Teil II: Radikale

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PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG
FACHBEREICH CHEMIE
___________________________________________________________________________________________________________________________________________________
Organische Chemie I für
fortgeschrittenen Studierende der
Chemie – reaktive Zwischenstufen
Prof. Dr. Thomas Schrader
Fachbereich Chemie, Universität
Marburg
Hans-Meerwein-Straße
Phone: int. + 6421 / 28-25544
fax: int. + 6421 / 28-28917
e-mail: [email protected]
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1. Inhaltsverzeichnis und Literatur
a) Inhalt Carbanionen
Carbanion = metallorganische Verbindung; der Einfluss des Gegenions M+ und des Lösungsmittels:
Kontakt-, Solvens-verbrücktes und Solvents-getrenntes Ionenpaar, eine Einführung.
die Natur der C-Metall-Bindung besonders von R-Li-Verbindungen (aber auch von R-Na (K, Rb,
Cs)) und die Bedeutung der Solvatation für die Struktur metallorganischer Verbindungen.
C-H-Acidität bzw. Anion-Protonaffinität - berechnet, Gasphasenacidität, Acidität in Lösung,
Einfluss von Substituenten; C-H- versus O-H-Säuren; Aciditätsskalen; kinetische Acidität, der
Bezug zwischen kinetischer und thermodynamischer Acidität (Brönstedt-Gleichung); C-H-Acidität
als Funktion der Hybridisierung am aionischen C-Atom, der Delokalisierung sowie am
Cyclopropanring; Stabilisierung der negativen Ladung durch N- bzw. P- und O- bzw. SSubstituenten.
Carbenoide, Struktur und Bedeutung für die Synthese.
Herstellung metallorganischer Verbindungen mit Metallen, durch Halogen-Metallaustausch und
Deprotonierung; stereoselektive Deprotonierungen.
b) Literatur Carbanionen
1.
2.
3.
4.
Crams, D. J. Fundamentals of Carbanion Chemistry, Academic Press, New York, 1965
Schlosser, M. Struktur und Reaktivität polarer Organometalle, Springer, Berlin, 1973
Wakefield, B. J. Organolithium Compounds, Pergamon, Oxford, 1974
Buncel, E. Carbanions: Mechanistic and Isotopic Aspects, Elsevier, Amsterdam, 1975
1
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
Stowell, J. C. Carbanions in Organic Synthesis, Wiley, New York, 1979
Wilkinson, G.; Stone, F. G. A., Abel E. W. (Ed.), Comprehensive Organometallic Chemistry,
Vol. 1, Pergamon, Oxford, 1982
Sapse, A. M.; Schleyer P. V. R. (Ed.) Lithium Chemistry, A Theoretical and Experimental
Overview, John Wiley, New York, 19956
Seebach, D. Struktur und Reaktivität von Lithiumenolaten, vom Pinakolon zur selektiven CAlkylierung von Peptiden - Schwierigkeiten und Möglichkeiten durch komplexe Strukturen.
Angew. Chem. 1988, 100, 1685-1715
Williard, P. G. Comprehensive Organic Synthesis, Trost, B. M., Ed., Pergamon, Oxford, 1991,
Vol. 1, Teil 1
Boche, G. Zur Struktur der Lithiumverbindungen von Sulfonen, Sulfoximiden, Sulfoxiden,
Thioethern und 1,3-Dithianen, Nitrilen, Nitroverbindungen und Hydrazonen. Angew. Chem.
1989, 101, 286-306.
Knochel, P., Singer, R., Preparation and Reactions of Polyfunctional Organozinc Reagents in
Organic Synthesis, Chem. Rev. 1993, 93, 2117-2188
Schlosser, M. (Ed), Organometallics in Synthesis, Wiley, Chichester, 1994
Krause, N., Metallorganische Chemie: selektive Synthesen mit metallorganischen
Verbindungen, Spektrum, Akad. Verlag, Heidelberg, 1996
2. Einführung
A) Carbanionen:
M
M
C
R
oder
R2
R1
R C
R2
R1
Typisch: Meist sind kleine Kationen dabei; hohe negative Ladung; ziehen alles mögliche mit
positiver Ladung an, z.B. Metallkationen; srake Basen bzw. Nucleophile (es gibt auch AnionenElektrophile – später).
B) Nehmen wir ein Elektron weg → Radikale:
C
R
R2
R1
oder
R C
R2
R1
Typisch<. Sehr reaktive Elektronenmangelverbindungen; nicht polar, Vorteil: man ist nicht auf
polare Lösungsmittel angewiesen. Reaktionen als Nucleophile oder Elektrophile.
2
C) Nehmen wir noch ein Elektron weg → Carbeniumionen:
X
C
R
oder
2
R
R1
R C
R2
R1
X
Typisch: ausgeprägter Elektronenmangel; polar wie auch Metallorganyle = Carbanionen; das
Gegenion gehört wieder dazu: aber im gegensatz zu den Anionen, die kleine Kationen wie Li+, Na+,
K+, Rb+, Cs+ bevorzugen, sind die Gegenionen von Carbeniumionen meist größer: BF4-, SbCl6-,
ClO4-. Das hat einen großen Einfluß auf Struktur und Reaktivität ( die Gegenionen sind nicht so eng
dran; später mehr).
D) Carbene: können formal aus allen frei Vorgängern gemacht werden:
R
h
C
1
R
C
R
R2
1
R
A
R
- R2
R1
B
C
- R2
(z.B. - H )
2
C -R
R C
R2
R1
N
H
R C
Base
N
R2
R1
Die Wege A und B treten oft als Kombination auf: aus Carbenoiden lassen sich gut Carbene
herstellen, wobei ein Kation und ein Anion abgespalten werden. Aber A und B sind auch separat
wichtig!
Carbenoide:
R
R1
Li
Base
C
Cl
Aus Radikalen geht kein direkter Zugang zu Carbenen (wegen der zusätzlichen C-C-Bindung). Hier
interessiert vor allem die Elektronenverteilung im elektrophilen Carben.
Zusammenfassung dieser Vorlesung: Kohlenstoff in verschiedenen Oxidationsstufen und
Wertigkeiten.
3
Carbanionen:
Sind polare Organometallverbindungen. Welche Rolle spielt das Gegenion? Eigentlich darf das
Wort „Carbanion“ nur in Gänsefüßchen stehen – die gibt es nämlich nur in der Gasphase –
Gasphasenaciditäten später. Selbst solche Carbanionen, die in Lösung vollständig dissoziiert sind
(und das sind wenige), sind oft H-verbrückt und halten oft das Gegenion in unmittelbarer
Nachbarschaft:
N
O
R
Li
O
CH3
+
N
N
H
N
R
Li
CH2
Li-Tri MEDA
LDA oder Li-Trimethylethylenimin (Li-TriMEDA) als Base bilden oft H-Brücken und
Kontaktionenpaare (wiederholen: Kontaktionenpaar, solvens-getrenntes Ionenpaar – sovatisiertes
Ionenpaar).
Fluorenyl-Li bildet in Ethylendiamin als Solvens ein solvens-verbrücktes Ionenpaar (solvent-shared
ion pair): Hier die negative Ladung im Fluorenylanion gut delokalisiert; die NH-Protonen machen
eine H-Brücke auf das nun nicht mehr freie Anion! Li+ ist weit weg vom Anion: statt einer
kovalenten Bindung koordiniert das Lithium-Kation mit dem N und macht so die NH-Brücke
stärker: Die positive Ladung zieht Elektronen vom N und macht dessen Proton positiver polarisiert.
Li
+
H 2N
NH2
Fluorenyl - Li
NH2
H2N
H2
N
H2
N
Li
Li
H2N
NH
H2N
NH
H
Li
LM
LM
+
LM
LM
LM
LM
LM
SSIP
Ein letztes Beispiel für unfreie Carbanionen zeigt ihre veränderte Reaktivität:
O
R C
CH3
LDA
O
R
Li
C
N
C
H2
H
4
Die rechte Struktur ist sehr wahrscheinlich, denn: D2O-Zugabe in großem Überschuß ergibt
trotzdem 95% H+-Übertragung statt D+-Übertragung auf das Carbanion! Das H+ muß also ganz nahe
dransitzen – durch Li+, das am O- sitzt und dabei das Amin festhält, ist das NH-Proton in der
richtigen Position für die innere Protonierung. In den meisten Fällen haben wir es bei
carbanionischen Verbindungen mit Kontaktionenpaaren zu tun: das Metall-Gegenion sitzt am
anionischen C-Atom und C-Metall-Bindung bildet sich aus.
N
N
Li
N
LM
N
LM
+
LM
LM
LM
KIP
Im obigen Beispiel hat das Kation im Kontaktionenpaar mehr als eine Koordinationsstelle. Das Li+
ist hier an 2 carbanische C- und 2 N-Atome gebunden. Es geht also mehr als eine Bindung ein; dies
ist letzten Endes der Grund dafür, daß Lithiumorganyle oft aggregiert sind: (RLi)x mit x = 2,4,6
(später mehr). Es liegt also oft keine gerichtete (Atom-)bindung vor!
Daß wir nicht von Carbanionen sprechen können, sonder höchstens von Organometallverbindungen,
zeigt auch die von Metall zu Metall sehr unterschiedliche Chemie:
a) Deprotonierung
b)
OM
Ph
C
O
CH2
+ Ph M
CH3
Ph
OM
b) Addition
Ph
a)
C
CH3
Ph
Produkt
Enolat
Alkoholat
K+
10
1
Na+
2
1
Li+
1
23
MgX+
1
∞
Es ist nicht einfach, diese großen Unterschiede zu verstehen. Sie machen aber die große Bedeutung
der Metallorganyle in der modernen Synthesechemie aus! Eine Erklärung ist deshalb nicht einfach,
weil
1. verschiedene Metallorganyle unterschiedlich aggregiert sein können.
2. verschieden Lösungsmittel benutzt werden (Lömi-Einfluß, Solvatation).
3. die feinen Unterschiede zwischen den einzelnen Metallen nicht eingach zu definieren sind.
4. MX-Salze vorliegen oder nicht.
5. Oft inhomogene Gemische vorliegen: KCl ist in org. Lösungsmitteln wesentlich schlechter
löslich als LiCl.
5
6. verschiedene Coliganden verwendet werden, wie Z.B.:
a) TMEDA
N
N
N
b) TriMEDA
N
H
c) HMPA
(Me2N)3 P O
Um in diese Vielfalt etwas Einblick zu bekommen, werden Rechnungen durchgeführt. Man kann
mit semiempirischen und ab initio-Methoden
heute einen guten Einblick in
Alkalimetallverbindungen und auch in jüngerer Zeit in Übergangsmetallverbindungen bekommen.
Damit kann man Eigenschaften ermitteln oder vorhersagen, die sonst experimentell nur schwer
zugänglich sind.
Die Natur der C-Metallbindung in polaren Organometallverbindungen
Die Polarität z.B. der C-Li-Bindung ist keine meßbare Größe. Bei zunehmender Polarität aber sollte
der Carbanioncharakter steigen. Früher nahm man an, daß die C-Li-Bindung weitgehend kovalent
sei: R-Li-Verbindungen haben einen niedrigen Schmelzpunkt (also wohl nicht polar); sie sin gut
löslich in unpolaren Lösungsmitteln wie n-Hexan; sie zeigen eine große Flüchtigkeit. Die höheren
Alkalimetallverbindungen verhalten sich anders. Ursache für die oben genannten Beobachtungen ist
aber bei Lithiumverbindungen ihre besondere Struktur:
Li
Li
n-Bu
C2H5
n-Bu
n-Bu
H5C2
n-Bu
n-Bu
CH
C2H5 2 5
n-Bu
Tetrameres [EtLi]4 bzw. hexameres [n-BuLi]6 verhalten sich wie Kohlenwasserstoffe: Die C-LiBindungen weisen nach innen, nach außen weisen nur aliphatische Reste! Daher die gute
Löslichkeit, Flüchtigkeit, niedrige Schmelzpunkt etc. Die höheren Alkalimetallverbindungen haben
allerdings tatsächlich eine viel salzartige Struktur.
Die 13C, 6Li bzw. die 13C, 7Li Kopplungen im 13C-NMR verleiteten zu der Auffassung, daß in
Lithiumorganylen eine kovalente Bindung vorläge: Heute weiß man, daß fürdiese Kopplungen
Fermi-Kontakt-Wechselwirkungen nötig sind, die s-Orbitalbeteiligungen an beiden Kernen
erfordern – nicht nur polare Atombindungen ergeben solche Kopplungen. Was berechnet man nun?
„Natural localized Molecular Orbitals“
Hybridisierung C-Li-Bindungs- C-Li-Bindungs- s-Orbitalcharakter Produkt 1 x 2
ordnung:
ordnung:
des C-Atoms [%]
ionisch
kovalent 1
2
CH3Li
0.14
0.86
19
2.7
CH2=CHLi
0.10
0.90
28
2.8
6
CH≡C-Li
0.05
0.95
52
2.6
Der kovalente Anteil liegt in allen drei Fällen unter 15%! ...alles andere ist ionisch (86-95%)! Je
höher der s-Charakter, desto niedriger ist der kovalente Anteil der Bindung. Das Produkt aus kov.
Bindungsordnung und s-Orbitalcharakter bestimmt im NMR-Spektrum die Kopplungskonstante: sie
sollte da stets dasselbe herauskommt (1 x 2)unabhängig von der Hybridisierung sein.
Man findet folgendes:
1
3
monomer: t-Buli (sp )
Ph-Li (sp2)
dimer:
(n-BuLi)2 (sp3)
(Ph-Li)2 (sp2)
t-Bu-C≡C-Li (sp)
tetramer: (n-BuLi)4 (sp3)
(CH2=CH-Li)4 (sp2)
t-Bu-C≡C-Li (sp)
J13C, 6Li
14.7
15.6
7.8
8.0
8.3
5.5
5.8
6.0
Wie man sieht, hängt die 13C,6Li-Kopplungskonstante ausscheließlich von der Aggregation und
nicht von der Hybridisierung ab wie etwa bei der C-H-Kopplung! Dies ist typisch für ionische
Verbindungen. Bei C-H-Kopplungen (C-H ist kovalent!) ist das ganz anders; hier ist ja auch die
Bindungsordnung 1.0 für den kovalenten Anteil. Zur Erinnerung:
Hybridisierung
CH4
CH2=CH2
HC≡CH
1
J13C,1H
125
156
249
Für einen hohen Ionencharakter der Lithiumorganyle spricht schließlich auch das Dipolmoment von
6 D für CH3Li (hohe Polarität = Hinweis auf hohe ionische Anteile).
Könnten kovalente Mehrzentrenbindungen wie in Elektronenmangelverbindungen (z.B. bei
Borverbindungen)
zur
Bescheribung
verwendet
werden?
Nein,
den
polare
Organometallverbindungen fallen nicht unter die Oktettregel!
Li
6
+
O
O
O
O
(4 x 2)
= 14
Die oben abgebildete Verbindung CpLi [12]Krone-4 hat formal 14 Elektronen am Lithium!
Elektronenzählen ist bei diesen Verbindungen also nutzlos. Es liegen also keine
7
Elektronenmangelverbindungen vor, eher schon Nucleophile bzw. Basen mit einem Lewis-sauren
Gegenion, die über einen geringen kovalenten Bindungsanteil verfügen.
Wieviel Ladungsdichte sitzt nun auf dem Metall, genauer gefragt: Wieviel sitzt dort pro gebundener
CH3-Gruppe?
MCH3
Li (0.87)
Na (0.79)
K (0.90)
Rb (0.90)
Cs (0.93)
M(CH3)2
Be 1.49 (0.74)
Mg 1.55 (0.77)
Ca 1.78 (0.89)
Sr 1.82 (0.91)
Ba 1.88 (0.94)
M(CH3)2
Zn 1.41 (0.71)
Cd 1.36 (0.68)
Hg 1.17 (0.59)
M(CH3)3
B 1.02 (0.34)
Al 1.87 (0.62)
Ga 1.68 (0.56)
M(CH3)4
C -0.12 (-0.03)
Si 1.85 (0.46)
Ge 1.69 (0.42)
Sn 1.95 (0.49)
Pb 1.74 (0.44)
Kursiv: Schwach positiv
Normal: mittel positiv
Fett: mehr oder weniger stark positiv
Beispiele - Bor: kaum metallorganische Chemie!; Zn: erst seit wenigen Jahren bekannt und mit
Hilfe von Katalysatoren realisiert
Wie korreliert die Ladungsdichte auf dem Metall (= Polarität der C-Metallbindung) mit der
Elektronegativität des Metalls (nach Allred-Rochow)?

1.1
1.0
0.9
0.8
0.7
0.6
0.5
0.6
0.7
0.8
c
0.9
1.0
Li
Na
K
Rb
Cs
Es fällt auf, daß Lithium aus dem Rahmen fällt! Es ist elektronegativer als Na. Für K, Rb und Cs ist
dies aufgrund der Abschirmung der Kernladung von den Valenzelektronen durch den steigenden
Atomradius verständlich. Aber im Lithium ist diese effektive Kernladung geringer, als sie sein sollte
(Begründung?). Dadurch übt Lithium eine geringere Anziehung auf seine Valenzelektronen aus (=
geringere Elektronegativität). Das zeigt auch die Serie der Ionisierungspotentiale:
6.0
5.5
IP
[eV]
5.0
4.5
4.0
3.5
Li
Na
K
Rb
Cs
Wie schon vorher angedeutet, wächst die Polarität der C-Li-Bindung mit dem s-Charakter
(umgekehrt proportional zum kovalenten Anteil):
Hybridisierung
CH3Li
(natürliche Ladung) Aggregation
auf Li+
0.853
(CH3Li)2
(natürliche Ladung)
auf Li+
0.875
8
CH2C=CHLi
HC≡CH
0.900
0.946
(CH3Li)3
(CH3Li)4
0.853
0.857
2 Konsequenzen: a) Die höchste natürliche Ladung auf dem Metallatom bedeutet nicht die größte
reaktivität des Carbanions(hier ist ja das Alkinylanion das stabilste).
b) Die Aggregation wirkt sich kaum auf die Ladungsdichte am Metallkation aus.
Auch bei der Solvatation z. B. in Dimethylether findet man gegenüber der Gasphase keine
allgemeinen Trends in der Veränderung der Ladungsdichte am Metallkation – auch hier ist keine
allgemeine Reaktivitätssteigerung bei fehlender Sovatation zu erwarten.
Was könnte die treibende Kraft zur Ausbildung von Ionenpaaren sein (vs. kovalenten Bindungen)?
Eine C- Li+ Anordnung im Abstand von 2 Å ergibt eine Coulomb-Anziehung von 166 kcal/mol!!
Bei der Reaktion CH3Li → CH3- + Li+ ist die Anziehung 168.9 kcal/mol!
Diese Coulomb-Stabilisierung nimmt mit zunehmendem Ionenradius ab, weil der Abstand zwischen
beiden Ladungen größer wird:
Cp-Li+ (182.4) › Cp-Na+ (145.4) › Cp-K+ (132.2) › Cp-Rb+ (1126.0) › Cp-Cs+ (124.0)
Einfluß des Solvens:
Solvatationsenergien von Alkalimetallkationen in Wasser: Li+ 119.4 kcal/mol, Na+ 93.2 kcal/mol,
K+ 73.1 kcal/mol, Rb+ 67.2 kcal/mol, Cs 59.3 kcal/mol. Diese hohen und sehr unterscheiedlichen
Werte zeigen beispielhaft, welch große Rolle die Solvatation bei ionischen Verbindungen hat! Auch
hier ist aufgrund der hohen Ladungsdichte die Solvatationsenergie bei den kleinen Inen besonders
hoch! Wie kann man sich überlegen, unter welchen Bedingungen aus Kontaktionenpaaren solvensgetrennte Ionenpaare werden?
-
+
[R M ]
-
+
[ R // M ]
Solvens
KIP
Solvens
SSIP
-
+
[R ] + [M ]
Solvens
Solvens
Freie Ionen
Der Grad der Solvatation ist vor allem von 2 Faktoren abhängig: 1. Solvatation des Kations; 2.
elektrostatische Stabilisierung des Carbanions durch das Kation). Das aber bedeutet: Je
delokalisierter die Ladungen im R- sind, desto weniger wichtig ist der Kontakt zum Kation. Je
kleiner das Gegenion M+, desto besser ist dessen spezifische Solvatation. Je polarer das
Lösungsmittel, deto besser ist die Solvatation der Ionen.
Die UV-Spektroskopie ist ein gute Mittel zur Untersuchung von ionischen Fluorenylverbindungen,
denn der HOMO-LUMO-Abstand, der die →*-Absorption bestimmt, ist stark vom Ionenradius
des Gegenions abhängig:
Fluorenyl-Metallorganyl
Li+, Kontaktionenpaar (KIP)
Na+, KIP
K+, KIP
Cs+, KIP
n-Bu4N+, KIP
Solvensgetrenntes Ionenpaar
Radius des Kations [Å]
0.60
0.96
1.33
1.60
~3.5
~4.5
max [nm]
349
356
362
364
368
373
9
freies Anion
-
374
Dissoziierte Ionenpaare kommen praktisch nur in der Gaspase vor: Im Labor annähernd erreicht mit
sehr verdünnten Lösungen von Li+-Verbindungen bei starker Delokalisierung der neg. Ladung im
Carbanion und hervorragender Solvatation des Kations.
Der starke Einfluß der unterschiedlich guten Solvatation auf die Struktur der gebildeten Ionenpaare
wird an folgendem Beispiel deutlich:
Tabelle: Prozentgehalt an Solvens-getrennten Ionenpaaren bei der Solvatation von
Alkalimetallfluorenylanionen in THF und Glyme (Glycoldimethylether) bei RT.
M
in
O
oder in
MeO
Metall
Li
Na
K
Cs
OMe
THF
80
5
0
0
Glyme
100
95
10
0
Das kleine Lithiumkation bildet, wie erwartet, in THF praktisch nur das solvens-getrennte Ionenpaar
(SSIP). Die größeren Kationen dagegen können mit ohrer schwachen Kation THF-SauerstoffWechselwirkung nicht mit der Kation-Fluorenylanion-Wechselwirkung konkurrieren. Glyme
solvatisiert noch besser als THF. Das liegt an der Bildung eines Chelatkomplexes der entropisch
begünstigt ist (ein Glyme-Molekül besetzt gleich 2 Koordinationsstellen am Lithiumkation.
O
O
MeO
Li
O
OMe
Li
O
MeO
OMe
Noch viel bessere Komplexierungseigenschaften haben Cosolventien wie Kronenether: Während z.
B. Fluorenyl-Natrium bei RT in THF fast vollständig als Kontaktionenpaar vorliegt (s.o.),
verschiebt die Solvatation mit Dimethyldibenzo[18]krone-6 das Gleichgewicht vollständig auf die
Seite des solvens-getrennten Ionenpaars. Das absorbiert nämlich bei 373 nm (vgl. Tabelle der UVAbsorptionen weiter oben). Gleichzeitig mißt man eine extrem hohe Komplexbildungskonstante
von KA = 5 x 106 M-1.
O
O
O
Na
H3C
O
CH3
O
O
max = 373 nm (SSIP)
10
Noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß diese Cosolventien sogar Komplexe mit den Alkalimetallen
selbst eingehen. Die Stabilisierung ziehen sie dabei aus der Überführung des Alkalimetalls in sein
Kation. Das Gegenion ist entweder ein freies Elektron (Electrid) oder ein Cäsiumanion (Cäsid).
O
O
O
e
Cs
O
O
O
bzw.
"Elektrid"
Cs
"Cäsid"
Diethylether und 2-Methyltetrahydrofuran solvatisieren Kationen schlechter als THF,
wahrscheinlich durch eine größere sterische Hinderung bei der Ausbildung ihrer Solvathülle. Auf
der anderen Seite behindert eine zusätzliche Methylgruppe im Fluorenylanion die Bildung des
engen Kontaktionenpaars und shifted das Gleichgewicht auf die Seite des Solvens-getrennten
Ionenpaars. Eine sterische Hinderung begünstigt so das Abstandhalten der Ionen und damit die
Solvatation. Bsp.: Müllen-Struktur eines dimeren Fluorenylanions:
O
O
Li
O
O
O
O
Polymere
Struktur
Kristall (SSIP)
Li
O
O
im
Schon wieder ein Fluorenylanion, welches diesmal aber aufgrund der sterischen Hinderung kein
Kontaktionenpaar bildet, sondern Solvens-getrennte Ionen in einer polymeren Struktur im Kristall
aufweist.
Die Gleichgewichtseinstellung zwischen KIP und SSIP ist stark temperaturabhängig. Auch hier
spielen Entropieeffekte eine große Rolle: Obwohl nämlich die Bildung des komplett solvatisierten
Gegenions exotherm ist, nimmt die Entropie dabei ab, und das ist ungünstig. Die Zunahme der
Ordnung wird durch die unten gezeigte Gleichung verdeutlicht: Beim Übergang in das SSIP
umgeben schließlich vier anstelle von drei geordneten THF-Molekülen das Lithium-Gegenion.
THF
R
Li
THF
THF
+ THF
THF
R
THF
Li
THF
THF
frei
gebunden
= geordnet
11
Nach Gibbs-Helmholtz (G = H –TS) sollte deshalb dieser ungünstige Entropieeinfluß
(negatives S) bei tieferen Temperaturen unterdrückt werden. Tatsächlich findet man bei FluorenylNatrium einen Anstieg im Betrag des SSIP von 5% bei RT zu fast 100% bei –50°C.
+ THF
n THF
Na
THF Na n THF
- THF
o
(SSIP, -50oC)
(KIP, 25 C)
Aus der reversiblen Temperaturabhängigkeit dieses Gleichgewichts kann man H0 und S0
bestimmen. Wie erwartet, ergibt sich ein stark negativer Entropiewert.
Zwei Anwendungen dieser temperaturabhängigen Gleichgewichtslage sind hervorzuheben: Bei der
lebenden anionischen Polymerisation wird die Reaktivität der carbanionischen Spezies durch bei
tieferen Temperaturen erhöht. Dies liegt an dem größeren Anteil von solvens-getrennten
Ionenpaaren. Damit wird die Aktivierungsenthalpie leichter überwunden und die Reaktion
schneller.
Auch die Herstellung von künstlichen Ionenkanälen mit Polyether-Naturstoffen nutzt die entropisch
günstigere Solvatation des Kations durch multiple Chelatwechselwirkungen im Kanal im Gegensatz
zu den hochgordneten Solvathüllen in freier Lösung.
Zum Schluß noch ein besonders beeindruckendes Beispiel für den starken Einfluß des IonenpaarCharakters. Hier entstehen nur durch Änderung der Lösungsmittel-Umgebung zwei völlig
verschiedene Spezies:
a : M = Li (T1/2 (50oC) : 14 min.)
OM n THF
b : M = SiMe3 (T1/2(50oC) : 3 min.)
Ph
O M
(KIP)
c : M = Na
n THF
d:M=K
Ph
HMPA
O
M
HMPA
HMPA
M
Ph
(SSIP)
O
Ph
Lithiumverbindung 16a hat eine Nonafulven-artige Olefinstruktur und isomerisiert elektrozyklisch
leicht zum Dihydroinden 17a (Halbwertszeit bei 50°C 14 min). Das gleiche beobachtet man auch
beim kovalenten Silylenolether 16b. Bei Zugabe des guten Cosolvens HMPA entsteht quantitativ
eine völlig neue Spezies. die als aromatisches [9]Annulen-Anion 18 per NMR identifiziert wird.
Dieses isomerisiert nicht mehr zu dem Valenzisomer 19, selbst 12 h bei 60°C. Die Erklärung für
diesen Strukturwechsel liegt im Wechsel vom Kontaktionenpaar zum solvensseparierten Ionenpaar:
im KIP 16 lokalisiert das Metallkation die Ladung am Enolat-O und läßt nur noch eine
elektrozyklische Stabilisierung zu; im solvensseparierten Ionenpaar 18 dagegen kann das freie
12
Elektronenpaar in den Ring hinein delokalisiert werden und die stabilisierte aromatische Spezies
ausbilden. Aromatizität ist hier also eine Funktion des Ionenpaarcharakters! Diese Beobachtungen
zeigen, wie wichtig die Balance zwischen verschiedenen Wechselwirkungen für
Organometallverbindungen ist.
Ein letztes Beispiel für die unterschiedliche Chemie von Organolithium-Verbindungen, die durch
unterschiedliche Solvatation in verschiedenen Lösungsmitteln hervorgerufen wird, ist ihre
Anwendung zur enantioselektiven Alkylierung. Kann man ein achirales R-Li chiral machen?
Idee: Ein guter chiraler Komplexligand verdrängt das Lösungsmittel vom KIP, macht R-Li reaktiver
und schirmt eine enantiotope Seite ab. Das läßt sich mit dem chiralen tertiären Amin Spartein
realisieren, in unserem Beispiel allerdings nur in Ether und nicht in THF. Was passiert?
Testreaktion:
R1
OLi
R C
H
O
1
R
+ R Li
H
OLi
1
+ R C R
H
ee = ?
N
(-)-Spartein
Vorbedingung für eine asymmetrische Induktion:
LM
R
LM +
Li
N
N
N*
*
N
R
+ 3 LM
Li
N
LM
das darf nicht
reagieren!
das muß
reagieren!
Li
O
+
Beispiel:
Solvens
Cosolvens
Ph
Cl
?
CH3
3
Diethylether
74% Ausb.
2
(-) Spartein
> 97 : 3 Angriff an C1/C3
1
H3C
O
ee : > 95%
C
Ph
O
C
H
THF
(-) Spartein
O
Ph
Ph
3
2
1
CH3
+
H
C
3
2
1
CH3
Angriff an C3
ee : 0%
13
1. In Ether erhält man eine gute Ausbeute an chemoselektiver Alkylierung in 1-Position mit einem
hervorragenden ee von >95%.
2. In THF erhält man ein Racemat von 3-alkyliertem Produkt.
Erklärung über 2D-6Li,1H—HOESY-NMR-Spektroskopie:
Es wurden 4 Proben bei –70°C vermessen, die jeweils den Komplex des lithiierten Indenylanions
ohne und mit Spartein in Ether bzw. THF enthielten. (Folien!). Ohne Spartein sind in beiden
Lösungsmittel intermolekulare NOE-Kontakte
H
zwischen dem Lithiumkation und dem Solvens
H Li
Messung
nachzuweisen. Außerdem zeigen sich starke NOE- H 5 4 9 3
in Et2O - d10 und
2
Kontakte zu den Protonen des Fünfrings, so daß
H
in THF - d8
6
ein Kontaktionenpaar mit einer definierten
8
1
ohne und mit
7
Solvensumgebung am Lithium vorliegen muß. Bei H
Spartein
Zugabe von Spartein verschwinden in Ether die
H
CH3
Kontakte vom Lithiumkation zum Lösungsmittel
fast vollständig, während neue zum Spartein auftreten (Verdrängung des Solvens durch das
Cosolvens Spartein). In THF verändert sich das Spektrum dagegen nicht. Also muß die
unterschiedliche Solvatation die Ursache für den drastisch unterschiedlichen Reaktionsverlauf sein.
Bestätigung und Detailsinformation durch Kristallstrukturanalyse:
THF
N
THF
N
THF
Li
Li
H
3
3
2
2
1
O
CH3
Cl
O
PH
1
Cl
Ph
CH3
In Ether verbrückt das Lithium das Allylanion (-gebunden); das Spartein hat die Etherliganden
verdrängt und bildet einen Chelatkomplex mit dem Lithiumkation, in dem das Kation nur von oben
über dem Indenylanion sitzt; außerdem ist die Bindung zu C-1 verkürzt, also hier am reaktivsten. In
THF liegt ein -gebundener Komplex vor, in dem das Lithiumkation an C-3 einmal über, einmal
unter dem Indenylanion sitzt. Dadurch wird die andere Regiochemie und die Racematbildung
erklärt!
CH-Aciditäten
Stabilitäten von Carbanionen – Rechnungen und Gasphasenexperimente
14
Einer der wichtigsten Aspekte in der Carbanionenchemie ist die Acidität von CH-Säuren oder,
anders gesagt, die Anionen-Protonaffinität der korrespondierenden Basen. Die intrinsische
(natürliche) Basizität eines nackten Carbanions (nur in der Gasphase meßbar) läßt sich mit MNDOoder aufwendigeren Rechnungen vorhersagen.
Tabelle: Vergleich berechneter und experimenteller Protonenaffinitäten von Anionen
[kcal/mol].
Anion
Ab initio- Experimentelle
Rechnung Gasphasenacidität
1. H2. CH33. NH24. OH5. F6. C2H57. CH2=CH8. HC≡C9. N≡C10. Allyl11. Vinylalkoholat12. Acetonitril13. Nitromethanat-
401.8
433.5
408.7
394.6
361.9
439.1
423.8
385.6
354.2
405.5
374.5
386.1
350.5
400.4
416.6
403.6
390.8
371.5
>404
375.4
353.1
387.2
366.4
372.2
358.7
Die obenstehende Tabelle zeigt erstens eine recht gut Übereinstimmung zwischen Theorie und
Experiment (Zeilen 1-5); zweitens einige Bestätigungen bekannter Phänomene (Hybridisierung,
Zeilen 6-9): Die Protonenaffinität nimmt vom aliphatischen über das vinylische zum AcetylidAnion wie erwartet aufgrund des steigenden s-Charakters ab; Ersatz von C gegen das
elektronegativere N stabilisiert das Anion zusätzlich. Bei Resonanzstabilisierten Carbanionen wirkt
sich der elektronenziehende Charakter von Heteroatomen besonders in der Dreifachbindung günstig
aus (Zeilen 10-13).
Die nächste Tabelle gibt Auskunft über die Stabilität verschiedener Konformationen,
Konfigurationen und Isomeren repräsentativer Carbanionen:
Tabelle: Berechnete relative Energien von Konformationen, Konfigurationen und Isomeren
einiger Carbanionen [kcal/mol].
Anion
rel. Energie Anion
1. CH3-: sp3 (tetraed., C3V)
sp2 (planar, D3h)
2. C2H5 : gestaffelt
ekliptisch
bisected
3. CH2=CH-: sp2 (CS)
sp (linear, C2V)
4. Cyclopropyl-: sp3 (Cs)
0.0
0.5
0.0
2.0
2.7
0.0
20.2
0.0
5. Allyl-: konjugiert (C2)
senkrecht (CS)
6. Vinylalkoholat: planar
senkrecht
7. Nitromethylat : planar
senkrecht
8. Cyclopropylanion (C-1, sp2)
(C-3, sp3)
rel. Energie
0.0
20.4
0.0
40.5
0.0
44.1
-40.7
0.0
15
sp2 (C2V)
(C-3, sp2)
17.1
35.6
Das Methylcarbanion hat praktisch keine Inversionsbarriere für seinen sp2/sp3-Übergang; es ist nicht
konfigurativ stabil (Zeile 1). Dies steht in krassem Gegensatz zu Vinylcarbanion (sp2/sp-Übergang)
und Cyclopropylanion (sp2/sp3-Übergang) (Zeilen 3 und 4). Es lassen sich auch die relativ geringen
Energieunterschiede verschiedener Konformationen im Ethylanion berechnen (staggered, eclipsed,
Zeile 2). Die Rotationsbarriere in Carbanionen vom Allylaniontyp (auch heterosubstitutierte
Derivate) steigt mit wachsendem Elektronenzug und demonstriert den wachsenden
Doppelbindungscharakter. Im Cyclopropenyl-Carbanion ist die planare sp2-Anordnung wegen ihrer
Antiaromatizität instabiler als die gewinkelte sp3-Spezies. Am stabilsten ist aber das Isomer mit der
negativen Ladung an C-1.
Oft stimmen diese Gasphasenaciditäten gut mit experimentellen Ergebnissen in Lösung überein.
Aus markanten Unterschieden zwischen Gasphase und Lösung lassen sich andererseits die Größe
von Solvatations- und Gegenion-Effekten ermitteln; dies ist vielleicht noch wertvoller!
Gleichgewichts-Aciditäten in Lösung
Die in Wasser gemesssenen Aciditäten verschiedener Säuren verändern sich oft dramatisch beim
Übergang in organische Lösungsmittel. Carbanionenchemie geschieht aber vor allem in organischen
Lösungsmitteln. Ein direkter Vergleich ist daher interessant. DMSO als dipolar aprotisches
Lösungsmittel hat mehrerer Vorzüge vor anderen organischen Lösungsmitteln: Erstens kann man
damit einen großen pK-Bereich (~30 Einheiten) erfassen, zweitens bildet der eigene pK-Wert einen
Standard für die Aufstellung einer absoluten Skala. Drittens zeigen Leitfähigkeitsmessungen, daß
Alkalisalze von CH-Säuren in DMSO völlig dissoziiert vorliegen, so daß man keine
Aggregationseffekte zu befürchten braucht.
Tabelle: Gleichgewichts-Aciditäten einiger CH- und OH-Säuren in DMSO.
Säure
pK
Säure
pK
DMSO
Acetonitril
Dimethylsulfon
Triphenylmethan
Phenylmethylsulfon
Phenylacetylen
Diethylketon
Aceton
Phenylisopropylketon
35.1
31.3
31.1
30.6
29.0
28.8
27.1
26.5
26.3
Acetophenon
Dibenzylsulfon
Fluoren
Nitromethan
Malondinitril
Benzoesäure
p-Nitrobenzoesäure
o-Hydroxybenzoesäure
(=Salicylsäure)
24.7
23.9
22.6
17.2
11.1
11.0
6.9
4.7
Wasser ist ein starker Wasserstofbrücken-Donor und auch ein Akzeptor. DMSO dagegen ist nur ein
guter Akzeptor. Es stabilisiert deshalb Anionen mit einer lokalisierten, harten Ladung schlecht. Die
entsprechenden Säuren sind deshalb in DMSO schwächer als in Wasser. So sinken die Aciditäten
für Phenole, Carbonsäuren, Ketone und Nitroalkane in DMSO um 5-10 pK-Einheiten gegenüber
den bekannten Werten in Wasser (Tabelle oben). Dasselbe gilt noch mehr für die total lokalisierten
negativen Ladungen von Alkoholaten und Hydroxidionen in DMSO; die entsprechenden pK-Werte
in DMSO liegen um 14-16 Zehnerpotenzen niedriger als in Wasser.
Aciditäten in unpolaren Lösungsmitteln
Aus 2 Gründen ist es aber wichtig, auch die CH-Aciditäten in unpolaren Solventien zu kennen:
16
1. Die meisten Reaktionen z.B. von Organolithiumverbindungen verlaufen in diesen Solventien.
2. Viele CH-Bindungen in aliphatischen, Cyclopropyl-, Vinyl- und Aryl-derivaten sind weniger
acide als DMSO; ihre korrespondierenden Anionen würden also DMSO selbst deprotonieren
(CH3-(S=O)-CH2-...Na+).
In Lösungsmitteln mit hohem pK wie Ether oder Benzol sind Organometallverbindungen nicht
dissoziiert, sondern liegen als Ionenpaare oder sogar als Aggregate vor. Die gemessenen
Gleichgewichtskonstanten liefern also Ionenpaar-Aciditäten! Daher geht auch die Stabilität der
metallorganischen Base als Funktion des Gegenions und des Solvens in die Aciditätsbestimmungen
mit ein:
R-H + R‘-M → R-M + R‘-H
Wir wissen, daß Kontakt- bzw. Solvensgetrennte Ionenpaare entstehen können – je nachdem wie
hoch die Acidität des Kohlenwasserstoffs in Abhängigkeit vom Metallgegenion ist. Beispiel: PhCH2-CN: Der pKA dieser Verbindung in THF ist bei der Überführung in das Cäsiumsalz 22.7, bei
der Überführung in das Lithiumsalz aber 17.7! Die Lithiumverbindung ist also stabiler, denn Li+
stabilisiert das Anion besser als das große Cs+-Kation. Einkristallstrukturen zeigen einen direkten
Kontakt des Lithiumkations mit dem negativ polariserten N-Atom des Nitrilanions:
Ph
CH C
NI
N
Li
N
Li
R CH C
N
N
C CH R
Li
N
N
Erste Ionenpaar-Aciditäten wurden von Conant und McEwen mit Natrium und Kaliumorganylen
bestimmt. Weil aber solche Gleichgewichtseinstellungen oft sehr langsam sind, wichen Applequist
und Dessy auf Halogen-Metall- und Metall-Metall-Austauschreaktionen aus.
R-Li + R‘-I → R-I + R‘-Li
R2Mg + R‘2Hg → RMgR‘ + RHgR‘→ R2Hg + R‘2Mg
Diese Resultate wurden von Cram zur sogenannten MSAD (McEwen-Streitwieser-ApplequistDessy) Skala von CH-Aciditäten zusammengefaßt, die eine Mischung aus Ionen- und IonenpaarAciditäten darstellt:
Tabelle: Cram’s MSAD-Skala
Verbindung
pK
Verbindung
pK
Fluoraden
Cyclopentadien
9-Phenylfluoren
Inden
Phenylacetylen
Fluoren
Acetylen
1,1,3-Triphenylpropen
Triphenylmethan
11
15
18.5
18.5
18.5
22.9
25
26.5
32.5
Ethylen
Benzol
Cumen
Triptycen
Cyclopropan
Methan
Ethan
Cyclobutan
Neopentan
36.5
37
37
38
39
40
42
43
44
17
Toluol
Propen
Cycloheptatrien
35
35.5
36
Propan
Cyclopentan
Cyclohexane
44
44
45
Man erkennt sofort, daß diese Skala etwa 15 pK-Einheiten in den weniger sauren Bereich reicht als
die in DMSO gemessenen Aciditäten.
Streitwieser hat Ionenpaar-Aciditäten einer großen Anzahl von Verbindungen mit
Lithiumcyclohexylamid (LiCHA) bzw. Cäsiumcyclohexylamid (CsCHA) im unpolaren
Cyclohexylamin bestimmt, die bis zu einem pK von ~38 reichen.
An 3 Beispielen sollen die in DMSO bestimmten Ionenaciditäten (freie Ionen in starker
Verdünnung) mit den Ionenpaaraciditäten verglichen werden:
Tabelle: pK-Werte und Ionenpaar-Aciditäten (MSAD und CHA) im Vergleich:
CH-Säure
pK(DMSO)
Cyclopentadien
Phenylacetylen
Triphenylmethan
18.1
28.8
30.6
pK(MSAD
= Et2O, THF
pK(LiCHA)
pK(CsCHA)
23.24
-
16.25
31.45
oder Cyclohexan)
15
18.5
32.5
In Fall von Cyclopentadien und Triphenylmethan stimmen die gemessenen Werte sehr schön
überein, im mittleren Fall von Phenylacetylen nicht: Hier tritt eine Punktladung am PhenylacetylenAnion auf, die im dissoziierten Zustand selbst durch stark polare Lösungsmittel wie DMSO nur
ungenügend stabilisiert werden kann. Im Kontaktionenpaar ist hier die Stabilisierung über das
Lithium-Gegenion besser, deshalb die größere Acidität in Ether etc.
In THF kann man nur relativ stabile Anionen vermessen; die meisten sehr basischen CH-Anionen
zersetzen THF schnell nach dem Mechanismus einer Retro-1,3-dipolaren Spaltung zum Alken und
Lithiumenolat:
Li
O
O
+
LiO
Zur Ermittlung der Stabilitäten wurden deshalb auch Deprotonierungsreaktionen von Alkoholen
ROH herangezogen. In der folgenden Tabelle werden berechnete mit experimentellen
Reaktionsenthalpien verglichen:
Lithiumorganyl
t-BuLi
sec-BuLi
n-BuLi
Ph-Li
Me-Li
LDA
Lithium-2,2,6,6Tetramethylcyclohexylamid
Hexp für RM + t-BuOH
54.1 kcal/mol
50.7
47.9
40.2
39.5
26.5
23.3
Hber für RM + t-BuOH
56.5 kcal/mol
54.9
52.4
42.6
34.6
-
18
(Me3Si)2NLi
(Me3Si)2NK
LiOt-Bu
13.1
0.8
0.0 (s.o.)
-
Rechnungen: MP2 (FU) / 6-31G*
Diese Deprotonierungsenthalpien sind wichtige Größen für eine Abschätzung von Basizitäten bei
Lithiumverbindungen.
Kinetische Acidität:
Eine wichtige Alternative zur bisher beschriebenen thermodynamischen pK-Bestimmung (Lage des
Dissoziations- bzw. Deprotonierungsgleichgewichts) ist die kinetische Bestimmung von CHAciditäten. Man fragt also: Wie schnell deprotoniert eine Base mein acides Proton? und setzt die
Leichtigkeit, mit der das Proton entfernt werden kann, proportional zur Lage des dadurch
entstehenden Gleichgewichts. Das stimmt nicht immer, ist aber eine wertvolle zusätzliche Methode,
die neue Informationen z. B. über die Struktur der intermediär gebildeten carbanionischen Spezies
bietet. Normalerweise nutzt man zur quantitativen Messung der Deprotonierungsgeschwindigkeit
den Isotopen-Austausch zwischen der CH-Säure und einem deuterierten Lösungsmittel oder anders
herum (also den Isotopenaustausch zwischen einer deuterierten CH-aciden Substanz und dem
protischen Lösungsmittel). Diesem Vorgehen liegt die berechtigte Annahme zugrunde, daß die
Abstraktion eines H+ oder D+ der langsamste, geschwindigkeitsbestimmende Schritt ist, während
die Reprotonierung des Carbanions durch das (wahlweise deuterierte) Solvens sehr schnell abläuft:
slow
(1)
-
R3C-H + Base

 R3C + Base-H
fast
fast
(2)
R3C- + Base-D → R3CD + Base-
Wie bei der Acidität selbst ist auch hier der Einfluß des Mediums (Solvens) auf die
Deprotonierungsgeschwindigkeit
enorm;
dies
läßt
sich
besonders
elegant
an
Racemisierungsexperimenten zeigen. Wenn nämlich eine Racemisierung gleich schnell verläuft wie
der H- oder D-Austausch, so kann man die Kinetik der Deprotonierung als Änderung des
Enantiomerenüberschusses per Drehwinkel-Messung indirekt und sehr genau verfolgen. In einem
solchen Fall ist wieder der Deprotonierungsschritt schnell, führt aber anschließend immer zur
Racemisierung durch eine völlig unselektive Protonierung. So etwas kann man natürlich nur
beobachten, wenn das intermediär entstehende Carbanion entweder planar ist oder extrem schnell
invertiert (hier liegt eine zusätzliche Information über die Natur des Carbanions). Es gilt also in
diesem Fall: kA / krac = 1. Dadurch brauchen wir also gar keinen H/D-Austausch.
H
H3C
*
C
H3C
C6H5
C
CN
H
base
1-H *
slow
base - H
H3C
H3C
*
C
CN
1-D
1-H
C
C
CN
CH3
C6H5
H
CN
solvent - D
fast
C6H5
CN
base - H
solvent - D
D
C6H5
25
fast
H3C
H3C
C
C6H5
D
1-D
CN
C
CN
19
Das optisch reine 2-Methyl-3-phenylpropionitril wurde mit KOtBu in einem Solvensgemisch von
Methanol und steigenden Anteilen an DMSO deprotoniert und anschließend die relative
Racemisierungskonstante gemessen, welche ihrerseits die relative Deprotonierungsgeschwindigkeit
wiederspiegelt. In 98.5%igem DMSO verläuft die Deprotonierung mehr als 7 Zehnerpotenzen
langsamer als in reinem Methanol, weil das protische Solvens selbst die Base durch
Wassserstoffbrücken schwächt.
Tabelle: Relative Racemisierungsgeschwindigkeiten von optisch reinem 2-Methyl-3phenylpropionitril mit KOtBu als Base bei 25°C.
Solvens in Gewichtsprozent
kSolvensgemisch / kMethanol
100% MeOH
50% MeOH / 50% DMSO
10% MeOH / 90% DMSO
1.5% MeOH / 98.5% DMSO
1.0
1.6 . 102
1.3 . 105
5.0 . 107
Präparativ viel wertvoller wäre natürlich der umgekehrte Prozeß einer Racemisierung: Kann man
Carbanionen enantioselektiv protonieren? Dies ist ein sehr junges Gebiet, das erst in den letzten
Jahren intensiv bearbeitet wurde. Besonders interessant ist natürlich die enantioselektive
Protonierung der enantiotopen Seiten von Enolaten. Hier haben C. Fehr et al. ein schönes, einfaches
System entwickelt: Sie generieren das Thioester-Enolat 1 und protonieren bei tiefen Temperaturen
in einer schnellen, irreversiblen, kinetisch gesteuerten Reaktion mit einer chiralen Protonenquelle 2,
die über N und O chelatartig am Lithium koordiniert und anschließend das Proton des Alkohols
diastereoselektiv auf den Kohlenstoff überträgt. Es entsteht Produkt 3 in >99% ee.
OLi
O
SPh
HO
fast
irrev.
N
+
SPh
Ph
1
(-)-2-H
(S) - 3 (84 - 87%)
Dieser Prozeß konnte nach einigen mechanistischen Einblicken sogar katalytisch geführt werden:
Der Trick besteht darin, die chirale Protonenquelle zurückzugewinnen, in dem eine achirale
Protonenquelle zum Recycling eingestzt wird. Diese darf natürlich nicht das Enolat protonieren,
muß aber mit dem lithiierten Auxiliar in einer schnellen Austauschreaktion reagieren und dabei aus
dem Edukt wieder Enolat machen. Der ganze Kreislauf ist in der Abbbildung unten gezeigt.
OLi
O
SPh
HO
fast
irrev.
N
+
SPh
Ph
1
(-)-2-H
(S) - 3 (84 - 87%)
slow,
revers.
LiO
N
Ph
O
(-)-2-Li
20
Man setzt das Keten 4 und Phenylthiol als achirale Protonenquelle ein. Außerdem gibt man die
lithiierte chirale Protonenquelle dazu. Zunächst generiert das Thiophenol durch schnelle,
vollständige Umsetzung mit dem Aminoalkolat dessen protonierte Form 2. Das gebildete LiPhenylthiolat addiert in einer stöchiometrischen langsamen Reaktion an das Keten 4 und bildet
dabei das Thioenolat, welches seinerseits nun irreversibel und schnell mit der chiralen
Protonenquelle 2 umgesetzt wird. Dabei wird erneut die lithiierte Protonenquelle freigesetzt, die
einen zweiten Katalysekreislauf mit dem ebenfalls stöchiometrisch langsam zugesetzten Thiophenol
eingeht. Der ee beträgt mit 5 Mol-% chiraler Protonenquelle immerhin 90%.
Die unterschiedlichen Verhältnisse der Reaktionsgeschwindigkeiten von Austausch- und
Racemisierungsreaktion geben ihrerseits starke Hinweise auf die dabei auftretenden Mechanismen.
Es gibt nämlich auch ganz andere (interessante) Fälle: Man findet oft kA / krac 1. Das spricht
natürlich für ein konfigurationsstabiles Carbanion (davon später mehr). Tatsächlich findet man aber
auch völlig planaren, delokalisierten Carbanionen solche Verhältnisse. Beispiel:
Optisch reines, deuteriertes Fluorenderivat und Tripropylamin in THF: kA / krac > 56! Wie geht das?
H3
D
CONMe2
PrNH2
THF
kA
> 56
krac
Nach der Deprotonierung entsteht zwar ein planares Fluorenylanion; dieses ist aber über eine
Wasserstoffbrücke gebunden im Kontaktionenpaar mit der protonierten Base. Wenn nun der H/DAustausch über eine Rotation im Ammoniumion (k2) und anschließende Reprotonierung im
gemeinsamen Solvenskäfig (k-1) wesentlich schneller verläuft als die kritische Dissoziation des
KIP's zum SSIP (k3), so erhält man einen schenllen Austausch bei Retention der Konfiguration am
Fluorenyl-C. Dafür eignet sich THF besonders gut, denn es fördert die Ionenpaardissoziation nicht
(s.o.). In DMSO mit seiner hohen Dielektrizitätskonstante dissoziiert dagegen das z. B. mit NH3
erzeugte Ionenpaar leicht (k3) und man erhält wieder vollständige Racemisierung bei kA / krac = 1.
21
Pr
Pr
H
~
~
D
k2
~H
~
~
k3
k3
~
- PrNDH
~
Racemisches Produkt
KIP
k-1
~
~
H
CH3
SSIP
CH3
~
~
~
H
CH3
~
~
~
H
D
CH3
k-1
CH3
~
N
~
~
~
Pr - NH2
k1
N
D
~
+ Pr-NH2D
k2 und k-1>>k3: Retention
Wie sähe dagegen das Austausch / Racemisierungsverhältnis bei vollständiger KonfigurationsInversion aus? Wenn jeder H/D-Austausch zu vollständiger Inversion führt, hat man schon nach
50% Austauschreaktion das Racemat. Also findet man kA / krac = 0.5. Zwischen diesen beiden
Werten liegen dann Reaktionen, die keine vollständige Inversion aufweisen, sondern auch partielle
Racemisierung (recht häufiger Fall). Beispiel: Wieder unser Fluorenderivat, diesmal aber in
Methanol mit Tripropylamin: man findet kA / krac = 0.65. Wie kann man sich das vorstellen?
0.5
kA
Krac
=
1
R1
R2
C
R3
R1
H
+ D
1:1
C
R2
R3
CONMe2
D
CH3
Pr3N
CH3OH
kA
Krac
= 0,65
CONMe2
Die Reaktion verläuft in protischen Lösungsmitteln über einen trigonal bipyramidalen
Übergangszustand wie bei der SN2-Reaktion. Sobald nämlich ein Aminmolekül das Deuterium am
aciden C angreift, lauert von hinten schon die Protonenquelle Methanol, die die entstehende
negative Ladung an eben diesem C-Atom über eine Wasserstoffbrücke abfängt. Unter Inversion
bildet sich neben dem Ammoniumkation auf der Vorderseite gleichzeitig das Alkoholatanion auf
der Rückseite. Beide neutralisiern sich anschließend in einer schnellen Säure-Base-Reaktion. Die
unvollständige Inversion ist hier wohl auf die mit der asymmetrischen Solvatation konkurrierende
symmetrische Solvatation des Carbanions durch zwei Alkoholmoleküle zurückzuführen (s.u.).
22
k1
+ ROH + NR 3
C D
C
RO-H
k-1
D-NR 3
asymmetrisch solvatisiert
k3
k2
RO-H
C
H-OR
symmetrisch solvatisiert
RO + H C
Racemat
Inversion
+ DNR 3
Zum Schluß noch der extreme Fall, daß die Racemisierung viel schneller verläuft als der H/DAustausch. Es gibt Fälle, bei denen das Verhältnis kA / krac < 0.5 beträgt (und zwar deutlich). Wir
finden im unten gezeigten Beispiel der Deprotonierung von optisch reinem 2-Deutero-2phenylbutyronitril mit Tripropylamin in einer Mischung von THF und 1.5M t-BuOH einen Wert
von kA / krac = 0.05! Das funktioniert folgendermaßen:
Ph
Et
C
Ph
C
NI
+ Base
Et
C
D
C
NI
C
N
DB
Et
C
DB
Ph
Racemisierung!
DB
D
Et
Ph
C
C
N
Et
Ph
C
C
NI
Die Base deprotoniert zwar das Deuteriumkation, dieses bleibt jedoch nach der Umlagerung zum
lithiierten Ketenimin stets als gut koordinierendes Ammnioum-Gegenion am N desselben Moleküls.
Nach Durchlaufen dieser planaren Spezies im Kontaktionenpaar kann das Molekül erneut zur
tetraedrischen Form umlagern und alles rückgängig machen, d.h. das Amin und das deuterierte
Edukt zurückzubilden, aber - es erinnert sich nicht mehr an seine frühere Konfiguration und entsteht
racemisch! Man nennt eine solche Umlagerung der H-Brücke vom C zum N im Kontaktionenpaar
einen "guided-tour"-Mechanismus. Für beide Anordnungen (sp2 mit H-Brücke zum N und sp3 mit
H-Brücke zum C) gibt es Belege in Röntgenstrukturanalysen.
23
H H
N
N
C
H
H
H
C
C
N
N
H
N H
H
Diese Kristallstruktur zeigt die verschiedenen Positionen, die das Ammoniumion relativ zum Amin
bei der „guided tour“ einnehmen muß.
Das Hauptproblem bei kinetischer Aciditätsbestimmung ist natürlich die Korrelation mit
Gleichgewichtsaciditäten: Ist es tatsächlich einfacher, ein Proton von einer CH-Säure mit einer Base
zu abstrahieren, wenn diese Säure stärker auf der Gleichgewichts-Aciditätsskala ist? Der
quantitative Zusammenhang zwischen kinetischer und thermodynamischer Acidität wird durch die
Brønstedt-Katalyse-Beziehung wiedergegeben:
log k =  . log KA + const.
k = Geschwindigkeitskonstante für die Deprotonierung von R3CH
Ka = thermodynamische Ionisierungskonstante für R3CH
 = Brønstedt-Exponent
bewegt sich üblicherweise zwischen 0 und 1 und ist als ein Maß für den Protonentransfer von der
Säure R3CH zur Base im Übergangszustand interpretiert worden. Die Tatsache, daß auch Werte für
 > 1 gefunden werden, wie z. B. bei aliphatischen Nitroverbindungen, stellt diese einfache
Interpretation jedoch in Frage. Die nachfolgende Tabelle gibt Paare für k1 [sec-1] und Ka wieder.
Nach der Brønstedt- Gleichung müßten die daraus berechneten Paare für -log k1 und pKa auf einer
Geraden liegen. Dies ist in der nachstehenden Abbildung aufgetragen.
k1
+
R3C-H + H2O 
 R3C + H3O / Ka = k1 / k-1
k-1
Tabelle: Geschwindigkeits- und Gleichgewichtsdaten für CH-Säuren in Wasser bei 25°C.
Nr
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
CH-Säure
CH3-(C=O)-CH2-(C=O)-CF3
C6H5(C=O)-CH2-(C=O)-CF3
CH3-(C=O)-CHBr-(C=O)-CH3
C2H5-NO2
CH3-(C=O)-CH2-(C=O)-CH3
CH3-NO2
CH3-(C=O)-CH(CH3)-(C=O)-CH3
CH2(C≡N)2
CH3-(C=O)-CH(C2H5)-(C=O)-O-C2H5
CH3-(C=O)-CHCl2
CH3-(C=O)-CH3
Ka
.
2 10-5
1.5 . 10-7
1 . 10-7
2.5 . 10-9
1.0 . 10-9
6.1 . 10-11
1.0 . 10-11
6.5 . 10-12
2 . 10-13
10-15
10-20
k-1 [sec-1]
1.5 . 10-2
8.3 . 10-3
2.3 . 10-2
3.7 . 10-8 (langsam!)
1.7 . 10-2
4.3 . 10-8 (langsam!)
8.3 . 10-5
1.5 . 10-2 (sehr schnell!)
7.5 . 10-6
7.3 . 10-7
4.7 . 10-10
24
8
11
4
6
6
10
- log k1
9
4
2
7
1
2
3
5
7
8
5
9
11
13
15
17
19
pKa
Abbildung: -log k1 gegen pKa von CH-Säuren.
Wie man sofort erkennt, gehorchen CH-Säuren mit einer acidifizierenden Carbonylgruppe recht
genau der linearen Brønstedt-Beziehung. Die Nitroverbindungen 4 und 6 ionisieren jedoch viel
langsamer als ihrer Säurestärke entsprechen würde. Wie oben erwänt, ist der Brønstedt-Exponent in
Nitroverbindungen oft größer als 1; parallel dazu liefern Nitroverbindungen ungewöhnlich starke
Isotopeneffekte (kH/kD = 24.3 bei der Reaktion von Nitropropan mit 2,4,6-Trimethylpyridin). Man
diskutiert einen relativ komplexen Mechanismus für die Deprotonierung in protischen Solventien,
der nach der eigentlichen Deprotonierung einen geometrischen Umbau nach sich zieht, z. B. die
Umhybridisierung zu sp2 und Ausbildung einer Doppelbindung zwischen C und N (man spricht
auch von Proton-Tunnel-Effekten).
Im Gegensatz dazu ionisieren Nitrile viel schneller als Carbonyle. Dies wurde dahingehend
interpretiert, daß die Ladung in Nitrilcarbanionen nicht in erster Linie durch ausgedehnte
Delokalisation stabilisiert wird, wie es bei Enolaten der Fall ist. Die Nitrilgruppe wirkt dann vor
allem durch ihren starken -I-Effekt stabilisierend auf das tetraedrische -Carbanion. Der kinetische
Isotopeneffekt für t-Butylmalondinitril beträgt auch nur kH/kD = 1.47. Dieser kleine Wert ist in
guter Übereinstimmung mit einem Übergangszustand, in dem das Proton größtenteil zur Base hin
verschoben ist; auch der Brønsted-Exponent beträgt annähernd 1. Evtl. ist aber auch der
Deprotonierungsschritt gar nicht mehr geschwindigkeitsbestimmend, weil er von einem zweiten
langsameren Schritt gefolgt wird.
Zusammenfassend können wir sagen, daß eine vernünftige Brønstedt-Korrelation nur in strukturell
verwandten Verbindungen wie etwa der Carbonylserie in unsrem Beispiel beobachtet werden.
Durch eine Standard-Base kann in einem solchen Fall die unbekannte Gleichgewichts-Acidität
25
anhand ihrer relativen kinetischen Acidität mit guter Genauigkeit abgeschätzt werden. Bei schwach
aciden Verbindungen wie Alkanen und Alkenen tritt dabei allerdings ein hoher Fehler auf.
Gasphasen-Acidität
In den letzten 2 Jahrzehnten sind Werte für die Gasphasen-Aciditäten vieler organische
Verbindungen zugänglich geworden, weil die experimentellen Techniken stark verbessert wurden.
Dadurch ist man heute in der Lage, zwischen den Eigenschaften isolierter Moleküle (natürliche
Acidität) und Solvens-bzw. Gegenion-Phänomenen zu unterscheiden.
Während Aciditäten in Lösung üblicherweise in pKa-Werten angegeben werden, drückt man
Gasphasen-Aciditäten von neutralen Säuren A-H als Protonenaffinitäten (PA) der Anions A- aus,
definiert als die Enthalpie-Änderung H0 für die Deprotonierung:
AH → A- + H+
Durch den Heß'schen Satz kann man die Protonenaffinität gemäß dem folgenden
thermodynamischen Zyklus auch durch die Dissoziationsenergie D(A-H) in die Radikale und die
Elektronenaffinität des Radikals A. ausdrücken:
A-H → A. + H.
A. + e- → A-
║ D(A-H) = homolytische Dissoziationsenergie von A-H
║ -EA(A) = Elektronenaffinität von A.
H. → H+ + e║ IP(H) = Ionisierungspotential von H. = 313.6 kcal / mol
_________________________________________________________________________
A-H
→ A- + H+
║ H0 = D(A-H) - EA(A) + IP(H) = PA (A-)
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Weil IP(H) konstant ist, wird es in vielen Tabellen weggelassen und Protonen-Affinitäten werden
dann als D-EA angegeben. So steht es in der unten angegebenen Tabelle. In vielen Fällen ist in der
Gasphase die Reihenfolge der Aciditäten ähnlich der in DMSO-Löung (s.u.). Das ist erstaunlich,
denn es bedeutet, daß die Solvatation in DMSO bei allen Basen ähnlich ähnlich verläuft. Im unten
angegebenen Beispiel sind allerdings die Basen alle vom Gegenion getrennt und vollständig
delokalisiert und werden offensichtlich deshalb auch ähnlich gut in DMSO solvatisiert. Aus den
feinen Unterschieden erkennt man jedoch erstens, daß DMSO überhaupt zur Anionen-Solvatation in
der Lage ist, und daß es hier zwischen günstigen und ungünstigeren Strukturen unterscheidet. Es
könnte allerdings auch eine unvollständige Ablösung des Protons sein.
Tabelle: Vergleich von Gasphasen- und DMSO-Lösungs-Aciditäten.
CH-Säure
pK (DMSO)
Gasphase: PA (A-) [kcal / mol]
CH3-(S=O)-CH3
CH3-CN
CH3-SO2-CH3
CH3-(C=O)-CH3
CH3-NO2
35.1
31.3
31.1
26.5
17.2
374.6
375.0
360.6
370.3
358.7
26
Die wichtigste Beobachtungen beim Studium von Gasphasen-Aciditäten sind aber die Fälle, in
denen die Aciditäts-Reihenfolgen völlig anders lauten als in Lösung! Das ist in der nächsten Tabelle
gezeigt.
Tabelle: Umgekehrte Ordnung von Gasphasen-Aciditäten im Vergleich zur Lösung (in PA(A)).
CH-Säure
PA(A-) [kcal / mol]
C6H5CH3
379
>
CH2(C≡N)2
336
>
CF3(C=O)CH2(C=O)CH3
329
>
Fluoren
353
>
t-BuOH > i-PrOH >
EtOH
>
CH-Säure
H2O
CH3COOH
HCl
Cyclopentadien
MeOH (381) >
PA(A-) [kcal / mol]
391
349
333
356
H2O (391)
umgekehrt in:
Wasser
Wasser
Wasser
DMSO
Wasser
Toluol ist in der Gasphase acider als Wasser; in wäßriger Lösung ist es 20 Größenordnungen
schwächer acide! Malondinitril ist in der Gasphase acider als Essigsäure; ebenso ist Trifluoraceton
acider als Salzsäure! In wäßriger Lösung sind die Verhältnisse umgekehrt. Natürlich ist hierfür die
Solvens-Solut-Wechselwirkung verantwortlich: in Wasser kann das Solvens starke
Wasserstoffbrücken zum Heteroatom der korrespondierenden Base ausbilden, was bei den CHSäuren kaum der Fall ist. Dies entspricht auch dem großen Unterschied der Wasser-Acidität in H2O
(pKa = 15.75) und in DMSO (pKa = 31.4), welches Anionen nur sehr schlecht solvatisiert.
Warum kehrt sich die Reihenfolge zwischen Fluoren (pKDMSO = 22.6) und Cyclopentadien (pKDMSO
= 18.1) um? Das liegt an der schlechteren Solvatation des stärker delokalisierten Fluorenylanions
als des kleineren Cyclopentadienylanions durch DMSO. Auch hier wird deutlich, daß DMSO
tatsächlich Anionen solvatisieren kann (wahrscheinlich durch die elektrostatische Wechselwirkung
des Carbanionen-Kohlenstoffs mit dem positiv polarisierten Schwefelatom im DMSO).
Am erstaunlichsten ist die Umkehr der Lösungsaciditäten bei Alkoholen (s.o.). Die Abnahme der
Lösungsacidität mit steigender Alkylsubstitution wurde oft mit dem elektronenschiebenden +IEffekt der Methylgruppen erklärt, aber die natürliche Gasphasenreihenfolge zeigt etwas anderes:
Die unterschiedlich gute Solvatation muß dafür verantwortlich sein. Da die Gasphasenbasizitäten
von Aminen mit steigender Alkylsubstitution ebenfalls steigen, können Alkylgruppen also sowohl
positive wie auch negative Ladungen stabilisieren! Wie kann man das erklären? Theoretiker machen
dafür einen Polarisationseffekt verantwortlich, der mit dem Molekülvolumen steigt. Man spricht
von einem hyperkonjugativen Elektronenzug der Alkylgruppen. In der MO-Terminologie
ausgedrückt ergibt sich eine bindende Wechselwirkung zwischen den gefüllten 2p-Orbitalen vom
Sauerstoff und den leeren antibindenden *-Orbitalen der Methylgruppen.
27
Diese revolutionären Ergebnisse rechtfertigen allein den Aufwand der Bestimmung von
Gasphasenaciditäten. Sehr oft stimmen auch MO-Berechnungen gut mit den in der Gasphase
berechneten Aciditäten überein. Dadurch können wir heute in vielen Fällen experimentell und
rechnerisch die natürliche intrinsische Stabilität eines Carbanions von Solvens-Effekten
unterscheiden.
Experimente zur Bestimmung von pK-Werten:
Hier ein kleiner Exkurs über die praktischen experimentellen Verfahren, mit denen man pK-Werte
bestimmen kann.
1. Gleichgewichtsacidität: Im wäßrigen lassen sich Dissoziationskonstanten von Säuren leicht mit
Hilfe einer pH-empfindlichen Elektrode potentiometrisch aus Titrationskurven bestimmen. In
nichtwäßrigen Lösungsmitteln nutzt man sehr oft die UV/VIS-Spektroskopie zur Bestimmung
der Lage des Gleichgewichts zwischen CH-Säure R3C-H und ihrer korrespondierenden Base
R3C-:
R3C-H + Base- 
 R3C + Base-H
Voraussetzung ist dabei, daß sich die Extinktionsmaxima der beiden Spezies genügend
voneinander unterscheiden wie z.B. im Fluorenylanion (s.o.); dann liefern die gemittelten
experimentellen Lagen der Extinktionsmaxima unmittelbar die gewünschten Konzentrationen.
Wenn die UV/VIS-Spektren von Kohlenwasserstoff und seinem Carbanion identisch sind,
benutzt man einen Indikator (z.B. substituierte Aniline oder Arylmethane), dessen
Gleichgewicht mit dem Aliphaten im basischen gemessen wird. Der Indikator fungiert hier also
Ersatzbase:
R3C-H + Ind- 
 R3C + Ind-H
2. Kinetische Acidität: Bei zersetzlichen Carbanionen oder fehlenden Meßmethoden zur Messung
des Gleichgewichts weicht man oft auf die kinetische Acidität aus (s.o.). Die beiden wichtigsten
Methoden sind hier der Isotopenaustausch und die Racemisierung optisch reiner
Ausgangsverbindungen. Wenn die richtigen Randbedingungen erfüllt sind, kann man durch
Messung der Geschwindigkeiten z.B. des H/D-Austauschs oder der vollständigen
Racemisierung die Leichtigkeit der Carbanionenbildung indirekt genau messen, ohne daß
meßbare Konzentrationen des Carbanions vorliegen müssen. Diese Methode ist auch auf
schwache Säuren anwendbar und wurde oft zur CH-Aciditätsbestimmung jenseits pK = 40
verwendet.
In gesättigten Kohlenwasserstoffen ist allerdings der H/D-Austausch so langsam, daß man auf
elektrochemische Messungen ausweicht:
.
R + e- 
 R // (EA = Elektronenaffinität)
Aus den bekannten CH-Dissoziationsenergien und der in kondensierter Phase meßbaren
Elektronenaffinitäten EA können pK-Werte zumindest abgeschätzt werden. Dabei kommen sehr
28
hohe Werte heraus: Für Isobutan wurde ein Wert von pK = 71 angegeben. Extrapolationen der
pK-Werte von Toluol und Diphenylmethan führen für das nicht direkt meßbare Methan zu
einem pK-Wert von 52-62.
3. Gasphasenacidität: Auch hier wird gern der Umweg über die Dissoziationsenthalpie minus der
Elektronenaffinität plus der bekannten Ionisierungsenergie von Waserstoff gegangen (s.o.).
Moderne Massenspektrometrische Entwicklungen wie die Ion-Cyclotron-ResonanzSpektroskopie gestatten auch die direkte Bestimmung von Dissoziationsenthalpien sehr
schwacher Säuren in der Gasphase:
G
+
R-H 
 R + H
Struktureffekte bei der CH-Acidität
Da die CH-Acidität einen sehr großen pK-Bereich überspannt, ist offensichtlich die chemische
Umgebung einer CH-Gruppe von entscheidender Bedeutung für deren Acidität. Welche strukurellen
Einflüsse bestimmen nun die Acidität von CH-Säuren und erklären diesen weiten pK-Bereich? Wir
werden vor allem 2 Faktoren eingehender untersuchen: die Hybridisierung und die Delokalisation.
Hybridisierung
In der Serie der Cycloalkane fällt auf, daß deren CH-Acidität vom Achtring zum Dreiring
kontinuierlich zunimmt. Dies korreliert auch mit der Zunahme von 13C,1H-NMRKopplungskonstanten im 13C-NMR-Spektrum, welche ein Maß für den s-Charakter der CHBindung darstellt. Beide Effekte werden durch den zunehmenden s-Charakter der CH-Bindungen im
Ring erklärt. In Cyclopropan haben die C-C-Bindungen im Ring aufgrund der großen Ringspannung
mehr p-Charakter (gebogene Bananenbindungen), während die CH-Bindungen dadurch mehr sCharakter bekommen. Am stärksten ist der s-Charakter in den hochgespannten
Bicyclo[1.1.0]butanen.
13
C H
[Hz]
127
126
127
131
136
161
Konsequenterweise müssen demnach sp2-hybridisierte CH-Bindungen in Olefinen und Aromaten
und besonders sp-hybridisierte CH-Bindungen in Alkinen aufgrund ihres noch höheren s-Charakters
auch eine wachsende CH-Acidität zeigen:
Tabelle: CH-Aciditäten und
Alkine.
13C,1H-NMR-Kopplungskonstanten
H2C=CH2
pK
44
1
J13C,1H [Hz] 156
für Alkene, Aromaten und
Benzol Cyclopropen HC≡CH
43
~29
25
159
220
249
Besonders bemerkenswert ist die hohe Acidität des Cyclopropens, die nahe an die von Acetylenen
herankommt. Die enorme Ringspannung, die bei der Bindungsstauchung von 120° auf 60° ebtseht,
29
ist für den starken s-Charakter dieser CH-Binung verantwortlich. Die Hybridisierung am
olefinischen C entspricht schon fast sp. Ähnlich lassen sich unterschiedliche CH-Aciditäten in
Aromaten verstehen: Biphenylen hat zwei unterschiedlich stark saure CH-Bindungen, von denen die
mit dem klieneren Bindungswinkel und der größeren Kopplungskonstante 70 mal schneller H gegen
D austauscht als die andere.

 = 115° ; J13C,1H = 163 Hz
 = 122° ; 1J13C,1H = 160 Hz
1
H1
H2
ß
Der Grund für die generell erhöhte CH-Acidität von CH-Bindungen mit höherem s-Charakter liegt
in der relativ größeren Stabilität der entsprechenden Carbanionen: Hier liegen die s-Elektronen
näher zum positiv geladenen Atomkern und sind deshalb stabiler (aus dem gleichen Grund ist z.B.
ein sp2 oder gar sp-hybridisiertes Carbeniumion sehr instabil).
Delokalisation
Cyclopentadien (pKDMSO = 18.1) und Cyclononatetraen sind auffallend acide Olefine. Dies läßt sich
leicht durch die Hückel-Aromatizität der entstehenden planaren Carbanionen mit 4n+2 -Elektronen
erklären. Im Gegensatz dazu gehören die C3H3-Bindungen im Cyclopropen zu den schwächsten
aciden CH-Bindungen, die wir kennen. Ebenso ist Cycloheptatrien eine äußerst schwache Base
(pKDMSO = 36). Auch diese Resultat genügt den Hückel-Regeln: die durch Delokalisation
entstehenden Carbanionen wären Antiaromaten mit 4n Elektronen, also extrem instabil!
H2
H2
H2
H
H2
pk 36
Warum aber kann man das Cycloheptatrienyl-Anion herstellen, nicht aber das Cyclopropenyl-C3Anion? Die größere Spezies kann eine leicht gefaltete Konformation einnehmen und vermeidet
dabei die Planarität und damit die maximale -Orbital-Überlappung sowie unnötige Ringspannung.
Dies ist für das kleine Cyclopropenyl-Anion im Prinzip auch möglich, wenn das Carbanion einen
Wasserstoff aus der Ebene herausbiegt und so die gespannte, antiaromatische C2v-Symmetrie
vermeidet. Nach Berechnungen würde das Cyclopropenyl-Anion dadurch 35.6 kcal / mol gewinnen;
dies reicht evtl. immer noch nicht für eine der Synthese genügende thermodynamische Stabilität
aus.
30
Auch Phenylreste können selbstverständlich eine benachbarte Ladung in Benzylstellung
stabilisieren: Toluol, Diphenylmethan und Triphenylmethan zeigen eine wachsende Acidität in
DMSO.
Tabelle: pK-Werte von benzylisch und allylisch stabilisierten CH-Säuren.
CH-Säure
C6H5-CH3
(C6H5)2CH2
pKDMSO
42
32.3
CH-Säure
(C6H5)3CH
H2C=CH-CH3
pKDMSO
30.6
40
Es ist allgemein bekannt, daß in Benzylanionen auch in der ortho- und meta-Position des
Benzolrings partielle negative Ladungen auftreten (z.B. im Benzyocyclobutadienyl-Dianion). Eine
wirksame Überlappung zwischen dem Carbanionen-Kohlenstoff und den p-Orbitalen des
Substituenten zur Delkalisation erfordert Coplanarität; in der orthogonalen (senkrechten)
Konformation (s.u.) beobachtet man keine Delokalisation. Diese Planaritätsbeziehung verhindert,
daß die Einführung der dritten Phenylgruppe in Benzylstellung so effektiv wirkt wie die der
zweiten: Eine Röntgenstruktur des Triphenylmethyllithium / TMEDA-Komplexes enthüllte
tatsächlich eine Propeller-ähnliche Struktur.
H
C
H
H
In Trypticen liegen die tertiären CH-Bindungen senkrecht zu den Ebenen der drei Benzolringe;
diese Wasserstoffatome tauschen H gegen D mehr als 90 mal langsamer aus als die ortho-Protonen
der Benzolringe. Ähnlich wie die Phenylreste stabilisieren auch Vinylgruppen eine benachbarte
negative Ladung, wie man an der erhöhten CH-Acidität von Propen sehen kann (pK = 40).
Acceptorsubstituenten jedoch stabilisieren benachbarte negative Ladungen natürlich viel besser, wie
man sofort an den pK-Werten in DMSO erkennt: CH3CN (31.3); CH3-SO2-CH3 (31.1); CH3-(C=O)CH3 (26.5); CH3-NO2 (17.2).
In diesem Zusammenhag ist es interessant, die Acidität von -Protonen einiger Acceptorsubstituierter Cyclopropane mit der Acidität der entsprechenden Isopropylverbindungen zu
vergleichen:
Tabelle 21: Gleichgewichtsaciditäten (pKDMSO) von Acceptor-substituierten Cyclopropyl- und
Isopropylderivaten.
X
Cyclopropyl-X
-NO2
~27
-(C=O)-C6H5
28.2
Isopropyl-X
16.9
26.3
31
Obwohl Cyclopropane aufgrund des höheren s-Charakters der C-H-Bindungen acider sind als ihre
offenkettigen Analoga, zeigt die Tabelle 21, daß bei Nitro- und Benzoyl-Substitution sich das
Verhältnis umkehrt! Im Fall der Cyano- , der Trifluormethyl- und auch der AlkylsulfonylSubstitution ist jedoch wieder das Cyclopropanderivat acider (Tabelle 22). Wie kann man das
erklären?
Tabelle 22: Relative Geschwindigkeitskonstanten für den Isotopenaustausch in CH3ONa /
CH3OH bei 53.2°C.
X
H3C
D
kDrel.
H3C
X
-(C=O)-C6H5
-C≡N
-CF3
-SO2R
D
C
1
11.8 (saurer)
.
2 10-4 (saurer)
2.6 . 10-4 (saurer)
H
X
H
kDrel.
1330 (saurer)
0.81
10-6
.
1.2 10-6
SO2
Eine exocyclische Doppelbindung verursacht zusätzliche Ringspannung in einem Dreiring;
Methylencyclopropan ist z. B. 13.5 kcal/mol gespannter als Cyclopropan. Die markant schwächere
CH-Acidität von Cyclopropylderivaten mit Nitro- und Carbonylsubstituenten im Vergleich zu ihren
offenkettigen Analoga muß darauf zurückzuführen sein, daß beide Gruppen einen starken Bedarf an
p,p-Überlappung haben, der zu den mesomeriestabilisierten Cyclopropyl-Nitronat- bzw.
cyclopropylenolat-Ionen führt.
O
N
O
Cyclopropyl-Nitronat
O
C
C6H5
Cyclopropyl-Enolat
Im Gegensatz dazu stabilisieren Cyano-, Trifluormethyl- und Alkylsulfonyl-Substituenten ein
benachbartes Carbanion vorwiegend über induktive Effekte, ähnlich wie auch im
Alkinylsubstituenten. Der (-)-I-Effekt ist aber auch in pyramidalen Carbionen wirksam, die im Fall
des Cyclopropylcarbanions ja stabiler sind.
Im Einklang mit den Aciditäten von Cyclopropyl- und Isopropylverbindungen ist auch deren "nicht
immer ganz normale" Chemie:
Der Versuch der Deprotonierung und anschließenden Silylierung von Cyclopropylcarbonsäureestern
führt nur zum Teil zu den O-silylierten Ketenacetalen; daneben entstehen erhebliche Mengen an Csilyliertem Produkt sowie an Trimeren.
32
CO2Et
OEt
LDA, Me3SiCl
o
- 78
H
C
o
O C
OSiMe3
+ 13,5kcal
CO2Et
CO2Et
OH
+
+
"O"
C
SiMe3
CO2Et
"C"
Eine Röntgenstruktur für das als Zwischenstufe etwas stabilere Lithiumthioester-Enolat beweist die
exo-Methylen-Cyclopropan-Bindung, die ganz flach liegt. Dieses Derivat ist allerdings sehr schwer
herzustellen.
SR
C
OLi
134 pm
Bis heute gibt es jedoch keine Röntgenstruktur eines Nitrocyclopropyl-Carbanions. Dessen Chemie
verläuft allerdings wie erwartet; das instabile Intermediat erweist sich als hochreaktiv. Wenn das
Carbanion in THF mit LDA generiert wird, findet man nach einiger Zeit völlig verrückte C-Cverknüpfte Produkte, die mit einem intramolekularen Elektronentransfer auf die Nitrogruppe erklärt
werden können, bei der das Molekül dem Nitronatanion ausweicht:
33
NO2
NO2
H
NO2
LDA, THF
+
-80oC bis -110oC
NO
NO2
via
M
O
oder
N
O
NO2
intramolekularer
ET auf Nitrogruppe
NO2
N
O
M
M
O
NO2
M
DX
- H2O
NO2
NO2
NO2
NO
Völlig normal verhalten sich dagegen die CN- und SO2R-substituierten Cyclopropylanionen: Sie
sind nicht nur leicht herzustellen und stabil, sondern machen auch keine außergewöhnlichen
Reaktionen:
H
CN
H
SO2R
Li
LDA
THF
CN
Li
LDA
THF
SO2R
Wie sieht ihre Struktur aus? Zwei Röntgenstrukturen sind hier gezeigt:
61.7o
Ph
Ph
S
Li
O
O
Li
Ph
34
O
S
O
Ph
H3C
H3C
Li
57.8o
C
57.4o
N
In beiden Fällen ist sowohl die Bindung zwischen Lihiumatom und Carbanionen-C als auch die
zwischen X und Carbanionen-C aus der Ebene herausgebogen. Für diese Substituenten ist also die
Delokalisation zur Stabilisierung der negativen Ladung nicht so wichtig; sie operieren vorwiegend
über induktive Effekte (s.o.). Das deckt sich auch mit älteren H/D-Austauschexperimenten (Tabelle
23, später).
Induktiver und mesomerer Effekt
Ein früher Versuch zur Quantifizierung der relativen Einflüsse von induktiven (I-) und
Mesomerieeffekten (R-) von Acceptorsubstituenten beruht auf den Substituentenkonstanten mund p-, die sich auf die Acidität meta- und para-substituierter Phenole in Wasser bezieht. I- und
R- sind berechnet worden; dabei lag folgende Gleichung zugrunde:
R- = p- - 2/3 mI- = m-
und
Der Einfluß des para-Substituenten setzt sich aus mesomerem und dem natürlich schwächeren
induktiven Effekt zusammen, der hier mit 2/3 des meta-ständigen Substituenten abgeschätzt wird.
Der meta-ständige Substituent hat natürlich nur einen induktiven Beitrag.
Die Ergebnisse dieser Rechnungen finden sich in Tabelle 23.
Tabelle 23. Relative Bedeutung des induktiven und mesomeren Effekts auf die Fähigkeit von
Akzeptorsubstituenten, die Acidität von Phenol in Wasser bei 25 °C zu erhöhen.
X
a:
b:
c:
d:
CH3CO
NO2
CN
CF3SO2
R-
I-
R- / I-
0.62
0.78
0.48
0.75
0.22
0.46
0.40
0.61
2.8
1.7
1.2
1.2
Wie man sieht, stabilisiert hauptsächlich die Carbonylgruppe eine negative Ladung durch
Mesomerie, etwas weniger noch die Nitrogruppe. Cyano und Sulfonyl-Substituenten haben einen
etwa gleich großen induktiven Beitrag.
Es ist gut bekannt, daß die Elemente der 2. Reihe im Periodensystem wie Phosphor und Schwefel
eine benachbarte negative Ladung viel besser stabilisieren als ihre Analoga aus der ersten Reihe,
Stickstoff und Schwefel. Ein besonders beeindruckendes Beispiel ist die dramatisch
unterschiedliche CH-Acidität der unten angegebenen Verbindungen, die durch basenkatalysierten
H/D-Austausch bestimmt wurde. Der Ersatz von N durch P bzw. von O durch S führt in beiden
Fällen zu einer Geschwindigkeitssteigerung von ~106!
(CH3)3N+-CH3
(CH3)3P+-CH3
35
rel. Geschw. = 2.4 .106
rel. Geschw. = 1
C 2H 5O
T
C2H5S
C 6H 5
C2H5S
C
C 2 H 5O
T
C
C6H5
rel. Geschw. = 106
rel. Geschw. = 1
Das zeigt sich auch an typischen Reaktionen: Während aus quartären Ammoniumsalzen mit einem
Substituenten größer als Methyl durch Basenangriff Hoffmann-Eliminierung eintritt, deprotonieren
Basen quartäre Phosphoniumsalze mit einem Substituenten größer als Methyl ausschließlich am C und bilden Ylide. Bei der Hoffmann-Eliminierung greift die Base jedoch das -ständige H an:
(CH3)3N+-CH2
-CH3 + B → (CH3)3N + CH2=CH2 + BH
(CH3)3P+-CH2-CH3 + B → (CH3)3P+-CH --CH3 + BH
(CH3)3N CH2
CH3
(CH3)3P
CH3
Wittig
HoffmannEliminierung
(CH3)3N + H2C CH2 + H
CH2
(H3C)3P
CH
CH3
Ylid
Früher nahm man an, daß niedrig liegende d-Orbitale von P bzw. S die negative Ladung teilweise
aufnehemen und dadurch stabilisieren (p-d--Rückbindung). Heute weiß man, daß dem nicht so ist.
Auf jeden Fall spricht auch die oben beschriebene Beobachtung dafür, daß die Sulfonylgruppe aus
der Reihe elektronenziehenden Substituenten mit Elementen aus der ersten Reihe des
Periodensystems herausfällt, wenn es um die Stabilisierung einer benachbarten Ladung geht.
Wie kann man sich nun die dramatische CH-Aciditätssteigerung durch benachbarte Phosphor- bzw.
Schwefelatome erklären? Dazu wollen eine einfache Modellreaktion auswählen, die man auch noch
über ab-initio-Methoden genau berechnen kann:
CH3-X-H + CH - → CH2 --X-H + CH4
mit X = O bzw. S.
Dazu wollen wir mehrere Fragen stellen:
1. Frage: Stabilisiert eine benachbarte Gruppe OH bzw. SH eine negative Ladung am -C besser
oder schlechter als das H-Atom?
Die Stabiliserungsenergie kann also aus folgender Formel berechnet werden:
36
SE = [E(CH3-XH) + E(CH3-)] - [E(CH2--XH) + E(CH4)]
Was berechnet man?
X = O: SE = -2.23 kcal/mol ( OH destabilisiert also eine negative Ladung in -Stellung!)
X = S: SE = 18.8 kcal/mol (ohne Beteiligung von d-Orbitalen)
18.6 kcal/mol (mit Beteiligung von d-Orbitalen)
Wir sehen: a) Schwefel stabilisiert benachbarte Ladungen im gegensatz zu O; b) aber: die d-Orbitale
haben keinen stabilisierenden Einfluß, wir haben also nichts, da einer Delokalisierung von pElektronen in leere d-Orbitale entspräche!
2. Frage: Wie verhält sich die Bindungslänge der C-OH bzw. der C-SH-Einfachbindung?
H
OH: 142.1 pm
C
X
H
H
SH: 182.3 pm (mit d-Orbitalen)
H
181.9 pm (experimentell)
C
H
OH: 155.7 pm
X
H
SH: 201.7 pm (ohne d-Orbitale)
H
176.9 pm (mit d-Orbitalen!)
Rechnungen ergeben für das Ausgangsmolekül mit OH eine kürzere C-O-Bindungslänge als im
deprotonierten Zustand (142.1 pm gegenüber 155.7 pm). Dagegen ist die C-S-Bindungslänge im
Ausgangsmolekül mit SH länger als im deprotonierten Zustand (182.3 pm [exp.sehr ähnlich: 181.9
pm] gegenüber 176.9 pm). Berechnungen ohne d-Orbitalbeteiligung führen jedoch zu einer deutlich
längeren C-S-Bindung von 201.7 pm. Hier wirkt sich also die Anwesenheit von d-Orbitalen sehr
stark aus! Das sieht ja wieder so ähnlich aus wie bei CN, NO2, C=OR und allen anderen
Acceptorsubstituenten. Wenn nun aber keine Doppelbindung entsteht, wie läßt sich diese
Bindungsverkürzung der C-S-Bindung, die offensichtlich mit der Stabilisierung der benachbarten
Ladung einhergeht, verstehen?
Hier müssen wir mehrere Effekte diskutieren:
1. Der sogenannte C-X-Effekt: Die Lage der einfach besetzten Atomorbitale von O bzw. S, die
durch Wechselwirkung mit dem einfach besetzten Atomorbital am C die C-O- und die C-SBindung ausbilden, ist unterschiedlich (S liegt höher als O). Durch die gegenseitige Störung
entstehen bei der Ausbildung der -Bindung unterschiedlich stark abgesenkte Orbitale für C-O
und C-S. Das gleiche gilt besonders für die Wechselwirkung mit dem einfach besetzten
Atomorbital am C im Carbanion - C- und S liegen näher beieinander und machen dadurch die
günstigere Wechselwirkung. Der Energieunterschied (EO bzw. (ES) für die entsprechenden Bindungen zwischen CH-Säure und Carbanion ist demnach im Falle der O-Verbindungen
größer als im Falle der S-Verbindung. Das aber bedeutet, daß die C-S-Bindung im Carbanion
weniger geschwächt wird als die C-O-Bindung.
37
C
X-H
 C-
2. Die Abstoßung der nicht-bindenden Heteroatom-Orbitale durch das Carbanion:
C
H
O
C
H
H
H
142 - 155 pm
142 pm (CH-Säure) → 155 pm (Carbanion)
S
H
H
182 - 177 pm
182 pm (CH-Säure) → 177 pm (Carbanion)
Bei Sauerstoff-Verbindungen muß diese Abstoßung größer sein, da die C-O-Einfachbindung
insgesamt (absolut gesehen) kürzer ist als die C-S-Einfachbindung. Insgesamt sind die
nichtbindenden Orbitale am kleineren Sauerstoff fester gebunden (härter, lokalisierter), und gehen
dadurch eine stärkere Wechselwirkung mit dem Carbanionen-Elektronenpaar ein. Schließlich sind
keine d-Orbitale vorhanden (über deren stabilisierende Eigenschaften mehr beim S-Carbanion). Die
Abstoßung bei Schwefelverbindungen ist kleiner, weil die C-S-Bindung länger ist als die C-OBindung (s.o.). Außerdem sind die nichtbindenden sp3-Hybridatomarbitale am Schwefel diffuser
(weicher). Am wichtigsten ist jedoch die Tatsache, daß leere d-Orbitale im S-Atom vorhanden sind:
Diese nehmen zwar nicht die negative Ladung des benachbarten Carbanions auf, sie wirken jedoch
wie Polarisationsfunktionen, wie leere Räume, in die die Elektronen hineindiffundieren können,
wenn sie vom benachbarten Elektronenpaar am C abgestoßen werden. So wird der S positiver und
zieht das Carbanion an: Die C-S-Bindung wird kürzer!
38
3. Die Position des Metalls:
gibt einen weiteren Hinweis auf die Abstoßung der benachbarten Elektronenpaare. Im MethanolCarbanion und ähnlichen Verbindungen sollte ein Lithium-Gegenion beide Atome verbrücken und
so deren Abstoßung reduzieren. Im Methylthiol-Carbanion sollte diese Überbrückung weniger
wichtig und auch weniger leicht sein, denn der C-S-Abstand ist absolut gesehen größer.
Li
H
H
C
O
H
152.2 pm
4. Die Hyperkonjugative Stabilisierung der negativen Ladung ( = negative Hyperkonjugation):
Ähnlich wie schon bei der Stabilisierung von Alkoxid-Ionen durch die benachbarten Alkylgruppen
wird die Stabilisierung der negativen Ladung am Carbanion über eine Überlappung des freien
Elektronenpaars am C mit dem antibindenden *-MO der übernächsten S-C-Einfachbindung
diskutiert (s.u.). Dabei sollte gleichzeitig diese S-C-Bindung geschwächt werden. Das findet man
auch in Rechnungen. Beim Sauerstoff liegt das *-MO der C-O-Einfachbindung aber viel höher
und kann von daher nicht zur negativen Hyperkonjugation beitragen!
181.3
H
-H
C
H
172.8
187.5 (!)
S
C
CH3
H
H
CH3
H
C
H
S
*
c-s
S
H
C H
H
H
Wie sieht nun der experimentelle Befund aus?
A) Schwefel als Nachbar-Heteroatom: H3C-S-Ph / H2C--S-Ph. Eine Kristallstruktur des Carbanions
zeigt tatsächlich die verkürzte C-S-Bindung bei gleichzeitiger Verlängerung der übernächsten S-CBindung. Außerdem überbrückt das Lithium-Gegenion in keinem der bisher bekannten Fälle die CS-Bindung im Carbanion.
TMEDA
vgl.:
S
Ph
Li
CH2
CH2
Li
S
Ph
CH3
S
176.8 pm (Mittelwerte)
TMEDA
176 pm
179 pm
182.1 pm
39
b) Sauerstoff als Nachbar-Heteroatom: Benzofuran / Benzofuran-1-carbanion. Eine Kristallstruktur
des Carbanions (es macht nichts aus, daß wir hier einen sp2-Kohlenstoff im Carbanion haben,
prinzipiell gelten die gleichen Überlegungen wie bei sp3) zeigt tatsächlich eine deutliche
Verkürzung des C-O-Abstandes im Carbanion. Außerdem verbrückt das Lithium-Gegenion auch im
Dimer noch jede C--O-Bindung und trägt damit zur dringen nötigen Stabilisierung bei.
OiPr2
Br
Li
C
O
vgl.:
O
C
O
Li
147.0 pm
Br
iPr2O
Mittelwert für
Benzofurane 138 pm
Schwefelcarbanionen im Vergleich:
Die Acidität von Thioethern, Sulfoxiden, Sulfonen und Sulfonium-Ionen nimmt in der angegebenen
Reihenfolge zu (siehe pKa-Werte). Das spiegelt sich sehr schön in den berechneten
Deprotonierungsenergien (Gasphase) wieder (s.u.).
Tabelle 24: Vergleich der CH-Aciditäten von Schwefelverbindungen
pKa
Deprotonierungsenergie (kcal/mol)
CH3-S-CH3
45
394
CH3-(S+-O-)-CH3
35
374
CH3-(S2+O22-)-CH3 (CH3)2-S+-CH3
31.3
18.2
366
283
Womit hängt das zusammen? Betrachten wir die Bindungslängen beim Übergang von der CH-Säure
zum Carbanion.
Tabelle 25: Vergleich der Bindungslängen, Bindungsordnungen und Ionizitäten in CH-aciden
Schwefelverbindungen
a) Bindungslängen [pm]
CH3-S (nicht-deprotoniertes Edukt)
CH3-S im Carbanion
CH2--S im Carbanion
CH3-(S+-O-)-CH3
180.5
181.5374
170.3
CH3-(S2+O22-)-CH3
178.2
182.7
166.4
(CH3)2-S+-CH3
179.7
180.7, 184.2
165.7
b) Bindungsordnungen
CH3-S im Carbanion
CH2--S im Carbanion
S-O im Carbanion
CH3-(S+-O-)-CH3
0.98
1.33
1.23
CH3-(S2+O22-)-CH3
0.90
1.29
1.09
(CH3)2-S+-CH3
1.02
1.43
-
40
c) Ionizität [%]
CH3-S im Carbanion
CH2--S im Carbanion
S-O im Carbanion
CH3-(S+-O-)-CH3
6.8
11.5
57.5
CH3-(S2+O22-)-CH3
9.5
18.1
60.4
(CH3)2-S+-CH3
3.9
18.9
-
a) Bindungslängen: In allen Fällen wird die CH2--S-Bindung im Carbanion deutlich kürzer als die
ursprüngliche CH3-S-Bindung im deprotonierten Ausgangsmolekül. Dies deckt sich mit der
oben besprochenen Beobachtung, nach der diese Bindung weit weniger geschwächt wird als die
im O-Fall. Dagegen wird die übernächste CH3-Bindung im Carbanion etwas länger, was der
negativen Hyperkonjugation entspricht (s.o.). Die Reihenfolge der Bindungsverkürzung für die
CH2--S-Bindung im Carbanion entspricht der der Aciditäten. Alle berechneten Bindungslängen
für die schwefelstabilisierten Carbanionen entsprechen ziemlich genau dem Experiment (XRay).
b) Auch die Bindungsordnungen folgen in etwa diesem Trend: Das Ylid hat in seiner CH2--SBindung im Carbanion die höchste Bindungsordnung und auch die kleinste Bindungslänge.
c) Gleichzeitig steigt der ionische Anteil in dieser Bindung zum Ylid an. All das kann man
zusammenfassen: Die Bindungsverkürzung = Bindungsverstärkung der C-S-Bindung im
Carbanion läßt sich im wesentlichen auf elektrostatische Effekte zurückführen; sie beruht
weitgehend auf der Anziehung zwischen negativ geladener CH2--Einheit und positiv
geladenem Schwefelatom. Der hohe Ionencharakter der C-S-Bindung läßt sich auch an der
geringen Bindungsordnung für die S=O-Bindung und deren hoher Ionizität (>50%) zeigen. Wir
kommen gleich darauf zurück.
Tabelle 26: Bader Atomladungen nach ab-initio-Rechnungen MP2/6-311**G(d,p)
a) CH-Säuren:
Bader Atomladungen
S
O-1
O-2
SO (2) total
CH3-(S+-O-)-CH3
+1.30
-1.23
+0.06
CH3-(S2+O22-)-CH3
+2.5
-1.29
-1.29
-0.06
b) Carbanionen:
Bader Atomladungen
CH2S
O-1
O-2
SO (2) total
CH2--(S+-O-)-CH3
-0.64
+1.08
-1.29
-0.21
CH2--(S2+O22-)-CH3
-0.52
+2.37
-1.35
-1.35
-0.33
Tabelle 25a) zeigt noch deutlicher, daß Sulfoxide und Sulfone nicht als hypervalente 10Elektronensysteme am Schwefel aufzufassen sind, sondern im wesentlichen als sehr polare
Zwitterionen. Die Elektronegativitätsdifferenz zwischen S und O reicht aus für eine fast
vollständige Polarisierung: Sulfoxide haben also ungefähr die Ladung +1 am Schwefelatom,
Sulfone sogar +2! Dies ändert sich auch beim Übergang zu den Carbanionen nicht wesentlich
(Tabelle 25b): Die zusätzliche negative Ladung verbleibt größtenteils am Carbanion-C-Atom und
41
entlädt den Schwefel nur in geringem Maß. Das aber bedeutet, daß die Bindungsverkürzung, die in
Sulfoxiden und Sulfonen beim Übergang in ihre Carbanionen auftritt, vor allem auf die
elektrostatische Anziehung der Carbanionenladung durch den positiv geladenen Schwefel
zurückzuführen ist. (Im Gegensatz dazu ist die Elektronegativitätsdifferenz zwischen C und S nicht
sehr groß. Die Bindungsverkürzung in Schwefelyliden muß daher ausnahmsweise doch auf eine
partielle [p,d--Doppelbindung zurückzuführen sein.
Damit haben wir im Detail verstanden, warum -SO2R Substituenten eine benachbarte Ladung nicht
wie die Carbonyl- oder Nitrogruppe über Konjugation stabilisieren, sondern über induktive Effekte:
Die positive Ladung auf dem Schwefel macht die elektrostatische Anziehung zwischen Carbanion
und benachbartem Schwefelkation überlegen über die Mesomeriestabilisierung. Ähnliches gilt für
Nitrilcarbanionen.
Carbenoide
sind eigentlich Verbindungen, die gleichzeitig ein Halogenatom und ein Lithiumatom am gleichen
C-Atom tragen. Sie haben aber direkt mit der Problematik der unterschiedlichen Stabilität von OCH2-Li und S-CH2-Li -Verbindungen zu tun; wir kommen gleich darauf zurück.
HCBr3 + NaOH
Ethen

 NaCBr3
→ CBr2 → 1,1-Dibromcyclopropan
-NaBr
H3CCl + n-BuLi 

Ethen
→
H2CLiCl
CH2
→
Cyclopropan
-LiBr
Alternativ:
Elektrophil E+, z.B. RCHO
H2CLiCl
→
CH3C(OLi)H-CHCl2
aber auch:
Nucleophil Nu-, z.B. n-BuLi
H2CLiCl
→
n-BuCH2-Li + LiCl
Nach der Deprotonierung von Bromoform bzw. Methylchlorid entstehen Carbenoide, die jedoch
leicht durch -Eliminierung in Carbene mit ihren typischen Folgereaktionen übergehen. Alternativ
dazu kann man aber bei tiefen Temperaturen (-70°C) die Carbenoide mit Elektrophilen (Reaktion
als Carbanion) und sogar mit Nucleophilen (als "anionisches" Alkylhalogenid) zur Reaktion
bringen. Im letzten Fall erhält man substituierte Alkyllithium-Verbindungen, die auch präparativ
wertvoll sind. Die treibende Kraft hierzu ist unter anderem die Entstehung von stabilem und
unlöslichem LiCl. Diese Reaktion ist sehr ungewöhnlich: C-Cl-Bindungen lassen sich sonst viel
schwerer spalten. Was ist passiert? vergleichen wir die Carbenoide mit Carbanionen, die Sulfonyl-,
Carbonyl- oder Cyano-Substituenten tragen, so fällt auf, daß es hier keinerlei analoge Reaktionen
gibt. Anders aber bei den Verbindungen, die wir im letzten Kapitel besprochen haben. Zur
Erinnerung: Carbanionen mit benachbarten Ether- oder Thioethersubstituenten zeigen im O-Fall
eine Bindungsaufweitung, dagegen im S-Fall eine Bindungverkürzung gegenüber der CH-Säure:
42
R2C(Li)-SR: Die C-S-Bindung ist im Carbanion verkürzt; man sollte also keine leichte Spaltung
durch Nucleophile erwarten. In Übereinstimmung damit gibt es keinen solchen Fall in der Literatur.
R2C(Li)-OR: Die C-O-Bindung ist aufgeweitet; das deutet daraufhin, daß sie geschwächt ist (vgl.
die Abstoßung der harten Elektronenpaare am Sauerstoff, die aufgrund der kürzeren C-O-Bindung
nahe am Carbanionen-Elektronenpaar liegen).
Tatsächlich beobachteten Ziegler et al. schon 1938 bei der ersten Herstellung der lithiierten Ether
die oben diskutierte Folgeraktion mit einem Nucleophil:
1. PhLi (Base) + Ph-CH2-O-Ph →
Ph-H + Ph-CH(Li)-O-Ph
2. Ph-Li (Nucleophil) + Ph-CH(Li)-O-Ph → Ph2CHLi + PhOLi
3. Ph2CH-Li (Nucleophil) + Ph-CH(Li)-O-Ph → Ph2CH-CH(Li)Ph + PhOLi
Ebenso im aliphatischen Fall:
1. n-BuLi (Base) + CH3-O-CH3 → LiCH2-O-CH3
2. n-BuLi (Nucleophil) + LiCH2-O-CH3 → LiCH2-Bu + LiOCH3
Noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß auch vinylische Ether sich so substituieren lassen:
Normale Vinylether lassen sich auch durch stark nucleophile Metallorganyle nicht substituieren:
Auch aliphatische Ether gehen diese Reaktion nicht ein:
Et-O-CH2-CH3 + NuNa oder NuLi —X→ Nu-CH2-CH3 + C2H5ONa oder C2H5OLi
Erst nach Aktivierung des Ethersauerstoffs durch Protonierung tritt Substitution ein:
Et-O-Et + H-I → Et-O+(-H)-Et → Et-I + EtOH
Ein Carbanion, nämlich ein lithiierter Ether, ist also ein besseres Elektrophil als der
zugrundeliegende neutrale Ether und läßt sich so nucleophil substituieren! Diese erstaunliche
Tatsache wird durch die oben gemachten Beobachtungen verständlich: Die C-O-Bindung ist in OCH2-Li-Verbindungen deutlich geschwächt und aufgeweitet. Noch einmal etwas genauer die
Ergebnisse der MO-Rechnungen (s.o.): Die C-O-Bindungsenergie steigt deutlich an, wenn man das
Anion generiert. Das hatten wir schon gesehen (Diagramm).
43
Genauso wichtig ist aber ein anderer Effekt, den wir bisher noch nicht beachtet haben: Durch die
starke Anhebung des bindenden -MO wird gleichzeitig die Energie des antibindenden *-MO
abgesenkt. Damit kann ein Nucleophil leichter am "carbanionischen" C angreifen, den typischen
trigonal bipyramidalen Übergangszustand der SN2-Reaktion durchlaufen und schließlich die
Ethoxygruppe substituieren. Die doppelte Schwächung der Bindung zum Nucleofug unter
gleichzeitiger Stabilisierung des aufnehmenden antibindenden MO‘s erklärt zwanglos die
erstaunlich hohe Elektrophilie von lithiierten Ethern.
Läßt sich dieses Modell auch auf die klassischen Carbenoide übertragen? Sind also Lithiumether
einfach eine weitere Klasse von Carbenoiden? Eine Kristallstruktur zeigt auch in einem klassischen
Carbenoid eine aufgeweitete C-Cl-Bindung (s.u., 13 pm länger als ohne Lithium), die mit der
verlängerten C-O-Bindung in lithiierten Ethern verglichen werden kann. In diesem speziellen Fall
wird allerdings kein Vinylcarben gebildet, sondern das Molekül weicht durch einen 1,2-Arylshift
aus und bildet Diphenylacetylen:
Betrachten wir das PSE: Fluor ist mit Sauerstoff vergleichbar, denn auch hier findet sich der Effekt, die Abstoßung durch freie Elektronenpaare und die Überbrückung durch das LithiumGegenion. Vor allem ist wichtig, daß keine negative Hyperkonjugation stattfindet. Lithiierte
Fluoralkane sind extrem labile Carbenoide. Das gleiche gilt auch für Chlor, Brom und Iod: Sie alle
bilden typische Carbenoide, weil Ihnen allen die Möglichkeit zur Hyperkonjugation fehlt (warum?).
-----------------------Einfluß der Gegenionen:
Ladungslokalisation – ein destabilisierender Effekt:
Während die Coulomb-Anziehung zwischen Kation und Anion stabilisierend wirkt (vgl. UVSpektren im Fluorenyl-Alkalimetallorganyl oben), ist die dabei erfolgende Lokalisierung der
negativen Ladung im sonst gut delokalisierten Anion destabilisierend. Das zeigt folgende Tabelle:
44
Tabelle 27: Natürliche Ladungen an Atomen in den Molekülen C1H2=C2H-OH, C1H2=C2HOM, C1H2=C2H-O- sowie Reaktionsenergien E [kcal/mol] der Deprotonierung von
Vinylalkohol mit MOH bzw. freiem OH- (nur im Anion Carbanion-Grenzstruktur):
M+OHH (kov.)
Li
Na
K
Rb
Cs
Anion (frei)
d(C1=C2)
131.8 pm
133.2 pm
134.0 pm
134.2 pm
134.3 pm
134.2 pm
137.2 pm
 (C1)
-0.498
-0.571
-0.623
-0.634
-0.642
-0.635
-0.790
d (C2-O)
134.0 pm
129.6 pm
128.6 pm
128.4 pm
128.2 pm
128.4 pm
124.4 pm
 (O)
-0.749
-1.131 (>1!)
-0.103
-1.101
-1.093
-1.097
-0.923
 (M)
0.962
0.988
0.994
0.994
0.988
-
E [kcal/mol]
-0.94
-12.3
-13.2
-13.7
-12.9
-32.8 (delokal.)
Was sagt diese Tabelle?
1. Je mehr Ladung am O festgehalten wird (Li+ > Na+ etc.), desto geringer ist der Carbanion-Anteil
durch Delokalisierung zugunsten des Enolat-Anteils. Ergo: C=C-Abstand wird geringer bei
gleichzeitig wachsendem C-C-Abstand.
2. Gleiches gilt für die Ladung an C1 (Carbanionen-C): bei Ladungslokalisierung am O (Li+ > Na+
etc.) wird der Ladungsanteil an C1 geringer.
3. Ladung am O: natürlich im Anion größer als im Vinylalkohol; in Metallverbindungen aber >1!
Das zeigt die starke Bindungspolarisierung durch das Metallkation, am stärksten beim kleinen
Lithium!
4. Ladung am Metall erreicht fast +1: es handelt sich also um eine ionische Verbindung!
5. Reaktionsenergie mit freiem OH-: am stärksten negativ, weil das freie Anion am stärksten
delokalisiert ist. Je stärker das Kation die negative Ladung am O fixiert, desto geringer die
Stabilisierung des Anions durch Mesomerie ( und zwar deutlich: um 19-24 kcal/mol geringer!).
Die Röntgenstrukturanalyse von Lithium-3,3-dimethyl-1-buten-2-olat zeigt dies:
134 pm
135 pm
THF
CH3
H3C C
IO-Li
O
C
O
CH2
CH3
vgl.:
CH3
C CH3
H2C
CH3
THF
132 pm
136 pm
H2C
R
RO
Enolether
O
THF
O
THF
Durch die starke Ladungslokalisierung am Enolat-O durch das kleine Lithium ist auch im
Lithiumenolat-Aggregat praktisch nur die Enolat-Grenzstruktur zu finden. Der C=C-Abstand und
der C-O-Abstand stimmen in diesem Fall sogar praktisch vollkommen mit dem in den fixierten
Enolethern überein!
Rotationsbarrieren in Metallorganylen
Einen weiteren starken Hinweis auf den starken Gegenionen-Einfluß erhalten wir von Messungen
H
H
H
H
a
H
=
E rot
Hi
H
i
H
M
 - Komplex
 - Komplex
a
H
M
H
45
der Rotationsbarrieren. Die Alkalimetallsalze des Allyl-Anions sind die Prototypen -gebundener
polarer Organometallspezies. Diese Struktur steht jedoch im Gleichgewicht mit der -gebundenen
Spezies. Beide gehen durch die Rotation um die C-C-Bindung im Allylanion ineinander über. Dabei
ist der produktähnliche Übergangszustand durch eine Vinylmethyllithium-Struktur gekennzeichnet
(orthogonal!) mit -gebundenem Metall, von dort erfolgt schnell der Übergang in die -gebunden
Spezies.
Die Energiebarriere für diesen Übergang ist stark vom Metall abhängig: Lithium als Gegenion
macht die Umhybridisierung am leichtesten, Cäsium am schwersten:
Energiebarriere
Erot [kcal/mol]
Eber [kcal/mol]
Li
10.7
13.0
Na
11.5
13.4
K
16.7
17.4
Rb
18.1
19.0
Cs
18.0
21.8
freies Anion
21.7
Ähnliches gilt auch für Inversionsbarrieren:
Im Methylanion ist die berechnete Inversionsbarriere verschwindend klein (EA < 2 kcal/mol). Das
bedeutet also, daß die beiden Elektronen beliebig zwischen p-Orbital und sp3-Hybrid wechseln
können! Ganz anders im Methyllithium: Hier ist die Inversionsbarriere im Tetramer 14.3 kcal/mol,
im Monomer sogar 28.0 kcal/mol!
H
Li
C
H
CH3
CH3
Li
CH3
< 2 kcal/mol
H
CH3
28 kcal/mol
Li
Welche Konformation hat das metallierte Methylanion dann? Der Wechsel vom p- zum sp3Hybridatomorbital bringt im freien Methylanion eine Symmetrieänderung zu C3v und einen
natürlichen Elektron-C-H-Winkel von 109.5° mit sich. In Metallcarbanionen sieht es anders aus:
Na
Li
H
C
90o
H
H
C
H
H
H
109.5o
C3 Achse C H- Winkel
sp3
sp2
H
C
Rb
Cs
H
H
112.3o
Metall
K
111.0 112.4 112.4 112.8
C H- Winkel
46
freies Carbanion Li
Na
K
Rb
Cs
109.5°
112.3° 111.0° 112.4° 112.4° 112.8°
Der stärker aufgeweitete Bindungswinkel verstärkt unter anderem die Polarisierung des Anions.
Damit ist ganz klar, daß die Gegenionen M+ einen ganz erheblichen Einfluß auf die Struktur in
Alkalimetallsalzen haben – und nicht nur die Alkalimetallionen.
Herstellung von Organometall-Verbindungen
1. Direktsynthese
Allgemein: R-Hal + 2 Li (Mg)
R-Li + Li-Hal
Geht diese Reaktion stereospezifisch?
Ph
*
CH3
Ph
Weg A
Ph
Ph
Br
Weg B
Li (1%Na)
Ether
THF
B
Li
CO2
CO2
*
Ph
A
CH3
CH3
Ph
n-BuLi
*
Li
*
Ph
Ph
COOH
CH3
A: 100% Retention
B: 73% Retention
Bei der Reaktion mit BuLi stellen wir fest:
1. Die Gesamtreaktion verläuft unter Retention der Konfiguration am Stereozentrum.
2. Cyclopropyllithiumverbindungen sind konformativ stabil.
3. Auch die Abfangreaktion mit CO2 verläuft unter Retention. Prinzipiell könnte hier natürlich
auch eine doppelte Inversion vorliegen. Genaueres zum Mechanismus in Kapitel b).
Mechanismus der Reaktion mit Li:
C
e
1.ET
Br
ins*
C
Br I Li
+
Li Li Li Li
Li Li Li Li Li
- LiBr
2.ET
C
Li
Li Li Li Li
C
Li Li Li Li
47
Der erste Elektronentransfer geschieht aus dem Lithium-Metall in das antibindende s*-Orbital der
C-Br-Bindung. Gleichzeitig löst sich die Bindung zwischen C und Br und liefert das
Radikalintermediat. Wenn dieses nicht so fest gebunden wird am Lithium, so kann es leicht
invertieren (siehe 73% ee - teilweise Racemisierung). Ein zweiter ET generiert das
konfigurationsstabile Carbanion, welches in die Lösung abwandert.
Ganz analog formuliert man die Grignard-Herstellung: Hier findet man ebenfalls teilweise
Racemisierung, je nachdem, wie stark das Radikal bzw. das Carbanion stabilisiert sind:
Tab. 28: Racemisierung von optisch reinen Alkylhalogeniden bei der Grignard-Herstellung:
H
1.
C6H5
C* Br
1. Benzylbromid
2. Cyclopropylbromid
3. Cyclohexylidenbromid
CH3
Br
*
2. Ph
CH3
sp3
sp2.28
sp2
0% ee
18% ee
42% ee
Ph
3.
H3C
*
H
Br
Hier fällt auf, daß das mesomeriestabilisierte Benzylradikal bzw. -anion zu vollständiger
Racemisierung führt. Die nichtstabilisierten Cyclopropyl- und Cyclohexylidenradikale racemisieren
nur teilweise.
Darstellung von Allyl- und Benzyllithium-Verbindungen: Das gelingt nicht über den HalogenMetallaustausch von Allyl- bzw. Benzylhalogeniden, denn das gebildete Allyllithium würde sofort
das restliche Allylbromid angreifen (sehr reaktive Allyl- und Benzylhalogenide durch
Mesomeriestabilisierung des SN2-Übergangszustands!) Man weicht auf die entsprechenden Allylund Benzylether aus, die kaum elektophil sind. Mechanismus identisch wie bei Alkylhalogeniden.
Kann man auch Lithiomethylamine herstellen? Das wären sehr wertvolle nucleophile CNBausteine. Stößt nicht die negative Ladung am -Kohlenstoff das freie Elektronenpaar am Amin zu
sehr ab? Ja, aber die C-N-Bindung kann sich drehen, so daß im Prinzip eine orthogonale Anordnung
möglich ist (s.u.).
H
R
N
R
C
H
Problem: Hier wären die entsprechenden Chlormethylamine noch instabilere Vorstufen, die sofort
Chlorid eliminieren und Iminiumsalze bilden (s.u.). Außerdem gelingt neben einem Amin ohne
stark elektronenziehende Gruppen keine Deprotonierung. Trick (Strohmann, 1996): Auch hier
wieder eine nichtelektrophile etherische Vorstufe verwenden, die anschließend reduktiv gespalten
48
wird. Die Vorstufe gewinnt man durch eine Mannich-analoge Reaktion aus Thiophenol,
Formaldehyd und sekundärem Amin. Anschließende reduktive Umsetzung mit Lithiumnaphthalid
erzeugt in einme zweistufigen ET-Prozeß das völlig nichtstabilisierte Lithiomethylamin.
Äußere Bedingungen bei der Herstellung von Lithiumorganylen:
1. Wahl des Lösungsmittels: Zur koordinativen Absättigung der Alkalimetallkationen dienen im
allgemeinen etherische Solventien (Diethylether und THF). Achtung: bei T > 0°C wird THF
nicht
nur schnell lithiiert, sondern fragmentiert auch im Sinne einer 1,3-dipolaren
Cycloreversion. Bei höheren Temperaturen > 0°C können Ether nicht nur , sondern auch deprotoniert werden.Das ganze geht in Hexan viel langsamer.
RLi
BuLi
H
Li
+
C H
O
O
H
H
O
Li
2. Starter: Zur Erzeugung einer sauberen Magnesiumoberfläche ätzt man die Oberfläche des Mg
mit I2 oder Dibromethan an:
I2 + Mgn
MgI2 + sauberes Mgn-1
Br-CH2-CH2-Br + Mgn
Br-CH2-CH2-Mg-Br + Mgn-1
Mechanismus:
Br
Br
MgBr
Br
H2C=CH2 + MgBr2 + Mgn-1
+ MgBr2
3. Rigider Feuchtigkeitsausschluß: Ether kann leicht über Na, K, oder Na/K-Legierung getrocknet
werden; er enthält nur wenig Wasser. THF dagegen löst viel Wasser (hygroskopisch). Seine
Trocknung ist viel aufwendiger: Erst trocknet man über KOH, dann destilliert man ab oder säult
über Aluminiumoxid, schließlich wird über Na oder K getrocknet, wobei als Indikator gut
Benzophenon oder Triphenylmethan eingesetzt werden können Blaues Ketylradikal oder rotes
Triphylmethylcarbanion).
49
2. Halogen (Metalloid)-Lithium-Austausch
Diese Reaktionen sind ungewöhnlich schnell, viel schneller als die oft kinetisch gehemmte
Deprotonierung! Ein Alkylhalogenid wird mit einer Alkyllithium-Verbindung umgesetzt und
tauscht sein Halogenatom gegen Lithium ein. Im unteren Beispiel wirkt LDA tatsächlich als Base
und generiert so bei tiefen Temperaturen ein Carbenoid. BuLi dagegen macht sofort einen
Halkogen-Lihium-Austausch (hier zufällig auch ein Carbenoid).
Li
R
LDA
langsam
Br
C
n-BuLi
H
R
schnell
Br
C
Br
H
R
Br
C
Li
Br
Carbenoid
Li N
Selbst bei relativ aciden Aromatenprotonen neben elektronenziehenden Gruppen gewinnt der
Halogen-Metallaustausch. So greift z.B. n-BuLi im unteren Beispiel selektiv das Halogen an, ohne
an das Nitril zu addieren.
H
N
H
N
C
Br
H
H
C
n-BuLi
THF/Hexan
-100oC
Li
+ BuBr
H
CO2
H+
H
N
C
CO2H
n-BuLi
n-Bu
n-Bu
C
Br
C
H2O
LiN
O
Problem: Es entsteht immer ein weiteres Elektrophil, nämlich das übrigbleibende Alkylhalogenid.
Lösung: Man nehme tert-BuLi, dann entsteht zwar auch t-Butylbromid, aus diesem eliminiert
überschüssige Base jedoch Isobuten und geht dabei in das ebenfalls unreaktive Isobutan über.
N
N
C
Br
C
Li
(CH3)3C-Li
Ether, - 90o
THF
+ (CH3)3C-Br
LiBr +
CH2
+
C
CH3
(CH3)3CLi
CH3
CH3
H3C
C
H
CH3
Diese Reaktionen sind alle Gleichgewichtsreaktionen. Je nachdem, welches Carbanion stabiler ist,
liegt das Gleichgewicht auf der Seite der Edukte oder der Produkte. Hier spiegelt sich natürlich die
Anionenstabilisierung durch I- und M-Effekte wieder, die ja auch die CH-Acidität festlegt:
50
Bsp. 1: n-BuLi + Cyclopropylbromid
n-BuBr + Cyclopropyllithium
Br
n-BuLi
Li
n-Bu-Br +
+
Bsp. 2: n-BuLi + Phenylbromid
n-BuBr + Phenyllithium
Br
n-BuLi
Li
+
n-Bu-Br +
Beide Gleichgewichte liegen stark auf der Produktseite. Nicht gut ist die Reaktion mit ähnlich
aciden Resten:
Bsp. 3: n-BuLi + n-Prop-Br
n-BuBr + n-Prop-Li
Interessant ist, daß diese Reaktion nicht nur mit Halogeniden funktioniert, sondern auch mit anderen
Abgangsgruppen Die Halogenide sind natürlich von oben nach unten bessere Abgangsgruppen (Fschlecht, Cl-etwas besser, Br, I-sehr gut). Andere Abgangsgruppen für den HalogenMetallaustausch: BR2, SiR3, SnR3, PR2, AsR2, SbR2, BiR2, SeR, TeR, HgR. Dabei haben I, Sn, Se
ud Te eine besondere Bedeutung, weil nämlich dort der Halogen-Metallaustausch am schnellsten
und bei sehr tiefen Temperaturen geht. Beispiel:
a)
S
S
SnMe3
(CH2)3
n-BuLi, - 100oC
O
CH
CH2
S
wenige Minuten
S
Li
O
(CH2)3
CH
CH2
Mit H statt dem Stannylrest hätte diese Reaktion Stunden bei -20°C gedauert! Dabei hätte aber das
Epoxid nicht überlebt.
b)
SnR3
R C
H
OR
Li
n-BuLi
-100oC
R C
H
OR
Hier findet man wieder, daß der Sn-Li-Austausch (=Metalloid-Li-Austausch) unter vollständiger
Retention abläuft. Die Unmöglichkeit, den "Halogen"-Metallaustausch mit -F, -OR oder -NR2Gruppen herbeizuführen, macht einen Mechanismus über At-Komplexe wahrscheinlich, für den es
zahlreiche experimentelle Hinweise gbt:
F5
F5
_
_I
+ Li
F5
F5
_ _
_
Li
O
P
(NMe2)3
51
Hier greift das Lithiumorganyl nucleophil am Halogenatom an. Die dabei gebildete Zwischenstufe
hat 10 Elektronen am Iod und ist damit hypervalent (d-Orbitalbeteiligung). Das Lithiumkation als
Gegenion zum At-Komplex kann seinerseits durch Komplexierung mit HMPA stabilisiert werden.
So ist tatsächlich ein Kristallstruktur erhalten worden, die unserer Lewisstruktur entspricht. Solch
eine hypervalente Halogenspezies läßt sich im Falle des Chlor oder erst recht des Fluoratoms
natürlich kaum oder gar nicht realisieren. Ferner geht es bei: O schlechter als bei den höheren
Gruppenelementen S, Se, Te. Genauso geht es bei N schlechter als bei P, As, Sb.
F
F
_ _
_
F
F
F
F
F
F
F
Li
F
Kristallstruktur
Rechnungen von einfachen hypervalenten aliphatischen At-Komplexen belegen die erstaunlich hohe
Stabilität von Sn-, Hg-, I-, und Te-At-Komplexen, wie auch die geringe Stabilität der
entsprechenden At-Komplexe mit Cl- bzw. F-Zentralatom:
CH3- + X(CH3)y
X(CH3)y+1-
Tabelle 29: Stabilität von At-Komplexen im Vergleich zu den Ausgangverbindungen
Element
Sn
Hg
I
Te
At-Stabilität [kcal/mol]
-33.7
-31.4
-24.9
-23.5
Element
Br
Se
Cl
F
At-Stabilität [kcal/mol]
-12.6
-7.6
+0.8
+31.6
Von den ersten vier Elementen sind At-Komplexe nachgewiesen worden, von den nächsten beiden
nicht (Br, Se). Chlor und Fluor bilden keine At-Komplexe.
3. Deprotonierungen (Metallierungen):
Die Deprotonierung von CH-Säuren läßt sich dann für die Synthese von
Organolithiumverbindungen nutzen, wenn aktivierte, unempfindliche CH-acide Edukte vorliegen.
Einige Beispiele:
Diethylether
1. R-C≡C-H + n-BuLi
R-C≡C-Li
2.
Dithianmethode von Corey-Seebach (S stabilisiert negative Ladungen (s.o.)
aber: Lithiiertes THF macht eine Fragmentierung (s.o.)!
aber: Dialkylethermachen - und -Deprotonierungen mit Folgereaktionen!
52
3.
Ferrocen ist unempfindlich gegenüber BuLi; präparativ wertvoll.
R-CH--S2+(O-)(R)-O-Li+
4. R-CH2-SO2R + n-BuLi
Sulfone, Sulfoxide und Sulfoximine lassen sich mit starken Basen deprotonieren. Sulfoxide und
Sulfoximine sind zentrochiral am S; sie können daher für asymmetrische Synthesen eingesetzt
werden. Nicht so günstig, weil zu reaktiv, sind Carbonyle, Nitrile und Nitroverbindungen.


a)
In ganz besonderen Fällen wird eine Superbase benötigt. Hier bietet sich die LochmannSchlosser-Base an. Eine Mischung aus n-BuLi und KOt-Bu ist viel basischer als die
Einzelkomponenten. Was genau vorliegt, ist bis heute nicht bekannt. Normalerweise bilden
beide Basen in Ether Tetramere: [n-BuLi]4 und [KOt-Bu]4. Wahrscheinlich liegt ein gemischtes
Aggregat vor, in dem Lithium näher am O und Kalium näher am C sitzt. Auf keinen Fall bildet
sich jedoch freies n-BuK! Dieses müßte sofort mit dem Lösungsmittel reagieren.
Präparative Anwendungen der Lochmann-Schlosser-Base:
Ph
Ph
Ph
Ph
H
n-BuLi
KOt-Bu
2K
H
Ph
Ph
Ph
Ph
Doppelte Deprotonierung führt zum aromatischen Cyclobuten-Dianion (6-Elektronen)
b)
K
H
C C H
n-BuLi
KOt-Bu
C C K
Doppelte Deprotonierung führt bevorzugt zum orto-metallierten Dikaliumprodukt. Diese Phänomen
deutet auf eine gerichtete Lithiierung hin, die bei Anwesenheit von chelatfähigen Substituenten in oStellung ganz allgemein möglich ist.
----------------------Stereochemie von Carbanionen-Reaktionen (evtl. weglassen)
Tabelle xy. Austausch / Racemisierungs-Verhältnisse in Cyanoverbindungen.
Cyano-CH-Säure
Ph2HC-CH(CH3)C≡N
Cyanocyclopropan 1
Cyclohexylidennitril 2
Benzoylcyclopropan 3
kA / krac
1.87
913
140
1.0
% Retention der Konfiguration
47
99.9
99.3
0
53
54
PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG
FACHBEREICH CHEMIE
___________________________________________________________________________________________________________________________________________________
Organische Chemie I für
fortgeschrittenen Studierende
der Chemie – reaktive
Zwischenstufen
Prof. Dr. Thomas Schrader
Fachbereich Chemie
Hans-Meerwein-Straße
35032 Marburg
Tel.: 06421 / 28-25544
Fax: 06421 / 28-28917
e-mail: [email protected]
___________________________________________________________________________________________________________________________________________________
Teil II: Radikale
1. Inhaltsverzeichnis und Literatur
a) Inhalt Radikale
Radikale sind im allgemeinen nicht polare, hochreaktive Zwischenstufen. Neben ihrer Herstellung
und ihren nukleophilen bzw. elektrophilen Eigenschaften stehen vor allem neuere Anwendungen in
der Synthese im Vordergrund der Vorlesung. Während diese Verbindungen bis vor kurzem nur als
extrem reaktive und daher meist sehr unselektive Reagenzien galten, spielen sie inzwischen in der
stereoselektiven Synthese eine bedeutsame Rolle.
b) Literatur Radikale
1.
2.
3.
5.
6.
Wentrup, C. Reaktive Zwischenstufen, Thieme, Stuttgart, 1979
Wentrup, C. Reactive Molecules: The Neutral Reactive Intermediates in Organic Chemistry,
Wiley, New York, 1984
Giese, B. et al. Stereochemistry of radical reactions: concepts, guidelines, and synthetic
applications, VCH Weinheim, 1996
Nicolaou, K. C. et al. Chemie und Biologie von Endiin-Cytostatica/Antibiotica, Angew. Chem.
1991, 103, 1453
Giese, B. et al. Studies on the Mechanism of Ribonucleotide Reductases, J. Am. Chem. Soc.
1997, 119, 2784
2. Herstellung und Eigenschaften von Radikalen
Wir kommen jetzt zur zweiten großen Klasse der reaktiven Zwischenstufen. Wenn wir dem
Carbanion ein Elektron wegnehemen, so erhalten wir ein Radikal. Zuerst besprechen wir einige
Darstellungsmethoden, dann diskutieren wir die Faktoren, die zur Stabilität der Radikale beitragen.
55
Herstellung von Radikalen:
1. Redoxreaktionen:
Carbanionen können wie gesagt als Elektron-Transfer-Reagentien wirken: So kann man z.B. durch
Grignardverbindungen Nitroaromaten zu aromatischen Aminen reduzieren. Auch das geht:
a)
b)
R-Li+ + O2
R. + O2.- Li+
R-Li + ROOLi
2 ROLi
ROOLi (mit Li-Brücke!)
FeIII + HO- + .OH
Fenton's Reagenz: FeII + HO-OH
Diese Reaktion erinnert etwas an die Umsetzung von Li mit RHal bzw. R-OR = Direktsynthese.
2. Aus anderen Radikalen:
HO. + C3H6O3
H
H2O + C6H5O3.
HO +
O
O
H2O +
O
O
O
O
Hier abstrahiert das sehr reakrive Hydroxylradikal leicht ein Elektron zwischen den AcetalSauerstoffen.
3. Homolyse:
A-B
A. + .B
Diese Reaktion werden wir gleich näher kennenlernen.
Stabile Radikale
sind z.B. NO, NO2, 3O2, und 3Carbene. Strukturen:
Stabil ist auch das DPPH-Radikal, welches als Standard für die ESR Spektroskopie dient: Das
Diphenylpicrylhydrazyl besteht aus einem N-Radikal, flankiert von einem Elektronendonor und
einem Elektronenakzeptor. Ebenso Nitroxide, aber sie haben nur den Donorsubstituenten.
NO2
NO2
Ph
R
Ph
R
N N
DPPH
N O
NO2
Beide Nachbargruppen (Donor uns Akzeptor) stabilisieren das Radikal. Die Wechselwirkung des
Donor-HOMO mit dem Radikal-p-Atomorbital bewirkt, daß das doppelt besetzte Donor-MO weiter
56
nach unten abgesenkt wird als das Radikal angehoben wird. Ähnlich stabilisieren die +MSubstituenten Allyl- und Benzyl-.
a
E
b
E
HOMO
P
LUMO
Akzeptor
Donor
Stabile Radikale durch Donor und Akzeptor neben dem Radikal-C-Atom. Man nennt diesen Effekt
auch push-pull-System oder captodativer Effekt (Viehe). Besonders leicht bildet sich z.B. dieses
Radikal:
O
O
N
H
H =
27 kcal
H
N
O
O
O
O
2
N
H
Nur 27 kcal/mol sind nötig für die Homolyse. Im allgemeinen braucht man für eine nicht-aktivierte
C-C-Bindung ~80 kcal/mol. Die meisten Radikale sind aber nicht thermodynamisch stabil, sondern
höchstens persistent, d.h. kinetisch stabil unter den Untersuchungsbedingungen. Bsp.: Das
Methylradikal ist im interstellaren Raum persistent, weil ihm einfach ein Reaktionspartner fehlt.
Die Energiebarriere liegt hier bei 88 kcal/mol. Die Rückreaktion ist fast so schnell wie eine
bimoplekulare Reaktion überhaupt sein kann: krück = 1010 lmol-1s-1. Die schnellste bekannte
Reaktion verläuft nach der Stoßtheorie mit k = 1011 lmol-1s-1.
Einige Reaktionsgeschwindigkeiten für die Radikaldimerisierung:
Methyl. :
k = 2.4 ± 0.6 . 1010 lmol-1s-1
Ethyl.:
k = 7.8 ± 1.8 . 109 lmol-1s-1
Isopropyl. :
k = 5.0 ± 1.2 . 109 lmol-1s-1
t-Butyl. :
k = 2.4 ± 0.6 . 109 lmol-1s-1
Es fällt auf, daß sterisch anspruchsvolle Radikale langsamer dimerisieren.
Dennoch kann man in vielen Fällen durch die Dimerisierungsgeschwindigkeit auf die Stabilität von
Radikalen schließen. Das gilt streng natürlich nur, wenn die Radikale praktisch ohne eine
Aktivierungsenergie rekombinieren. Dann ist nämlich die Hinreaktion, also die Dissoziation, durch
eine Aktivierungsenthalpie gekennzeichnet, die gleich der Reaktionsenthalpie, in unserem Fall also
der Dissoziationsenthalpie ist. D.h., die Thermodynamik (Hr) ist entspricht der Kinetik (H≠).
57
A. + B.
A-B
Hr
= Hf (A.) + Hf (B.) - Hf (AB) / Standard-Bildungsenthalpien (Thermodynamik)
= H≠ (AB) / Dissoziations-Aktivierungsenthalpie (Kinetik)
In der ersten Kurve (Dimerisierung ohne Aktivierungsenthalpie) führt also jeder Stoß zur Reaktion:
die Reaktionsgeschwindigkeitist also diffusionskontrolliert. Wir können damit aus Bindungsstärken
Bruchwahrscheinlichkeiten ausrechnen und umgekehrt. Wenn wir CH-Bindungen spalten, können
wir also über die thermodynamische Stabilität eines Radikals Aussagen machen.
Dies alles gilt nicht, wenn schon im Grundzustand des Dimers eine größere sterische Hinderung
vorliegt. 2 Beispiele:
a)
b)
In beiden Fällen liegt die Dissoziationsenergie deutlich unter 80 kcal/mol; in diesem Fall herrscht
eine starke van-der-Waals-Abstoßung zwischen den Methylgruppen. Das führt zu einer Verlängerug
der C-C-Bindung und damit zu einer leichteren Spaltung. Dies sagt aber nichts aus über die
Stabilität bzw. Reaktivität des Radikals. Die zweite Kurve zeigt diesen Fall, nämlich den, daß die
Dimerisierung kinetisch und thermodynamisch ungünstiger wird: Durch sterische Hinderung wird
die Aktivierungsenergie-Barriere bei der Dimerisierung größer und auch die gebildete C-C-Bindung
länger und damit das Endprodukt thermodynamisch instabiler.
Persistent heißt in diesem Zusammenhang also nicht, daß ein Radikal thermodynamisch stabil ist,
sondern lediglich, daß es kinetisch stabil ist, weil es nur sehr langam abreagiert. So ist also das
Methylradikal im Weltraum persistent, weil ihm ein Reaktionspartner fehlt.
Welche thermodynamisch stabilen Radikale wurden zuerst entdeckt? Schon um 1900 synthetisierte
Gomberg das Triphenylmethylradikal:
Ph3C.
Ph3C-Br + Ag
Dimer
Ph
2
H
C
C
Ph
CPh3
58
Das Radikal dimerisiert beim Eindampfen der Lösung aber nur langsam, und nicht zu dem
erwarteten Ph3C-CPh3 (bis heute unbekannt), sondern zu einem sterisch günstigeren chinoiden
Derivat, in dem ein Aromat zerstört worden ist. Deshalb ist es auch 20 kcal/mol instabiler als das
Triphenylmethylradikal. ESR-Spektroskopie und Rechnungen zeigen, daß das Radikalelektron über
alle 3 Aromaten delokalisiert ist. Trotz der sterischen Hinderung, die eine Resonanz erschwert, ist
das o-Methylsubsituierte Derivat noch persisitenter, denn die sterische Hinderung erschwert auch
die Annäherung für eine Dimerisierung. Dieser Effekt ist also meist der ausschlaggebende. Zum
vergleich: Das Benzylradikal ist etwa 12 kcal/mol stabiler als das Methylradikal.
CH3
CH3
C
CH3
Ist das Triphenylmethylradikal also unreaktiv? Keineswegs, wie die schnellen Reaktionen mit
kleineren Radikalen zeigen: Mit Sauerstoff bildet sich Ph3C-O-O-CPh3. Diese Reaktion mit
Sauerstoff hat eine in vivo-Bedeutung (später mehr). Auch mit anderen sehr stabilen Radikalen wie
z. B. NO, und NO2 geht das Triphenylmethylradikal schnelle Reaktionen ein und bildet stabile
Produkte ohne ungepaarte Elektronen. Auch relativ stabile Radikale sind also sehr reaktiv. Die
persistenten Radikale O2, NO und NO2 werden deshalb auch Radikalfänger oder "radical traps"
genannt. NO und NO2 führen dabei zu Nitroso- bzw. Nitro-Verbindungen. Manchmal ist sogar ein
Diradikal stabiler als die Verbindung mit gepaarten Elektronen, wenn z. B. im Diradikal
aromatische Ringe gebildet werden, wie im nachfolgenden Beispiel des TschitschibabinKohlenwasserstoffs:
Ph
Ph
C
C
Ph
Ph
Ph
Ph
C
C
Ph
Ph
Es entsteht zunächst ein Singulett-Diradikal, welches thermisch ins Triplett angeregt werden kann.
Dieses kann z.B. dem Lösungsmittel H-Radikale entreißen und so ins Monoradikal übergehen:
Wieviel Stabilisierungsenergie bekommt denn ein Alkylradikal, wenn mesomeriefähige Gruppen in
der Nachbarschaft stehen? Einige Resonanzenergien von Radikalen, verglichen mit denen von
Carbeniumionen:
Resonanzstabilisierungs-Energien (kcal/mol)
12.5
9.6
+
+
(25)
(21)
59
13.1
Wir ziehen folgende Schlüsse:
1. Eine positive (oder negative) Ladung will mehr delokalisiert sein als ein Radikalelektron.
Warum sind dann eigentlich Carbenium- und Carbanionen persistenter als Radikale? Ganz
einfach, weil bei ihrer Dimerisierung ein Dikation oder Dianion entstehen müßte. Bei Radikalen
dagegen entsteht etwas sehr Stabiles, nämlich eine kovalente Bindung. Insgesamt halten wir
fest, daß zum verständnis der Radikalchemie die Beachtung der Kinetik ganz wichtig ist!
Nachweis von Radikalen:
Eine der besten Methoden ist die Elektronenspinresonanz-Spektroskopie (ESR; auch EPR =
Elektron-Paramagnetic Resonance). Die funktioniert ähnlich wie die NMR-Spektroskopie: Wir
bringen die einsamen Elektronen in ein äußeres Magnetfeld, und ihre Spins spalten sich auf in eine
parallele und eine antiparallele Ausrichtung (Zeeman-Effekt). Die Aufspaltung ist proportional zur
Magnetfeldstärke H0, genauer:
E = g
.
B
.
H
mit g = Proportionalitätsfaktor; B = Bohr'sches Magneton; H = Magnetfeldstärke
Da ein Elektron einen Spin von 1/2 besitzt, bekommen wir also 2 Energieniveaus mit ms = +1/2 und
ms = -1/2. Im Sinne einer Boltzmann-Verteilung werden bei einer durchschnittlichen
Energiedifferenz von ~ 1cal/mol die beiden Zustände im Verhältnis 1:1000 populiert. Dabei
erhalten wir durch ein Radikalelektron eine Spinmultiplizität von allgemein (2S+1) = 2 . 1/2 + 1 =
2, also ein Dublett. Bei zwei ungepaarten Elektronen bekommen wir eine Spinmultiplizität von 2 . 1
+ 1 = 3, also ein Triplett. Diamagnetische Verbindungen ohne ungepaarte Elektronen haben eine
Spinmultiplizität von 2 . 0 + 1 = 1. Sie ergeben naturgemäß kein ESR-Spektrum. Wie im NMR
können ungepaarte Elektronen mit benachbarten Protonen oder 13C-Atomen koppeln. Es gelten die
gleichen Regeln wie im NMR: Ein Proton führt also durch Kopplung mit dem ungepaarten Elektron
zu einem Dublett ect. Dabei ermittelt man eine hyperfeine Kopplungskonstante, die abhängig von
der Kernkonstante und der Elektronen-Spindichte an diesem Kern ist:
Ni = QNi . i
mit QNi Kernkonstante und i = Elektronen-Spindichte an diesem Kern
60
Struktur: Mit Hilfe von ESR-Koplungskonstanten wurde ermittelt, daß Alkylradikale schnell vom
einen sp3 über sp2 zum anderen sp3-Zustand invertieren. Bevorzugt sind sie allerdings gebogen und
eclipsed, um einen maximale Überlappung mit den benachbarten -Molekülorbitalen zu erreichen:
Spin-Trapping: Durch schnelle Abfangreaktionen zu persistenten Radikalen kann man
Alkylradikale chemisch nachweisen. Dies gelingt besonders gut mit Nitrosoverbindungen, weil sich
dabei die relativ stabilen Nitroxide bilden:
Diese Abfangreaktion verläuft kinetisch sehr schnell über eine geringe Aktivierungsenergie: k2 =
106 - 108 l mol-1 s-1. EA = 1-5 kcal mol-1.
Ein weiteres Beispiel benutzt ein Nitron zum Abfangen des t-Butylperoxy-Radikals :
Zum Schluß noch das Beispiel der Diacylperoxide, die mit demselben Nitron abgefangen werden
können:
Geometrie und Reaktionsgeschwindigkeit der Radikalbildung:
Ein Vergleich dreier Zerfallsreaktionen enthüllt viele Einzelheiten über Radikalbildung. Hier
vergleichen wir den radikalischen Zerfall von Peroxyestern, Dialkylazoverbindungen und als als
Gegenpart den Ionenzerfall von Alkylhalogeniden. Thermische Belastung führt bei der
Radikalspaltung letztlich zu 3 Zerfallsprodukten: Radikal 1, Gas und Radikal 2. Die Tabelle gibt
Aufschluß über die relativen Reaktionsgeschwindigkeiten:
Tabelle 1: Relative Reaktionsgeschwindigkeiten beim thermischen Zerfall von Peroxyestern,
Dialkylazoverbindungen und Alkylhalogeniden.
Reaktive ZS
t-Butyl-
Adamantyl-
Bicyclo[2.2.2]octyl- Norbornyl61
Peroxyester
1
1.48
10-1
10-3
Azo-Verbindung
1
4 x 10-4
5 x 10-5
5 x 10-6
Alkylhalogenid
1
10-3
10-6
10-14
Erklärung: Erstens fällt auf, daß Peroxyester wesentlich schneller zerfallen als Azoverbindungen.
Das liegt daran, daß die O-O-Bindung nur wenig Aktivierungsenergie zur Homolyse braucht, un die
=N-C-Bindung viel. Darüberhinaus sind die Reaktionen unterschiedlich exotherm (Peroxyester
stärker!). Das kommt in dem einfachen Energieschema zum Ausdruck:
Zweitens fällt auf, daß die unterschiedlich stabilen Zwischenstufen von oben nach unten immer
deutlicher unterschieden werden. Bedeutet dies, daß der Übergangszustand der entsprechenden
Zerfälle von oben nach unten zunehmend produktähnlich wird? Damit wäre aber in den
Peroxyestern relativ wenig Radikalcharakter im ÜZ, im Gegensatz zu den Diazo-Verbindungen, wo
recht viel Radikalcharakter im ÜZ vorliegt. Schauen wir uns die Klassen genauer an:
1. Peroxy-Verbindungen: Es erhebt sich die Frage, ob alle Bindungen gleichzeitig gebrochen
werden (konzertiert) oder nicht. Im konzertierten Fall könnte die Stabilisierung des
entsteheneden Alkylradikals mit in die RG eingehen; beim zweistufigen Fall sollte die RG
davon unabhängig sein. Als Faustregel gilt hier: Aktivierungsenergien von über 35 kcal/mol
deuten auf nicht-konzertierte Reaktionen hin.
Bsp.:
Die beiden Edukte
(Radikalbeteiligung).
unterscheiden
sich
nur
im
letztlich
entstehenden
Alkylradikal
Bsp.:
Die O-O-Bindungsspaltung ist strukturunabhängig.
Bsp.:
Die beiden Strukturen unterscheiden sich nur im letztlich entstehenden Alkylradikal
(Radikalbeteiligung).
Bsp.:
62
Auch hier ist eine deutlich schnellere Reaktion zu sehen. Allgemeine Bedeutung: Warum bilden
Ether so leicht Peroxide? Weil dabei ein mesomeriestabilisiertes Ether-Radikal durchlaufen wird!
Zusammenfassung: Wenn ein stark induktiv oder mesomeriestabilisiertes Radikal entstehen kann,
so werden die Reaktionen schneller und konzertierter, sonst nicht.
Bildungswärmen:
Vergleichen wir jetzt die Bildungswärmen der "one bond homolysis" und der "two bond
homolysis". Beim Methylsubstituenten haben wir eine Aktivierungsenergie von 38 kcal, eine
Reaktionsenthalpie von +37 kcal beim einfachen Bindungsbruch und von 27 kcal beim zweifachen
Prozeß. Beim Benzylsubstituenten haben wir dagegen eine Aktivierungsenergie von 28 kcal, eine
Reaktionsenthalpie von +37 kcal beim einfachen Bindungsbruch und von +10 kcal beim zweifachen
Prozeß. Dieser gewinnt natürlich!
Im Energieschema sieht das so aus:
Wir stellen fest: Je weniger stabil die entstehenden Alkylradikale, desto weniger stark ist im
Übergangszustand die R-C-Bindung gelockert, und desto mehr haben wir einen bevorzugten O-OBruch. Der ÜZ ist sehr produktähnlich (Hammond-Postulat: das trifft sowohl auf den Energieinhalt
als auch auf seine Struktur zu.). Die Edukte sind vergleichsweise instabil und haben alle in der
obigen Tabelle ungefähr die gleichen RG's beim Zerfall zu Radikalen, auch wenn sehr wenig
stabilisierte Radikale wie das Norbornyl-Radikal entstehen. (Brückenkopf-Radikale).
2. Azoverbindungen: Hier müssen partiell Radikale im ÜZ gebildet werden, deshalb findet man
eine langsamere Reaktion und eine ausgeprägtere Differenzierung. Mechanistisch geht es gar
nicht anders: Gleichzeitig werden beide =N-C-Bindungen getrennt:
Dabei tritt ein interessanter Lösungseffekt auf, auch Käfig-Effekt genannt: In Lösung bildet das
Solvens einen Käfig um die beiden entstandenen Radikale, so daß sie bevorzugt miteinander
dimerisieren. Wenn aber beide Radikale sehr gut solvatisiert werden, kommt es zum Solvensgetrennten Radikalpaar, von dem nun jedes Einzelteilchen andere Folge-Reaktionen außerhalb des
Käfigs eingehen kann. Genauso in der Gasphase: Hier ist keine Solvatation der gebildeten Radikale
63
möglich, so daß bei zwei unterschiedlichen symmetrischen Dialkylazo-Verbindungen alle drei
möglichen Mischungspartner entstehen.
Erst außerhalb des Käfigs finden also gekreuzte Radikalreaktionen statt, die z.B. präparativ
brauchbar sind, wie z.B. die Abfangreaktion mit Thiolen:
Bsp.: R. + R’SH  R-H + R’S.
/
(Radikalfänger)
In vivo: Reduktion von Radikalen mit Glutathion = RSH-Verbindung
Die Langlebigkeit der Radikale hängt natürlich direkt mit ihrer Struktur zusammen und kann
gesteuert werden:
a) Mit der nichtstabilisierten Dimethylazo-Verbindung erhält nur die Homo-Kupplung zu Ethan.
Also bleibt das Radikal schön im Käfig, bevor es mit sich selbst dimerisiert.
CH3-N=N-CH3 + R’SH
CH4 / nur Ethanbildung innerhalb des Käfigs
b) Wann haben Radikale die Chance, außerhalb des Käfigs zu reagieren? Mit AIBN, einem
Radikalstarter, bleiben nur etwa 20% im Käfig, der Rest lebt länger und tritt aus dem Käfig aus.
Spintrapping mit RSH gelingt hier gut.
AIBN + R’SH
nur 20% Käfig, aber 80% Reduktion zu (CH3)2(CN)C-H
Das stabilere Radikal in b) lebt länger und tritt aus dem Käfig aus. Als Radikalstarter können wir
also höchstens 80% des eingesetzten AIBN’s nutzen, der Rest dimerisiert im Käfig.
Noch stabiler ist dieses Radikal (aus AIBN-Derivat):
Bei –196°C wird es in einer Edelgasmatrix durch Bestrahlung erzeugt und bleibt im
„Lösungsmittelkäfig“ unverändert mehrere Tage stabil. ESR beweist ein Triplett-Radikal-Paar mit
6-7Å Abstand zwischen den Radikalen. Beim Erwärmen fliegt Stickstoff raus und die Radikale
dimerisieren – aber stereoselektiv: Es entsteht reines meso-Produkt:
64
Das bedeutet, daß die beiden Radikale im engen Käfig (Matrix) sich noch nicht einmal drehen
konnten!
Radical-Clock:
Wie bestimmt man Reaktionsgeschwindigkeiten von Radikalen? Das ist sehr schwierig, absolut fast
unmöglich. Trick: Relative Reaktionsgeschwindigkeiten kann man durch Konkurrenzreaktionen mit
Radikalen bekannter Reaktionsgeschwindigkeit bestimmen.
Bsp.:
Das Cyclopropylcarbinyl-Radikal öffnet schnell zum Homoallyl-Radikal. Das beobachtet man auch
in Steroiden, z.B. bei Cholesterin:
Die Geschwindigkeit dieser Umlagerung liegt bei k = 108/s bei 30°C. Wie hat man das bestimmt?
Man gibt zu der Reaktionsmischung noch einen Radikalfänger,der mit den entstehenden
Produktradikalen schnell zu definierten Produkten abreagiert. Aus dem Verhältnis der Produkte und
Konzentrationsreihen kann man dann k ausrechnen. So erteilen diese ermittelten Werte Auskunft
über die Reaktionsgeschwindigkeit der bimolekularen Kunkurrenzreaktionen.
Bsp.:
Das -1-Hexenyl-Radikal reagiert mit k = 105/s bei 40°C zum Cyclopentylcarbinyl-Radikal.
Abfangreaktionen mit R-SH ergibt zwei reduzierte Produkte in einem bestimmten Verhältnis. Das
Verhältnis der Produktkonzentrationen liefert eine Aussage über die Geschwindigkeit der ersten
Umlagerung. Man findet dabei z.B. gar kein Cyclohexyl-Radikal, die RG zur Bildung dieses
Radikals ist also sehr gering, wahrscheinlich wegen der 6-endo-trig-Geometrie.
Wichtige Reaktionen:
1. H-Abstraktionen sind sehr häufig:
Cl. + H-C2H5
HCl + .C2H5
H° = -5 kcal/mol; k = 4x109 l/molxs / DH°(H-Cl) = 103 kcal/mol
Aber:
Br. + H-C2H5
HBr + .C2H5
H° = + 10 kcal/mol; k = 2x103 l/molxs / DH°(H-Br) = 87 kcal/mol
Die Reaktionsgeschwindigkeit ist also eine Funktion der:
1. Radikalstabilität des neuen Radikals; 2. Dissoziationsenergie des Edukts DH; 3. Stärke der
neuen Bindung.
65
In diesem Sinne ist das Cl-Radikal reaktiver, das Br-Radikal dafür umso selektiver (je endothermer
die Reaktion, desto selektiver ist das Reagenz (Hammond-Postulat)!
2. Rekombination und Disproprtionierung:
a) Rekombination:
CH3-CH2. + .CH2-CH3
CH3-CH2-CH2-CH3 // H° = -82 kcal/mol
b) Disproprtionierung (intermolekulare H-Abstraktion!):
CH3-CH2. + .CH2-CH3
CH2=CH2 + CH3-CH3 // H° = -60 kcal/mol
Beide Reaktionen sind extrem schnell: kDim. = 109-1010 l/mols; kRek. = 108-109 l/mols. Wenn die
sterische Hinderung bei der Dimerisierung groß wird, kann die Disproportionierung günstiger
werden: So diemrisiert das t-Butylradikal zweimal langsamer als es dimerisiert.
3. Addition an C=C-Doppelbindungen:
Wichtig bei Polymerisationsreaktionen: Radikale können als Elektrophile und als Nucleophile an
Doppelbindungen angreifen. Beide Fälle sind energetisch günstig: Im Fall des elektrophilen
Radikals wechselwirkt das niedrig liegende einzelne Radikalelektron im p-Orbital mit dem HOMO
der DB, also dem -Orbital. Im Fall des nucleophilen Radikals wechselwirkt das hoch liegende
einzelne Radikalelektron im p-Orbital mit dem niedrigen antibindenden *-Orbital des Alkens. In
Copolymerisationen zeigt sich daß sowohl nucleophile als auch elektrophile Radikale gut an DBen
addieren können:
Fumarsäuredimethylester wird von einem Radikal angegriffen und bildet ein elektrophiles
Radikalzwischenprodukt. Dieses greift bevorzugt das wartende nucleophile Olefin Enolacetat an
und wird damit zu einem nucleophilen Tertiärradikal. Dieses greift wiederum den elektrophilen
Fumarester an. Es entsteht ein streng alternierendes Copolymer!
Radikal-Anionen: sind z.B. die stabilen Ketylradikale oder die Semidione, die aus 1,2-Diketonen
entstehen (Nachweis der Ethertrocknung). Schon besprochen hatten wir das Naphthyl-Radikalanion
als Zwischenprodukt von Radikalreaktionen. Hier kann man die LUMO-Energien über eine
polarographische Reduktion bestimmen.
66
Über solche aromatischen Radikalanionen könnten auch nucleophile aromatische Substitutionen
verlaufen:
Alkalimetall gibt ein Elektron an den Aromaten, der geht über in ein Radikalanion, welches schnell
das Halogenid abspaltet und damit in ein neutrales Radikal übergeht. Das Nucleophil (weich wie
z.B. ein Malonesteranion) greift an und erzeugt erneut ein Radikalanion, welches das überschüssige
Elektron an das Edukt abgibt und damit einen zweiten Zyklus startet. Ähnlich könnte die BirchReduktion verlaufen.
Radikal-Kationen: könnten Zwischenstufen in der elektrophilen aromatischen Substitution sein
(Hinweis: das starke Elektrophil NO2 ist ein persistentes Radikal):
Nach Ausbildung des Donor-Akzeptor-Komplexes (= -Komplex) könnte lichtinduziert ein
Elektronentransfer vom Aromaten auf das Elektrophil erfolgen. Es entsteht dabei ein aromatisches
Radikalkation und das neutrale Elektrophil-Radikal. Dimerisierung liefert zwanglos den -Komplex
mit Pentadienylkation, wie bekannt. Deprotonierung gibt schließlich das Produkt. Dieser
Mechanismus wird unterstützt durch:
1. Ionisations-Potentialmessungen; 2. Photoelektronen-Spektroskopie; 3. PolarographieMessungen (Oxidationspotentiale).
Tatsächlich korrelieren z.B. viele Reaktionsgeschwindigkeiten von SEar-Reaktionen mit dem
Oxidationspotential des Substrates, besonders bei starken Oxidationsmitteln! Viele derartige
Reaktionen diskutiert man heute deshalb als ET-Reaktionen!
Es gibt’s aber auch völlig stabile Radikalkationen, z.B. das aus Acetylen und Schwefelsäure:
Hier könnte H+ oder auch die Schwefelsäure selbst das Oxidationsmittel sein.
Radikal-Anion und –Kation-Paare: werden neuerdings als organische Leiter diskutiert:
67
Durch die Bildung eines Charge-Transfer-Komplexes überträgt der Donor ein Elektron auf den
Akzeptor. Diese Radikalpaare sollen synthetische delokalisierte Polymere wie z.B. Polyacetylen
dotieren und so einen Loch- bzw, Elektrontransport induzieren. Evtl. kann man auch Supraleiter bei
RT daraus herstellen (alter Traum). Verbindung von OC und Elektrotechnik!
Reaktionen mit Tributylzinnhydrid:
Präparative Bedeutung gewann die Radijkalchemie in den letzten zehn Jahren vor allem durch die
Entwicklung der milden Chemie von Bu3Sn-H. Dieses Molekül wird leicht durch H-Abstraktion
radikalisiert und vermag seinerseits Alkylhalogenide durch milde Halogenatom-Abstraktion zum
sehr stabilen Bu3Sn-Hal zu radikalisieren. Dadurch wird ein Kreislauf mit relativ niedrigen
Aktivierungsenergiebarrieren möglich, der wenig Nebenreaktionen aufweist.
Bsp.: Addition von R-H an eine Doppelbindung durch Reaktion von R-Hal mit einem Olefin und
Bu3SnH:
Das Radikal R addiert sich an die Doppelbindung und wird durch Bu3Sn-H abgefangen. Das
entstehende Bu3Sn-Radikal radikalisiert nun seinerseits weiteres Alkylhalogenid und geht dabei in
das stabile Bu3Sn-Hal über. Anstatt equimolare Mengen des teuren Zinnreagenzes zu nehmen, kann
man auch katalytische Mengen durch equimolar zugesetztes NaBH4 zurückreduzieren. Die Reste R
können primär, sekundär, tertiär sein mit Hal = I oder Br. R-Cl reagiert nicht, weil die Reaktion des
Bu3Sn-Radikals mit R-Cl zu langsam ist, so daß es leiber mit weiterem Alken reagiert und so
Polymere bildet. Die Initiierung dieser Radikalreaktionen geschieht konventionell meist mit Licht
oder AIBN. Bsp.:
Bei Start mit Licht erhält man 87%, mit AIBN sogar 98% Ausbeute.
Auch chirale Verbindungen mit Stereozentren in direkter Nachbarschaft zum Radikal-C-Atom
racemisieren nicht. Beispiele aus der Lipid- und Aminosäurechemie belegen dies:
A) Lipide:
B) Aminosäuren:
Sogar am Radikal-C-Atom selbst gelingt eine stereoselktive Synthese. Beispiel sind
Zuckerbausteine aus der Königs-Knorr-Synthese:
Acetobromglucose z.B. bildet ein Radikal, welches mit Acrylnitril zu einem Alkylierungsprodukt
mit einem - und -Verhältnis von 70:5 weiterreagiert. Erklärung: Die Reaktion verläuft über
einen equatorialen Angriff an das Glocosylradikal in der Boot-Konformation. Diese Konformation
68
ist nämlich durch eine bindende Wechselwirkung des hochgelegenen SOMO’s mit dem
benachbarten antibindenden *-Orbital der C-O-Bindung stabilisiert. (Das SOMO ist seinerseits
durch die Wechselwirkung mit dem doppelt besetzten MO der nichtbindenden SauerstoffElektronenpaars künstlich hochgepushed, s.u.)
So lassen sich auch leicht C-Glycoside (nichtnatürliche Disaccharide) herstellen:
Sehr wichtig ist schließlich die gezielte Deoxygenierung von Alkoholen:
Man überführt den Alkohol in das Xanthat bzw. den Thioester und läßt mit Bu3Sn-Radikalen
reagieren. Die C-O-Bindung ist schwer zu radikalisieren. Mit diesem Trick gelingt es, denn das
gebildete Additionsprodukt (an die C=S-Bindung) fragmentiert leicht unter Bildung des freien
Alkylradikals und O=C=S sowie des stabilen Bu3SnSR‘.
So lassen sich leicht Desoxyzucker herstellen:
Man schützt alle anderen OH’s mit Ketalschutzgruppen und überführt den restlichen Alkohol in das
Xanthat, welches mit Bu3SnH das Radikal ergibt. Bei Anwesenheit von Acrylnitril entsteht das
Abfangprodukt, sonst einfach der freie Desoxyzucker (H-Abstraktion von weiterem Bu3SnH. Wird
wie im obigen Beispiel die Unterseite gut abgeschirmt, so gelingt auch eine stereoselektive
Deoxygenierung. Diese Reaktion ist natürlich von außerordentlicher Bedeutung für die Überführung
von RNA- in DNA-Bausteinen.
Wie macht die Natur das? Solch eine Reaktion findet in der Tat auch über radikalische
Zwischenstufen im aktiven Zentrum der Ribonucleotid-Reductase statt. Dabei wird das Substrat (ein
Nucleotid) in definierter Weise in der Substratbindungstasche plaziert, so daß die Saoerstoffatome
bzw. OH-Gruppen genau neben den katalytisch aktiven Gruppen des Enzyms ligen (vor allem SH,
aber auch Carboxylat). Zunächst greift ein radikalisches Cystein R-S. am H-C3 an und generiert dort
ein Radikal. Dieses eliminiert in Art einer radikalischen -Eliminierung Wasser, nämlich ein Proton
von C3 (geht ans Carboxylat) und ein OH-Radikal von C2. Dabei bildet sich an C3 ein Keton, an C2
ein Radikal. Dies abstrahiert von einer dritten SH-Gruppe ein H-Radikal und wird so zur neuen
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CH2-Gruppe reduziert. Schließlich bilden die beiden benachbarten SH-Gruppen des Enzyms eine
Disulfidbrücke aus, wobei ein Elektron an das Keton abgegeben wird und zur Bildung eines
Ketylradikalanions führt. Dies wird durch die Carbonsäure protoniert und radikalisiert seinerseits
die obere SH-Gruppe durch H-Abstraktion. Das Desoxy-Nucleotid ist fertig und alle funktionellen
Gruppen des Enzyms sind wieder in Ausgangsposition außer der Disulfidbrücke, welche noch
reduziert werden muß.
Medizinisch wichtige Radikalreaktionen an DNA - Endiin-Antibiotika:
Einige Naturstoffe wirken auf interessante Weise antibiotisch bzw. cytostatisch: Sie bilden nämlich
Diradikale, die nach Interkalation in den DNA-Strang gezielt Phosphodiesterbindungen spalten und
so zum DNA-Bruch führen. Zu dieser Gruppe gehören z.B. Neocarzinostatin, Bleomycin und
Caliceamycin.
Zum Mechanismus der Diradikalbildung: Nehmen wir zum Einstieg die Valenzisomerisierung von
1,3,5-Hexadien zu 1,3-Cyclohexadien (elektrozyklisch, 6dis



Was passiert, wenn man stattdessen ein Endiin nimmt?
Hier ergibt die Bergmann-Umlagerung ein doppeltes Kumulen, welches gebogene sp-C-Atome
enthält und deswegen leicht ins sp2-Hybrid wechselt. Dabei verschieben sich die Elektronen zum
1,4-Diradikal. Dieses ist hochreaktiv und reagiert praktisch mit allen C-H-Bindungen in der
Umgebung, z.B. mit denen in benachbarten Nucleotiden der DNA. Dabei bildet sich der stabile
Aromat.
70
Ganz ähnlich funktioniert die DNA-Spaltung mit Neocarzinostatin, das praktisch ein „prodrug“
darstellt, also eine pharmakologisch unwirksame Vorstufe, die durch gezielte Reaktion zur aktiven
Form umgewandelt werden kann. Die nuclephile Addition eines Cystein-Thiols an das DieninSystem der „prodrug“ führt zur Umlagerung und Öffnung des Epoxids, wobei ein dreifaches
Kumulen entsteht. Transannulare Elektronenverschiebung ergibt wieder ein 1,4-Diradikal, welches
bei tiefen Temperaturen (-38°C) ~2h Halbwertszeit besitzt. Diese reagiert nun in verschiedener
Weise mit DNA:
Als erstes wird das H an C4 abstrahiert. Das dabei entstehende Radikal kann nun sowohl zum
Strangbruch an C5 führen als auch zum alternativen Strangbruch an C3. Im ersten Fall eliminiert
Phosphat als gute Abgangsgruppe von C5, und hinterläßt ein Radikalkation, welches mit OH- zum
C4-Radikal weiterreagiert. Im zweiten Fall eliminiert Phosphat von C3, und auch hier wird das
gebildete Radikalkation von OH- neutralisiert zum einfachen Radikal an C4.
Alternativ kann auch das Diradikal Sauerstoff an das oben beschriebene Primärradikal anlagern.
Das Peroxoketal öffnet anschließend unter Phosphateliminierung und führt damit ebenfalls zum
Strangbruch. Schließlich kann auch ein mesomeriestabilisiertes Phosphatradikal eliminieren und
hinterläßt eine exocyclische Doppelbindung.
Wenn diese DNA-Strangbrüche bevorzugt bei schnellwachsenden Tumorgeweben auftreten, wird
selektiv das Krebsgeschwür zerstört. Dieses nutzt die Tumortherapie aus.
In Marburg werden radikalische Enzymreaktionen im Fachbereich Biologie von den Gruppen
Buckel und Thauer intensiv und sehr erfolgreich untersucht.
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Chelatkontrolle bei Radikalen: Philippe Renaud: In einem kürzlich erschienenen
Übersichtsartikel faßt der Autor zahlreiche selektive Radikalreaktionen zusammen, bei denen eine
Chelatverklammerung für die oft stereoselektive Reaktinsführung verantwortlich ist. 3 Beispiele:
1.
Der Abfang eines Radikals neben einem Stereozentrum mit sterisch anspruchsvoller Gruppe
geschieht hoch stereoselektiv, wenn zwei benachbarte Methoxygruppen dabei durch die Lewissäure
Mg2+ verklammert werden (hier sichtbar durch die Deuterierung):
2.
Der Angriff eines t-Butylradikals an ein elektronenarmes ,-ungesättigtes chirales Sulfoxid
verläuft wieder hochstrereoselektiv, wenn das Sulfoxid und ein benachbartes Keton chelatartig über
die Lewissäure Ti4+ gebunden werden:
Der nucleophile Angriff eines t-Butylradikals an ein achirales Enamid kann asymmetrisch geführt
werden, wenn dieses als Oxazolinon im Sinne der Evans-Chemie über ein Mg2+ verklammert wird,
wobei ein zusätzliches chirales Dihydrooxazol am Mg2+ für eine chirale Koordinationssphäre sorgt:
Zinnfreie Radikale: In jüngster Zeit hat man versucht, derart selektive Radikalreaktionen
metallfrei ohne Verwendung des giftigen Zinnorganyls zu gestalten. Hier im Hause vertritt Armido
Studer diese Forschungsrichtung:
72
PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG
FACHBEREICH CHEMIE
___________________________________________________________________________________________________________________________________________________
Organische Chemie I für
fortgeschrittenen Studierende
der Chemie – reaktive
Zwischenstufen
Prof. Dr. Thomas Schrader
Fachbereich Chemie
Hans-Meerwein-Straße
35032 Marburg
Tel.: 06421 / 28-25544
Fax: 06421 / 28-28917
e-mail: [email protected]
___________________________________________________________________________________________________________________________________________________
Teil III: Carbokationen
1. Inhaltsverzeichnis und Literatur
a) Inhalt Carbokationen
Bindungsverhältnisse in Carbokationen (Elektronensextett im Carbeniumion vs. Elektronenoktett
im delokalisierten Carboniumion); Stabilität in der Gasphase, Rotationsbarrieren, Energievergleich
Carbenium-/Carboniumionen; Carbokationen in Lösung, Kristallstrukturen; Super-Lewissäuren,
Super-Brønsted-Säuren (Olah: magic acid) und ihre Reaktionen mit Alkylhalogeniden bzw.
Alkoholen;Nachweis in Lösung mit 13C-NMR, Norbornylkation: Schnelles Gleichgewicht zwischen
klassischen Carbeniumionen? Nein, nichtklassisches Carboniumion!
b) Literatur Carbokationen
1. Olah, G.A., Schleyer, P.v.R. (Herausgeber), Carbonium Ions, Vol. 1-5, Wiley, New York, 19681976.
2. Olah, G.A. Surya Prakash, G.K., Sommer, J., Superacids, Wiley, New York, 1985.
3. Vogel, P., Carbocation Chemistry, Elsevier, Amsterdam, 1985.
4. Olah, G.A., in The Chemistry of Alkanes and Cycloalkanes (Hrsg. S.A. Patai), Wiley, New
York, 1992, S. 609-652.
5. Laube, T. Neue Carbokationen - von der physikalisch-organischen Chemie zur Biochemie,
Angew. Chem. 1996, 108, 2939.
2. Herstellung und Eigenschaften von Carbokationen
Wir kommen jetzt zur dritten großen Klasse der reaktiven Zwischenstufen. Wenn wir dem Radikal
ein Elektron wegnehmen, so erhalten wir ein Carbeniumion.
Hinweise: im Massenspektrum von Methan erscheinen folgende Peaks: (MG = 12-17)
73
Hier reihen sich auch das Carbeniumion CH3+ und das Carboniumion CH5+ ein.
Allgemein: C möchte am liebsten ein Elektronensextett oder besser –oktett besitzen. Das Sextett ist
im Carbeniumion realisiert, das Oktett aber im Carboniumion. Man kann es sich herleiten durch
Anlagerung von H2 an das Carbeniumion in einer „2-Elektronen-3-Zentrenbindung; durch
Mesomerie entsteht das nichtklassische pentakoordinierte CH5+-Kation:
Das Carbeniumion läßt sich aus dem CH2-Molekül Carben und Protonen herstellen:
Dies ist aber kein Oniumion, weil es kein Oktett hat (Bsp.: Ammoniumion und Oxoniumion).
Das Carboniumion entsteht in gleicher Weise durch Protonierung von Methan:
(Nomenklatur: Anstelle von Carbeniumion kann mann auch einfach Methylkation sagen.)
Isolierte Carbokationen in der Gasphase: Der thermische Zerfall von Methan liefert nicht
Carbeniumhydrid, sondern Radikale. Deshalb generiert man Kationen vorteilhaft im
Massenspektrometer durch Stoßionisation; MALDI etc.
Einige Stabilitäten von Carbokationen (H0f in kcal/mol):
Kation
CH3+
CH3-CH2+
CH3-CH2-CH2+
CH3-CH+-CH3
(CH3)3C+
Cycloheptatrienyl
Cyclopentadienyl
Vinyl
Ethinyl
H0f [kcal/mol]
260
219
208
192
169
212
273
266
399
Man sieht die wachsende Stabilität von Carbeniumionen beim Übergang von primären über
sekundären zu tertiären Strukturen. Diese Carbeniumionen sind natürlich nur in der Gasphase
„stabil“, denn in Lösung würden sie sofort SN-Reaktionen eingehen. Allgemein gilt auch hier wie
bei der Stabilisierung von Carbanionen: je größer das Gerüst, desto besser kann die Ladung verteilt
werden (Polarisierbarkeit: positive und negative Hyperkonjugation). Interessanterweise kann so eine
positive Ladung besser stabilisiert werden als eine negative; dieses MO-Diskussion führt aber in
diesem Rahmen zu weit. Außerdem sind Spezies, die antiaromatischen Charakter haben, bzw. die
74
sp2- und sp-hybridisierte kationische C-Atome tragen, in zunehmendem Maße instabil. Umso besser
sind in diesen Faällen die Anionen!
Wie schon vorher gesehen, stabilisieren Alkylreste Carbeniumionen viel effektiver als Radikale.
Bsp: Der Stabilitätsunterschied zwischen n-Propyl- und Isopropylcabeniumion ist 16 kcal/mol. Bei
den Radikalen ist er nur 3 kcal/mol:
Rotationsbarrieren
Bei der Behandlung von cis-2,3-Dimethylcyclopropylchlorid mit starken Lewissäuren
(SbF5/SO2ClF) entsteht durch Cyclopropylcarbinyl-Allylkation-Umlagerung das syn,syn-Produkt,
welches sich mit einer Barriere von 18 kcal/mol in das syn,anti-Allylkation umwandelt (sterische
Spannung), danach langsamer mit einer Barriere von 24 kcal/mol in das anti,anti-Produkt:
Energievergleich zwischen Carbenium- und Carboniumionen
Die Reaktion von CH3+ mit H2 zum CH5+-Kation ist exotherm und liefert -39 kcal/mol!
Also ist das CH5+-Kation deutlich stabiler als sein Carbeniumion!
Wieviel macht bei beiden die Homologisierung durch eine CH2-Gruppe aus? Beim Übergang vom
CH3+- zum C2H5+-Kation gewinnt man –41 kcal/mol, beim Übergang vom CH5+ zum C2H7+-Kation
gewinnt man dagegen nur –14 kcal/mol.
Der Grund dafür liegt darin, daß schon im CH5+-Kation die positive Ladung besser delokalisiert
war. Die Hyperkonjugation über weitere -Bindungen spielt also eine weit größere Rolle bei den
klassischen, wenig stabilisierten Kationen!
Carbokationen in Lösung:
Auch hier ist wieder die Wahl des Lösungsmittels entscheidend, genau wie bei Carbanionen. Wir
finden klassische Lösungsmitteleffekte, SN-Reaktionen etc.
1. Allgemein spielt hier die Dielektrizitätskonstante des Lösungsmittels eine größere Rolle, die
Substituenteneffekte sinken eher in ihrer Bedeutung. Die Stabilität = 1/ladungsinduzierter Dipol).
2. Die spezifische Solvatation des Kations ist auch sehr wichtig; sie verläuft über Wechselwirkung
mit den freien Elektronenpaaren des Solvens.
3. H-Brücken können ebenfalls von Kationen zum Solvens ausgebildet werden.
75
Einige Strukturen:
Das Adamantylcarbeniumion ist stark abgeflacht am Carbeniumion-C (~sp2). Außerdem sind die
banchbarten C-C-Bindungen stark verkürzt, die übernächsten dafür wieder verlängert. Das
entspricht einer mesomeren Grenzstruktur mit weitergereichtem Kation (s.u. VB- und MO-Bild):
Ein beliebtes Gegenion ist das Sb2F11-, welches aus SbF5 und SbF6- besteht. Das t-Butylkation wird
ebenfalls als fast planar gemessen und zeigt die gleichen Bindungsverlängerungen wie oben, die ja
einfach der Hyperkonjugation entsprechen. Außerdem sieht man viele Kontakte von CH-Protonen
im Kation und F--Anionen im Gegenion.
Wie stellt man diese Carbeniumionen her? Für die Solvolyse von Alkylhalogeniden braucht man
extrem starke Lewissäuren. Olah stellte 1962 ein besonders effektives System vor: SbF5 ist eine
starke Lewissäure und dient als Lösungsmittel zugleich. Noch stärker sind Kombinationen aus
SbF5/SO2 oder SbF5/SO2F2 oder SbF5/SO2ClF. Auf diese Weise gelang z.B. die Herstellung
folgender Kationen aus den entsprechenden Halogeniden:
Dabei ist das Cyclopentadienylkation antiaromatisch und nur bis –195°C stabil, während das
Alkenylkation ein hochreaktives sp-konfiguriertes lineares Kation ist, das nur bis -130°C stabil ist.
Für die Darstellung von Kationen aus Alkoholen sind Supersäuren nötig, die nicht nucleophile
Anionen generieren, so daß selbst hochelektrophile Carbeniumionen nicht angegriffen werden. Bei
tiefen Temperaturen übertragen so diese Supersäuren auch auf schwache Nucleophile ihr Proton, so
daß man anschließend die hochreaktiven Carbeniumionen beobachten kann. Hier hat ebenfalls Olah
zum ersten Mal Säuren vorgestellt, die wesentlich saurer als konz. Schwefelsäure sind: H2SO4 <
H2SO4 + SO3 // HF < HSbF6 < HSO3F < HSO3F + SbF5 (magic acid!).
Die letzte Kombination ist besonders bei SO2 als Lösungsmittel eine sehr beliebte Variante, die
auch bei tiefen Temperaturen zu dünnflüssigen Lösungen führt, die man im NMR beobachten kann.
Die Fluorsulfonsäure dient im Gemisch zur Protonierung; ihre Säurestärke wird durch die
Koordination der Lewissäure Antimonpentafluorid drastisch verstärkt.
76
Primäre Alkohole werden bei tiefen Temperaturen sofort protoniert, bleiben aber bis ~0°C
unverändert, erst oberhalb lagern sie in einer Kaskade von Wagner-Meerwein-Umlagerungen um,
bis automatisch die thermodynamisch stabilsten tertiären Carbeniumionen entstehen:
Tertiäre Alkohole dagegen verlieren sofort Wasser und bilden auch bei tiefen Temperaturen die
tertiären Carbeniumionen.
Ein anderes Beispiel ist die Generierung und Beobachtung von Alkyl-Diazoniumionen in Lösung.
Dafür wird das entsprechende Diazoalkan mit der Supersäure protoniert und verliert bis –60°C noch
keinen Stickstoff:
Elektrophile Additionen an Neutralteilchen gehen ebenso glatt. Bsp.: Die Protonierung von
Dreifachbindungen zu Alkenylkationen geht nur bei speziellen Substituenten am kationischen CAtom:
Selbst an Einfachbindungen können mit der Supersäure Protonen angelagert werden. Das gilt für
CH- ebenso wie für C-C-Bindungen. Wichtig ist dabei die Entstehung von stabilen
Carbeniumionen.
Bsp.1: Isopropylbenzol wird C-H-protoniert und spaltet anschließend H2 ab, wodurch ein
Benzylkation übrigbleibt (solche Oxidationen machen auch Enzyme (Berkessel, Thauer:
Hydrogenasen):
Auch die homologe Isobutylverbindung nimmt Protonen am -C-Atom auf. Dabei wird ein tertButylcarbeniumion frei. Zum Schluß wird noch ein Proton in den aromatischen Ring geschoben:
Die Protonierung von solchen schwach basischen Einfachbindungen verläuft über pentakoordinierte
nichtklassische Kationen. Auch die Hydridabspaltung durch ein Kation wird so erklärt:
77
Nachweis von Carbokationen in Lösung:
Früher war man auf indirekte Nachweismethoden angewiesen. Heute kann man sehr empfindlich
mit 1H- und 13C-NMR-Techniken die unterschiedlichen Kationen nachweisen. Es gilt allgemein,
daß positive Ladungen einen Elektronenmangel anzeigen. Der entschirmt aber die Kernspins an
ihren Orten und führt zu einer deutlichen Tieffeldverschiebung der Signale. Die chemische
Verschiebung im 13C-NMR korreliert streng mit der Ladungsdichte an diesem C-Atom (vgl.
Carbanionen). Das gleiche gilt auch für Kationen. So kann man eine Reihenfolge aufstellen:
Nicht-klassische verbrückte Kationen versus schnelles Gleichgewicht zwischen klassischen
Carbeniumionen:
Das bahnbrechende Experiment für die Postulierung und schließlich den Nachweis von
nichtklassischen fünfwertigen Carbokationen entand aus der Beobachtung, daß sowohl bei der
Solvolyse von exo-als auch endo-2-Norbornyltosylat in Essigsäure ausschließlich exo-2Norbornylacetat gebildet wird. Dabei reagiert das exo-Tosylat 350 mal schneller als das endoEdukt. In beiden Fällen wird allerdings auch bei optisch reinem Edukt ein komplett racemisiertes
Produkt erhalten.
Man geht davon aus, daß die Bildung des Kations geschwindigkeitsbestimmend ist. Winstein (der
Befürworter der nichtklassischen Carbokationen) erklärte dies mit einer quasi nucleophilen
Beschleunigung der Dissoziation durch die rückseitig plazierte C1-C6-Bindung. Dabei könnte direkt
ein nichtklssisches Carbokation entsehen, welches an C-6 fünffach koordiniert ist (Brückenatom).
Dieses Zwischenprodukt ist achiral, wie man bei einer anderen Schreibweise leicht erkennt:
Der Angriff des Avetats an C1 und C2 ist gleich wahrscheinlich und führt unweigerlich zum
Racemat. Das Produkt ist exo-konfiguriert, weil der Angriff nicht am Brückenatom vorbei, sondern
von der anderen, besser zugänglichen Seite erfolgen muß.
H. C. Brown hatte eine klassischere Erklärung parat: Er nahm an, daß durch die Solvolyse im Sinne
einer einfachen SN1-Reaktion ein klassisches Carbeniumion gebildet wurde, welches aber sofort in
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einem schnellen Gleichgewicht mit einem isomeren klassischen Carbenium steht (1,2Verschiebung). Auch dieses Gleichgewicht wüprde die Entstehung von racemischen Produkten
erklären. Auch der exo-Angriff ist hier eindeutig günstiger:
Nach vielen indirekten Hinweisen aus kinetischen und stereochemischen Experimenten mit
Substitutionsreaktionen klärte das 13C-NMR-Spektrum alles auf:
1. Die T-Unabhängigkeit der Signallagen und Messungen bei höheren Feldstärken schlossen ein
schnelles Gleichgewicht zwischen klassischen Ionen aus.
2. Kein 13C-NMR-Signal entsprach einem sekundären Isopropylkation. Stattdesse liegen alle
Signale bei relativ hohme Feld und stützen damit die pentakoordinierte, delokalisierte Struktur
des nichtklassischen Kations. Weitere Bestätigung kam von Isotopenverschiebungsanalyse.
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PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG
FACHBEREICH CHEMIE
___________________________________________________________________________________________________________________________________________________
Organische Chemie I für
fortgeschrittenen Studierende
der Chemie – reaktive
Zwischenstufen
Prof. Dr. Thomas Schrader
Fachbereich Chemie
Hans-Meerwein-Straße
35032 Marburg
Tel.: 06421 / 28-25544
Fax: 06421 / 28-28917
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Teil IV: Carbene
1. Inhaltsverzeichnis und Literatur
a) Inhalt Carbene
Elektronische Strukturen von Carbenen, Nitrenen, Oxen und F+; lineare Tripletts und gebogene
Singuletts; p--Astand in Abhängigkeit von Substituenten (Bsp.: Dichlorcarben ist im GZ ein
Singlett); Standardbildungsenthalpien für Carben und Nitren; Herstellung von Carbenen und
Nitrenen aus Diazoalkanen, Nitrenen, Diazirinen, Ketenen; Bamford-Stevens-Reaktion, Darstellung
von Dihalogencarbenen, Blitzlichtphotolyse und Triplettsensibilisatoren; Direkter Nachweis und
Beobachtung von Carbenen; Reaktionen: vielfältige Wege; Dimerisierungen, Addition an
Doppelbindungen (Skell-Regel), Insertion in C-X-Bindungen, Carbene in der Natur
(Thiaminpyrophosphat); Arduengo-Carbene: kristallin in Flaschen, nucleophil, Gründe für ihre
Stabilität.
b) Literatur Carbene
1. Wentrup, C., Reactive Molecules: The Neutral Reaction Intermediates in Organic Chemistry,
Wiley, New York, 1984.
2. Regitz, M., Stabile Carbene - Illusion oder Realität? Angew. Chem. 1991, 103, 191.
3. Arduengo, A.J. et al., Electron Distribution in a Stable Carbene, J. Am. Chem. Soc. 1994, 116,
6812.
4. Herrmann, W.A. et al., -Heterocyclic Carbenes: Generation under Mild Conditions and
Formation of Group 8-10 Transition Metal Complexes Relevant Catalysis, Chem. Eur. J. 1996,
2, 772.
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2. Herstellung und Eigenschaften von Carbenen und Nitrenen
Die letzte der großen Klassen reaktiver Zwischenstufen sind die Carbene. Sie entstehen formal,
wenn wir dem Radikal einen Substituenten mit einem Redikaleletron wegnehmen. Synthetisch ist es
aber leichter, Carbenoide zu generieren, die in einer -Eliminierung NaCl u.ä. verlieren:
Wie sehen die Strukturen von Carbenen aus? Wir behandeln gleichzeitig die idoelektronischen
Nitrene mit. Diese Spezies sind außerdem isoelektronisch mit Oxen (6 Elektronen) und dem
Fluorkation (F+, / 7 Elektronen). Schon hier sieht man das Elektronendefizit und den daraus
resultierenden elektrophilen Charakter der meisten Carbene undd Nitrene. Natürlich modifizieren
Substituenten diesen elektrophilen Charakter sehr stark – wie wir noch sehen werden.
Lineare Strukturen müssen nach der Hund’schen Regel Tripletts sein, denn die beiden übrigen
resultierenden p-Orbitale sind entartet und müssen erst je einfach besetzt werden. Bei der
(tatsächlichen) gewinkelten Struktur des Carbens kann auch ein Singulett-Zustand eingenommen
werden: das C-Atom ist sp2-hybridisiert, das freie Elektronenpaar im sp2-Hybrid, das p-Orbital ist
leer. Tatsächlich ist Carben gewinkelt, und zwar mit 136° am H-C-H-Winkel im Triplett, und etwa
102° im Singulett. Nach viel Konfusion wurde durch die direkte Erzeugung des Singulett-Carbens
aus Diazomethan mittels Photolyse und durch direkte Beobachtung des Singulett-Carbens mit ESR
dessen Relaxation zum Triplett-Carben nachgewiesen, so daß heute klar ist: Triplett ist der
Grundzustand und etwa 8 kcal/mol stabiler als das Singulett.
Bei der Entscheidung, ob ein Carben im Grundzustand als Singulett oder Triplett vorliegt, spielt
natürlich der energetische -p-Orbitalabstand eine entscheidende Rolle. Der Singulettzustand ist
insofern ungünstiger, als daß beide Elektronen in ein Orbital gepreßt werden müssen
(Elektronenkorrelationsenergie). So ergeben sich 4 Zustände für ein Carben: der T1-Grundzustand,
der S0-angeregte Zustand, und dazu noch zwei höher angeregte S1 und S2-Zustände. Jeder Zustand
entspricht einer diskreten Spezies:
Übrigens: Bei CCl2 (Dichlorcarben) ist durch die +M-Substitution der T1-S0-Abstand viel geringer
und das Singulett bildet den Grundzustand! Das einfachste Nitren NH ist linear und damit ein
Triplett-Zustand. Die Umwandlungsenergie ist hier viel hher, ~35kcal/mol. Die
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Standardbildungsenthalpie für CH2 liegt ungefähr bei 94 kcal/mol und die für NH bei ~90 kcal/mol.
Wir haben es also mit hochreaktiven Teilchen zu tun!
Wie kann man Carbene herstellen? Die bekanntesten Methoden sind die Zersetzung von
Diazoalkanen und Aziden. Dabei werden labile Bindungen gespalten und stabile neutrale Moleküle
eliminiert – dies ist der Trick zur gleichzeitigen Erzeugung hochreaktiver Spezies. Was gar nicht gut
geht, ist die thermische Homolyse con Alkenen: Die Reaktionsenthalpie beträgt hier + 192
kcal/mol!
Es gibt aber günstigere C-C-Spaltungen zur Carbenherstellung: Hexafluorcyclopropan
disproportioniert z.B. zum stabilen Tetrafluorethen und dem relativ stabilen Difluorcarben. Hier
liegt die Reaktionsenthalpie schon nur noch bei +28 kcal/mol.
Noch besser ist dann die Thermolyse von Phenylazid: Mit einer Aktivierungsenergie von 35
kcal/mol und einer Reaktionsenthalpie von ~0 kcal/mol ist diese Carbensynthese schon recht
vielversprechend.
Weitere Beispiele von Carbendarstellungen:
1. Diazoalkane: verlieren Stickstoff.
2. Diazirine: verlieren Stickstoff.
3. Ketene: verlieren C=O.
4. Bamford-Stevens-Reaktion von Tosylhydrazonen mit NaH: Es wird Toluolsulfonsäure und
Stickstoff frei.
5. Chloroform ist auch acide und bildet im Gleichgewicht mit OH- ein Carbenoid aus, welches zu
Dichlorcarben zerfällt:
6. Das erste direkt beobachtete Singulettarylnitren wurde durch Nanosekunden-Blitzlichtphotolyse
aus Azidopyren erzeugt:
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Dabei übertrug der Sensibilisator Diacetyl seine Energie auf den Aromaten, generiert so zunächst
das Singulett-Nitren mit einem max (UV) von 450 nm und einer Halbwertszeit von 22
Nanosekunden bei RT. Diese relaxierte zum Triplettcarben mit einem max (UV) von 415 nm und
einem Folgeprodukt der Dimerisierung zum Azoalkan.
Direkter Nachweis und Beobachtung:
Die direkte physikalische Detektion solch hochreaktiver teilchen erfordert spezielle apparative
Techniken: Die Lebensdauer wird oft künstlich verlängert durch Wegfangen von potentiellen
Reaktionspartnern. Normalerweise werden deswegen physikalische Untersuchungen an Carbenen a)
verdünnt mit viel Inertgas in der Gasphase durchgeführt und zwar bei niedriger Konzentration, oder
b) in einer Matrix aus Edelgas bei 4-77 K. Durch Laserblitzlichtphotolyse werden die Carbene oder
Nitrene binnen weniger Nano- oder sogar Picosekunden erzeugt, und können dann spektroskopisch
sogar hinsichtlich der Kinetik ihrer Reaktionen verfolgt werden. Dies gelingt heute sogar in Lösung:
Hier konnten also Triplett- und Singulett-Zustände von Benzylcarbenen durch UV-Spektroskopie
beobachtet werden. Die Zahlen unter den Formeln beziehen sich auf die Absorptions- bzw.
Emissionsmaxima der Carbene. Die entsprechenden Triplettzustände wurden darüberhinaus ESRspektroskopisch nachgewiesen – oft der entscheidende Beweis!
Reaktionen:
Es ist generell schwierig, die sehr reaktiven Intermediate in sehr schnellen Reaktionen genau zu
identifizieren. Schnelle photolytische und spektroskopische Methoden sind schon erwähnt worden.
Betrachten wir und das allgemeine Reaktionsschema der Generierung von Carbenen aus
Diazoalkanen:
Es ist nicht leicht herauszufinden, ob z.B. tatsächlich freie Carbene (Singulett oder Triplett?) mit
dem Reaktionspartner umgesetzt worden, oder ob es konzertiert aus dem Edukt passiert. Manchmal
kann man Zwischenstufen abfangen, wie z.B. ein Triplett-Diradikal mit einem Thiol als gutem
Radikalfänger.
1. Dimerisierungen:
Triplettcarbene dimerisieren als Diradikale extrem schnell (k = 1010 l/mols) in einer stark
exothermen Reaktion (H°r = -176 kcal/mol):
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Dabei ist die Rekombination zweier Triplettzustände zu einem Singulett spinerlaubt.
2. Addition an Doppelbindungen:
Hier dominiert die Skell-Regel:
Singulettcarbene könen in einer einstufigen konzertierten Reaktion an Olefine anlagern. Diese
Reaktion müßte also stereospezifisch sein. Triplettcarbene müssen wegen ihres Diradikalcharakters
eine Diradikal-Zwischenstufe durchlaufen, auf der eine Rotation um Einfachbindungen möglich ist,
und sollten daher nicht stereospezifisch verlaufen:
Das Triplettsystem muß auf der radikalischen Zwischenstufe ein Intersystem Crossing durchführen,
damit wieder eine Rekombination zum Singulettprodukt möglich ist. Für diese Regelk gibt es
mittlerweile viele Beispiele, aber auch Ausnahmen. Dabei darf z.B. der Übergangszustand der
Singulett-Carbenanlagerung an die Doppelbindung nicht symmetrisch sein, wie im CyclopropanProdukt. Nach Woodward-Hoffmann müßte nämlich in diesem Fall ein antiaromatischer
Übergangszustand gebildet werden. Lösung: Das Carben dockt wie ein Raumschiff von der Seite
an, dann gibt es eine Phasenumkehr:
3. Insertion in C-X-Bindungen:
Hier sollen nur die vielen, oft unspezifisch verlaufenden Insertionen in C-H- und ähnliche
Bindungen erwähnt werden. Bei einem benachbarten Chiralitätszentrum findet man Retention der
Konfiguration, wenn ein Singulettcarben reagiert.
Auch die Umlagerungen von Carbenen können als intramolekulare Insertionen in benachbarte C-HBindungen augefaßt werden. Hierzu gehören präparativ wichtige Reaktionen wie z.B. die WolffUmlagerung in der Arndt-Eistert-Homolgisierung von Carbonsäuren. Die früher über Nitrene
formulierten Curtius-, Lossen, Hofmann- und Schmidt-Abbaureaktionen verlaufen nicht über freie
Nitrene, sondern lassen Eliminierung und Umlagerung konzertiert ablaufen:
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Carbene in der Natur:
Eine wichtige Reaktion im menschlichen Körper ist die Thiamin-pyrophosphat-katalysierte
Decarboxylierung von -Ketocarbonsäuren. Sie verläuft im ersten Schritt über die Generierung
eines relativ stabilen heterocyclischen Carbens. Durch Deprotonierung des Thiazoliumrings entsteht
ein Zwitterion, welches auch als Carben aufgefaßt werden kann und nach Rechnungen auch ist.
Diese Carben ist aber nucleophil und addiert nun an die Ketogruppe der Ketosäure.
Decarboxylierung und Reprotonierung des Zwischenprodukts führt nach Abspaltung des Aldehyds
wieder zum Ausgangs-Thiazoliumring:
Arduengo-Carbene:
Diese Struktur eines nucleophilen relativ stabilen Carbens hat Arduengo weiterentwickelt, um das
erste Carben zu kristallisieren und „in Flaschen zu füllen“. Deprotonierung von geschickt
substituierten Imidazoliumsalzen führt zu nucleophilen Carbenen, die sehr stabil sind
(Sachmelzpunkte bis 240°C!). Der N-C-N-Winkel im Carben beträgt 102°, was im Gegensatz zu
den 109° des Edukts sehr gut zu einem Singulettcarben paßt. Weitere Strukturbeweise liegert das
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C-NMR-Spektrum, die Massenspektrometrie und ESR. Die Röntgenstruktur zeigt einen
verlängerten C-N-Abstand, der einer partiellen Doppelbindung entspricht.
Rechnungen zeigen allerdings eine hohe Elektronendichte in der -Bindung sowie am CarbenKohlenstoff. Dies widerspricht einer starken Aromatisierung des Systems über die zwitterionische
Struktur und stimmt auch mit der vorhergesagten minimalen negativen Ladung am Carben-C
überein. Man nimmt heute an, daß die Arduengo-Carbene, die in jüngerer Zeit in vielen eleganten
Reaktionen als Carbenkomplexe (Herrmann et al.) eingesetzt werden, vor allem kinetisch stabil
sind. Das heißt also, sie sind von ziemlich hohen Aktivierungsenergiewällen umgeben, die die
üblichen Abreaktionen wie Dimerisierung, Insertion etc. verhindern.
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