkeit sowie zum Stand der graphomotorischen Entwicklung durchgeführt. • In einem anamnestischen Elterngespräch werden Besonderheiten der physischen und psychischen Entwicklung des Kindes erfasst. Probleme bei der Geburt, frühkindliche Entwicklungsstörungen (wie z.B. verzögerter Spracherwerb), Verhaltensauffälligkeiten und schulische Probleme sind wichtige Faktoren einer Gesamtbeurteilung, die erst die individuell ausgerichtete Therapie möglich macht. Die Therapie Die Gesamtheit der Therapie ist ausgerichtet auf die Ausbildung und Integration der folgenden physischen, psychischen und kognitiven Leistungen: Bewegung Sprechen Hören Sehen Verhalten Körperhaltung, Graphomotorik Lautbildung, Wortschatz, Sprachgefühl differenzierte auditive Wahrnehmung differenzierte visuelle Wahrnehmung soziale Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung Die therapeutischen Maßnahmen setzen bei den jeweils in der Untersuchung diagnostizierten Basisfehlleistungen des Kindes an. Tragendes Element der Therapiekonzeption ist das Lautanalytische Rechtschreibsystem LARS5. Die schriftsprachrelevanten Teilleistungen werden auf der Basis dieses Programms aufgebaut durch: • Sensibilisierung für phonematische Wahrnehmungsleistungen • Sensibilisierung für graphemische Wahrnehmungsleistungen • Sensibilisierung für Aufmerksamkeit und Gedächtnisaufbau • Automatisierungstraining der schriftsprachrelevanten Gedächtnisinhalte • Anbahnen von autonomen Problemlösestrategien • Graphomotorisches Training 5LARS wurde im ILT Frankfurt und den Instituten gleichen Namens in Bochum/Dortmund (heute "Kinderzentrum für Entwicklungs- und Lerntherapie") ausgearbeitet. Es wird seit Anfang der achtziger Jahre erfolgreich in den damit arbeitenden Einrichtungen angewandt und dem Erkenntnisstand der Linguistik und der Wahrnehmungspsychologie und der aus dem Einsatz in der Praxis gewonnenen Erfahrungen kontinuierlich angepasst. Alle Behandlungsverfahren sind an die individuelle Leistungsfähigkeit angepasst. Dies ermöglicht kontinuierliche Erfolgserlebnisse, steigert die Motivation und beeinflusst das Selbstwertgefühl des Kindes positiv. Die Vermittlung einer realistischen Selbstwahrnehmung der eigenen Fähigkeiten hilft, die oft vorhandenen ausgeprägten Versagensängste abzubauen. Das Kind erlebt den Lese- und Schreibprozess nicht länger als Bedrohung, sondern als Leistungsanforderung, die es zunehmend bewältigt. In der Kleingruppentherapie macht das Kind im Unterschied zum schulischen Lernen die Erfahrung, dass es ganz ohne Konkurrenzdruck einen Zugang zum Lesen und Schreiben finden kann. Das soziale Lernen in einer Gruppe mit Kindern, die die gleichen Schwierigkeiten haben, mindert den Leistungsdruck und fördert den Aufbau des Selbstbewusstseins. In wenigen Fällen ist die legasthene Störung so gravierend und/oder die psychische Situation des Kindes so angespannt, dass eine Gruppentherapie noch nicht möglich ist. Hier ist - zumindest übergangsweise - eine Einzeltherapie angezeigt. Die Therapie einer Lese-Rechtschreibschwäche hat eine Dauer von bis zu drei Jahren, in Einzelfällen auch länger. Erste Therapieerfolge zeigen sich in schulischen Diktaten und Aufsätzen darin, dass sich die breite Fehlerstreuung, die zu Beginn der Therapie diagnostiziert wurde, reduziert hat. In den die Therapie mit dem Kind begleitenden Therapiegesprächen, zu denen wir nach Abschluss einer Therapiephase einladen, vermitteln wir den Eltern ein fundiertes Verständnis für die Situation ihres Kindes. Informationen über sein Leistungsvermögen, sowie über den Aufbau, die Behandlungsmethoden und die Zielsetzung der Therapie stehen dabei im Vordergrund. Durch die realistische Einschätzung des Leistungsvermögens des Kindes erübrigen sich dann beispielsweise nutzlose Ermahnungen im häuslichen Umfeld wie Hinweise auf zu langsames Lesen und Schreiben, eine zu geringe Leistungsbereitschaft des Kindes im Vergleich zu anderen oder der Vorwurf mangelnder Konzentration. Im Verlauf der Therapiegespräche können sich an die Therapie angelehnte praktische Hilfen zur Verbesserung der Wahrnehmungsleistungen für das Lesen und Schreiben zu Hause ergeben. Die wesentliche Aufgabe der Eltern während der gesamten Therapiezeit ist der bewusste Nachvollzug der Fortschritte ihres Kindes. Im Therapiegespräch erfahren sie, welche schriftsprachrelevanten Wahrnehmungsleistungen das Kind schon koordinierter vollzieht. Die Reaktion auf noch mangelnde schulische Leistungen muss nun im Hervorheben der schon sichtbaren Fortschritte bestehen: Das Kind wird ermutigt, wenn Eltern ihm in einem Diktat zeigen können, was sich schon entscheidend gebessert hat. Probleme in und mit der Schule Es gibt ein Missverständnis, das viele Gespräche zwischen LehrerInnen und Eltern begleitet: Die hinter den mangelnden Leistungen im Lesen und Schreiben vermutete Lese-Rechtschreibschwäche sei fachkundig nur von einer außerschulischen Fachkraft zu diagnostizieren, z.B. von einem Arzt, einem Psychologen oder Pädagogen. Dies ist nicht zutreffend: Die Verordnung des Hessischen Kultusministers über die "Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechtschreiben" vom 22-10-85 sowie die "Richtlinien zur Förderung ..." vom 15.12.95 (Amtsblatt 1/96) sehen DeutschlehrerInnen, bzw. den Schulpsychologischen oder Schulärztlichen Dienst als diagnostizierende Instanzen vor. 6 6Die o. g. Verordnung formuliert allerdings ein Ideal, dessen Wirklichkeit anders aussieht: Sowohl in der Grundschullehrer- als auch in der Ausbildung für die Sekundarstufen I und II sind an den Hochschulen Hessens keine verpflichtenden Veranstaltungen für den Problembereich der Lese-Rechtschreibschwäche vorgesehen. Sofern solche Veranstaltungen überhaupt angeboten werden, ist es eine freiwillige Leistung der Studierenden, sich so ausbilden zu lassen, dass sie einen Förderkurs fachkundig durchführen können. Für LehrerInnen, die bereits im Schuldienst sind, gilt im Grundsatz das Gleiche: Fortbildungsveranstaltungen sind rar und ihr Besuch ist dem besonderen Interesse des Einzelnen überlassen. Es ist deshalb wenig hilfreich, die LehrerInnen zu Buhmännern der schwierigen Situation des Kindes zu machen. Sie sind oft mit dem Problem der Lese-Rechtschreibschwäche genauso auf sich allein gestellt wie Eltern. Unsere Gutachten und Befunde sind eine Entscheidungshilfe für die Schule: Eine Lehrerin/ein Lehrer kann anhand vorliegender Testergebnisse • sich ein differenziertes Bild von der Problemlage des Kindes machen • einen bereits vorhandenen Verdacht bestätigt oder nicht bestätigt finden • ihren/seinen eigenen Beobachtungen Ergänzungen hinzufügen Vor allem in den Grundschulklassen kommt außerdem bei der Früherkennung einer Lese-Rechtschreibschwäche den Eltern eine wichtige Rolle zu. Sie machen nämlich die Beobachtung, dass sich ihr Kind von Anfang an beim Lesen- und Schreibenlernen viel schwerer tut als andere Kinder, oft eher als ein/e Lehrer/in. Während die Schwierigkeiten eines Kindes durch geübte oder auswendig gelernte Diktate und Lesetexte in den ersten Klassen noch nicht unbedingt zu deutlichem Leistungsversagen in der Schule führen, bemerken Eltern Fehlerhäufungen in kleinen Briefen, auf Einkaufszetteln und in anderen frei geschriebenen Texten. Sobald Eltern eine länger andauernde Verschlechterung der Lese- und Rechtschreibleistungen und evtl. schon aufgetretene Folgeprobleme beobachten, sollten sie das Gespräch mit der Deutschlehrerin oder dem Deutschlehrer suchen. Folgende Punkte müssen dabei angesprochen werden: • Darstellung der beobachteten Anzeichen für eine LeseRechtschreibschwäche • v.a. bei älteren Schülern in weiterführenden Schulen: Darstellung der Entwicklung der schulischen Leistungen in der Grundschule. Dabei ist z.B. in Betracht zu ziehen, bis zu welchem Zeitpunkt geübte Diktate geschrieben wurden. • Darstellung der beobachteten Anzeichen für Folgeprobleme wie Leseund Schreibunlust, Depressionen, Aggressivität und sonstige Verhaltensauffälligkeiten • Verständigung über die Berücksichtigung der Schwächen des Kindes gemäß der Verordnung des Hessischen Kultusministers über die "Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechtschreiben" vom 22.10.1985 (vgl. Amtsblatt 1/96) Üben, üben, nochmals üben? Wie können Eltern helfen? Durch verstärktes Üben des schulischen Lese- und Schreibstoffes, z.B. wiederholtes Lesen eines Textes, mehrmaliges Schreiben ausgewählter Wörter, Abschreiben von Texten, mehrfaches Diktieren eines Textes vor Klassenarbeiten kann eine legasthene Störung nicht behoben werden. Auch wenn - vor allem in den ersten Grundschulklassen - der Eindruck entsteht, dass Üben sinnvoll ist, weil vielleicht zu Hause oft wiederholte Diktate in der Schule mit relativ wenig Fehlern geschrieben werden, so führt doch dieses Üben zum Verdecken der legasthenen Schwäche: Schreibt das Kind dasselbe Diktat nach vier bis sechs Wochen noch einmal, wird die Fehlerzahl wieder hoch sein. Und spätestens dann, wenn Schule und/oder Eltern Diktattexte nicht mehr vorbereiten, werden die schriftsprachlichen Symptome der LeseRechtschreibschwäche wieder sichtbar sein. Üben bedeutet, verstandesmäßig beherrschte Zusammenhänge zu automatisieren, Verfahren und Abläufe zu trainieren. Deshalb ist Üben nur sinnvoll, wenn die Wahrnehmungsleistungen eines Kindes so verlaufen, dass sie einen Zugang zur Umsetzung der gehörten Laute oder der gesehenen Buchstabenfolge in richtiges Schreiben und Lesen ermöglichen. Diese Voraussetzung ist aber bei einem lese-rechtschreibschwachen Kind nicht gegeben. . Übt also ein lese-rechtschreibschwaches Kind das Lesen und Schreiben am Schulstoff, wiederholen sich nur die Lese- und Schreibvorgänge, die ihm bisher schon keinen Bezug zu dem verschafft haben, was es lesen oder schreiben soll. Ihrem Kind zu helfen sollte für die Eltern in aller erster Linie heißen, Verständnis für seine Situation aufzubringen: • Sie werden die Leistungen des Kindes nicht mehr an den momentanen schulischen Anforderungen messen. • Sie werden dann auch die kleinen Fortschritte, die das Kind macht, erkennen und hervorheben. Es ist deshalb Bestandteil unserer therapeutischen Leistungen, Eltern Wissenswertes für fundiertes Verständnis und begründete Ermutigung an die Hand zu geben. Wenn sie diese Anregungen bedenken und im Umgang mit ihrem Kind umsetzen, können sie sehr zum Erfolg der Behandlung beitragen.