PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG FACHBEREICH CHEMIE ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Organische Chemie I für fortgeschrittenen Studierende der Chemie – reaktive Zwischenstufen Prof. Dr. Thomas Schrader Fachbereich Chemie, Universität Marburg Hans-Meerwein-Straße Phone: int. + 6421 / 28-25544 fax: int. + 6421 / 28-28917 e-mail: [email protected] ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 1. Inhaltsverzeichnis und Literatur a) Inhalt Carbanionen Carbanion = metallorganische Verbindung; der Einfluss des Gegenions M+ und des Lösungsmittels: Kontakt-, Solvens-verbrücktes und Solvents-getrenntes Ionenpaar, eine Einführung. die Natur der C-Metall-Bindung besonders von R-Li-Verbindungen (aber auch von R-Na (K, Rb, Cs)) und die Bedeutung der Solvatation für die Struktur metallorganischer Verbindungen. C-H-Acidität bzw. Anion-Protonaffinität - berechnet, Gasphasenacidität, Acidität in Lösung, Einfluss von Substituenten; C-H- versus O-H-Säuren; Aciditätsskalen; kinetische Acidität, der Bezug zwischen kinetischer und thermodynamischer Acidität (Brönstedt-Gleichung); C-H-Acidität als Funktion der Hybridisierung am aionischen C-Atom, der Delokalisierung sowie am Cyclopropanring; Stabilisierung der negativen Ladung durch N- bzw. P- und O- bzw. SSubstituenten. Carbenoide, Struktur und Bedeutung für die Synthese. Herstellung metallorganischer Verbindungen mit Metallen, durch Halogen-Metallaustausch und Deprotonierung; stereoselektive Deprotonierungen. b) Literatur Carbanionen 1. 2. 3. 4. Crams, D. J. Fundamentals of Carbanion Chemistry, Academic Press, New York, 1965 Schlosser, M. Struktur und Reaktivität polarer Organometalle, Springer, Berlin, 1973 Wakefield, B. J. Organolithium Compounds, Pergamon, Oxford, 1974 Buncel, E. Carbanions: Mechanistic and Isotopic Aspects, Elsevier, Amsterdam, 1975 1 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. Stowell, J. C. Carbanions in Organic Synthesis, Wiley, New York, 1979 Wilkinson, G.; Stone, F. G. A., Abel E. W. (Ed.), Comprehensive Organometallic Chemistry, Vol. 1, Pergamon, Oxford, 1982 Sapse, A. M.; Schleyer P. V. R. (Ed.) Lithium Chemistry, A Theoretical and Experimental Overview, John Wiley, New York, 19956 Seebach, D. Struktur und Reaktivität von Lithiumenolaten, vom Pinakolon zur selektiven CAlkylierung von Peptiden - Schwierigkeiten und Möglichkeiten durch komplexe Strukturen. Angew. Chem. 1988, 100, 1685-1715 Williard, P. G. Comprehensive Organic Synthesis, Trost, B. M., Ed., Pergamon, Oxford, 1991, Vol. 1, Teil 1 Boche, G. Zur Struktur der Lithiumverbindungen von Sulfonen, Sulfoximiden, Sulfoxiden, Thioethern und 1,3-Dithianen, Nitrilen, Nitroverbindungen und Hydrazonen. Angew. Chem. 1989, 101, 286-306. Knochel, P., Singer, R., Preparation and Reactions of Polyfunctional Organozinc Reagents in Organic Synthesis, Chem. Rev. 1993, 93, 2117-2188 Schlosser, M. (Ed), Organometallics in Synthesis, Wiley, Chichester, 1994 Krause, N., Metallorganische Chemie: selektive Synthesen mit metallorganischen Verbindungen, Spektrum, Akad. Verlag, Heidelberg, 1996 2. Einführung A) Carbanionen: M M C R oder R2 R1 R C R2 R1 Typisch: Meist sind kleine Kationen dabei; hohe negative Ladung; ziehen alles mögliche mit positiver Ladung an, z.B. Metallkationen; srake Basen bzw. Nucleophile (es gibt auch AnionenElektrophile – später). B) Nehmen wir ein Elektron weg → Radikale: C R R2 R1 oder R C R2 R1 Typisch<. Sehr reaktive Elektronenmangelverbindungen; nicht polar, Vorteil: man ist nicht auf polare Lösungsmittel angewiesen. Reaktionen als Nucleophile oder Elektrophile. 2 C) Nehmen wir noch ein Elektron weg → Carbeniumionen: X C R oder 2 R R1 R C R2 R1 X Typisch: ausgeprägter Elektronenmangel; polar wie auch Metallorganyle = Carbanionen; das Gegenion gehört wieder dazu: aber im gegensatz zu den Anionen, die kleine Kationen wie Li+, Na+, K+, Rb+, Cs+ bevorzugen, sind die Gegenionen von Carbeniumionen meist größer: BF4-, SbCl6-, ClO4-. Das hat einen großen Einfluß auf Struktur und Reaktivität ( die Gegenionen sind nicht so eng dran; später mehr). D) Carbene: können formal aus allen frei Vorgängern gemacht werden: R h C 1 R C R R2 1 R A R - R2 R1 B C - R2 (z.B. - H ) 2 C -R R C R2 R1 N H R C Base N R2 R1 Die Wege A und B treten oft als Kombination auf: aus Carbenoiden lassen sich gut Carbene herstellen, wobei ein Kation und ein Anion abgespalten werden. Aber A und B sind auch separat wichtig! Carbenoide: R R1 Li Base C Cl Aus Radikalen geht kein direkter Zugang zu Carbenen (wegen der zusätzlichen C-C-Bindung). Hier interessiert vor allem die Elektronenverteilung im elektrophilen Carben. Zusammenfassung dieser Vorlesung: Kohlenstoff in verschiedenen Oxidationsstufen und Wertigkeiten. 3 Carbanionen: Sind polare Organometallverbindungen. Welche Rolle spielt das Gegenion? Eigentlich darf das Wort „Carbanion“ nur in Gänsefüßchen stehen – die gibt es nämlich nur in der Gasphase – Gasphasenaciditäten später. Selbst solche Carbanionen, die in Lösung vollständig dissoziiert sind (und das sind wenige), sind oft H-verbrückt und halten oft das Gegenion in unmittelbarer Nachbarschaft: N O R Li O CH3 + N N H N R Li CH2 Li-Tri MEDA LDA oder Li-Trimethylethylenimin (Li-TriMEDA) als Base bilden oft H-Brücken und Kontaktionenpaare (wiederholen: Kontaktionenpaar, solvens-getrenntes Ionenpaar – sovatisiertes Ionenpaar). Fluorenyl-Li bildet in Ethylendiamin als Solvens ein solvens-verbrücktes Ionenpaar (solvent-shared ion pair): Hier die negative Ladung im Fluorenylanion gut delokalisiert; die NH-Protonen machen eine H-Brücke auf das nun nicht mehr freie Anion! Li+ ist weit weg vom Anion: statt einer kovalenten Bindung koordiniert das Lithium-Kation mit dem N und macht so die NH-Brücke stärker: Die positive Ladung zieht Elektronen vom N und macht dessen Proton positiver polarisiert. Li + H 2N NH2 Fluorenyl - Li NH2 H2N H2 N H2 N Li Li H2N NH H2N NH H Li LM LM + LM LM LM LM LM SSIP Ein letztes Beispiel für unfreie Carbanionen zeigt ihre veränderte Reaktivität: O R C CH3 LDA O R Li C N C H2 H 4 Die rechte Struktur ist sehr wahrscheinlich, denn: D2O-Zugabe in großem Überschuß ergibt trotzdem 95% H+-Übertragung statt D+-Übertragung auf das Carbanion! Das H+ muß also ganz nahe dransitzen – durch Li+, das am O- sitzt und dabei das Amin festhält, ist das NH-Proton in der richtigen Position für die innere Protonierung. In den meisten Fällen haben wir es bei carbanionischen Verbindungen mit Kontaktionenpaaren zu tun: das Metall-Gegenion sitzt am anionischen C-Atom und C-Metall-Bindung bildet sich aus. N N Li N LM N LM + LM LM LM KIP Im obigen Beispiel hat das Kation im Kontaktionenpaar mehr als eine Koordinationsstelle. Das Li+ ist hier an 2 carbanische C- und 2 N-Atome gebunden. Es geht also mehr als eine Bindung ein; dies ist letzten Endes der Grund dafür, daß Lithiumorganyle oft aggregiert sind: (RLi)x mit x = 2,4,6 (später mehr). Es liegt also oft keine gerichtete (Atom-)bindung vor! Daß wir nicht von Carbanionen sprechen können, sonder höchstens von Organometallverbindungen, zeigt auch die von Metall zu Metall sehr unterschiedliche Chemie: a) Deprotonierung b) OM Ph C O CH2 + Ph M CH3 Ph OM b) Addition Ph a) C CH3 Ph Produkt Enolat Alkoholat K+ 10 1 Na+ 2 1 Li+ 1 23 MgX+ 1 ∞ Es ist nicht einfach, diese großen Unterschiede zu verstehen. Sie machen aber die große Bedeutung der Metallorganyle in der modernen Synthesechemie aus! Eine Erklärung ist deshalb nicht einfach, weil 1. verschiedene Metallorganyle unterschiedlich aggregiert sein können. 2. verschieden Lösungsmittel benutzt werden (Lömi-Einfluß, Solvatation). 3. die feinen Unterschiede zwischen den einzelnen Metallen nicht eingach zu definieren sind. 4. MX-Salze vorliegen oder nicht. 5. Oft inhomogene Gemische vorliegen: KCl ist in org. Lösungsmitteln wesentlich schlechter löslich als LiCl. 5 6. verschiedene Coliganden verwendet werden, wie Z.B.: a) TMEDA N N N b) TriMEDA N H c) HMPA (Me2N)3 P O Um in diese Vielfalt etwas Einblick zu bekommen, werden Rechnungen durchgeführt. Man kann mit semiempirischen und ab initio-Methoden heute einen guten Einblick in Alkalimetallverbindungen und auch in jüngerer Zeit in Übergangsmetallverbindungen bekommen. Damit kann man Eigenschaften ermitteln oder vorhersagen, die sonst experimentell nur schwer zugänglich sind. Die Natur der C-Metallbindung in polaren Organometallverbindungen Die Polarität z.B. der C-Li-Bindung ist keine meßbare Größe. Bei zunehmender Polarität aber sollte der Carbanioncharakter steigen. Früher nahm man an, daß die C-Li-Bindung weitgehend kovalent sei: R-Li-Verbindungen haben einen niedrigen Schmelzpunkt (also wohl nicht polar); sie sin gut löslich in unpolaren Lösungsmitteln wie n-Hexan; sie zeigen eine große Flüchtigkeit. Die höheren Alkalimetallverbindungen verhalten sich anders. Ursache für die oben genannten Beobachtungen ist aber bei Lithiumverbindungen ihre besondere Struktur: Li Li n-Bu C2H5 n-Bu n-Bu H5C2 n-Bu n-Bu CH C2H5 2 5 n-Bu Tetrameres [EtLi]4 bzw. hexameres [n-BuLi]6 verhalten sich wie Kohlenwasserstoffe: Die C-LiBindungen weisen nach innen, nach außen weisen nur aliphatische Reste! Daher die gute Löslichkeit, Flüchtigkeit, niedrige Schmelzpunkt etc. Die höheren Alkalimetallverbindungen haben allerdings tatsächlich eine viel salzartige Struktur. Die 13C, 6Li bzw. die 13C, 7Li Kopplungen im 13C-NMR verleiteten zu der Auffassung, daß in Lithiumorganylen eine kovalente Bindung vorläge: Heute weiß man, daß fürdiese Kopplungen Fermi-Kontakt-Wechselwirkungen nötig sind, die s-Orbitalbeteiligungen an beiden Kernen erfordern – nicht nur polare Atombindungen ergeben solche Kopplungen. Was berechnet man nun? „Natural localized Molecular Orbitals“ Hybridisierung C-Li-Bindungs- C-Li-Bindungs- s-Orbitalcharakter Produkt 1 x 2 ordnung: ordnung: des C-Atoms [%] ionisch kovalent 1 2 CH3Li 0.14 0.86 19 2.7 CH2=CHLi 0.10 0.90 28 2.8 6 CH≡C-Li 0.05 0.95 52 2.6 Der kovalente Anteil liegt in allen drei Fällen unter 15%! ...alles andere ist ionisch (86-95%)! Je höher der s-Charakter, desto niedriger ist der kovalente Anteil der Bindung. Das Produkt aus kov. Bindungsordnung und s-Orbitalcharakter bestimmt im NMR-Spektrum die Kopplungskonstante: sie sollte da stets dasselbe herauskommt (1 x 2)unabhängig von der Hybridisierung sein. Man findet folgendes: 1 3 monomer: t-Buli (sp ) Ph-Li (sp2) dimer: (n-BuLi)2 (sp3) (Ph-Li)2 (sp2) t-Bu-C≡C-Li (sp) tetramer: (n-BuLi)4 (sp3) (CH2=CH-Li)4 (sp2) t-Bu-C≡C-Li (sp) J13C, 6Li 14.7 15.6 7.8 8.0 8.3 5.5 5.8 6.0 Wie man sieht, hängt die 13C,6Li-Kopplungskonstante ausscheließlich von der Aggregation und nicht von der Hybridisierung ab wie etwa bei der C-H-Kopplung! Dies ist typisch für ionische Verbindungen. Bei C-H-Kopplungen (C-H ist kovalent!) ist das ganz anders; hier ist ja auch die Bindungsordnung 1.0 für den kovalenten Anteil. Zur Erinnerung: Hybridisierung CH4 CH2=CH2 HC≡CH 1 J13C,1H 125 156 249 Für einen hohen Ionencharakter der Lithiumorganyle spricht schließlich auch das Dipolmoment von 6 D für CH3Li (hohe Polarität = Hinweis auf hohe ionische Anteile). Könnten kovalente Mehrzentrenbindungen wie in Elektronenmangelverbindungen (z.B. bei Borverbindungen) zur Bescheribung verwendet werden? Nein, den polare Organometallverbindungen fallen nicht unter die Oktettregel! Li 6 + O O O O (4 x 2) = 14 Die oben abgebildete Verbindung CpLi [12]Krone-4 hat formal 14 Elektronen am Lithium! Elektronenzählen ist bei diesen Verbindungen also nutzlos. Es liegen also keine 7 Elektronenmangelverbindungen vor, eher schon Nucleophile bzw. Basen mit einem Lewis-sauren Gegenion, die über einen geringen kovalenten Bindungsanteil verfügen. Wieviel Ladungsdichte sitzt nun auf dem Metall, genauer gefragt: Wieviel sitzt dort pro gebundener CH3-Gruppe? MCH3 Li (0.87) Na (0.79) K (0.90) Rb (0.90) Cs (0.93) M(CH3)2 Be 1.49 (0.74) Mg 1.55 (0.77) Ca 1.78 (0.89) Sr 1.82 (0.91) Ba 1.88 (0.94) M(CH3)2 Zn 1.41 (0.71) Cd 1.36 (0.68) Hg 1.17 (0.59) M(CH3)3 B 1.02 (0.34) Al 1.87 (0.62) Ga 1.68 (0.56) M(CH3)4 C -0.12 (-0.03) Si 1.85 (0.46) Ge 1.69 (0.42) Sn 1.95 (0.49) Pb 1.74 (0.44) Kursiv: Schwach positiv Normal: mittel positiv Fett: mehr oder weniger stark positiv Beispiele - Bor: kaum metallorganische Chemie!; Zn: erst seit wenigen Jahren bekannt und mit Hilfe von Katalysatoren realisiert Wie korreliert die Ladungsdichte auf dem Metall (= Polarität der C-Metallbindung) mit der Elektronegativität des Metalls (nach Allred-Rochow)? 1.1 1.0 0.9 0.8 0.7 0.6 0.5 0.6 0.7 0.8 c 0.9 1.0 Li Na K Rb Cs Es fällt auf, daß Lithium aus dem Rahmen fällt! Es ist elektronegativer als Na. Für K, Rb und Cs ist dies aufgrund der Abschirmung der Kernladung von den Valenzelektronen durch den steigenden Atomradius verständlich. Aber im Lithium ist diese effektive Kernladung geringer, als sie sein sollte (Begründung?). Dadurch übt Lithium eine geringere Anziehung auf seine Valenzelektronen aus (= geringere Elektronegativität). Das zeigt auch die Serie der Ionisierungspotentiale: 6.0 5.5 IP [eV] 5.0 4.5 4.0 3.5 Li Na K Rb Cs Wie schon vorher angedeutet, wächst die Polarität der C-Li-Bindung mit dem s-Charakter (umgekehrt proportional zum kovalenten Anteil): Hybridisierung CH3Li (natürliche Ladung) Aggregation auf Li+ 0.853 (CH3Li)2 (natürliche Ladung) auf Li+ 0.875 8 CH2C=CHLi HC≡CH 0.900 0.946 (CH3Li)3 (CH3Li)4 0.853 0.857 2 Konsequenzen: a) Die höchste natürliche Ladung auf dem Metallatom bedeutet nicht die größte reaktivität des Carbanions(hier ist ja das Alkinylanion das stabilste). b) Die Aggregation wirkt sich kaum auf die Ladungsdichte am Metallkation aus. Auch bei der Solvatation z. B. in Dimethylether findet man gegenüber der Gasphase keine allgemeinen Trends in der Veränderung der Ladungsdichte am Metallkation – auch hier ist keine allgemeine Reaktivitätssteigerung bei fehlender Sovatation zu erwarten. Was könnte die treibende Kraft zur Ausbildung von Ionenpaaren sein (vs. kovalenten Bindungen)? Eine C- Li+ Anordnung im Abstand von 2 Å ergibt eine Coulomb-Anziehung von 166 kcal/mol!! Bei der Reaktion CH3Li → CH3- + Li+ ist die Anziehung 168.9 kcal/mol! Diese Coulomb-Stabilisierung nimmt mit zunehmendem Ionenradius ab, weil der Abstand zwischen beiden Ladungen größer wird: Cp-Li+ (182.4) › Cp-Na+ (145.4) › Cp-K+ (132.2) › Cp-Rb+ (1126.0) › Cp-Cs+ (124.0) Einfluß des Solvens: Solvatationsenergien von Alkalimetallkationen in Wasser: Li+ 119.4 kcal/mol, Na+ 93.2 kcal/mol, K+ 73.1 kcal/mol, Rb+ 67.2 kcal/mol, Cs 59.3 kcal/mol. Diese hohen und sehr unterscheiedlichen Werte zeigen beispielhaft, welch große Rolle die Solvatation bei ionischen Verbindungen hat! Auch hier ist aufgrund der hohen Ladungsdichte die Solvatationsenergie bei den kleinen Inen besonders hoch! Wie kann man sich überlegen, unter welchen Bedingungen aus Kontaktionenpaaren solvensgetrennte Ionenpaare werden? - + [R M ] - + [ R // M ] Solvens KIP Solvens SSIP - + [R ] + [M ] Solvens Solvens Freie Ionen Der Grad der Solvatation ist vor allem von 2 Faktoren abhängig: 1. Solvatation des Kations; 2. elektrostatische Stabilisierung des Carbanions durch das Kation). Das aber bedeutet: Je delokalisierter die Ladungen im R- sind, desto weniger wichtig ist der Kontakt zum Kation. Je kleiner das Gegenion M+, desto besser ist dessen spezifische Solvatation. Je polarer das Lösungsmittel, deto besser ist die Solvatation der Ionen. Die UV-Spektroskopie ist ein gute Mittel zur Untersuchung von ionischen Fluorenylverbindungen, denn der HOMO-LUMO-Abstand, der die →*-Absorption bestimmt, ist stark vom Ionenradius des Gegenions abhängig: Fluorenyl-Metallorganyl Li+, Kontaktionenpaar (KIP) Na+, KIP K+, KIP Cs+, KIP n-Bu4N+, KIP Solvensgetrenntes Ionenpaar Radius des Kations [Å] 0.60 0.96 1.33 1.60 ~3.5 ~4.5 max [nm] 349 356 362 364 368 373 9 freies Anion - 374 Dissoziierte Ionenpaare kommen praktisch nur in der Gaspase vor: Im Labor annähernd erreicht mit sehr verdünnten Lösungen von Li+-Verbindungen bei starker Delokalisierung der neg. Ladung im Carbanion und hervorragender Solvatation des Kations. Der starke Einfluß der unterschiedlich guten Solvatation auf die Struktur der gebildeten Ionenpaare wird an folgendem Beispiel deutlich: Tabelle: Prozentgehalt an Solvens-getrennten Ionenpaaren bei der Solvatation von Alkalimetallfluorenylanionen in THF und Glyme (Glycoldimethylether) bei RT. M in O oder in MeO Metall Li Na K Cs OMe THF 80 5 0 0 Glyme 100 95 10 0 Das kleine Lithiumkation bildet, wie erwartet, in THF praktisch nur das solvens-getrennte Ionenpaar (SSIP). Die größeren Kationen dagegen können mit ohrer schwachen Kation THF-SauerstoffWechselwirkung nicht mit der Kation-Fluorenylanion-Wechselwirkung konkurrieren. Glyme solvatisiert noch besser als THF. Das liegt an der Bildung eines Chelatkomplexes der entropisch begünstigt ist (ein Glyme-Molekül besetzt gleich 2 Koordinationsstellen am Lithiumkation. O O MeO Li O OMe Li O MeO OMe Noch viel bessere Komplexierungseigenschaften haben Cosolventien wie Kronenether: Während z. B. Fluorenyl-Natrium bei RT in THF fast vollständig als Kontaktionenpaar vorliegt (s.o.), verschiebt die Solvatation mit Dimethyldibenzo[18]krone-6 das Gleichgewicht vollständig auf die Seite des solvens-getrennten Ionenpaars. Das absorbiert nämlich bei 373 nm (vgl. Tabelle der UVAbsorptionen weiter oben). Gleichzeitig mißt man eine extrem hohe Komplexbildungskonstante von KA = 5 x 106 M-1. O O O Na H3C O CH3 O O max = 373 nm (SSIP) 10 Noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß diese Cosolventien sogar Komplexe mit den Alkalimetallen selbst eingehen. Die Stabilisierung ziehen sie dabei aus der Überführung des Alkalimetalls in sein Kation. Das Gegenion ist entweder ein freies Elektron (Electrid) oder ein Cäsiumanion (Cäsid). O O O e Cs O O O bzw. "Elektrid" Cs "Cäsid" Diethylether und 2-Methyltetrahydrofuran solvatisieren Kationen schlechter als THF, wahrscheinlich durch eine größere sterische Hinderung bei der Ausbildung ihrer Solvathülle. Auf der anderen Seite behindert eine zusätzliche Methylgruppe im Fluorenylanion die Bildung des engen Kontaktionenpaars und shifted das Gleichgewicht auf die Seite des Solvens-getrennten Ionenpaars. Eine sterische Hinderung begünstigt so das Abstandhalten der Ionen und damit die Solvatation. Bsp.: Müllen-Struktur eines dimeren Fluorenylanions: O O Li O O O O Polymere Struktur Kristall (SSIP) Li O O im Schon wieder ein Fluorenylanion, welches diesmal aber aufgrund der sterischen Hinderung kein Kontaktionenpaar bildet, sondern Solvens-getrennte Ionen in einer polymeren Struktur im Kristall aufweist. Die Gleichgewichtseinstellung zwischen KIP und SSIP ist stark temperaturabhängig. Auch hier spielen Entropieeffekte eine große Rolle: Obwohl nämlich die Bildung des komplett solvatisierten Gegenions exotherm ist, nimmt die Entropie dabei ab, und das ist ungünstig. Die Zunahme der Ordnung wird durch die unten gezeigte Gleichung verdeutlicht: Beim Übergang in das SSIP umgeben schließlich vier anstelle von drei geordneten THF-Molekülen das Lithium-Gegenion. THF R Li THF THF + THF THF R THF Li THF THF frei gebunden = geordnet 11 Nach Gibbs-Helmholtz (G = H –TS) sollte deshalb dieser ungünstige Entropieeinfluß (negatives S) bei tieferen Temperaturen unterdrückt werden. Tatsächlich findet man bei FluorenylNatrium einen Anstieg im Betrag des SSIP von 5% bei RT zu fast 100% bei –50°C. + THF n THF Na THF Na n THF - THF o (SSIP, -50oC) (KIP, 25 C) Aus der reversiblen Temperaturabhängigkeit dieses Gleichgewichts kann man H0 und S0 bestimmen. Wie erwartet, ergibt sich ein stark negativer Entropiewert. Zwei Anwendungen dieser temperaturabhängigen Gleichgewichtslage sind hervorzuheben: Bei der lebenden anionischen Polymerisation wird die Reaktivität der carbanionischen Spezies durch bei tieferen Temperaturen erhöht. Dies liegt an dem größeren Anteil von solvens-getrennten Ionenpaaren. Damit wird die Aktivierungsenthalpie leichter überwunden und die Reaktion schneller. Auch die Herstellung von künstlichen Ionenkanälen mit Polyether-Naturstoffen nutzt die entropisch günstigere Solvatation des Kations durch multiple Chelatwechselwirkungen im Kanal im Gegensatz zu den hochgordneten Solvathüllen in freier Lösung. Zum Schluß noch ein besonders beeindruckendes Beispiel für den starken Einfluß des IonenpaarCharakters. Hier entstehen nur durch Änderung der Lösungsmittel-Umgebung zwei völlig verschiedene Spezies: a : M = Li (T1/2 (50oC) : 14 min.) OM n THF b : M = SiMe3 (T1/2(50oC) : 3 min.) Ph O M (KIP) c : M = Na n THF d:M=K Ph HMPA O M HMPA HMPA M Ph (SSIP) O Ph Lithiumverbindung 16a hat eine Nonafulven-artige Olefinstruktur und isomerisiert elektrozyklisch leicht zum Dihydroinden 17a (Halbwertszeit bei 50°C 14 min). Das gleiche beobachtet man auch beim kovalenten Silylenolether 16b. Bei Zugabe des guten Cosolvens HMPA entsteht quantitativ eine völlig neue Spezies. die als aromatisches [9]Annulen-Anion 18 per NMR identifiziert wird. Dieses isomerisiert nicht mehr zu dem Valenzisomer 19, selbst 12 h bei 60°C. Die Erklärung für diesen Strukturwechsel liegt im Wechsel vom Kontaktionenpaar zum solvensseparierten Ionenpaar: im KIP 16 lokalisiert das Metallkation die Ladung am Enolat-O und läßt nur noch eine elektrozyklische Stabilisierung zu; im solvensseparierten Ionenpaar 18 dagegen kann das freie 12 Elektronenpaar in den Ring hinein delokalisiert werden und die stabilisierte aromatische Spezies ausbilden. Aromatizität ist hier also eine Funktion des Ionenpaarcharakters! Diese Beobachtungen zeigen, wie wichtig die Balance zwischen verschiedenen Wechselwirkungen für Organometallverbindungen ist. Ein letztes Beispiel für die unterschiedliche Chemie von Organolithium-Verbindungen, die durch unterschiedliche Solvatation in verschiedenen Lösungsmitteln hervorgerufen wird, ist ihre Anwendung zur enantioselektiven Alkylierung. Kann man ein achirales R-Li chiral machen? Idee: Ein guter chiraler Komplexligand verdrängt das Lösungsmittel vom KIP, macht R-Li reaktiver und schirmt eine enantiotope Seite ab. Das läßt sich mit dem chiralen tertiären Amin Spartein realisieren, in unserem Beispiel allerdings nur in Ether und nicht in THF. Was passiert? Testreaktion: R1 OLi R C H O 1 R + R Li H OLi 1 + R C R H ee = ? N (-)-Spartein Vorbedingung für eine asymmetrische Induktion: LM R LM + Li N N N* * N R + 3 LM Li N LM das darf nicht reagieren! das muß reagieren! Li O + Beispiel: Solvens Cosolvens Ph Cl ? CH3 3 Diethylether 74% Ausb. 2 (-) Spartein > 97 : 3 Angriff an C1/C3 1 H3C O ee : > 95% C Ph O C H THF (-) Spartein O Ph Ph 3 2 1 CH3 + H C 3 2 1 CH3 Angriff an C3 ee : 0% 13 1. In Ether erhält man eine gute Ausbeute an chemoselektiver Alkylierung in 1-Position mit einem hervorragenden ee von >95%. 2. In THF erhält man ein Racemat von 3-alkyliertem Produkt. Erklärung über 2D-6Li,1H—HOESY-NMR-Spektroskopie: Es wurden 4 Proben bei –70°C vermessen, die jeweils den Komplex des lithiierten Indenylanions ohne und mit Spartein in Ether bzw. THF enthielten. (Folien!). Ohne Spartein sind in beiden Lösungsmittel intermolekulare NOE-Kontakte H zwischen dem Lithiumkation und dem Solvens H Li Messung nachzuweisen. Außerdem zeigen sich starke NOE- H 5 4 9 3 in Et2O - d10 und 2 Kontakte zu den Protonen des Fünfrings, so daß H in THF - d8 6 ein Kontaktionenpaar mit einer definierten 8 1 ohne und mit 7 Solvensumgebung am Lithium vorliegen muß. Bei H Spartein Zugabe von Spartein verschwinden in Ether die H CH3 Kontakte vom Lithiumkation zum Lösungsmittel fast vollständig, während neue zum Spartein auftreten (Verdrängung des Solvens durch das Cosolvens Spartein). In THF verändert sich das Spektrum dagegen nicht. Also muß die unterschiedliche Solvatation die Ursache für den drastisch unterschiedlichen Reaktionsverlauf sein. Bestätigung und Detailsinformation durch Kristallstrukturanalyse: THF N THF N THF Li Li H 3 3 2 2 1 O CH3 Cl O PH 1 Cl Ph CH3 In Ether verbrückt das Lithium das Allylanion (-gebunden); das Spartein hat die Etherliganden verdrängt und bildet einen Chelatkomplex mit dem Lithiumkation, in dem das Kation nur von oben über dem Indenylanion sitzt; außerdem ist die Bindung zu C-1 verkürzt, also hier am reaktivsten. In THF liegt ein -gebundener Komplex vor, in dem das Lithiumkation an C-3 einmal über, einmal unter dem Indenylanion sitzt. Dadurch wird die andere Regiochemie und die Racematbildung erklärt! CH-Aciditäten Stabilitäten von Carbanionen – Rechnungen und Gasphasenexperimente 14 Einer der wichtigsten Aspekte in der Carbanionenchemie ist die Acidität von CH-Säuren oder, anders gesagt, die Anionen-Protonaffinität der korrespondierenden Basen. Die intrinsische (natürliche) Basizität eines nackten Carbanions (nur in der Gasphase meßbar) läßt sich mit MNDOoder aufwendigeren Rechnungen vorhersagen. Tabelle: Vergleich berechneter und experimenteller Protonenaffinitäten von Anionen [kcal/mol]. Anion Ab initio- Experimentelle Rechnung Gasphasenacidität 1. H2. CH33. NH24. OH5. F6. C2H57. CH2=CH8. HC≡C9. N≡C10. Allyl11. Vinylalkoholat12. Acetonitril13. Nitromethanat- 401.8 433.5 408.7 394.6 361.9 439.1 423.8 385.6 354.2 405.5 374.5 386.1 350.5 400.4 416.6 403.6 390.8 371.5 >404 375.4 353.1 387.2 366.4 372.2 358.7 Die obenstehende Tabelle zeigt erstens eine recht gut Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment (Zeilen 1-5); zweitens einige Bestätigungen bekannter Phänomene (Hybridisierung, Zeilen 6-9): Die Protonenaffinität nimmt vom aliphatischen über das vinylische zum AcetylidAnion wie erwartet aufgrund des steigenden s-Charakters ab; Ersatz von C gegen das elektronegativere N stabilisiert das Anion zusätzlich. Bei Resonanzstabilisierten Carbanionen wirkt sich der elektronenziehende Charakter von Heteroatomen besonders in der Dreifachbindung günstig aus (Zeilen 10-13). Die nächste Tabelle gibt Auskunft über die Stabilität verschiedener Konformationen, Konfigurationen und Isomeren repräsentativer Carbanionen: Tabelle: Berechnete relative Energien von Konformationen, Konfigurationen und Isomeren einiger Carbanionen [kcal/mol]. Anion rel. Energie Anion 1. CH3-: sp3 (tetraed., C3V) sp2 (planar, D3h) 2. C2H5 : gestaffelt ekliptisch bisected 3. CH2=CH-: sp2 (CS) sp (linear, C2V) 4. Cyclopropyl-: sp3 (Cs) 0.0 0.5 0.0 2.0 2.7 0.0 20.2 0.0 5. Allyl-: konjugiert (C2) senkrecht (CS) 6. Vinylalkoholat: planar senkrecht 7. Nitromethylat : planar senkrecht 8. Cyclopropylanion (C-1, sp2) (C-3, sp3) rel. Energie 0.0 20.4 0.0 40.5 0.0 44.1 -40.7 0.0 15 sp2 (C2V) (C-3, sp2) 17.1 35.6 Das Methylcarbanion hat praktisch keine Inversionsbarriere für seinen sp2/sp3-Übergang; es ist nicht konfigurativ stabil (Zeile 1). Dies steht in krassem Gegensatz zu Vinylcarbanion (sp2/sp-Übergang) und Cyclopropylanion (sp2/sp3-Übergang) (Zeilen 3 und 4). Es lassen sich auch die relativ geringen Energieunterschiede verschiedener Konformationen im Ethylanion berechnen (staggered, eclipsed, Zeile 2). Die Rotationsbarriere in Carbanionen vom Allylaniontyp (auch heterosubstitutierte Derivate) steigt mit wachsendem Elektronenzug und demonstriert den wachsenden Doppelbindungscharakter. Im Cyclopropenyl-Carbanion ist die planare sp2-Anordnung wegen ihrer Antiaromatizität instabiler als die gewinkelte sp3-Spezies. Am stabilsten ist aber das Isomer mit der negativen Ladung an C-1. Oft stimmen diese Gasphasenaciditäten gut mit experimentellen Ergebnissen in Lösung überein. Aus markanten Unterschieden zwischen Gasphase und Lösung lassen sich andererseits die Größe von Solvatations- und Gegenion-Effekten ermitteln; dies ist vielleicht noch wertvoller! Gleichgewichts-Aciditäten in Lösung Die in Wasser gemesssenen Aciditäten verschiedener Säuren verändern sich oft dramatisch beim Übergang in organische Lösungsmittel. Carbanionenchemie geschieht aber vor allem in organischen Lösungsmitteln. Ein direkter Vergleich ist daher interessant. DMSO als dipolar aprotisches Lösungsmittel hat mehrerer Vorzüge vor anderen organischen Lösungsmitteln: Erstens kann man damit einen großen pK-Bereich (~30 Einheiten) erfassen, zweitens bildet der eigene pK-Wert einen Standard für die Aufstellung einer absoluten Skala. Drittens zeigen Leitfähigkeitsmessungen, daß Alkalisalze von CH-Säuren in DMSO völlig dissoziiert vorliegen, so daß man keine Aggregationseffekte zu befürchten braucht. Tabelle: Gleichgewichts-Aciditäten einiger CH- und OH-Säuren in DMSO. Säure pK Säure pK DMSO Acetonitril Dimethylsulfon Triphenylmethan Phenylmethylsulfon Phenylacetylen Diethylketon Aceton Phenylisopropylketon 35.1 31.3 31.1 30.6 29.0 28.8 27.1 26.5 26.3 Acetophenon Dibenzylsulfon Fluoren Nitromethan Malondinitril Benzoesäure p-Nitrobenzoesäure o-Hydroxybenzoesäure (=Salicylsäure) 24.7 23.9 22.6 17.2 11.1 11.0 6.9 4.7 Wasser ist ein starker Wasserstofbrücken-Donor und auch ein Akzeptor. DMSO dagegen ist nur ein guter Akzeptor. Es stabilisiert deshalb Anionen mit einer lokalisierten, harten Ladung schlecht. Die entsprechenden Säuren sind deshalb in DMSO schwächer als in Wasser. So sinken die Aciditäten für Phenole, Carbonsäuren, Ketone und Nitroalkane in DMSO um 5-10 pK-Einheiten gegenüber den bekannten Werten in Wasser (Tabelle oben). Dasselbe gilt noch mehr für die total lokalisierten negativen Ladungen von Alkoholaten und Hydroxidionen in DMSO; die entsprechenden pK-Werte in DMSO liegen um 14-16 Zehnerpotenzen niedriger als in Wasser. Aciditäten in unpolaren Lösungsmitteln Aus 2 Gründen ist es aber wichtig, auch die CH-Aciditäten in unpolaren Solventien zu kennen: 16 1. Die meisten Reaktionen z.B. von Organolithiumverbindungen verlaufen in diesen Solventien. 2. Viele CH-Bindungen in aliphatischen, Cyclopropyl-, Vinyl- und Aryl-derivaten sind weniger acide als DMSO; ihre korrespondierenden Anionen würden also DMSO selbst deprotonieren (CH3-(S=O)-CH2-...Na+). In Lösungsmitteln mit hohem pK wie Ether oder Benzol sind Organometallverbindungen nicht dissoziiert, sondern liegen als Ionenpaare oder sogar als Aggregate vor. Die gemessenen Gleichgewichtskonstanten liefern also Ionenpaar-Aciditäten! Daher geht auch die Stabilität der metallorganischen Base als Funktion des Gegenions und des Solvens in die Aciditätsbestimmungen mit ein: R-H + R‘-M → R-M + R‘-H Wir wissen, daß Kontakt- bzw. Solvensgetrennte Ionenpaare entstehen können – je nachdem wie hoch die Acidität des Kohlenwasserstoffs in Abhängigkeit vom Metallgegenion ist. Beispiel: PhCH2-CN: Der pKA dieser Verbindung in THF ist bei der Überführung in das Cäsiumsalz 22.7, bei der Überführung in das Lithiumsalz aber 17.7! Die Lithiumverbindung ist also stabiler, denn Li+ stabilisiert das Anion besser als das große Cs+-Kation. Einkristallstrukturen zeigen einen direkten Kontakt des Lithiumkations mit dem negativ polariserten N-Atom des Nitrilanions: Ph CH C NI N Li N Li R CH C N N C CH R Li N N Erste Ionenpaar-Aciditäten wurden von Conant und McEwen mit Natrium und Kaliumorganylen bestimmt. Weil aber solche Gleichgewichtseinstellungen oft sehr langsam sind, wichen Applequist und Dessy auf Halogen-Metall- und Metall-Metall-Austauschreaktionen aus. R-Li + R‘-I → R-I + R‘-Li R2Mg + R‘2Hg → RMgR‘ + RHgR‘→ R2Hg + R‘2Mg Diese Resultate wurden von Cram zur sogenannten MSAD (McEwen-Streitwieser-ApplequistDessy) Skala von CH-Aciditäten zusammengefaßt, die eine Mischung aus Ionen- und IonenpaarAciditäten darstellt: Tabelle: Cram’s MSAD-Skala Verbindung pK Verbindung pK Fluoraden Cyclopentadien 9-Phenylfluoren Inden Phenylacetylen Fluoren Acetylen 1,1,3-Triphenylpropen Triphenylmethan 11 15 18.5 18.5 18.5 22.9 25 26.5 32.5 Ethylen Benzol Cumen Triptycen Cyclopropan Methan Ethan Cyclobutan Neopentan 36.5 37 37 38 39 40 42 43 44 17 Toluol Propen Cycloheptatrien 35 35.5 36 Propan Cyclopentan Cyclohexane 44 44 45 Man erkennt sofort, daß diese Skala etwa 15 pK-Einheiten in den weniger sauren Bereich reicht als die in DMSO gemessenen Aciditäten. Streitwieser hat Ionenpaar-Aciditäten einer großen Anzahl von Verbindungen mit Lithiumcyclohexylamid (LiCHA) bzw. Cäsiumcyclohexylamid (CsCHA) im unpolaren Cyclohexylamin bestimmt, die bis zu einem pK von ~38 reichen. An 3 Beispielen sollen die in DMSO bestimmten Ionenaciditäten (freie Ionen in starker Verdünnung) mit den Ionenpaaraciditäten verglichen werden: Tabelle: pK-Werte und Ionenpaar-Aciditäten (MSAD und CHA) im Vergleich: CH-Säure pK(DMSO) Cyclopentadien Phenylacetylen Triphenylmethan 18.1 28.8 30.6 pK(MSAD = Et2O, THF pK(LiCHA) pK(CsCHA) 23.24 - 16.25 31.45 oder Cyclohexan) 15 18.5 32.5 In Fall von Cyclopentadien und Triphenylmethan stimmen die gemessenen Werte sehr schön überein, im mittleren Fall von Phenylacetylen nicht: Hier tritt eine Punktladung am PhenylacetylenAnion auf, die im dissoziierten Zustand selbst durch stark polare Lösungsmittel wie DMSO nur ungenügend stabilisiert werden kann. Im Kontaktionenpaar ist hier die Stabilisierung über das Lithium-Gegenion besser, deshalb die größere Acidität in Ether etc. In THF kann man nur relativ stabile Anionen vermessen; die meisten sehr basischen CH-Anionen zersetzen THF schnell nach dem Mechanismus einer Retro-1,3-dipolaren Spaltung zum Alken und Lithiumenolat: Li O O + LiO Zur Ermittlung der Stabilitäten wurden deshalb auch Deprotonierungsreaktionen von Alkoholen ROH herangezogen. In der folgenden Tabelle werden berechnete mit experimentellen Reaktionsenthalpien verglichen: Lithiumorganyl t-BuLi sec-BuLi n-BuLi Ph-Li Me-Li LDA Lithium-2,2,6,6Tetramethylcyclohexylamid Hexp für RM + t-BuOH 54.1 kcal/mol 50.7 47.9 40.2 39.5 26.5 23.3 Hber für RM + t-BuOH 56.5 kcal/mol 54.9 52.4 42.6 34.6 - 18 (Me3Si)2NLi (Me3Si)2NK LiOt-Bu 13.1 0.8 0.0 (s.o.) - Rechnungen: MP2 (FU) / 6-31G* Diese Deprotonierungsenthalpien sind wichtige Größen für eine Abschätzung von Basizitäten bei Lithiumverbindungen. Kinetische Acidität: Eine wichtige Alternative zur bisher beschriebenen thermodynamischen pK-Bestimmung (Lage des Dissoziations- bzw. Deprotonierungsgleichgewichts) ist die kinetische Bestimmung von CHAciditäten. Man fragt also: Wie schnell deprotoniert eine Base mein acides Proton? und setzt die Leichtigkeit, mit der das Proton entfernt werden kann, proportional zur Lage des dadurch entstehenden Gleichgewichts. Das stimmt nicht immer, ist aber eine wertvolle zusätzliche Methode, die neue Informationen z. B. über die Struktur der intermediär gebildeten carbanionischen Spezies bietet. Normalerweise nutzt man zur quantitativen Messung der Deprotonierungsgeschwindigkeit den Isotopen-Austausch zwischen der CH-Säure und einem deuterierten Lösungsmittel oder anders herum (also den Isotopenaustausch zwischen einer deuterierten CH-aciden Substanz und dem protischen Lösungsmittel). Diesem Vorgehen liegt die berechtigte Annahme zugrunde, daß die Abstraktion eines H+ oder D+ der langsamste, geschwindigkeitsbestimmende Schritt ist, während die Reprotonierung des Carbanions durch das (wahlweise deuterierte) Solvens sehr schnell abläuft: slow (1) - R3C-H + Base R3C + Base-H fast fast (2) R3C- + Base-D → R3CD + Base- Wie bei der Acidität selbst ist auch hier der Einfluß des Mediums (Solvens) auf die Deprotonierungsgeschwindigkeit enorm; dies läßt sich besonders elegant an Racemisierungsexperimenten zeigen. Wenn nämlich eine Racemisierung gleich schnell verläuft wie der H- oder D-Austausch, so kann man die Kinetik der Deprotonierung als Änderung des Enantiomerenüberschusses per Drehwinkel-Messung indirekt und sehr genau verfolgen. In einem solchen Fall ist wieder der Deprotonierungsschritt schnell, führt aber anschließend immer zur Racemisierung durch eine völlig unselektive Protonierung. So etwas kann man natürlich nur beobachten, wenn das intermediär entstehende Carbanion entweder planar ist oder extrem schnell invertiert (hier liegt eine zusätzliche Information über die Natur des Carbanions). Es gilt also in diesem Fall: kA / krac = 1. Dadurch brauchen wir also gar keinen H/D-Austausch. H H3C * C H3C C6H5 C CN H base 1-H * slow base - H H3C H3C * C CN 1-D 1-H C C CN CH3 C6H5 H CN solvent - D fast C6H5 CN base - H solvent - D D C6H5 25 fast H3C H3C C C6H5 D 1-D CN C CN 19 Das optisch reine 2-Methyl-3-phenylpropionitril wurde mit KOtBu in einem Solvensgemisch von Methanol und steigenden Anteilen an DMSO deprotoniert und anschließend die relative Racemisierungskonstante gemessen, welche ihrerseits die relative Deprotonierungsgeschwindigkeit wiederspiegelt. In 98.5%igem DMSO verläuft die Deprotonierung mehr als 7 Zehnerpotenzen langsamer als in reinem Methanol, weil das protische Solvens selbst die Base durch Wassserstoffbrücken schwächt. Tabelle: Relative Racemisierungsgeschwindigkeiten von optisch reinem 2-Methyl-3phenylpropionitril mit KOtBu als Base bei 25°C. Solvens in Gewichtsprozent kSolvensgemisch / kMethanol 100% MeOH 50% MeOH / 50% DMSO 10% MeOH / 90% DMSO 1.5% MeOH / 98.5% DMSO 1.0 1.6 . 102 1.3 . 105 5.0 . 107 Präparativ viel wertvoller wäre natürlich der umgekehrte Prozeß einer Racemisierung: Kann man Carbanionen enantioselektiv protonieren? Dies ist ein sehr junges Gebiet, das erst in den letzten Jahren intensiv bearbeitet wurde. Besonders interessant ist natürlich die enantioselektive Protonierung der enantiotopen Seiten von Enolaten. Hier haben C. Fehr et al. ein schönes, einfaches System entwickelt: Sie generieren das Thioester-Enolat 1 und protonieren bei tiefen Temperaturen in einer schnellen, irreversiblen, kinetisch gesteuerten Reaktion mit einer chiralen Protonenquelle 2, die über N und O chelatartig am Lithium koordiniert und anschließend das Proton des Alkohols diastereoselektiv auf den Kohlenstoff überträgt. Es entsteht Produkt 3 in >99% ee. OLi O SPh HO fast irrev. N + SPh Ph 1 (-)-2-H (S) - 3 (84 - 87%) Dieser Prozeß konnte nach einigen mechanistischen Einblicken sogar katalytisch geführt werden: Der Trick besteht darin, die chirale Protonenquelle zurückzugewinnen, in dem eine achirale Protonenquelle zum Recycling eingestzt wird. Diese darf natürlich nicht das Enolat protonieren, muß aber mit dem lithiierten Auxiliar in einer schnellen Austauschreaktion reagieren und dabei aus dem Edukt wieder Enolat machen. Der ganze Kreislauf ist in der Abbbildung unten gezeigt. OLi O SPh HO fast irrev. N + SPh Ph 1 (-)-2-H (S) - 3 (84 - 87%) slow, revers. LiO N Ph O (-)-2-Li 20 Man setzt das Keten 4 und Phenylthiol als achirale Protonenquelle ein. Außerdem gibt man die lithiierte chirale Protonenquelle dazu. Zunächst generiert das Thiophenol durch schnelle, vollständige Umsetzung mit dem Aminoalkolat dessen protonierte Form 2. Das gebildete LiPhenylthiolat addiert in einer stöchiometrischen langsamen Reaktion an das Keten 4 und bildet dabei das Thioenolat, welches seinerseits nun irreversibel und schnell mit der chiralen Protonenquelle 2 umgesetzt wird. Dabei wird erneut die lithiierte Protonenquelle freigesetzt, die einen zweiten Katalysekreislauf mit dem ebenfalls stöchiometrisch langsam zugesetzten Thiophenol eingeht. Der ee beträgt mit 5 Mol-% chiraler Protonenquelle immerhin 90%. Die unterschiedlichen Verhältnisse der Reaktionsgeschwindigkeiten von Austausch- und Racemisierungsreaktion geben ihrerseits starke Hinweise auf die dabei auftretenden Mechanismen. Es gibt nämlich auch ganz andere (interessante) Fälle: Man findet oft kA / krac 1. Das spricht natürlich für ein konfigurationsstabiles Carbanion (davon später mehr). Tatsächlich findet man aber auch völlig planaren, delokalisierten Carbanionen solche Verhältnisse. Beispiel: Optisch reines, deuteriertes Fluorenderivat und Tripropylamin in THF: kA / krac > 56! Wie geht das? H3 D CONMe2 PrNH2 THF kA > 56 krac Nach der Deprotonierung entsteht zwar ein planares Fluorenylanion; dieses ist aber über eine Wasserstoffbrücke gebunden im Kontaktionenpaar mit der protonierten Base. Wenn nun der H/DAustausch über eine Rotation im Ammoniumion (k2) und anschließende Reprotonierung im gemeinsamen Solvenskäfig (k-1) wesentlich schneller verläuft als die kritische Dissoziation des KIP's zum SSIP (k3), so erhält man einen schenllen Austausch bei Retention der Konfiguration am Fluorenyl-C. Dafür eignet sich THF besonders gut, denn es fördert die Ionenpaardissoziation nicht (s.o.). In DMSO mit seiner hohen Dielektrizitätskonstante dissoziiert dagegen das z. B. mit NH3 erzeugte Ionenpaar leicht (k3) und man erhält wieder vollständige Racemisierung bei kA / krac = 1. 21 Pr Pr H ~ ~ D k2 ~H ~ ~ k3 k3 ~ - PrNDH ~ Racemisches Produkt KIP k-1 ~ ~ H CH3 SSIP CH3 ~ ~ ~ H CH3 ~ ~ ~ H D CH3 k-1 CH3 ~ N ~ ~ ~ Pr - NH2 k1 N D ~ + Pr-NH2D k2 und k-1>>k3: Retention Wie sähe dagegen das Austausch / Racemisierungsverhältnis bei vollständiger KonfigurationsInversion aus? Wenn jeder H/D-Austausch zu vollständiger Inversion führt, hat man schon nach 50% Austauschreaktion das Racemat. Also findet man kA / krac = 0.5. Zwischen diesen beiden Werten liegen dann Reaktionen, die keine vollständige Inversion aufweisen, sondern auch partielle Racemisierung (recht häufiger Fall). Beispiel: Wieder unser Fluorenderivat, diesmal aber in Methanol mit Tripropylamin: man findet kA / krac = 0.65. Wie kann man sich das vorstellen? 0.5 kA Krac = 1 R1 R2 C R3 R1 H + D 1:1 C R2 R3 CONMe2 D CH3 Pr3N CH3OH kA Krac = 0,65 CONMe2 Die Reaktion verläuft in protischen Lösungsmitteln über einen trigonal bipyramidalen Übergangszustand wie bei der SN2-Reaktion. Sobald nämlich ein Aminmolekül das Deuterium am aciden C angreift, lauert von hinten schon die Protonenquelle Methanol, die die entstehende negative Ladung an eben diesem C-Atom über eine Wasserstoffbrücke abfängt. Unter Inversion bildet sich neben dem Ammoniumkation auf der Vorderseite gleichzeitig das Alkoholatanion auf der Rückseite. Beide neutralisiern sich anschließend in einer schnellen Säure-Base-Reaktion. Die unvollständige Inversion ist hier wohl auf die mit der asymmetrischen Solvatation konkurrierende symmetrische Solvatation des Carbanions durch zwei Alkoholmoleküle zurückzuführen (s.u.). 22 k1 + ROH + NR 3 C D C RO-H k-1 D-NR 3 asymmetrisch solvatisiert k3 k2 RO-H C H-OR symmetrisch solvatisiert RO + H C Racemat Inversion + DNR 3 Zum Schluß noch der extreme Fall, daß die Racemisierung viel schneller verläuft als der H/DAustausch. Es gibt Fälle, bei denen das Verhältnis kA / krac < 0.5 beträgt (und zwar deutlich). Wir finden im unten gezeigten Beispiel der Deprotonierung von optisch reinem 2-Deutero-2phenylbutyronitril mit Tripropylamin in einer Mischung von THF und 1.5M t-BuOH einen Wert von kA / krac = 0.05! Das funktioniert folgendermaßen: Ph Et C Ph C NI + Base Et C D C NI C N DB Et C DB Ph Racemisierung! DB D Et Ph C C N Et Ph C C NI Die Base deprotoniert zwar das Deuteriumkation, dieses bleibt jedoch nach der Umlagerung zum lithiierten Ketenimin stets als gut koordinierendes Ammnioum-Gegenion am N desselben Moleküls. Nach Durchlaufen dieser planaren Spezies im Kontaktionenpaar kann das Molekül erneut zur tetraedrischen Form umlagern und alles rückgängig machen, d.h. das Amin und das deuterierte Edukt zurückzubilden, aber - es erinnert sich nicht mehr an seine frühere Konfiguration und entsteht racemisch! Man nennt eine solche Umlagerung der H-Brücke vom C zum N im Kontaktionenpaar einen "guided-tour"-Mechanismus. Für beide Anordnungen (sp2 mit H-Brücke zum N und sp3 mit H-Brücke zum C) gibt es Belege in Röntgenstrukturanalysen. 23 H H N N C H H H C C N N H N H H Diese Kristallstruktur zeigt die verschiedenen Positionen, die das Ammoniumion relativ zum Amin bei der „guided tour“ einnehmen muß. Das Hauptproblem bei kinetischer Aciditätsbestimmung ist natürlich die Korrelation mit Gleichgewichtsaciditäten: Ist es tatsächlich einfacher, ein Proton von einer CH-Säure mit einer Base zu abstrahieren, wenn diese Säure stärker auf der Gleichgewichts-Aciditätsskala ist? Der quantitative Zusammenhang zwischen kinetischer und thermodynamischer Acidität wird durch die Brønstedt-Katalyse-Beziehung wiedergegeben: log k = . log KA + const. k = Geschwindigkeitskonstante für die Deprotonierung von R3CH Ka = thermodynamische Ionisierungskonstante für R3CH = Brønstedt-Exponent bewegt sich üblicherweise zwischen 0 und 1 und ist als ein Maß für den Protonentransfer von der Säure R3CH zur Base im Übergangszustand interpretiert worden. Die Tatsache, daß auch Werte für > 1 gefunden werden, wie z. B. bei aliphatischen Nitroverbindungen, stellt diese einfache Interpretation jedoch in Frage. Die nachfolgende Tabelle gibt Paare für k1 [sec-1] und Ka wieder. Nach der Brønstedt- Gleichung müßten die daraus berechneten Paare für -log k1 und pKa auf einer Geraden liegen. Dies ist in der nachstehenden Abbildung aufgetragen. k1 + R3C-H + H2O R3C + H3O / Ka = k1 / k-1 k-1 Tabelle: Geschwindigkeits- und Gleichgewichtsdaten für CH-Säuren in Wasser bei 25°C. Nr 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 CH-Säure CH3-(C=O)-CH2-(C=O)-CF3 C6H5(C=O)-CH2-(C=O)-CF3 CH3-(C=O)-CHBr-(C=O)-CH3 C2H5-NO2 CH3-(C=O)-CH2-(C=O)-CH3 CH3-NO2 CH3-(C=O)-CH(CH3)-(C=O)-CH3 CH2(C≡N)2 CH3-(C=O)-CH(C2H5)-(C=O)-O-C2H5 CH3-(C=O)-CHCl2 CH3-(C=O)-CH3 Ka . 2 10-5 1.5 . 10-7 1 . 10-7 2.5 . 10-9 1.0 . 10-9 6.1 . 10-11 1.0 . 10-11 6.5 . 10-12 2 . 10-13 10-15 10-20 k-1 [sec-1] 1.5 . 10-2 8.3 . 10-3 2.3 . 10-2 3.7 . 10-8 (langsam!) 1.7 . 10-2 4.3 . 10-8 (langsam!) 8.3 . 10-5 1.5 . 10-2 (sehr schnell!) 7.5 . 10-6 7.3 . 10-7 4.7 . 10-10 24 8 11 4 6 6 10 - log k1 9 4 2 7 1 2 3 5 7 8 5 9 11 13 15 17 19 pKa Abbildung: -log k1 gegen pKa von CH-Säuren. Wie man sofort erkennt, gehorchen CH-Säuren mit einer acidifizierenden Carbonylgruppe recht genau der linearen Brønstedt-Beziehung. Die Nitroverbindungen 4 und 6 ionisieren jedoch viel langsamer als ihrer Säurestärke entsprechen würde. Wie oben erwänt, ist der Brønstedt-Exponent in Nitroverbindungen oft größer als 1; parallel dazu liefern Nitroverbindungen ungewöhnlich starke Isotopeneffekte (kH/kD = 24.3 bei der Reaktion von Nitropropan mit 2,4,6-Trimethylpyridin). Man diskutiert einen relativ komplexen Mechanismus für die Deprotonierung in protischen Solventien, der nach der eigentlichen Deprotonierung einen geometrischen Umbau nach sich zieht, z. B. die Umhybridisierung zu sp2 und Ausbildung einer Doppelbindung zwischen C und N (man spricht auch von Proton-Tunnel-Effekten). Im Gegensatz dazu ionisieren Nitrile viel schneller als Carbonyle. Dies wurde dahingehend interpretiert, daß die Ladung in Nitrilcarbanionen nicht in erster Linie durch ausgedehnte Delokalisation stabilisiert wird, wie es bei Enolaten der Fall ist. Die Nitrilgruppe wirkt dann vor allem durch ihren starken -I-Effekt stabilisierend auf das tetraedrische -Carbanion. Der kinetische Isotopeneffekt für t-Butylmalondinitril beträgt auch nur kH/kD = 1.47. Dieser kleine Wert ist in guter Übereinstimmung mit einem Übergangszustand, in dem das Proton größtenteil zur Base hin verschoben ist; auch der Brønsted-Exponent beträgt annähernd 1. Evtl. ist aber auch der Deprotonierungsschritt gar nicht mehr geschwindigkeitsbestimmend, weil er von einem zweiten langsameren Schritt gefolgt wird. Zusammenfassend können wir sagen, daß eine vernünftige Brønstedt-Korrelation nur in strukturell verwandten Verbindungen wie etwa der Carbonylserie in unsrem Beispiel beobachtet werden. Durch eine Standard-Base kann in einem solchen Fall die unbekannte Gleichgewichts-Acidität 25 anhand ihrer relativen kinetischen Acidität mit guter Genauigkeit abgeschätzt werden. Bei schwach aciden Verbindungen wie Alkanen und Alkenen tritt dabei allerdings ein hoher Fehler auf. Gasphasen-Acidität In den letzten 2 Jahrzehnten sind Werte für die Gasphasen-Aciditäten vieler organische Verbindungen zugänglich geworden, weil die experimentellen Techniken stark verbessert wurden. Dadurch ist man heute in der Lage, zwischen den Eigenschaften isolierter Moleküle (natürliche Acidität) und Solvens-bzw. Gegenion-Phänomenen zu unterscheiden. Während Aciditäten in Lösung üblicherweise in pKa-Werten angegeben werden, drückt man Gasphasen-Aciditäten von neutralen Säuren A-H als Protonenaffinitäten (PA) der Anions A- aus, definiert als die Enthalpie-Änderung H0 für die Deprotonierung: AH → A- + H+ Durch den Heß'schen Satz kann man die Protonenaffinität gemäß dem folgenden thermodynamischen Zyklus auch durch die Dissoziationsenergie D(A-H) in die Radikale und die Elektronenaffinität des Radikals A. ausdrücken: A-H → A. + H. A. + e- → A- ║ D(A-H) = homolytische Dissoziationsenergie von A-H ║ -EA(A) = Elektronenaffinität von A. H. → H+ + e║ IP(H) = Ionisierungspotential von H. = 313.6 kcal / mol _________________________________________________________________________ A-H → A- + H+ ║ H0 = D(A-H) - EA(A) + IP(H) = PA (A-) -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Weil IP(H) konstant ist, wird es in vielen Tabellen weggelassen und Protonen-Affinitäten werden dann als D-EA angegeben. So steht es in der unten angegebenen Tabelle. In vielen Fällen ist in der Gasphase die Reihenfolge der Aciditäten ähnlich der in DMSO-Löung (s.u.). Das ist erstaunlich, denn es bedeutet, daß die Solvatation in DMSO bei allen Basen ähnlich ähnlich verläuft. Im unten angegebenen Beispiel sind allerdings die Basen alle vom Gegenion getrennt und vollständig delokalisiert und werden offensichtlich deshalb auch ähnlich gut in DMSO solvatisiert. Aus den feinen Unterschieden erkennt man jedoch erstens, daß DMSO überhaupt zur Anionen-Solvatation in der Lage ist, und daß es hier zwischen günstigen und ungünstigeren Strukturen unterscheidet. Es könnte allerdings auch eine unvollständige Ablösung des Protons sein. Tabelle: Vergleich von Gasphasen- und DMSO-Lösungs-Aciditäten. CH-Säure pK (DMSO) Gasphase: PA (A-) [kcal / mol] CH3-(S=O)-CH3 CH3-CN CH3-SO2-CH3 CH3-(C=O)-CH3 CH3-NO2 35.1 31.3 31.1 26.5 17.2 374.6 375.0 360.6 370.3 358.7 26 Die wichtigste Beobachtungen beim Studium von Gasphasen-Aciditäten sind aber die Fälle, in denen die Aciditäts-Reihenfolgen völlig anders lauten als in Lösung! Das ist in der nächsten Tabelle gezeigt. Tabelle: Umgekehrte Ordnung von Gasphasen-Aciditäten im Vergleich zur Lösung (in PA(A)). CH-Säure PA(A-) [kcal / mol] C6H5CH3 379 > CH2(C≡N)2 336 > CF3(C=O)CH2(C=O)CH3 329 > Fluoren 353 > t-BuOH > i-PrOH > EtOH > CH-Säure H2O CH3COOH HCl Cyclopentadien MeOH (381) > PA(A-) [kcal / mol] 391 349 333 356 H2O (391) umgekehrt in: Wasser Wasser Wasser DMSO Wasser Toluol ist in der Gasphase acider als Wasser; in wäßriger Lösung ist es 20 Größenordnungen schwächer acide! Malondinitril ist in der Gasphase acider als Essigsäure; ebenso ist Trifluoraceton acider als Salzsäure! In wäßriger Lösung sind die Verhältnisse umgekehrt. Natürlich ist hierfür die Solvens-Solut-Wechselwirkung verantwortlich: in Wasser kann das Solvens starke Wasserstoffbrücken zum Heteroatom der korrespondierenden Base ausbilden, was bei den CHSäuren kaum der Fall ist. Dies entspricht auch dem großen Unterschied der Wasser-Acidität in H2O (pKa = 15.75) und in DMSO (pKa = 31.4), welches Anionen nur sehr schlecht solvatisiert. Warum kehrt sich die Reihenfolge zwischen Fluoren (pKDMSO = 22.6) und Cyclopentadien (pKDMSO = 18.1) um? Das liegt an der schlechteren Solvatation des stärker delokalisierten Fluorenylanions als des kleineren Cyclopentadienylanions durch DMSO. Auch hier wird deutlich, daß DMSO tatsächlich Anionen solvatisieren kann (wahrscheinlich durch die elektrostatische Wechselwirkung des Carbanionen-Kohlenstoffs mit dem positiv polarisierten Schwefelatom im DMSO). Am erstaunlichsten ist die Umkehr der Lösungsaciditäten bei Alkoholen (s.o.). Die Abnahme der Lösungsacidität mit steigender Alkylsubstitution wurde oft mit dem elektronenschiebenden +IEffekt der Methylgruppen erklärt, aber die natürliche Gasphasenreihenfolge zeigt etwas anderes: Die unterschiedlich gute Solvatation muß dafür verantwortlich sein. Da die Gasphasenbasizitäten von Aminen mit steigender Alkylsubstitution ebenfalls steigen, können Alkylgruppen also sowohl positive wie auch negative Ladungen stabilisieren! Wie kann man das erklären? Theoretiker machen dafür einen Polarisationseffekt verantwortlich, der mit dem Molekülvolumen steigt. Man spricht von einem hyperkonjugativen Elektronenzug der Alkylgruppen. In der MO-Terminologie ausgedrückt ergibt sich eine bindende Wechselwirkung zwischen den gefüllten 2p-Orbitalen vom Sauerstoff und den leeren antibindenden *-Orbitalen der Methylgruppen. 27 Diese revolutionären Ergebnisse rechtfertigen allein den Aufwand der Bestimmung von Gasphasenaciditäten. Sehr oft stimmen auch MO-Berechnungen gut mit den in der Gasphase berechneten Aciditäten überein. Dadurch können wir heute in vielen Fällen experimentell und rechnerisch die natürliche intrinsische Stabilität eines Carbanions von Solvens-Effekten unterscheiden. Experimente zur Bestimmung von pK-Werten: Hier ein kleiner Exkurs über die praktischen experimentellen Verfahren, mit denen man pK-Werte bestimmen kann. 1. Gleichgewichtsacidität: Im wäßrigen lassen sich Dissoziationskonstanten von Säuren leicht mit Hilfe einer pH-empfindlichen Elektrode potentiometrisch aus Titrationskurven bestimmen. In nichtwäßrigen Lösungsmitteln nutzt man sehr oft die UV/VIS-Spektroskopie zur Bestimmung der Lage des Gleichgewichts zwischen CH-Säure R3C-H und ihrer korrespondierenden Base R3C-: R3C-H + Base- R3C + Base-H Voraussetzung ist dabei, daß sich die Extinktionsmaxima der beiden Spezies genügend voneinander unterscheiden wie z.B. im Fluorenylanion (s.o.); dann liefern die gemittelten experimentellen Lagen der Extinktionsmaxima unmittelbar die gewünschten Konzentrationen. Wenn die UV/VIS-Spektren von Kohlenwasserstoff und seinem Carbanion identisch sind, benutzt man einen Indikator (z.B. substituierte Aniline oder Arylmethane), dessen Gleichgewicht mit dem Aliphaten im basischen gemessen wird. Der Indikator fungiert hier also Ersatzbase: R3C-H + Ind- R3C + Ind-H 2. Kinetische Acidität: Bei zersetzlichen Carbanionen oder fehlenden Meßmethoden zur Messung des Gleichgewichts weicht man oft auf die kinetische Acidität aus (s.o.). Die beiden wichtigsten Methoden sind hier der Isotopenaustausch und die Racemisierung optisch reiner Ausgangsverbindungen. Wenn die richtigen Randbedingungen erfüllt sind, kann man durch Messung der Geschwindigkeiten z.B. des H/D-Austauschs oder der vollständigen Racemisierung die Leichtigkeit der Carbanionenbildung indirekt genau messen, ohne daß meßbare Konzentrationen des Carbanions vorliegen müssen. Diese Methode ist auch auf schwache Säuren anwendbar und wurde oft zur CH-Aciditätsbestimmung jenseits pK = 40 verwendet. In gesättigten Kohlenwasserstoffen ist allerdings der H/D-Austausch so langsam, daß man auf elektrochemische Messungen ausweicht: . R + e- R // (EA = Elektronenaffinität) Aus den bekannten CH-Dissoziationsenergien und der in kondensierter Phase meßbaren Elektronenaffinitäten EA können pK-Werte zumindest abgeschätzt werden. Dabei kommen sehr 28 hohe Werte heraus: Für Isobutan wurde ein Wert von pK = 71 angegeben. Extrapolationen der pK-Werte von Toluol und Diphenylmethan führen für das nicht direkt meßbare Methan zu einem pK-Wert von 52-62. 3. Gasphasenacidität: Auch hier wird gern der Umweg über die Dissoziationsenthalpie minus der Elektronenaffinität plus der bekannten Ionisierungsenergie von Waserstoff gegangen (s.o.). Moderne Massenspektrometrische Entwicklungen wie die Ion-Cyclotron-ResonanzSpektroskopie gestatten auch die direkte Bestimmung von Dissoziationsenthalpien sehr schwacher Säuren in der Gasphase: G + R-H R + H Struktureffekte bei der CH-Acidität Da die CH-Acidität einen sehr großen pK-Bereich überspannt, ist offensichtlich die chemische Umgebung einer CH-Gruppe von entscheidender Bedeutung für deren Acidität. Welche strukurellen Einflüsse bestimmen nun die Acidität von CH-Säuren und erklären diesen weiten pK-Bereich? Wir werden vor allem 2 Faktoren eingehender untersuchen: die Hybridisierung und die Delokalisation. Hybridisierung In der Serie der Cycloalkane fällt auf, daß deren CH-Acidität vom Achtring zum Dreiring kontinuierlich zunimmt. Dies korreliert auch mit der Zunahme von 13C,1H-NMRKopplungskonstanten im 13C-NMR-Spektrum, welche ein Maß für den s-Charakter der CHBindung darstellt. Beide Effekte werden durch den zunehmenden s-Charakter der CH-Bindungen im Ring erklärt. In Cyclopropan haben die C-C-Bindungen im Ring aufgrund der großen Ringspannung mehr p-Charakter (gebogene Bananenbindungen), während die CH-Bindungen dadurch mehr sCharakter bekommen. Am stärksten ist der s-Charakter in den hochgespannten Bicyclo[1.1.0]butanen. 13 C H [Hz] 127 126 127 131 136 161 Konsequenterweise müssen demnach sp2-hybridisierte CH-Bindungen in Olefinen und Aromaten und besonders sp-hybridisierte CH-Bindungen in Alkinen aufgrund ihres noch höheren s-Charakters auch eine wachsende CH-Acidität zeigen: Tabelle: CH-Aciditäten und Alkine. 13C,1H-NMR-Kopplungskonstanten H2C=CH2 pK 44 1 J13C,1H [Hz] 156 für Alkene, Aromaten und Benzol Cyclopropen HC≡CH 43 ~29 25 159 220 249 Besonders bemerkenswert ist die hohe Acidität des Cyclopropens, die nahe an die von Acetylenen herankommt. Die enorme Ringspannung, die bei der Bindungsstauchung von 120° auf 60° ebtseht, 29 ist für den starken s-Charakter dieser CH-Binung verantwortlich. Die Hybridisierung am olefinischen C entspricht schon fast sp. Ähnlich lassen sich unterschiedliche CH-Aciditäten in Aromaten verstehen: Biphenylen hat zwei unterschiedlich stark saure CH-Bindungen, von denen die mit dem klieneren Bindungswinkel und der größeren Kopplungskonstante 70 mal schneller H gegen D austauscht als die andere. = 115° ; J13C,1H = 163 Hz = 122° ; 1J13C,1H = 160 Hz 1 H1 H2 ß Der Grund für die generell erhöhte CH-Acidität von CH-Bindungen mit höherem s-Charakter liegt in der relativ größeren Stabilität der entsprechenden Carbanionen: Hier liegen die s-Elektronen näher zum positiv geladenen Atomkern und sind deshalb stabiler (aus dem gleichen Grund ist z.B. ein sp2 oder gar sp-hybridisiertes Carbeniumion sehr instabil). Delokalisation Cyclopentadien (pKDMSO = 18.1) und Cyclononatetraen sind auffallend acide Olefine. Dies läßt sich leicht durch die Hückel-Aromatizität der entstehenden planaren Carbanionen mit 4n+2 -Elektronen erklären. Im Gegensatz dazu gehören die C3H3-Bindungen im Cyclopropen zu den schwächsten aciden CH-Bindungen, die wir kennen. Ebenso ist Cycloheptatrien eine äußerst schwache Base (pKDMSO = 36). Auch diese Resultat genügt den Hückel-Regeln: die durch Delokalisation entstehenden Carbanionen wären Antiaromaten mit 4n Elektronen, also extrem instabil! H2 H2 H2 H H2 pk 36 Warum aber kann man das Cycloheptatrienyl-Anion herstellen, nicht aber das Cyclopropenyl-C3Anion? Die größere Spezies kann eine leicht gefaltete Konformation einnehmen und vermeidet dabei die Planarität und damit die maximale -Orbital-Überlappung sowie unnötige Ringspannung. Dies ist für das kleine Cyclopropenyl-Anion im Prinzip auch möglich, wenn das Carbanion einen Wasserstoff aus der Ebene herausbiegt und so die gespannte, antiaromatische C2v-Symmetrie vermeidet. Nach Berechnungen würde das Cyclopropenyl-Anion dadurch 35.6 kcal / mol gewinnen; dies reicht evtl. immer noch nicht für eine der Synthese genügende thermodynamische Stabilität aus. 30 Auch Phenylreste können selbstverständlich eine benachbarte Ladung in Benzylstellung stabilisieren: Toluol, Diphenylmethan und Triphenylmethan zeigen eine wachsende Acidität in DMSO. Tabelle: pK-Werte von benzylisch und allylisch stabilisierten CH-Säuren. CH-Säure C6H5-CH3 (C6H5)2CH2 pKDMSO 42 32.3 CH-Säure (C6H5)3CH H2C=CH-CH3 pKDMSO 30.6 40 Es ist allgemein bekannt, daß in Benzylanionen auch in der ortho- und meta-Position des Benzolrings partielle negative Ladungen auftreten (z.B. im Benzyocyclobutadienyl-Dianion). Eine wirksame Überlappung zwischen dem Carbanionen-Kohlenstoff und den p-Orbitalen des Substituenten zur Delkalisation erfordert Coplanarität; in der orthogonalen (senkrechten) Konformation (s.u.) beobachtet man keine Delokalisation. Diese Planaritätsbeziehung verhindert, daß die Einführung der dritten Phenylgruppe in Benzylstellung so effektiv wirkt wie die der zweiten: Eine Röntgenstruktur des Triphenylmethyllithium / TMEDA-Komplexes enthüllte tatsächlich eine Propeller-ähnliche Struktur. H C H H In Trypticen liegen die tertiären CH-Bindungen senkrecht zu den Ebenen der drei Benzolringe; diese Wasserstoffatome tauschen H gegen D mehr als 90 mal langsamer aus als die ortho-Protonen der Benzolringe. Ähnlich wie die Phenylreste stabilisieren auch Vinylgruppen eine benachbarte negative Ladung, wie man an der erhöhten CH-Acidität von Propen sehen kann (pK = 40). Acceptorsubstituenten jedoch stabilisieren benachbarte negative Ladungen natürlich viel besser, wie man sofort an den pK-Werten in DMSO erkennt: CH3CN (31.3); CH3-SO2-CH3 (31.1); CH3-(C=O)CH3 (26.5); CH3-NO2 (17.2). In diesem Zusammenhag ist es interessant, die Acidität von -Protonen einiger Acceptorsubstituierter Cyclopropane mit der Acidität der entsprechenden Isopropylverbindungen zu vergleichen: Tabelle 21: Gleichgewichtsaciditäten (pKDMSO) von Acceptor-substituierten Cyclopropyl- und Isopropylderivaten. X Cyclopropyl-X -NO2 ~27 -(C=O)-C6H5 28.2 Isopropyl-X 16.9 26.3 31 Obwohl Cyclopropane aufgrund des höheren s-Charakters der C-H-Bindungen acider sind als ihre offenkettigen Analoga, zeigt die Tabelle 21, daß bei Nitro- und Benzoyl-Substitution sich das Verhältnis umkehrt! Im Fall der Cyano- , der Trifluormethyl- und auch der AlkylsulfonylSubstitution ist jedoch wieder das Cyclopropanderivat acider (Tabelle 22). Wie kann man das erklären? Tabelle 22: Relative Geschwindigkeitskonstanten für den Isotopenaustausch in CH3ONa / CH3OH bei 53.2°C. X H3C D kDrel. H3C X -(C=O)-C6H5 -C≡N -CF3 -SO2R D C 1 11.8 (saurer) . 2 10-4 (saurer) 2.6 . 10-4 (saurer) H X H kDrel. 1330 (saurer) 0.81 10-6 . 1.2 10-6 SO2 Eine exocyclische Doppelbindung verursacht zusätzliche Ringspannung in einem Dreiring; Methylencyclopropan ist z. B. 13.5 kcal/mol gespannter als Cyclopropan. Die markant schwächere CH-Acidität von Cyclopropylderivaten mit Nitro- und Carbonylsubstituenten im Vergleich zu ihren offenkettigen Analoga muß darauf zurückzuführen sein, daß beide Gruppen einen starken Bedarf an p,p-Überlappung haben, der zu den mesomeriestabilisierten Cyclopropyl-Nitronat- bzw. cyclopropylenolat-Ionen führt. O N O Cyclopropyl-Nitronat O C C6H5 Cyclopropyl-Enolat Im Gegensatz dazu stabilisieren Cyano-, Trifluormethyl- und Alkylsulfonyl-Substituenten ein benachbartes Carbanion vorwiegend über induktive Effekte, ähnlich wie auch im Alkinylsubstituenten. Der (-)-I-Effekt ist aber auch in pyramidalen Carbionen wirksam, die im Fall des Cyclopropylcarbanions ja stabiler sind. Im Einklang mit den Aciditäten von Cyclopropyl- und Isopropylverbindungen ist auch deren "nicht immer ganz normale" Chemie: Der Versuch der Deprotonierung und anschließenden Silylierung von Cyclopropylcarbonsäureestern führt nur zum Teil zu den O-silylierten Ketenacetalen; daneben entstehen erhebliche Mengen an Csilyliertem Produkt sowie an Trimeren. 32 CO2Et OEt LDA, Me3SiCl o - 78 H C o O C OSiMe3 + 13,5kcal CO2Et CO2Et OH + + "O" C SiMe3 CO2Et "C" Eine Röntgenstruktur für das als Zwischenstufe etwas stabilere Lithiumthioester-Enolat beweist die exo-Methylen-Cyclopropan-Bindung, die ganz flach liegt. Dieses Derivat ist allerdings sehr schwer herzustellen. SR C OLi 134 pm Bis heute gibt es jedoch keine Röntgenstruktur eines Nitrocyclopropyl-Carbanions. Dessen Chemie verläuft allerdings wie erwartet; das instabile Intermediat erweist sich als hochreaktiv. Wenn das Carbanion in THF mit LDA generiert wird, findet man nach einiger Zeit völlig verrückte C-Cverknüpfte Produkte, die mit einem intramolekularen Elektronentransfer auf die Nitrogruppe erklärt werden können, bei der das Molekül dem Nitronatanion ausweicht: 33 NO2 NO2 H NO2 LDA, THF + -80oC bis -110oC NO NO2 via M O oder N O NO2 intramolekularer ET auf Nitrogruppe NO2 N O M M O NO2 M DX - H2O NO2 NO2 NO2 NO Völlig normal verhalten sich dagegen die CN- und SO2R-substituierten Cyclopropylanionen: Sie sind nicht nur leicht herzustellen und stabil, sondern machen auch keine außergewöhnlichen Reaktionen: H CN H SO2R Li LDA THF CN Li LDA THF SO2R Wie sieht ihre Struktur aus? Zwei Röntgenstrukturen sind hier gezeigt: 61.7o Ph Ph S Li O O Li Ph 34 O S O Ph H3C H3C Li 57.8o C 57.4o N In beiden Fällen ist sowohl die Bindung zwischen Lihiumatom und Carbanionen-C als auch die zwischen X und Carbanionen-C aus der Ebene herausgebogen. Für diese Substituenten ist also die Delokalisation zur Stabilisierung der negativen Ladung nicht so wichtig; sie operieren vorwiegend über induktive Effekte (s.o.). Das deckt sich auch mit älteren H/D-Austauschexperimenten (Tabelle 23, später). Induktiver und mesomerer Effekt Ein früher Versuch zur Quantifizierung der relativen Einflüsse von induktiven (I-) und Mesomerieeffekten (R-) von Acceptorsubstituenten beruht auf den Substituentenkonstanten mund p-, die sich auf die Acidität meta- und para-substituierter Phenole in Wasser bezieht. I- und R- sind berechnet worden; dabei lag folgende Gleichung zugrunde: R- = p- - 2/3 mI- = m- und Der Einfluß des para-Substituenten setzt sich aus mesomerem und dem natürlich schwächeren induktiven Effekt zusammen, der hier mit 2/3 des meta-ständigen Substituenten abgeschätzt wird. Der meta-ständige Substituent hat natürlich nur einen induktiven Beitrag. Die Ergebnisse dieser Rechnungen finden sich in Tabelle 23. Tabelle 23. Relative Bedeutung des induktiven und mesomeren Effekts auf die Fähigkeit von Akzeptorsubstituenten, die Acidität von Phenol in Wasser bei 25 °C zu erhöhen. X a: b: c: d: CH3CO NO2 CN CF3SO2 R- I- R- / I- 0.62 0.78 0.48 0.75 0.22 0.46 0.40 0.61 2.8 1.7 1.2 1.2 Wie man sieht, stabilisiert hauptsächlich die Carbonylgruppe eine negative Ladung durch Mesomerie, etwas weniger noch die Nitrogruppe. Cyano und Sulfonyl-Substituenten haben einen etwa gleich großen induktiven Beitrag. Es ist gut bekannt, daß die Elemente der 2. Reihe im Periodensystem wie Phosphor und Schwefel eine benachbarte negative Ladung viel besser stabilisieren als ihre Analoga aus der ersten Reihe, Stickstoff und Schwefel. Ein besonders beeindruckendes Beispiel ist die dramatisch unterschiedliche CH-Acidität der unten angegebenen Verbindungen, die durch basenkatalysierten H/D-Austausch bestimmt wurde. Der Ersatz von N durch P bzw. von O durch S führt in beiden Fällen zu einer Geschwindigkeitssteigerung von ~106! (CH3)3N+-CH3 (CH3)3P+-CH3 35 rel. Geschw. = 2.4 .106 rel. Geschw. = 1 C 2H 5O T C2H5S C 6H 5 C2H5S C C 2 H 5O T C C6H5 rel. Geschw. = 106 rel. Geschw. = 1 Das zeigt sich auch an typischen Reaktionen: Während aus quartären Ammoniumsalzen mit einem Substituenten größer als Methyl durch Basenangriff Hoffmann-Eliminierung eintritt, deprotonieren Basen quartäre Phosphoniumsalze mit einem Substituenten größer als Methyl ausschließlich am C und bilden Ylide. Bei der Hoffmann-Eliminierung greift die Base jedoch das -ständige H an: (CH3)3N+-CH2 -CH3 + B → (CH3)3N + CH2=CH2 + BH (CH3)3P+-CH2-CH3 + B → (CH3)3P+-CH --CH3 + BH (CH3)3N CH2 CH3 (CH3)3P CH3 Wittig HoffmannEliminierung (CH3)3N + H2C CH2 + H CH2 (H3C)3P CH CH3 Ylid Früher nahm man an, daß niedrig liegende d-Orbitale von P bzw. S die negative Ladung teilweise aufnehemen und dadurch stabilisieren (p-d--Rückbindung). Heute weiß man, daß dem nicht so ist. Auf jeden Fall spricht auch die oben beschriebene Beobachtung dafür, daß die Sulfonylgruppe aus der Reihe elektronenziehenden Substituenten mit Elementen aus der ersten Reihe des Periodensystems herausfällt, wenn es um die Stabilisierung einer benachbarten Ladung geht. Wie kann man sich nun die dramatische CH-Aciditätssteigerung durch benachbarte Phosphor- bzw. Schwefelatome erklären? Dazu wollen eine einfache Modellreaktion auswählen, die man auch noch über ab-initio-Methoden genau berechnen kann: CH3-X-H + CH - → CH2 --X-H + CH4 mit X = O bzw. S. Dazu wollen wir mehrere Fragen stellen: 1. Frage: Stabilisiert eine benachbarte Gruppe OH bzw. SH eine negative Ladung am -C besser oder schlechter als das H-Atom? Die Stabiliserungsenergie kann also aus folgender Formel berechnet werden: 36 SE = [E(CH3-XH) + E(CH3-)] - [E(CH2--XH) + E(CH4)] Was berechnet man? X = O: SE = -2.23 kcal/mol ( OH destabilisiert also eine negative Ladung in -Stellung!) X = S: SE = 18.8 kcal/mol (ohne Beteiligung von d-Orbitalen) 18.6 kcal/mol (mit Beteiligung von d-Orbitalen) Wir sehen: a) Schwefel stabilisiert benachbarte Ladungen im gegensatz zu O; b) aber: die d-Orbitale haben keinen stabilisierenden Einfluß, wir haben also nichts, da einer Delokalisierung von pElektronen in leere d-Orbitale entspräche! 2. Frage: Wie verhält sich die Bindungslänge der C-OH bzw. der C-SH-Einfachbindung? H OH: 142.1 pm C X H H SH: 182.3 pm (mit d-Orbitalen) H 181.9 pm (experimentell) C H OH: 155.7 pm X H SH: 201.7 pm (ohne d-Orbitale) H 176.9 pm (mit d-Orbitalen!) Rechnungen ergeben für das Ausgangsmolekül mit OH eine kürzere C-O-Bindungslänge als im deprotonierten Zustand (142.1 pm gegenüber 155.7 pm). Dagegen ist die C-S-Bindungslänge im Ausgangsmolekül mit SH länger als im deprotonierten Zustand (182.3 pm [exp.sehr ähnlich: 181.9 pm] gegenüber 176.9 pm). Berechnungen ohne d-Orbitalbeteiligung führen jedoch zu einer deutlich längeren C-S-Bindung von 201.7 pm. Hier wirkt sich also die Anwesenheit von d-Orbitalen sehr stark aus! Das sieht ja wieder so ähnlich aus wie bei CN, NO2, C=OR und allen anderen Acceptorsubstituenten. Wenn nun aber keine Doppelbindung entsteht, wie läßt sich diese Bindungsverkürzung der C-S-Bindung, die offensichtlich mit der Stabilisierung der benachbarten Ladung einhergeht, verstehen? Hier müssen wir mehrere Effekte diskutieren: 1. Der sogenannte C-X-Effekt: Die Lage der einfach besetzten Atomorbitale von O bzw. S, die durch Wechselwirkung mit dem einfach besetzten Atomorbital am C die C-O- und die C-SBindung ausbilden, ist unterschiedlich (S liegt höher als O). Durch die gegenseitige Störung entstehen bei der Ausbildung der -Bindung unterschiedlich stark abgesenkte Orbitale für C-O und C-S. Das gleiche gilt besonders für die Wechselwirkung mit dem einfach besetzten Atomorbital am C im Carbanion - C- und S liegen näher beieinander und machen dadurch die günstigere Wechselwirkung. Der Energieunterschied (EO bzw. (ES) für die entsprechenden Bindungen zwischen CH-Säure und Carbanion ist demnach im Falle der O-Verbindungen größer als im Falle der S-Verbindung. Das aber bedeutet, daß die C-S-Bindung im Carbanion weniger geschwächt wird als die C-O-Bindung. 37 C X-H C- 2. Die Abstoßung der nicht-bindenden Heteroatom-Orbitale durch das Carbanion: C H O C H H H 142 - 155 pm 142 pm (CH-Säure) → 155 pm (Carbanion) S H H 182 - 177 pm 182 pm (CH-Säure) → 177 pm (Carbanion) Bei Sauerstoff-Verbindungen muß diese Abstoßung größer sein, da die C-O-Einfachbindung insgesamt (absolut gesehen) kürzer ist als die C-S-Einfachbindung. Insgesamt sind die nichtbindenden Orbitale am kleineren Sauerstoff fester gebunden (härter, lokalisierter), und gehen dadurch eine stärkere Wechselwirkung mit dem Carbanionen-Elektronenpaar ein. Schließlich sind keine d-Orbitale vorhanden (über deren stabilisierende Eigenschaften mehr beim S-Carbanion). Die Abstoßung bei Schwefelverbindungen ist kleiner, weil die C-S-Bindung länger ist als die C-OBindung (s.o.). Außerdem sind die nichtbindenden sp3-Hybridatomarbitale am Schwefel diffuser (weicher). Am wichtigsten ist jedoch die Tatsache, daß leere d-Orbitale im S-Atom vorhanden sind: Diese nehmen zwar nicht die negative Ladung des benachbarten Carbanions auf, sie wirken jedoch wie Polarisationsfunktionen, wie leere Räume, in die die Elektronen hineindiffundieren können, wenn sie vom benachbarten Elektronenpaar am C abgestoßen werden. So wird der S positiver und zieht das Carbanion an: Die C-S-Bindung wird kürzer! 38 3. Die Position des Metalls: gibt einen weiteren Hinweis auf die Abstoßung der benachbarten Elektronenpaare. Im MethanolCarbanion und ähnlichen Verbindungen sollte ein Lithium-Gegenion beide Atome verbrücken und so deren Abstoßung reduzieren. Im Methylthiol-Carbanion sollte diese Überbrückung weniger wichtig und auch weniger leicht sein, denn der C-S-Abstand ist absolut gesehen größer. Li H H C O H 152.2 pm 4. Die Hyperkonjugative Stabilisierung der negativen Ladung ( = negative Hyperkonjugation): Ähnlich wie schon bei der Stabilisierung von Alkoxid-Ionen durch die benachbarten Alkylgruppen wird die Stabilisierung der negativen Ladung am Carbanion über eine Überlappung des freien Elektronenpaars am C mit dem antibindenden *-MO der übernächsten S-C-Einfachbindung diskutiert (s.u.). Dabei sollte gleichzeitig diese S-C-Bindung geschwächt werden. Das findet man auch in Rechnungen. Beim Sauerstoff liegt das *-MO der C-O-Einfachbindung aber viel höher und kann von daher nicht zur negativen Hyperkonjugation beitragen! 181.3 H -H C H 172.8 187.5 (!) S C CH3 H H CH3 H C H S * c-s S H C H H H Wie sieht nun der experimentelle Befund aus? A) Schwefel als Nachbar-Heteroatom: H3C-S-Ph / H2C--S-Ph. Eine Kristallstruktur des Carbanions zeigt tatsächlich die verkürzte C-S-Bindung bei gleichzeitiger Verlängerung der übernächsten S-CBindung. Außerdem überbrückt das Lithium-Gegenion in keinem der bisher bekannten Fälle die CS-Bindung im Carbanion. TMEDA vgl.: S Ph Li CH2 CH2 Li S Ph CH3 S 176.8 pm (Mittelwerte) TMEDA 176 pm 179 pm 182.1 pm 39 b) Sauerstoff als Nachbar-Heteroatom: Benzofuran / Benzofuran-1-carbanion. Eine Kristallstruktur des Carbanions (es macht nichts aus, daß wir hier einen sp2-Kohlenstoff im Carbanion haben, prinzipiell gelten die gleichen Überlegungen wie bei sp3) zeigt tatsächlich eine deutliche Verkürzung des C-O-Abstandes im Carbanion. Außerdem verbrückt das Lithium-Gegenion auch im Dimer noch jede C--O-Bindung und trägt damit zur dringen nötigen Stabilisierung bei. OiPr2 Br Li C O vgl.: O C O Li 147.0 pm Br iPr2O Mittelwert für Benzofurane 138 pm Schwefelcarbanionen im Vergleich: Die Acidität von Thioethern, Sulfoxiden, Sulfonen und Sulfonium-Ionen nimmt in der angegebenen Reihenfolge zu (siehe pKa-Werte). Das spiegelt sich sehr schön in den berechneten Deprotonierungsenergien (Gasphase) wieder (s.u.). Tabelle 24: Vergleich der CH-Aciditäten von Schwefelverbindungen pKa Deprotonierungsenergie (kcal/mol) CH3-S-CH3 45 394 CH3-(S+-O-)-CH3 35 374 CH3-(S2+O22-)-CH3 (CH3)2-S+-CH3 31.3 18.2 366 283 Womit hängt das zusammen? Betrachten wir die Bindungslängen beim Übergang von der CH-Säure zum Carbanion. Tabelle 25: Vergleich der Bindungslängen, Bindungsordnungen und Ionizitäten in CH-aciden Schwefelverbindungen a) Bindungslängen [pm] CH3-S (nicht-deprotoniertes Edukt) CH3-S im Carbanion CH2--S im Carbanion CH3-(S+-O-)-CH3 180.5 181.5374 170.3 CH3-(S2+O22-)-CH3 178.2 182.7 166.4 (CH3)2-S+-CH3 179.7 180.7, 184.2 165.7 b) Bindungsordnungen CH3-S im Carbanion CH2--S im Carbanion S-O im Carbanion CH3-(S+-O-)-CH3 0.98 1.33 1.23 CH3-(S2+O22-)-CH3 0.90 1.29 1.09 (CH3)2-S+-CH3 1.02 1.43 - 40 c) Ionizität [%] CH3-S im Carbanion CH2--S im Carbanion S-O im Carbanion CH3-(S+-O-)-CH3 6.8 11.5 57.5 CH3-(S2+O22-)-CH3 9.5 18.1 60.4 (CH3)2-S+-CH3 3.9 18.9 - a) Bindungslängen: In allen Fällen wird die CH2--S-Bindung im Carbanion deutlich kürzer als die ursprüngliche CH3-S-Bindung im deprotonierten Ausgangsmolekül. Dies deckt sich mit der oben besprochenen Beobachtung, nach der diese Bindung weit weniger geschwächt wird als die im O-Fall. Dagegen wird die übernächste CH3-Bindung im Carbanion etwas länger, was der negativen Hyperkonjugation entspricht (s.o.). Die Reihenfolge der Bindungsverkürzung für die CH2--S-Bindung im Carbanion entspricht der der Aciditäten. Alle berechneten Bindungslängen für die schwefelstabilisierten Carbanionen entsprechen ziemlich genau dem Experiment (XRay). b) Auch die Bindungsordnungen folgen in etwa diesem Trend: Das Ylid hat in seiner CH2--SBindung im Carbanion die höchste Bindungsordnung und auch die kleinste Bindungslänge. c) Gleichzeitig steigt der ionische Anteil in dieser Bindung zum Ylid an. All das kann man zusammenfassen: Die Bindungsverkürzung = Bindungsverstärkung der C-S-Bindung im Carbanion läßt sich im wesentlichen auf elektrostatische Effekte zurückführen; sie beruht weitgehend auf der Anziehung zwischen negativ geladener CH2--Einheit und positiv geladenem Schwefelatom. Der hohe Ionencharakter der C-S-Bindung läßt sich auch an der geringen Bindungsordnung für die S=O-Bindung und deren hoher Ionizität (>50%) zeigen. Wir kommen gleich darauf zurück. Tabelle 26: Bader Atomladungen nach ab-initio-Rechnungen MP2/6-311**G(d,p) a) CH-Säuren: Bader Atomladungen S O-1 O-2 SO (2) total CH3-(S+-O-)-CH3 +1.30 -1.23 +0.06 CH3-(S2+O22-)-CH3 +2.5 -1.29 -1.29 -0.06 b) Carbanionen: Bader Atomladungen CH2S O-1 O-2 SO (2) total CH2--(S+-O-)-CH3 -0.64 +1.08 -1.29 -0.21 CH2--(S2+O22-)-CH3 -0.52 +2.37 -1.35 -1.35 -0.33 Tabelle 25a) zeigt noch deutlicher, daß Sulfoxide und Sulfone nicht als hypervalente 10Elektronensysteme am Schwefel aufzufassen sind, sondern im wesentlichen als sehr polare Zwitterionen. Die Elektronegativitätsdifferenz zwischen S und O reicht aus für eine fast vollständige Polarisierung: Sulfoxide haben also ungefähr die Ladung +1 am Schwefelatom, Sulfone sogar +2! Dies ändert sich auch beim Übergang zu den Carbanionen nicht wesentlich (Tabelle 25b): Die zusätzliche negative Ladung verbleibt größtenteils am Carbanion-C-Atom und 41 entlädt den Schwefel nur in geringem Maß. Das aber bedeutet, daß die Bindungsverkürzung, die in Sulfoxiden und Sulfonen beim Übergang in ihre Carbanionen auftritt, vor allem auf die elektrostatische Anziehung der Carbanionenladung durch den positiv geladenen Schwefel zurückzuführen ist. (Im Gegensatz dazu ist die Elektronegativitätsdifferenz zwischen C und S nicht sehr groß. Die Bindungsverkürzung in Schwefelyliden muß daher ausnahmsweise doch auf eine partielle [p,d--Doppelbindung zurückzuführen sein. Damit haben wir im Detail verstanden, warum -SO2R Substituenten eine benachbarte Ladung nicht wie die Carbonyl- oder Nitrogruppe über Konjugation stabilisieren, sondern über induktive Effekte: Die positive Ladung auf dem Schwefel macht die elektrostatische Anziehung zwischen Carbanion und benachbartem Schwefelkation überlegen über die Mesomeriestabilisierung. Ähnliches gilt für Nitrilcarbanionen. Carbenoide sind eigentlich Verbindungen, die gleichzeitig ein Halogenatom und ein Lithiumatom am gleichen C-Atom tragen. Sie haben aber direkt mit der Problematik der unterschiedlichen Stabilität von OCH2-Li und S-CH2-Li -Verbindungen zu tun; wir kommen gleich darauf zurück. HCBr3 + NaOH Ethen NaCBr3 → CBr2 → 1,1-Dibromcyclopropan -NaBr H3CCl + n-BuLi Ethen → H2CLiCl CH2 → Cyclopropan -LiBr Alternativ: Elektrophil E+, z.B. RCHO H2CLiCl → CH3C(OLi)H-CHCl2 aber auch: Nucleophil Nu-, z.B. n-BuLi H2CLiCl → n-BuCH2-Li + LiCl Nach der Deprotonierung von Bromoform bzw. Methylchlorid entstehen Carbenoide, die jedoch leicht durch -Eliminierung in Carbene mit ihren typischen Folgereaktionen übergehen. Alternativ dazu kann man aber bei tiefen Temperaturen (-70°C) die Carbenoide mit Elektrophilen (Reaktion als Carbanion) und sogar mit Nucleophilen (als "anionisches" Alkylhalogenid) zur Reaktion bringen. Im letzten Fall erhält man substituierte Alkyllithium-Verbindungen, die auch präparativ wertvoll sind. Die treibende Kraft hierzu ist unter anderem die Entstehung von stabilem und unlöslichem LiCl. Diese Reaktion ist sehr ungewöhnlich: C-Cl-Bindungen lassen sich sonst viel schwerer spalten. Was ist passiert? vergleichen wir die Carbenoide mit Carbanionen, die Sulfonyl-, Carbonyl- oder Cyano-Substituenten tragen, so fällt auf, daß es hier keinerlei analoge Reaktionen gibt. Anders aber bei den Verbindungen, die wir im letzten Kapitel besprochen haben. Zur Erinnerung: Carbanionen mit benachbarten Ether- oder Thioethersubstituenten zeigen im O-Fall eine Bindungsaufweitung, dagegen im S-Fall eine Bindungverkürzung gegenüber der CH-Säure: 42 R2C(Li)-SR: Die C-S-Bindung ist im Carbanion verkürzt; man sollte also keine leichte Spaltung durch Nucleophile erwarten. In Übereinstimmung damit gibt es keinen solchen Fall in der Literatur. R2C(Li)-OR: Die C-O-Bindung ist aufgeweitet; das deutet daraufhin, daß sie geschwächt ist (vgl. die Abstoßung der harten Elektronenpaare am Sauerstoff, die aufgrund der kürzeren C-O-Bindung nahe am Carbanionen-Elektronenpaar liegen). Tatsächlich beobachteten Ziegler et al. schon 1938 bei der ersten Herstellung der lithiierten Ether die oben diskutierte Folgeraktion mit einem Nucleophil: 1. PhLi (Base) + Ph-CH2-O-Ph → Ph-H + Ph-CH(Li)-O-Ph 2. Ph-Li (Nucleophil) + Ph-CH(Li)-O-Ph → Ph2CHLi + PhOLi 3. Ph2CH-Li (Nucleophil) + Ph-CH(Li)-O-Ph → Ph2CH-CH(Li)Ph + PhOLi Ebenso im aliphatischen Fall: 1. n-BuLi (Base) + CH3-O-CH3 → LiCH2-O-CH3 2. n-BuLi (Nucleophil) + LiCH2-O-CH3 → LiCH2-Bu + LiOCH3 Noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß auch vinylische Ether sich so substituieren lassen: Normale Vinylether lassen sich auch durch stark nucleophile Metallorganyle nicht substituieren: Auch aliphatische Ether gehen diese Reaktion nicht ein: Et-O-CH2-CH3 + NuNa oder NuLi —X→ Nu-CH2-CH3 + C2H5ONa oder C2H5OLi Erst nach Aktivierung des Ethersauerstoffs durch Protonierung tritt Substitution ein: Et-O-Et + H-I → Et-O+(-H)-Et → Et-I + EtOH Ein Carbanion, nämlich ein lithiierter Ether, ist also ein besseres Elektrophil als der zugrundeliegende neutrale Ether und läßt sich so nucleophil substituieren! Diese erstaunliche Tatsache wird durch die oben gemachten Beobachtungen verständlich: Die C-O-Bindung ist in OCH2-Li-Verbindungen deutlich geschwächt und aufgeweitet. Noch einmal etwas genauer die Ergebnisse der MO-Rechnungen (s.o.): Die C-O-Bindungsenergie steigt deutlich an, wenn man das Anion generiert. Das hatten wir schon gesehen (Diagramm). 43 Genauso wichtig ist aber ein anderer Effekt, den wir bisher noch nicht beachtet haben: Durch die starke Anhebung des bindenden -MO wird gleichzeitig die Energie des antibindenden *-MO abgesenkt. Damit kann ein Nucleophil leichter am "carbanionischen" C angreifen, den typischen trigonal bipyramidalen Übergangszustand der SN2-Reaktion durchlaufen und schließlich die Ethoxygruppe substituieren. Die doppelte Schwächung der Bindung zum Nucleofug unter gleichzeitiger Stabilisierung des aufnehmenden antibindenden MO‘s erklärt zwanglos die erstaunlich hohe Elektrophilie von lithiierten Ethern. Läßt sich dieses Modell auch auf die klassischen Carbenoide übertragen? Sind also Lithiumether einfach eine weitere Klasse von Carbenoiden? Eine Kristallstruktur zeigt auch in einem klassischen Carbenoid eine aufgeweitete C-Cl-Bindung (s.u., 13 pm länger als ohne Lithium), die mit der verlängerten C-O-Bindung in lithiierten Ethern verglichen werden kann. In diesem speziellen Fall wird allerdings kein Vinylcarben gebildet, sondern das Molekül weicht durch einen 1,2-Arylshift aus und bildet Diphenylacetylen: Betrachten wir das PSE: Fluor ist mit Sauerstoff vergleichbar, denn auch hier findet sich der Effekt, die Abstoßung durch freie Elektronenpaare und die Überbrückung durch das LithiumGegenion. Vor allem ist wichtig, daß keine negative Hyperkonjugation stattfindet. Lithiierte Fluoralkane sind extrem labile Carbenoide. Das gleiche gilt auch für Chlor, Brom und Iod: Sie alle bilden typische Carbenoide, weil Ihnen allen die Möglichkeit zur Hyperkonjugation fehlt (warum?). -----------------------Einfluß der Gegenionen: Ladungslokalisation – ein destabilisierender Effekt: Während die Coulomb-Anziehung zwischen Kation und Anion stabilisierend wirkt (vgl. UVSpektren im Fluorenyl-Alkalimetallorganyl oben), ist die dabei erfolgende Lokalisierung der negativen Ladung im sonst gut delokalisierten Anion destabilisierend. Das zeigt folgende Tabelle: 44 Tabelle 27: Natürliche Ladungen an Atomen in den Molekülen C1H2=C2H-OH, C1H2=C2HOM, C1H2=C2H-O- sowie Reaktionsenergien E [kcal/mol] der Deprotonierung von Vinylalkohol mit MOH bzw. freiem OH- (nur im Anion Carbanion-Grenzstruktur): M+OHH (kov.) Li Na K Rb Cs Anion (frei) d(C1=C2) 131.8 pm 133.2 pm 134.0 pm 134.2 pm 134.3 pm 134.2 pm 137.2 pm (C1) -0.498 -0.571 -0.623 -0.634 -0.642 -0.635 -0.790 d (C2-O) 134.0 pm 129.6 pm 128.6 pm 128.4 pm 128.2 pm 128.4 pm 124.4 pm (O) -0.749 -1.131 (>1!) -0.103 -1.101 -1.093 -1.097 -0.923 (M) 0.962 0.988 0.994 0.994 0.988 - E [kcal/mol] -0.94 -12.3 -13.2 -13.7 -12.9 -32.8 (delokal.) Was sagt diese Tabelle? 1. Je mehr Ladung am O festgehalten wird (Li+ > Na+ etc.), desto geringer ist der Carbanion-Anteil durch Delokalisierung zugunsten des Enolat-Anteils. Ergo: C=C-Abstand wird geringer bei gleichzeitig wachsendem C-C-Abstand. 2. Gleiches gilt für die Ladung an C1 (Carbanionen-C): bei Ladungslokalisierung am O (Li+ > Na+ etc.) wird der Ladungsanteil an C1 geringer. 3. Ladung am O: natürlich im Anion größer als im Vinylalkohol; in Metallverbindungen aber >1! Das zeigt die starke Bindungspolarisierung durch das Metallkation, am stärksten beim kleinen Lithium! 4. Ladung am Metall erreicht fast +1: es handelt sich also um eine ionische Verbindung! 5. Reaktionsenergie mit freiem OH-: am stärksten negativ, weil das freie Anion am stärksten delokalisiert ist. Je stärker das Kation die negative Ladung am O fixiert, desto geringer die Stabilisierung des Anions durch Mesomerie ( und zwar deutlich: um 19-24 kcal/mol geringer!). Die Röntgenstrukturanalyse von Lithium-3,3-dimethyl-1-buten-2-olat zeigt dies: 134 pm 135 pm THF CH3 H3C C IO-Li O C O CH2 CH3 vgl.: CH3 C CH3 H2C CH3 THF 132 pm 136 pm H2C R RO Enolether O THF O THF Durch die starke Ladungslokalisierung am Enolat-O durch das kleine Lithium ist auch im Lithiumenolat-Aggregat praktisch nur die Enolat-Grenzstruktur zu finden. Der C=C-Abstand und der C-O-Abstand stimmen in diesem Fall sogar praktisch vollkommen mit dem in den fixierten Enolethern überein! Rotationsbarrieren in Metallorganylen Einen weiteren starken Hinweis auf den starken Gegenionen-Einfluß erhalten wir von Messungen H H H H a H = E rot Hi H i H M - Komplex - Komplex a H M H 45 der Rotationsbarrieren. Die Alkalimetallsalze des Allyl-Anions sind die Prototypen -gebundener polarer Organometallspezies. Diese Struktur steht jedoch im Gleichgewicht mit der -gebundenen Spezies. Beide gehen durch die Rotation um die C-C-Bindung im Allylanion ineinander über. Dabei ist der produktähnliche Übergangszustand durch eine Vinylmethyllithium-Struktur gekennzeichnet (orthogonal!) mit -gebundenem Metall, von dort erfolgt schnell der Übergang in die -gebunden Spezies. Die Energiebarriere für diesen Übergang ist stark vom Metall abhängig: Lithium als Gegenion macht die Umhybridisierung am leichtesten, Cäsium am schwersten: Energiebarriere Erot [kcal/mol] Eber [kcal/mol] Li 10.7 13.0 Na 11.5 13.4 K 16.7 17.4 Rb 18.1 19.0 Cs 18.0 21.8 freies Anion 21.7 Ähnliches gilt auch für Inversionsbarrieren: Im Methylanion ist die berechnete Inversionsbarriere verschwindend klein (EA < 2 kcal/mol). Das bedeutet also, daß die beiden Elektronen beliebig zwischen p-Orbital und sp3-Hybrid wechseln können! Ganz anders im Methyllithium: Hier ist die Inversionsbarriere im Tetramer 14.3 kcal/mol, im Monomer sogar 28.0 kcal/mol! H Li C H CH3 CH3 Li CH3 < 2 kcal/mol H CH3 28 kcal/mol Li Welche Konformation hat das metallierte Methylanion dann? Der Wechsel vom p- zum sp3Hybridatomorbital bringt im freien Methylanion eine Symmetrieänderung zu C3v und einen natürlichen Elektron-C-H-Winkel von 109.5° mit sich. In Metallcarbanionen sieht es anders aus: Na Li H C 90o H H C H H H 109.5o C3 Achse C H- Winkel sp3 sp2 H C Rb Cs H H 112.3o Metall K 111.0 112.4 112.4 112.8 C H- Winkel 46 freies Carbanion Li Na K Rb Cs 109.5° 112.3° 111.0° 112.4° 112.4° 112.8° Der stärker aufgeweitete Bindungswinkel verstärkt unter anderem die Polarisierung des Anions. Damit ist ganz klar, daß die Gegenionen M+ einen ganz erheblichen Einfluß auf die Struktur in Alkalimetallsalzen haben – und nicht nur die Alkalimetallionen. Herstellung von Organometall-Verbindungen 1. Direktsynthese Allgemein: R-Hal + 2 Li (Mg) R-Li + Li-Hal Geht diese Reaktion stereospezifisch? Ph * CH3 Ph Weg A Ph Ph Br Weg B Li (1%Na) Ether THF B Li CO2 CO2 * Ph A CH3 CH3 Ph n-BuLi * Li * Ph Ph COOH CH3 A: 100% Retention B: 73% Retention Bei der Reaktion mit BuLi stellen wir fest: 1. Die Gesamtreaktion verläuft unter Retention der Konfiguration am Stereozentrum. 2. Cyclopropyllithiumverbindungen sind konformativ stabil. 3. Auch die Abfangreaktion mit CO2 verläuft unter Retention. Prinzipiell könnte hier natürlich auch eine doppelte Inversion vorliegen. Genaueres zum Mechanismus in Kapitel b). Mechanismus der Reaktion mit Li: C e 1.ET Br ins* C Br I Li + Li Li Li Li Li Li Li Li Li - LiBr 2.ET C Li Li Li Li Li C Li Li Li Li 47 Der erste Elektronentransfer geschieht aus dem Lithium-Metall in das antibindende s*-Orbital der C-Br-Bindung. Gleichzeitig löst sich die Bindung zwischen C und Br und liefert das Radikalintermediat. Wenn dieses nicht so fest gebunden wird am Lithium, so kann es leicht invertieren (siehe 73% ee - teilweise Racemisierung). Ein zweiter ET generiert das konfigurationsstabile Carbanion, welches in die Lösung abwandert. Ganz analog formuliert man die Grignard-Herstellung: Hier findet man ebenfalls teilweise Racemisierung, je nachdem, wie stark das Radikal bzw. das Carbanion stabilisiert sind: Tab. 28: Racemisierung von optisch reinen Alkylhalogeniden bei der Grignard-Herstellung: H 1. C6H5 C* Br 1. Benzylbromid 2. Cyclopropylbromid 3. Cyclohexylidenbromid CH3 Br * 2. Ph CH3 sp3 sp2.28 sp2 0% ee 18% ee 42% ee Ph 3. H3C * H Br Hier fällt auf, daß das mesomeriestabilisierte Benzylradikal bzw. -anion zu vollständiger Racemisierung führt. Die nichtstabilisierten Cyclopropyl- und Cyclohexylidenradikale racemisieren nur teilweise. Darstellung von Allyl- und Benzyllithium-Verbindungen: Das gelingt nicht über den HalogenMetallaustausch von Allyl- bzw. Benzylhalogeniden, denn das gebildete Allyllithium würde sofort das restliche Allylbromid angreifen (sehr reaktive Allyl- und Benzylhalogenide durch Mesomeriestabilisierung des SN2-Übergangszustands!) Man weicht auf die entsprechenden Allylund Benzylether aus, die kaum elektophil sind. Mechanismus identisch wie bei Alkylhalogeniden. Kann man auch Lithiomethylamine herstellen? Das wären sehr wertvolle nucleophile CNBausteine. Stößt nicht die negative Ladung am -Kohlenstoff das freie Elektronenpaar am Amin zu sehr ab? Ja, aber die C-N-Bindung kann sich drehen, so daß im Prinzip eine orthogonale Anordnung möglich ist (s.u.). H R N R C H Problem: Hier wären die entsprechenden Chlormethylamine noch instabilere Vorstufen, die sofort Chlorid eliminieren und Iminiumsalze bilden (s.u.). Außerdem gelingt neben einem Amin ohne stark elektronenziehende Gruppen keine Deprotonierung. Trick (Strohmann, 1996): Auch hier wieder eine nichtelektrophile etherische Vorstufe verwenden, die anschließend reduktiv gespalten 48 wird. Die Vorstufe gewinnt man durch eine Mannich-analoge Reaktion aus Thiophenol, Formaldehyd und sekundärem Amin. Anschließende reduktive Umsetzung mit Lithiumnaphthalid erzeugt in einme zweistufigen ET-Prozeß das völlig nichtstabilisierte Lithiomethylamin. Äußere Bedingungen bei der Herstellung von Lithiumorganylen: 1. Wahl des Lösungsmittels: Zur koordinativen Absättigung der Alkalimetallkationen dienen im allgemeinen etherische Solventien (Diethylether und THF). Achtung: bei T > 0°C wird THF nicht nur schnell lithiiert, sondern fragmentiert auch im Sinne einer 1,3-dipolaren Cycloreversion. Bei höheren Temperaturen > 0°C können Ether nicht nur , sondern auch deprotoniert werden.Das ganze geht in Hexan viel langsamer. RLi BuLi H Li + C H O O H H O Li 2. Starter: Zur Erzeugung einer sauberen Magnesiumoberfläche ätzt man die Oberfläche des Mg mit I2 oder Dibromethan an: I2 + Mgn MgI2 + sauberes Mgn-1 Br-CH2-CH2-Br + Mgn Br-CH2-CH2-Mg-Br + Mgn-1 Mechanismus: Br Br MgBr Br H2C=CH2 + MgBr2 + Mgn-1 + MgBr2 3. Rigider Feuchtigkeitsausschluß: Ether kann leicht über Na, K, oder Na/K-Legierung getrocknet werden; er enthält nur wenig Wasser. THF dagegen löst viel Wasser (hygroskopisch). Seine Trocknung ist viel aufwendiger: Erst trocknet man über KOH, dann destilliert man ab oder säult über Aluminiumoxid, schließlich wird über Na oder K getrocknet, wobei als Indikator gut Benzophenon oder Triphenylmethan eingesetzt werden können Blaues Ketylradikal oder rotes Triphylmethylcarbanion). 49 2. Halogen (Metalloid)-Lithium-Austausch Diese Reaktionen sind ungewöhnlich schnell, viel schneller als die oft kinetisch gehemmte Deprotonierung! Ein Alkylhalogenid wird mit einer Alkyllithium-Verbindung umgesetzt und tauscht sein Halogenatom gegen Lithium ein. Im unteren Beispiel wirkt LDA tatsächlich als Base und generiert so bei tiefen Temperaturen ein Carbenoid. BuLi dagegen macht sofort einen Halkogen-Lihium-Austausch (hier zufällig auch ein Carbenoid). Li R LDA langsam Br C n-BuLi H R schnell Br C Br H R Br C Li Br Carbenoid Li N Selbst bei relativ aciden Aromatenprotonen neben elektronenziehenden Gruppen gewinnt der Halogen-Metallaustausch. So greift z.B. n-BuLi im unteren Beispiel selektiv das Halogen an, ohne an das Nitril zu addieren. H N H N C Br H H C n-BuLi THF/Hexan -100oC Li + BuBr H CO2 H+ H N C CO2H n-BuLi n-Bu n-Bu C Br C H2O LiN O Problem: Es entsteht immer ein weiteres Elektrophil, nämlich das übrigbleibende Alkylhalogenid. Lösung: Man nehme tert-BuLi, dann entsteht zwar auch t-Butylbromid, aus diesem eliminiert überschüssige Base jedoch Isobuten und geht dabei in das ebenfalls unreaktive Isobutan über. N N C Br C Li (CH3)3C-Li Ether, - 90o THF + (CH3)3C-Br LiBr + CH2 + C CH3 (CH3)3CLi CH3 CH3 H3C C H CH3 Diese Reaktionen sind alle Gleichgewichtsreaktionen. Je nachdem, welches Carbanion stabiler ist, liegt das Gleichgewicht auf der Seite der Edukte oder der Produkte. Hier spiegelt sich natürlich die Anionenstabilisierung durch I- und M-Effekte wieder, die ja auch die CH-Acidität festlegt: 50 Bsp. 1: n-BuLi + Cyclopropylbromid n-BuBr + Cyclopropyllithium Br n-BuLi Li n-Bu-Br + + Bsp. 2: n-BuLi + Phenylbromid n-BuBr + Phenyllithium Br n-BuLi Li + n-Bu-Br + Beide Gleichgewichte liegen stark auf der Produktseite. Nicht gut ist die Reaktion mit ähnlich aciden Resten: Bsp. 3: n-BuLi + n-Prop-Br n-BuBr + n-Prop-Li Interessant ist, daß diese Reaktion nicht nur mit Halogeniden funktioniert, sondern auch mit anderen Abgangsgruppen Die Halogenide sind natürlich von oben nach unten bessere Abgangsgruppen (Fschlecht, Cl-etwas besser, Br, I-sehr gut). Andere Abgangsgruppen für den HalogenMetallaustausch: BR2, SiR3, SnR3, PR2, AsR2, SbR2, BiR2, SeR, TeR, HgR. Dabei haben I, Sn, Se ud Te eine besondere Bedeutung, weil nämlich dort der Halogen-Metallaustausch am schnellsten und bei sehr tiefen Temperaturen geht. Beispiel: a) S S SnMe3 (CH2)3 n-BuLi, - 100oC O CH CH2 S wenige Minuten S Li O (CH2)3 CH CH2 Mit H statt dem Stannylrest hätte diese Reaktion Stunden bei -20°C gedauert! Dabei hätte aber das Epoxid nicht überlebt. b) SnR3 R C H OR Li n-BuLi -100oC R C H OR Hier findet man wieder, daß der Sn-Li-Austausch (=Metalloid-Li-Austausch) unter vollständiger Retention abläuft. Die Unmöglichkeit, den "Halogen"-Metallaustausch mit -F, -OR oder -NR2Gruppen herbeizuführen, macht einen Mechanismus über At-Komplexe wahrscheinlich, für den es zahlreiche experimentelle Hinweise gbt: F5 F5 _ _I + Li F5 F5 _ _ _ Li O P (NMe2)3 51 Hier greift das Lithiumorganyl nucleophil am Halogenatom an. Die dabei gebildete Zwischenstufe hat 10 Elektronen am Iod und ist damit hypervalent (d-Orbitalbeteiligung). Das Lithiumkation als Gegenion zum At-Komplex kann seinerseits durch Komplexierung mit HMPA stabilisiert werden. So ist tatsächlich ein Kristallstruktur erhalten worden, die unserer Lewisstruktur entspricht. Solch eine hypervalente Halogenspezies läßt sich im Falle des Chlor oder erst recht des Fluoratoms natürlich kaum oder gar nicht realisieren. Ferner geht es bei: O schlechter als bei den höheren Gruppenelementen S, Se, Te. Genauso geht es bei N schlechter als bei P, As, Sb. F F _ _ _ F F F F F F F Li F Kristallstruktur Rechnungen von einfachen hypervalenten aliphatischen At-Komplexen belegen die erstaunlich hohe Stabilität von Sn-, Hg-, I-, und Te-At-Komplexen, wie auch die geringe Stabilität der entsprechenden At-Komplexe mit Cl- bzw. F-Zentralatom: CH3- + X(CH3)y X(CH3)y+1- Tabelle 29: Stabilität von At-Komplexen im Vergleich zu den Ausgangverbindungen Element Sn Hg I Te At-Stabilität [kcal/mol] -33.7 -31.4 -24.9 -23.5 Element Br Se Cl F At-Stabilität [kcal/mol] -12.6 -7.6 +0.8 +31.6 Von den ersten vier Elementen sind At-Komplexe nachgewiesen worden, von den nächsten beiden nicht (Br, Se). Chlor und Fluor bilden keine At-Komplexe. 3. Deprotonierungen (Metallierungen): Die Deprotonierung von CH-Säuren läßt sich dann für die Synthese von Organolithiumverbindungen nutzen, wenn aktivierte, unempfindliche CH-acide Edukte vorliegen. Einige Beispiele: Diethylether 1. R-C≡C-H + n-BuLi R-C≡C-Li 2. Dithianmethode von Corey-Seebach (S stabilisiert negative Ladungen (s.o.) aber: Lithiiertes THF macht eine Fragmentierung (s.o.)! aber: Dialkylethermachen - und -Deprotonierungen mit Folgereaktionen! 52 3. Ferrocen ist unempfindlich gegenüber BuLi; präparativ wertvoll. R-CH--S2+(O-)(R)-O-Li+ 4. R-CH2-SO2R + n-BuLi Sulfone, Sulfoxide und Sulfoximine lassen sich mit starken Basen deprotonieren. Sulfoxide und Sulfoximine sind zentrochiral am S; sie können daher für asymmetrische Synthesen eingesetzt werden. Nicht so günstig, weil zu reaktiv, sind Carbonyle, Nitrile und Nitroverbindungen. a) In ganz besonderen Fällen wird eine Superbase benötigt. Hier bietet sich die LochmannSchlosser-Base an. Eine Mischung aus n-BuLi und KOt-Bu ist viel basischer als die Einzelkomponenten. Was genau vorliegt, ist bis heute nicht bekannt. Normalerweise bilden beide Basen in Ether Tetramere: [n-BuLi]4 und [KOt-Bu]4. Wahrscheinlich liegt ein gemischtes Aggregat vor, in dem Lithium näher am O und Kalium näher am C sitzt. Auf keinen Fall bildet sich jedoch freies n-BuK! Dieses müßte sofort mit dem Lösungsmittel reagieren. Präparative Anwendungen der Lochmann-Schlosser-Base: Ph Ph Ph Ph H n-BuLi KOt-Bu 2K H Ph Ph Ph Ph Doppelte Deprotonierung führt zum aromatischen Cyclobuten-Dianion (6-Elektronen) b) K H C C H n-BuLi KOt-Bu C C K Doppelte Deprotonierung führt bevorzugt zum orto-metallierten Dikaliumprodukt. Diese Phänomen deutet auf eine gerichtete Lithiierung hin, die bei Anwesenheit von chelatfähigen Substituenten in oStellung ganz allgemein möglich ist. ----------------------Stereochemie von Carbanionen-Reaktionen (evtl. weglassen) Tabelle xy. Austausch / Racemisierungs-Verhältnisse in Cyanoverbindungen. Cyano-CH-Säure Ph2HC-CH(CH3)C≡N Cyanocyclopropan 1 Cyclohexylidennitril 2 Benzoylcyclopropan 3 kA / krac 1.87 913 140 1.0 % Retention der Konfiguration 47 99.9 99.3 0 53 54 PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG FACHBEREICH CHEMIE ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Organische Chemie I für fortgeschrittenen Studierende der Chemie – reaktive Zwischenstufen Prof. Dr. Thomas Schrader Fachbereich Chemie Hans-Meerwein-Straße 35032 Marburg Tel.: 06421 / 28-25544 Fax: 06421 / 28-28917 e-mail: [email protected] ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Teil II: Radikale 1. Inhaltsverzeichnis und Literatur a) Inhalt Radikale Radikale sind im allgemeinen nicht polare, hochreaktive Zwischenstufen. Neben ihrer Herstellung und ihren nukleophilen bzw. elektrophilen Eigenschaften stehen vor allem neuere Anwendungen in der Synthese im Vordergrund der Vorlesung. Während diese Verbindungen bis vor kurzem nur als extrem reaktive und daher meist sehr unselektive Reagenzien galten, spielen sie inzwischen in der stereoselektiven Synthese eine bedeutsame Rolle. b) Literatur Radikale 1. 2. 3. 5. 6. Wentrup, C. Reaktive Zwischenstufen, Thieme, Stuttgart, 1979 Wentrup, C. Reactive Molecules: The Neutral Reactive Intermediates in Organic Chemistry, Wiley, New York, 1984 Giese, B. et al. Stereochemistry of radical reactions: concepts, guidelines, and synthetic applications, VCH Weinheim, 1996 Nicolaou, K. C. et al. Chemie und Biologie von Endiin-Cytostatica/Antibiotica, Angew. Chem. 1991, 103, 1453 Giese, B. et al. Studies on the Mechanism of Ribonucleotide Reductases, J. Am. Chem. Soc. 1997, 119, 2784 2. Herstellung und Eigenschaften von Radikalen Wir kommen jetzt zur zweiten großen Klasse der reaktiven Zwischenstufen. Wenn wir dem Carbanion ein Elektron wegnehemen, so erhalten wir ein Radikal. Zuerst besprechen wir einige Darstellungsmethoden, dann diskutieren wir die Faktoren, die zur Stabilität der Radikale beitragen. 55 Herstellung von Radikalen: 1. Redoxreaktionen: Carbanionen können wie gesagt als Elektron-Transfer-Reagentien wirken: So kann man z.B. durch Grignardverbindungen Nitroaromaten zu aromatischen Aminen reduzieren. Auch das geht: a) b) R-Li+ + O2 R. + O2.- Li+ R-Li + ROOLi 2 ROLi ROOLi (mit Li-Brücke!) FeIII + HO- + .OH Fenton's Reagenz: FeII + HO-OH Diese Reaktion erinnert etwas an die Umsetzung von Li mit RHal bzw. R-OR = Direktsynthese. 2. Aus anderen Radikalen: HO. + C3H6O3 H H2O + C6H5O3. HO + O O H2O + O O O O Hier abstrahiert das sehr reakrive Hydroxylradikal leicht ein Elektron zwischen den AcetalSauerstoffen. 3. Homolyse: A-B A. + .B Diese Reaktion werden wir gleich näher kennenlernen. Stabile Radikale sind z.B. NO, NO2, 3O2, und 3Carbene. Strukturen: Stabil ist auch das DPPH-Radikal, welches als Standard für die ESR Spektroskopie dient: Das Diphenylpicrylhydrazyl besteht aus einem N-Radikal, flankiert von einem Elektronendonor und einem Elektronenakzeptor. Ebenso Nitroxide, aber sie haben nur den Donorsubstituenten. NO2 NO2 Ph R Ph R N N DPPH N O NO2 Beide Nachbargruppen (Donor uns Akzeptor) stabilisieren das Radikal. Die Wechselwirkung des Donor-HOMO mit dem Radikal-p-Atomorbital bewirkt, daß das doppelt besetzte Donor-MO weiter 56 nach unten abgesenkt wird als das Radikal angehoben wird. Ähnlich stabilisieren die +MSubstituenten Allyl- und Benzyl-. a E b E HOMO P LUMO Akzeptor Donor Stabile Radikale durch Donor und Akzeptor neben dem Radikal-C-Atom. Man nennt diesen Effekt auch push-pull-System oder captodativer Effekt (Viehe). Besonders leicht bildet sich z.B. dieses Radikal: O O N H H = 27 kcal H N O O O O 2 N H Nur 27 kcal/mol sind nötig für die Homolyse. Im allgemeinen braucht man für eine nicht-aktivierte C-C-Bindung ~80 kcal/mol. Die meisten Radikale sind aber nicht thermodynamisch stabil, sondern höchstens persistent, d.h. kinetisch stabil unter den Untersuchungsbedingungen. Bsp.: Das Methylradikal ist im interstellaren Raum persistent, weil ihm einfach ein Reaktionspartner fehlt. Die Energiebarriere liegt hier bei 88 kcal/mol. Die Rückreaktion ist fast so schnell wie eine bimoplekulare Reaktion überhaupt sein kann: krück = 1010 lmol-1s-1. Die schnellste bekannte Reaktion verläuft nach der Stoßtheorie mit k = 1011 lmol-1s-1. Einige Reaktionsgeschwindigkeiten für die Radikaldimerisierung: Methyl. : k = 2.4 ± 0.6 . 1010 lmol-1s-1 Ethyl.: k = 7.8 ± 1.8 . 109 lmol-1s-1 Isopropyl. : k = 5.0 ± 1.2 . 109 lmol-1s-1 t-Butyl. : k = 2.4 ± 0.6 . 109 lmol-1s-1 Es fällt auf, daß sterisch anspruchsvolle Radikale langsamer dimerisieren. Dennoch kann man in vielen Fällen durch die Dimerisierungsgeschwindigkeit auf die Stabilität von Radikalen schließen. Das gilt streng natürlich nur, wenn die Radikale praktisch ohne eine Aktivierungsenergie rekombinieren. Dann ist nämlich die Hinreaktion, also die Dissoziation, durch eine Aktivierungsenthalpie gekennzeichnet, die gleich der Reaktionsenthalpie, in unserem Fall also der Dissoziationsenthalpie ist. D.h., die Thermodynamik (Hr) ist entspricht der Kinetik (H≠). 57 A. + B. A-B Hr = Hf (A.) + Hf (B.) - Hf (AB) / Standard-Bildungsenthalpien (Thermodynamik) = H≠ (AB) / Dissoziations-Aktivierungsenthalpie (Kinetik) In der ersten Kurve (Dimerisierung ohne Aktivierungsenthalpie) führt also jeder Stoß zur Reaktion: die Reaktionsgeschwindigkeitist also diffusionskontrolliert. Wir können damit aus Bindungsstärken Bruchwahrscheinlichkeiten ausrechnen und umgekehrt. Wenn wir CH-Bindungen spalten, können wir also über die thermodynamische Stabilität eines Radikals Aussagen machen. Dies alles gilt nicht, wenn schon im Grundzustand des Dimers eine größere sterische Hinderung vorliegt. 2 Beispiele: a) b) In beiden Fällen liegt die Dissoziationsenergie deutlich unter 80 kcal/mol; in diesem Fall herrscht eine starke van-der-Waals-Abstoßung zwischen den Methylgruppen. Das führt zu einer Verlängerug der C-C-Bindung und damit zu einer leichteren Spaltung. Dies sagt aber nichts aus über die Stabilität bzw. Reaktivität des Radikals. Die zweite Kurve zeigt diesen Fall, nämlich den, daß die Dimerisierung kinetisch und thermodynamisch ungünstiger wird: Durch sterische Hinderung wird die Aktivierungsenergie-Barriere bei der Dimerisierung größer und auch die gebildete C-C-Bindung länger und damit das Endprodukt thermodynamisch instabiler. Persistent heißt in diesem Zusammenhang also nicht, daß ein Radikal thermodynamisch stabil ist, sondern lediglich, daß es kinetisch stabil ist, weil es nur sehr langam abreagiert. So ist also das Methylradikal im Weltraum persistent, weil ihm ein Reaktionspartner fehlt. Welche thermodynamisch stabilen Radikale wurden zuerst entdeckt? Schon um 1900 synthetisierte Gomberg das Triphenylmethylradikal: Ph3C. Ph3C-Br + Ag Dimer Ph 2 H C C Ph CPh3 58 Das Radikal dimerisiert beim Eindampfen der Lösung aber nur langsam, und nicht zu dem erwarteten Ph3C-CPh3 (bis heute unbekannt), sondern zu einem sterisch günstigeren chinoiden Derivat, in dem ein Aromat zerstört worden ist. Deshalb ist es auch 20 kcal/mol instabiler als das Triphenylmethylradikal. ESR-Spektroskopie und Rechnungen zeigen, daß das Radikalelektron über alle 3 Aromaten delokalisiert ist. Trotz der sterischen Hinderung, die eine Resonanz erschwert, ist das o-Methylsubsituierte Derivat noch persisitenter, denn die sterische Hinderung erschwert auch die Annäherung für eine Dimerisierung. Dieser Effekt ist also meist der ausschlaggebende. Zum vergleich: Das Benzylradikal ist etwa 12 kcal/mol stabiler als das Methylradikal. CH3 CH3 C CH3 Ist das Triphenylmethylradikal also unreaktiv? Keineswegs, wie die schnellen Reaktionen mit kleineren Radikalen zeigen: Mit Sauerstoff bildet sich Ph3C-O-O-CPh3. Diese Reaktion mit Sauerstoff hat eine in vivo-Bedeutung (später mehr). Auch mit anderen sehr stabilen Radikalen wie z. B. NO, und NO2 geht das Triphenylmethylradikal schnelle Reaktionen ein und bildet stabile Produkte ohne ungepaarte Elektronen. Auch relativ stabile Radikale sind also sehr reaktiv. Die persistenten Radikale O2, NO und NO2 werden deshalb auch Radikalfänger oder "radical traps" genannt. NO und NO2 führen dabei zu Nitroso- bzw. Nitro-Verbindungen. Manchmal ist sogar ein Diradikal stabiler als die Verbindung mit gepaarten Elektronen, wenn z. B. im Diradikal aromatische Ringe gebildet werden, wie im nachfolgenden Beispiel des TschitschibabinKohlenwasserstoffs: Ph Ph C C Ph Ph Ph Ph C C Ph Ph Es entsteht zunächst ein Singulett-Diradikal, welches thermisch ins Triplett angeregt werden kann. Dieses kann z.B. dem Lösungsmittel H-Radikale entreißen und so ins Monoradikal übergehen: Wieviel Stabilisierungsenergie bekommt denn ein Alkylradikal, wenn mesomeriefähige Gruppen in der Nachbarschaft stehen? Einige Resonanzenergien von Radikalen, verglichen mit denen von Carbeniumionen: Resonanzstabilisierungs-Energien (kcal/mol) 12.5 9.6 + + (25) (21) 59 13.1 Wir ziehen folgende Schlüsse: 1. Eine positive (oder negative) Ladung will mehr delokalisiert sein als ein Radikalelektron. Warum sind dann eigentlich Carbenium- und Carbanionen persistenter als Radikale? Ganz einfach, weil bei ihrer Dimerisierung ein Dikation oder Dianion entstehen müßte. Bei Radikalen dagegen entsteht etwas sehr Stabiles, nämlich eine kovalente Bindung. Insgesamt halten wir fest, daß zum verständnis der Radikalchemie die Beachtung der Kinetik ganz wichtig ist! Nachweis von Radikalen: Eine der besten Methoden ist die Elektronenspinresonanz-Spektroskopie (ESR; auch EPR = Elektron-Paramagnetic Resonance). Die funktioniert ähnlich wie die NMR-Spektroskopie: Wir bringen die einsamen Elektronen in ein äußeres Magnetfeld, und ihre Spins spalten sich auf in eine parallele und eine antiparallele Ausrichtung (Zeeman-Effekt). Die Aufspaltung ist proportional zur Magnetfeldstärke H0, genauer: E = g . B . H mit g = Proportionalitätsfaktor; B = Bohr'sches Magneton; H = Magnetfeldstärke Da ein Elektron einen Spin von 1/2 besitzt, bekommen wir also 2 Energieniveaus mit ms = +1/2 und ms = -1/2. Im Sinne einer Boltzmann-Verteilung werden bei einer durchschnittlichen Energiedifferenz von ~ 1cal/mol die beiden Zustände im Verhältnis 1:1000 populiert. Dabei erhalten wir durch ein Radikalelektron eine Spinmultiplizität von allgemein (2S+1) = 2 . 1/2 + 1 = 2, also ein Dublett. Bei zwei ungepaarten Elektronen bekommen wir eine Spinmultiplizität von 2 . 1 + 1 = 3, also ein Triplett. Diamagnetische Verbindungen ohne ungepaarte Elektronen haben eine Spinmultiplizität von 2 . 0 + 1 = 1. Sie ergeben naturgemäß kein ESR-Spektrum. Wie im NMR können ungepaarte Elektronen mit benachbarten Protonen oder 13C-Atomen koppeln. Es gelten die gleichen Regeln wie im NMR: Ein Proton führt also durch Kopplung mit dem ungepaarten Elektron zu einem Dublett ect. Dabei ermittelt man eine hyperfeine Kopplungskonstante, die abhängig von der Kernkonstante und der Elektronen-Spindichte an diesem Kern ist: Ni = QNi . i mit QNi Kernkonstante und i = Elektronen-Spindichte an diesem Kern 60 Struktur: Mit Hilfe von ESR-Koplungskonstanten wurde ermittelt, daß Alkylradikale schnell vom einen sp3 über sp2 zum anderen sp3-Zustand invertieren. Bevorzugt sind sie allerdings gebogen und eclipsed, um einen maximale Überlappung mit den benachbarten -Molekülorbitalen zu erreichen: Spin-Trapping: Durch schnelle Abfangreaktionen zu persistenten Radikalen kann man Alkylradikale chemisch nachweisen. Dies gelingt besonders gut mit Nitrosoverbindungen, weil sich dabei die relativ stabilen Nitroxide bilden: Diese Abfangreaktion verläuft kinetisch sehr schnell über eine geringe Aktivierungsenergie: k2 = 106 - 108 l mol-1 s-1. EA = 1-5 kcal mol-1. Ein weiteres Beispiel benutzt ein Nitron zum Abfangen des t-Butylperoxy-Radikals : Zum Schluß noch das Beispiel der Diacylperoxide, die mit demselben Nitron abgefangen werden können: Geometrie und Reaktionsgeschwindigkeit der Radikalbildung: Ein Vergleich dreier Zerfallsreaktionen enthüllt viele Einzelheiten über Radikalbildung. Hier vergleichen wir den radikalischen Zerfall von Peroxyestern, Dialkylazoverbindungen und als als Gegenpart den Ionenzerfall von Alkylhalogeniden. Thermische Belastung führt bei der Radikalspaltung letztlich zu 3 Zerfallsprodukten: Radikal 1, Gas und Radikal 2. Die Tabelle gibt Aufschluß über die relativen Reaktionsgeschwindigkeiten: Tabelle 1: Relative Reaktionsgeschwindigkeiten beim thermischen Zerfall von Peroxyestern, Dialkylazoverbindungen und Alkylhalogeniden. Reaktive ZS t-Butyl- Adamantyl- Bicyclo[2.2.2]octyl- Norbornyl61 Peroxyester 1 1.48 10-1 10-3 Azo-Verbindung 1 4 x 10-4 5 x 10-5 5 x 10-6 Alkylhalogenid 1 10-3 10-6 10-14 Erklärung: Erstens fällt auf, daß Peroxyester wesentlich schneller zerfallen als Azoverbindungen. Das liegt daran, daß die O-O-Bindung nur wenig Aktivierungsenergie zur Homolyse braucht, un die =N-C-Bindung viel. Darüberhinaus sind die Reaktionen unterschiedlich exotherm (Peroxyester stärker!). Das kommt in dem einfachen Energieschema zum Ausdruck: Zweitens fällt auf, daß die unterschiedlich stabilen Zwischenstufen von oben nach unten immer deutlicher unterschieden werden. Bedeutet dies, daß der Übergangszustand der entsprechenden Zerfälle von oben nach unten zunehmend produktähnlich wird? Damit wäre aber in den Peroxyestern relativ wenig Radikalcharakter im ÜZ, im Gegensatz zu den Diazo-Verbindungen, wo recht viel Radikalcharakter im ÜZ vorliegt. Schauen wir uns die Klassen genauer an: 1. Peroxy-Verbindungen: Es erhebt sich die Frage, ob alle Bindungen gleichzeitig gebrochen werden (konzertiert) oder nicht. Im konzertierten Fall könnte die Stabilisierung des entsteheneden Alkylradikals mit in die RG eingehen; beim zweistufigen Fall sollte die RG davon unabhängig sein. Als Faustregel gilt hier: Aktivierungsenergien von über 35 kcal/mol deuten auf nicht-konzertierte Reaktionen hin. Bsp.: Die beiden Edukte (Radikalbeteiligung). unterscheiden sich nur im letztlich entstehenden Alkylradikal Bsp.: Die O-O-Bindungsspaltung ist strukturunabhängig. Bsp.: Die beiden Strukturen unterscheiden sich nur im letztlich entstehenden Alkylradikal (Radikalbeteiligung). Bsp.: 62 Auch hier ist eine deutlich schnellere Reaktion zu sehen. Allgemeine Bedeutung: Warum bilden Ether so leicht Peroxide? Weil dabei ein mesomeriestabilisiertes Ether-Radikal durchlaufen wird! Zusammenfassung: Wenn ein stark induktiv oder mesomeriestabilisiertes Radikal entstehen kann, so werden die Reaktionen schneller und konzertierter, sonst nicht. Bildungswärmen: Vergleichen wir jetzt die Bildungswärmen der "one bond homolysis" und der "two bond homolysis". Beim Methylsubstituenten haben wir eine Aktivierungsenergie von 38 kcal, eine Reaktionsenthalpie von +37 kcal beim einfachen Bindungsbruch und von 27 kcal beim zweifachen Prozeß. Beim Benzylsubstituenten haben wir dagegen eine Aktivierungsenergie von 28 kcal, eine Reaktionsenthalpie von +37 kcal beim einfachen Bindungsbruch und von +10 kcal beim zweifachen Prozeß. Dieser gewinnt natürlich! Im Energieschema sieht das so aus: Wir stellen fest: Je weniger stabil die entstehenden Alkylradikale, desto weniger stark ist im Übergangszustand die R-C-Bindung gelockert, und desto mehr haben wir einen bevorzugten O-OBruch. Der ÜZ ist sehr produktähnlich (Hammond-Postulat: das trifft sowohl auf den Energieinhalt als auch auf seine Struktur zu.). Die Edukte sind vergleichsweise instabil und haben alle in der obigen Tabelle ungefähr die gleichen RG's beim Zerfall zu Radikalen, auch wenn sehr wenig stabilisierte Radikale wie das Norbornyl-Radikal entstehen. (Brückenkopf-Radikale). 2. Azoverbindungen: Hier müssen partiell Radikale im ÜZ gebildet werden, deshalb findet man eine langsamere Reaktion und eine ausgeprägtere Differenzierung. Mechanistisch geht es gar nicht anders: Gleichzeitig werden beide =N-C-Bindungen getrennt: Dabei tritt ein interessanter Lösungseffekt auf, auch Käfig-Effekt genannt: In Lösung bildet das Solvens einen Käfig um die beiden entstandenen Radikale, so daß sie bevorzugt miteinander dimerisieren. Wenn aber beide Radikale sehr gut solvatisiert werden, kommt es zum Solvensgetrennten Radikalpaar, von dem nun jedes Einzelteilchen andere Folge-Reaktionen außerhalb des Käfigs eingehen kann. Genauso in der Gasphase: Hier ist keine Solvatation der gebildeten Radikale 63 möglich, so daß bei zwei unterschiedlichen symmetrischen Dialkylazo-Verbindungen alle drei möglichen Mischungspartner entstehen. Erst außerhalb des Käfigs finden also gekreuzte Radikalreaktionen statt, die z.B. präparativ brauchbar sind, wie z.B. die Abfangreaktion mit Thiolen: Bsp.: R. + R’SH R-H + R’S. / (Radikalfänger) In vivo: Reduktion von Radikalen mit Glutathion = RSH-Verbindung Die Langlebigkeit der Radikale hängt natürlich direkt mit ihrer Struktur zusammen und kann gesteuert werden: a) Mit der nichtstabilisierten Dimethylazo-Verbindung erhält nur die Homo-Kupplung zu Ethan. Also bleibt das Radikal schön im Käfig, bevor es mit sich selbst dimerisiert. CH3-N=N-CH3 + R’SH CH4 / nur Ethanbildung innerhalb des Käfigs b) Wann haben Radikale die Chance, außerhalb des Käfigs zu reagieren? Mit AIBN, einem Radikalstarter, bleiben nur etwa 20% im Käfig, der Rest lebt länger und tritt aus dem Käfig aus. Spintrapping mit RSH gelingt hier gut. AIBN + R’SH nur 20% Käfig, aber 80% Reduktion zu (CH3)2(CN)C-H Das stabilere Radikal in b) lebt länger und tritt aus dem Käfig aus. Als Radikalstarter können wir also höchstens 80% des eingesetzten AIBN’s nutzen, der Rest dimerisiert im Käfig. Noch stabiler ist dieses Radikal (aus AIBN-Derivat): Bei –196°C wird es in einer Edelgasmatrix durch Bestrahlung erzeugt und bleibt im „Lösungsmittelkäfig“ unverändert mehrere Tage stabil. ESR beweist ein Triplett-Radikal-Paar mit 6-7Å Abstand zwischen den Radikalen. Beim Erwärmen fliegt Stickstoff raus und die Radikale dimerisieren – aber stereoselektiv: Es entsteht reines meso-Produkt: 64 Das bedeutet, daß die beiden Radikale im engen Käfig (Matrix) sich noch nicht einmal drehen konnten! Radical-Clock: Wie bestimmt man Reaktionsgeschwindigkeiten von Radikalen? Das ist sehr schwierig, absolut fast unmöglich. Trick: Relative Reaktionsgeschwindigkeiten kann man durch Konkurrenzreaktionen mit Radikalen bekannter Reaktionsgeschwindigkeit bestimmen. Bsp.: Das Cyclopropylcarbinyl-Radikal öffnet schnell zum Homoallyl-Radikal. Das beobachtet man auch in Steroiden, z.B. bei Cholesterin: Die Geschwindigkeit dieser Umlagerung liegt bei k = 108/s bei 30°C. Wie hat man das bestimmt? Man gibt zu der Reaktionsmischung noch einen Radikalfänger,der mit den entstehenden Produktradikalen schnell zu definierten Produkten abreagiert. Aus dem Verhältnis der Produkte und Konzentrationsreihen kann man dann k ausrechnen. So erteilen diese ermittelten Werte Auskunft über die Reaktionsgeschwindigkeit der bimolekularen Kunkurrenzreaktionen. Bsp.: Das -1-Hexenyl-Radikal reagiert mit k = 105/s bei 40°C zum Cyclopentylcarbinyl-Radikal. Abfangreaktionen mit R-SH ergibt zwei reduzierte Produkte in einem bestimmten Verhältnis. Das Verhältnis der Produktkonzentrationen liefert eine Aussage über die Geschwindigkeit der ersten Umlagerung. Man findet dabei z.B. gar kein Cyclohexyl-Radikal, die RG zur Bildung dieses Radikals ist also sehr gering, wahrscheinlich wegen der 6-endo-trig-Geometrie. Wichtige Reaktionen: 1. H-Abstraktionen sind sehr häufig: Cl. + H-C2H5 HCl + .C2H5 H° = -5 kcal/mol; k = 4x109 l/molxs / DH°(H-Cl) = 103 kcal/mol Aber: Br. + H-C2H5 HBr + .C2H5 H° = + 10 kcal/mol; k = 2x103 l/molxs / DH°(H-Br) = 87 kcal/mol Die Reaktionsgeschwindigkeit ist also eine Funktion der: 1. Radikalstabilität des neuen Radikals; 2. Dissoziationsenergie des Edukts DH; 3. Stärke der neuen Bindung. 65 In diesem Sinne ist das Cl-Radikal reaktiver, das Br-Radikal dafür umso selektiver (je endothermer die Reaktion, desto selektiver ist das Reagenz (Hammond-Postulat)! 2. Rekombination und Disproprtionierung: a) Rekombination: CH3-CH2. + .CH2-CH3 CH3-CH2-CH2-CH3 // H° = -82 kcal/mol b) Disproprtionierung (intermolekulare H-Abstraktion!): CH3-CH2. + .CH2-CH3 CH2=CH2 + CH3-CH3 // H° = -60 kcal/mol Beide Reaktionen sind extrem schnell: kDim. = 109-1010 l/mols; kRek. = 108-109 l/mols. Wenn die sterische Hinderung bei der Dimerisierung groß wird, kann die Disproportionierung günstiger werden: So diemrisiert das t-Butylradikal zweimal langsamer als es dimerisiert. 3. Addition an C=C-Doppelbindungen: Wichtig bei Polymerisationsreaktionen: Radikale können als Elektrophile und als Nucleophile an Doppelbindungen angreifen. Beide Fälle sind energetisch günstig: Im Fall des elektrophilen Radikals wechselwirkt das niedrig liegende einzelne Radikalelektron im p-Orbital mit dem HOMO der DB, also dem -Orbital. Im Fall des nucleophilen Radikals wechselwirkt das hoch liegende einzelne Radikalelektron im p-Orbital mit dem niedrigen antibindenden *-Orbital des Alkens. In Copolymerisationen zeigt sich daß sowohl nucleophile als auch elektrophile Radikale gut an DBen addieren können: Fumarsäuredimethylester wird von einem Radikal angegriffen und bildet ein elektrophiles Radikalzwischenprodukt. Dieses greift bevorzugt das wartende nucleophile Olefin Enolacetat an und wird damit zu einem nucleophilen Tertiärradikal. Dieses greift wiederum den elektrophilen Fumarester an. Es entsteht ein streng alternierendes Copolymer! Radikal-Anionen: sind z.B. die stabilen Ketylradikale oder die Semidione, die aus 1,2-Diketonen entstehen (Nachweis der Ethertrocknung). Schon besprochen hatten wir das Naphthyl-Radikalanion als Zwischenprodukt von Radikalreaktionen. Hier kann man die LUMO-Energien über eine polarographische Reduktion bestimmen. 66 Über solche aromatischen Radikalanionen könnten auch nucleophile aromatische Substitutionen verlaufen: Alkalimetall gibt ein Elektron an den Aromaten, der geht über in ein Radikalanion, welches schnell das Halogenid abspaltet und damit in ein neutrales Radikal übergeht. Das Nucleophil (weich wie z.B. ein Malonesteranion) greift an und erzeugt erneut ein Radikalanion, welches das überschüssige Elektron an das Edukt abgibt und damit einen zweiten Zyklus startet. Ähnlich könnte die BirchReduktion verlaufen. Radikal-Kationen: könnten Zwischenstufen in der elektrophilen aromatischen Substitution sein (Hinweis: das starke Elektrophil NO2 ist ein persistentes Radikal): Nach Ausbildung des Donor-Akzeptor-Komplexes (= -Komplex) könnte lichtinduziert ein Elektronentransfer vom Aromaten auf das Elektrophil erfolgen. Es entsteht dabei ein aromatisches Radikalkation und das neutrale Elektrophil-Radikal. Dimerisierung liefert zwanglos den -Komplex mit Pentadienylkation, wie bekannt. Deprotonierung gibt schließlich das Produkt. Dieser Mechanismus wird unterstützt durch: 1. Ionisations-Potentialmessungen; 2. Photoelektronen-Spektroskopie; 3. PolarographieMessungen (Oxidationspotentiale). Tatsächlich korrelieren z.B. viele Reaktionsgeschwindigkeiten von SEar-Reaktionen mit dem Oxidationspotential des Substrates, besonders bei starken Oxidationsmitteln! Viele derartige Reaktionen diskutiert man heute deshalb als ET-Reaktionen! Es gibt’s aber auch völlig stabile Radikalkationen, z.B. das aus Acetylen und Schwefelsäure: Hier könnte H+ oder auch die Schwefelsäure selbst das Oxidationsmittel sein. Radikal-Anion und –Kation-Paare: werden neuerdings als organische Leiter diskutiert: 67 Durch die Bildung eines Charge-Transfer-Komplexes überträgt der Donor ein Elektron auf den Akzeptor. Diese Radikalpaare sollen synthetische delokalisierte Polymere wie z.B. Polyacetylen dotieren und so einen Loch- bzw, Elektrontransport induzieren. Evtl. kann man auch Supraleiter bei RT daraus herstellen (alter Traum). Verbindung von OC und Elektrotechnik! Reaktionen mit Tributylzinnhydrid: Präparative Bedeutung gewann die Radijkalchemie in den letzten zehn Jahren vor allem durch die Entwicklung der milden Chemie von Bu3Sn-H. Dieses Molekül wird leicht durch H-Abstraktion radikalisiert und vermag seinerseits Alkylhalogenide durch milde Halogenatom-Abstraktion zum sehr stabilen Bu3Sn-Hal zu radikalisieren. Dadurch wird ein Kreislauf mit relativ niedrigen Aktivierungsenergiebarrieren möglich, der wenig Nebenreaktionen aufweist. Bsp.: Addition von R-H an eine Doppelbindung durch Reaktion von R-Hal mit einem Olefin und Bu3SnH: Das Radikal R addiert sich an die Doppelbindung und wird durch Bu3Sn-H abgefangen. Das entstehende Bu3Sn-Radikal radikalisiert nun seinerseits weiteres Alkylhalogenid und geht dabei in das stabile Bu3Sn-Hal über. Anstatt equimolare Mengen des teuren Zinnreagenzes zu nehmen, kann man auch katalytische Mengen durch equimolar zugesetztes NaBH4 zurückreduzieren. Die Reste R können primär, sekundär, tertiär sein mit Hal = I oder Br. R-Cl reagiert nicht, weil die Reaktion des Bu3Sn-Radikals mit R-Cl zu langsam ist, so daß es leiber mit weiterem Alken reagiert und so Polymere bildet. Die Initiierung dieser Radikalreaktionen geschieht konventionell meist mit Licht oder AIBN. Bsp.: Bei Start mit Licht erhält man 87%, mit AIBN sogar 98% Ausbeute. Auch chirale Verbindungen mit Stereozentren in direkter Nachbarschaft zum Radikal-C-Atom racemisieren nicht. Beispiele aus der Lipid- und Aminosäurechemie belegen dies: A) Lipide: B) Aminosäuren: Sogar am Radikal-C-Atom selbst gelingt eine stereoselktive Synthese. Beispiel sind Zuckerbausteine aus der Königs-Knorr-Synthese: Acetobromglucose z.B. bildet ein Radikal, welches mit Acrylnitril zu einem Alkylierungsprodukt mit einem - und -Verhältnis von 70:5 weiterreagiert. Erklärung: Die Reaktion verläuft über einen equatorialen Angriff an das Glocosylradikal in der Boot-Konformation. Diese Konformation 68 ist nämlich durch eine bindende Wechselwirkung des hochgelegenen SOMO’s mit dem benachbarten antibindenden *-Orbital der C-O-Bindung stabilisiert. (Das SOMO ist seinerseits durch die Wechselwirkung mit dem doppelt besetzten MO der nichtbindenden SauerstoffElektronenpaars künstlich hochgepushed, s.u.) So lassen sich auch leicht C-Glycoside (nichtnatürliche Disaccharide) herstellen: Sehr wichtig ist schließlich die gezielte Deoxygenierung von Alkoholen: Man überführt den Alkohol in das Xanthat bzw. den Thioester und läßt mit Bu3Sn-Radikalen reagieren. Die C-O-Bindung ist schwer zu radikalisieren. Mit diesem Trick gelingt es, denn das gebildete Additionsprodukt (an die C=S-Bindung) fragmentiert leicht unter Bildung des freien Alkylradikals und O=C=S sowie des stabilen Bu3SnSR‘. So lassen sich leicht Desoxyzucker herstellen: Man schützt alle anderen OH’s mit Ketalschutzgruppen und überführt den restlichen Alkohol in das Xanthat, welches mit Bu3SnH das Radikal ergibt. Bei Anwesenheit von Acrylnitril entsteht das Abfangprodukt, sonst einfach der freie Desoxyzucker (H-Abstraktion von weiterem Bu3SnH. Wird wie im obigen Beispiel die Unterseite gut abgeschirmt, so gelingt auch eine stereoselektive Deoxygenierung. Diese Reaktion ist natürlich von außerordentlicher Bedeutung für die Überführung von RNA- in DNA-Bausteinen. Wie macht die Natur das? Solch eine Reaktion findet in der Tat auch über radikalische Zwischenstufen im aktiven Zentrum der Ribonucleotid-Reductase statt. Dabei wird das Substrat (ein Nucleotid) in definierter Weise in der Substratbindungstasche plaziert, so daß die Saoerstoffatome bzw. OH-Gruppen genau neben den katalytisch aktiven Gruppen des Enzyms ligen (vor allem SH, aber auch Carboxylat). Zunächst greift ein radikalisches Cystein R-S. am H-C3 an und generiert dort ein Radikal. Dieses eliminiert in Art einer radikalischen -Eliminierung Wasser, nämlich ein Proton von C3 (geht ans Carboxylat) und ein OH-Radikal von C2. Dabei bildet sich an C3 ein Keton, an C2 ein Radikal. Dies abstrahiert von einer dritten SH-Gruppe ein H-Radikal und wird so zur neuen 69 CH2-Gruppe reduziert. Schließlich bilden die beiden benachbarten SH-Gruppen des Enzyms eine Disulfidbrücke aus, wobei ein Elektron an das Keton abgegeben wird und zur Bildung eines Ketylradikalanions führt. Dies wird durch die Carbonsäure protoniert und radikalisiert seinerseits die obere SH-Gruppe durch H-Abstraktion. Das Desoxy-Nucleotid ist fertig und alle funktionellen Gruppen des Enzyms sind wieder in Ausgangsposition außer der Disulfidbrücke, welche noch reduziert werden muß. Medizinisch wichtige Radikalreaktionen an DNA - Endiin-Antibiotika: Einige Naturstoffe wirken auf interessante Weise antibiotisch bzw. cytostatisch: Sie bilden nämlich Diradikale, die nach Interkalation in den DNA-Strang gezielt Phosphodiesterbindungen spalten und so zum DNA-Bruch führen. Zu dieser Gruppe gehören z.B. Neocarzinostatin, Bleomycin und Caliceamycin. Zum Mechanismus der Diradikalbildung: Nehmen wir zum Einstieg die Valenzisomerisierung von 1,3,5-Hexadien zu 1,3-Cyclohexadien (elektrozyklisch, 6dis Was passiert, wenn man stattdessen ein Endiin nimmt? Hier ergibt die Bergmann-Umlagerung ein doppeltes Kumulen, welches gebogene sp-C-Atome enthält und deswegen leicht ins sp2-Hybrid wechselt. Dabei verschieben sich die Elektronen zum 1,4-Diradikal. Dieses ist hochreaktiv und reagiert praktisch mit allen C-H-Bindungen in der Umgebung, z.B. mit denen in benachbarten Nucleotiden der DNA. Dabei bildet sich der stabile Aromat. 70 Ganz ähnlich funktioniert die DNA-Spaltung mit Neocarzinostatin, das praktisch ein „prodrug“ darstellt, also eine pharmakologisch unwirksame Vorstufe, die durch gezielte Reaktion zur aktiven Form umgewandelt werden kann. Die nuclephile Addition eines Cystein-Thiols an das DieninSystem der „prodrug“ führt zur Umlagerung und Öffnung des Epoxids, wobei ein dreifaches Kumulen entsteht. Transannulare Elektronenverschiebung ergibt wieder ein 1,4-Diradikal, welches bei tiefen Temperaturen (-38°C) ~2h Halbwertszeit besitzt. Diese reagiert nun in verschiedener Weise mit DNA: Als erstes wird das H an C4 abstrahiert. Das dabei entstehende Radikal kann nun sowohl zum Strangbruch an C5 führen als auch zum alternativen Strangbruch an C3. Im ersten Fall eliminiert Phosphat als gute Abgangsgruppe von C5, und hinterläßt ein Radikalkation, welches mit OH- zum C4-Radikal weiterreagiert. Im zweiten Fall eliminiert Phosphat von C3, und auch hier wird das gebildete Radikalkation von OH- neutralisiert zum einfachen Radikal an C4. Alternativ kann auch das Diradikal Sauerstoff an das oben beschriebene Primärradikal anlagern. Das Peroxoketal öffnet anschließend unter Phosphateliminierung und führt damit ebenfalls zum Strangbruch. Schließlich kann auch ein mesomeriestabilisiertes Phosphatradikal eliminieren und hinterläßt eine exocyclische Doppelbindung. Wenn diese DNA-Strangbrüche bevorzugt bei schnellwachsenden Tumorgeweben auftreten, wird selektiv das Krebsgeschwür zerstört. Dieses nutzt die Tumortherapie aus. In Marburg werden radikalische Enzymreaktionen im Fachbereich Biologie von den Gruppen Buckel und Thauer intensiv und sehr erfolgreich untersucht. 71 Chelatkontrolle bei Radikalen: Philippe Renaud: In einem kürzlich erschienenen Übersichtsartikel faßt der Autor zahlreiche selektive Radikalreaktionen zusammen, bei denen eine Chelatverklammerung für die oft stereoselektive Reaktinsführung verantwortlich ist. 3 Beispiele: 1. Der Abfang eines Radikals neben einem Stereozentrum mit sterisch anspruchsvoller Gruppe geschieht hoch stereoselektiv, wenn zwei benachbarte Methoxygruppen dabei durch die Lewissäure Mg2+ verklammert werden (hier sichtbar durch die Deuterierung): 2. Der Angriff eines t-Butylradikals an ein elektronenarmes ,-ungesättigtes chirales Sulfoxid verläuft wieder hochstrereoselektiv, wenn das Sulfoxid und ein benachbartes Keton chelatartig über die Lewissäure Ti4+ gebunden werden: Der nucleophile Angriff eines t-Butylradikals an ein achirales Enamid kann asymmetrisch geführt werden, wenn dieses als Oxazolinon im Sinne der Evans-Chemie über ein Mg2+ verklammert wird, wobei ein zusätzliches chirales Dihydrooxazol am Mg2+ für eine chirale Koordinationssphäre sorgt: Zinnfreie Radikale: In jüngster Zeit hat man versucht, derart selektive Radikalreaktionen metallfrei ohne Verwendung des giftigen Zinnorganyls zu gestalten. Hier im Hause vertritt Armido Studer diese Forschungsrichtung: 72 PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG FACHBEREICH CHEMIE ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Organische Chemie I für fortgeschrittenen Studierende der Chemie – reaktive Zwischenstufen Prof. Dr. Thomas Schrader Fachbereich Chemie Hans-Meerwein-Straße 35032 Marburg Tel.: 06421 / 28-25544 Fax: 06421 / 28-28917 e-mail: [email protected] ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Teil III: Carbokationen 1. Inhaltsverzeichnis und Literatur a) Inhalt Carbokationen Bindungsverhältnisse in Carbokationen (Elektronensextett im Carbeniumion vs. Elektronenoktett im delokalisierten Carboniumion); Stabilität in der Gasphase, Rotationsbarrieren, Energievergleich Carbenium-/Carboniumionen; Carbokationen in Lösung, Kristallstrukturen; Super-Lewissäuren, Super-Brønsted-Säuren (Olah: magic acid) und ihre Reaktionen mit Alkylhalogeniden bzw. Alkoholen;Nachweis in Lösung mit 13C-NMR, Norbornylkation: Schnelles Gleichgewicht zwischen klassischen Carbeniumionen? Nein, nichtklassisches Carboniumion! b) Literatur Carbokationen 1. Olah, G.A., Schleyer, P.v.R. (Herausgeber), Carbonium Ions, Vol. 1-5, Wiley, New York, 19681976. 2. Olah, G.A. Surya Prakash, G.K., Sommer, J., Superacids, Wiley, New York, 1985. 3. Vogel, P., Carbocation Chemistry, Elsevier, Amsterdam, 1985. 4. Olah, G.A., in The Chemistry of Alkanes and Cycloalkanes (Hrsg. S.A. Patai), Wiley, New York, 1992, S. 609-652. 5. Laube, T. Neue Carbokationen - von der physikalisch-organischen Chemie zur Biochemie, Angew. Chem. 1996, 108, 2939. 2. Herstellung und Eigenschaften von Carbokationen Wir kommen jetzt zur dritten großen Klasse der reaktiven Zwischenstufen. Wenn wir dem Radikal ein Elektron wegnehmen, so erhalten wir ein Carbeniumion. Hinweise: im Massenspektrum von Methan erscheinen folgende Peaks: (MG = 12-17) 73 Hier reihen sich auch das Carbeniumion CH3+ und das Carboniumion CH5+ ein. Allgemein: C möchte am liebsten ein Elektronensextett oder besser –oktett besitzen. Das Sextett ist im Carbeniumion realisiert, das Oktett aber im Carboniumion. Man kann es sich herleiten durch Anlagerung von H2 an das Carbeniumion in einer „2-Elektronen-3-Zentrenbindung; durch Mesomerie entsteht das nichtklassische pentakoordinierte CH5+-Kation: Das Carbeniumion läßt sich aus dem CH2-Molekül Carben und Protonen herstellen: Dies ist aber kein Oniumion, weil es kein Oktett hat (Bsp.: Ammoniumion und Oxoniumion). Das Carboniumion entsteht in gleicher Weise durch Protonierung von Methan: (Nomenklatur: Anstelle von Carbeniumion kann mann auch einfach Methylkation sagen.) Isolierte Carbokationen in der Gasphase: Der thermische Zerfall von Methan liefert nicht Carbeniumhydrid, sondern Radikale. Deshalb generiert man Kationen vorteilhaft im Massenspektrometer durch Stoßionisation; MALDI etc. Einige Stabilitäten von Carbokationen (H0f in kcal/mol): Kation CH3+ CH3-CH2+ CH3-CH2-CH2+ CH3-CH+-CH3 (CH3)3C+ Cycloheptatrienyl Cyclopentadienyl Vinyl Ethinyl H0f [kcal/mol] 260 219 208 192 169 212 273 266 399 Man sieht die wachsende Stabilität von Carbeniumionen beim Übergang von primären über sekundären zu tertiären Strukturen. Diese Carbeniumionen sind natürlich nur in der Gasphase „stabil“, denn in Lösung würden sie sofort SN-Reaktionen eingehen. Allgemein gilt auch hier wie bei der Stabilisierung von Carbanionen: je größer das Gerüst, desto besser kann die Ladung verteilt werden (Polarisierbarkeit: positive und negative Hyperkonjugation). Interessanterweise kann so eine positive Ladung besser stabilisiert werden als eine negative; dieses MO-Diskussion führt aber in diesem Rahmen zu weit. Außerdem sind Spezies, die antiaromatischen Charakter haben, bzw. die 74 sp2- und sp-hybridisierte kationische C-Atome tragen, in zunehmendem Maße instabil. Umso besser sind in diesen Faällen die Anionen! Wie schon vorher gesehen, stabilisieren Alkylreste Carbeniumionen viel effektiver als Radikale. Bsp: Der Stabilitätsunterschied zwischen n-Propyl- und Isopropylcabeniumion ist 16 kcal/mol. Bei den Radikalen ist er nur 3 kcal/mol: Rotationsbarrieren Bei der Behandlung von cis-2,3-Dimethylcyclopropylchlorid mit starken Lewissäuren (SbF5/SO2ClF) entsteht durch Cyclopropylcarbinyl-Allylkation-Umlagerung das syn,syn-Produkt, welches sich mit einer Barriere von 18 kcal/mol in das syn,anti-Allylkation umwandelt (sterische Spannung), danach langsamer mit einer Barriere von 24 kcal/mol in das anti,anti-Produkt: Energievergleich zwischen Carbenium- und Carboniumionen Die Reaktion von CH3+ mit H2 zum CH5+-Kation ist exotherm und liefert -39 kcal/mol! Also ist das CH5+-Kation deutlich stabiler als sein Carbeniumion! Wieviel macht bei beiden die Homologisierung durch eine CH2-Gruppe aus? Beim Übergang vom CH3+- zum C2H5+-Kation gewinnt man –41 kcal/mol, beim Übergang vom CH5+ zum C2H7+-Kation gewinnt man dagegen nur –14 kcal/mol. Der Grund dafür liegt darin, daß schon im CH5+-Kation die positive Ladung besser delokalisiert war. Die Hyperkonjugation über weitere -Bindungen spielt also eine weit größere Rolle bei den klassischen, wenig stabilisierten Kationen! Carbokationen in Lösung: Auch hier ist wieder die Wahl des Lösungsmittels entscheidend, genau wie bei Carbanionen. Wir finden klassische Lösungsmitteleffekte, SN-Reaktionen etc. 1. Allgemein spielt hier die Dielektrizitätskonstante des Lösungsmittels eine größere Rolle, die Substituenteneffekte sinken eher in ihrer Bedeutung. Die Stabilität = 1/ladungsinduzierter Dipol). 2. Die spezifische Solvatation des Kations ist auch sehr wichtig; sie verläuft über Wechselwirkung mit den freien Elektronenpaaren des Solvens. 3. H-Brücken können ebenfalls von Kationen zum Solvens ausgebildet werden. 75 Einige Strukturen: Das Adamantylcarbeniumion ist stark abgeflacht am Carbeniumion-C (~sp2). Außerdem sind die banchbarten C-C-Bindungen stark verkürzt, die übernächsten dafür wieder verlängert. Das entspricht einer mesomeren Grenzstruktur mit weitergereichtem Kation (s.u. VB- und MO-Bild): Ein beliebtes Gegenion ist das Sb2F11-, welches aus SbF5 und SbF6- besteht. Das t-Butylkation wird ebenfalls als fast planar gemessen und zeigt die gleichen Bindungsverlängerungen wie oben, die ja einfach der Hyperkonjugation entsprechen. Außerdem sieht man viele Kontakte von CH-Protonen im Kation und F--Anionen im Gegenion. Wie stellt man diese Carbeniumionen her? Für die Solvolyse von Alkylhalogeniden braucht man extrem starke Lewissäuren. Olah stellte 1962 ein besonders effektives System vor: SbF5 ist eine starke Lewissäure und dient als Lösungsmittel zugleich. Noch stärker sind Kombinationen aus SbF5/SO2 oder SbF5/SO2F2 oder SbF5/SO2ClF. Auf diese Weise gelang z.B. die Herstellung folgender Kationen aus den entsprechenden Halogeniden: Dabei ist das Cyclopentadienylkation antiaromatisch und nur bis –195°C stabil, während das Alkenylkation ein hochreaktives sp-konfiguriertes lineares Kation ist, das nur bis -130°C stabil ist. Für die Darstellung von Kationen aus Alkoholen sind Supersäuren nötig, die nicht nucleophile Anionen generieren, so daß selbst hochelektrophile Carbeniumionen nicht angegriffen werden. Bei tiefen Temperaturen übertragen so diese Supersäuren auch auf schwache Nucleophile ihr Proton, so daß man anschließend die hochreaktiven Carbeniumionen beobachten kann. Hier hat ebenfalls Olah zum ersten Mal Säuren vorgestellt, die wesentlich saurer als konz. Schwefelsäure sind: H2SO4 < H2SO4 + SO3 // HF < HSbF6 < HSO3F < HSO3F + SbF5 (magic acid!). Die letzte Kombination ist besonders bei SO2 als Lösungsmittel eine sehr beliebte Variante, die auch bei tiefen Temperaturen zu dünnflüssigen Lösungen führt, die man im NMR beobachten kann. Die Fluorsulfonsäure dient im Gemisch zur Protonierung; ihre Säurestärke wird durch die Koordination der Lewissäure Antimonpentafluorid drastisch verstärkt. 76 Primäre Alkohole werden bei tiefen Temperaturen sofort protoniert, bleiben aber bis ~0°C unverändert, erst oberhalb lagern sie in einer Kaskade von Wagner-Meerwein-Umlagerungen um, bis automatisch die thermodynamisch stabilsten tertiären Carbeniumionen entstehen: Tertiäre Alkohole dagegen verlieren sofort Wasser und bilden auch bei tiefen Temperaturen die tertiären Carbeniumionen. Ein anderes Beispiel ist die Generierung und Beobachtung von Alkyl-Diazoniumionen in Lösung. Dafür wird das entsprechende Diazoalkan mit der Supersäure protoniert und verliert bis –60°C noch keinen Stickstoff: Elektrophile Additionen an Neutralteilchen gehen ebenso glatt. Bsp.: Die Protonierung von Dreifachbindungen zu Alkenylkationen geht nur bei speziellen Substituenten am kationischen CAtom: Selbst an Einfachbindungen können mit der Supersäure Protonen angelagert werden. Das gilt für CH- ebenso wie für C-C-Bindungen. Wichtig ist dabei die Entstehung von stabilen Carbeniumionen. Bsp.1: Isopropylbenzol wird C-H-protoniert und spaltet anschließend H2 ab, wodurch ein Benzylkation übrigbleibt (solche Oxidationen machen auch Enzyme (Berkessel, Thauer: Hydrogenasen): Auch die homologe Isobutylverbindung nimmt Protonen am -C-Atom auf. Dabei wird ein tertButylcarbeniumion frei. Zum Schluß wird noch ein Proton in den aromatischen Ring geschoben: Die Protonierung von solchen schwach basischen Einfachbindungen verläuft über pentakoordinierte nichtklassische Kationen. Auch die Hydridabspaltung durch ein Kation wird so erklärt: 77 Nachweis von Carbokationen in Lösung: Früher war man auf indirekte Nachweismethoden angewiesen. Heute kann man sehr empfindlich mit 1H- und 13C-NMR-Techniken die unterschiedlichen Kationen nachweisen. Es gilt allgemein, daß positive Ladungen einen Elektronenmangel anzeigen. Der entschirmt aber die Kernspins an ihren Orten und führt zu einer deutlichen Tieffeldverschiebung der Signale. Die chemische Verschiebung im 13C-NMR korreliert streng mit der Ladungsdichte an diesem C-Atom (vgl. Carbanionen). Das gleiche gilt auch für Kationen. So kann man eine Reihenfolge aufstellen: Nicht-klassische verbrückte Kationen versus schnelles Gleichgewicht zwischen klassischen Carbeniumionen: Das bahnbrechende Experiment für die Postulierung und schließlich den Nachweis von nichtklassischen fünfwertigen Carbokationen entand aus der Beobachtung, daß sowohl bei der Solvolyse von exo-als auch endo-2-Norbornyltosylat in Essigsäure ausschließlich exo-2Norbornylacetat gebildet wird. Dabei reagiert das exo-Tosylat 350 mal schneller als das endoEdukt. In beiden Fällen wird allerdings auch bei optisch reinem Edukt ein komplett racemisiertes Produkt erhalten. Man geht davon aus, daß die Bildung des Kations geschwindigkeitsbestimmend ist. Winstein (der Befürworter der nichtklassischen Carbokationen) erklärte dies mit einer quasi nucleophilen Beschleunigung der Dissoziation durch die rückseitig plazierte C1-C6-Bindung. Dabei könnte direkt ein nichtklssisches Carbokation entsehen, welches an C-6 fünffach koordiniert ist (Brückenatom). Dieses Zwischenprodukt ist achiral, wie man bei einer anderen Schreibweise leicht erkennt: Der Angriff des Avetats an C1 und C2 ist gleich wahrscheinlich und führt unweigerlich zum Racemat. Das Produkt ist exo-konfiguriert, weil der Angriff nicht am Brückenatom vorbei, sondern von der anderen, besser zugänglichen Seite erfolgen muß. H. C. Brown hatte eine klassischere Erklärung parat: Er nahm an, daß durch die Solvolyse im Sinne einer einfachen SN1-Reaktion ein klassisches Carbeniumion gebildet wurde, welches aber sofort in 78 einem schnellen Gleichgewicht mit einem isomeren klassischen Carbenium steht (1,2Verschiebung). Auch dieses Gleichgewicht wüprde die Entstehung von racemischen Produkten erklären. Auch der exo-Angriff ist hier eindeutig günstiger: Nach vielen indirekten Hinweisen aus kinetischen und stereochemischen Experimenten mit Substitutionsreaktionen klärte das 13C-NMR-Spektrum alles auf: 1. Die T-Unabhängigkeit der Signallagen und Messungen bei höheren Feldstärken schlossen ein schnelles Gleichgewicht zwischen klassischen Ionen aus. 2. Kein 13C-NMR-Signal entsprach einem sekundären Isopropylkation. Stattdesse liegen alle Signale bei relativ hohme Feld und stützen damit die pentakoordinierte, delokalisierte Struktur des nichtklassischen Kations. Weitere Bestätigung kam von Isotopenverschiebungsanalyse. 79 PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG FACHBEREICH CHEMIE ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Organische Chemie I für fortgeschrittenen Studierende der Chemie – reaktive Zwischenstufen Prof. Dr. Thomas Schrader Fachbereich Chemie Hans-Meerwein-Straße 35032 Marburg Tel.: 06421 / 28-25544 Fax: 06421 / 28-28917 e-mail: [email protected] ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Teil IV: Carbene 1. Inhaltsverzeichnis und Literatur a) Inhalt Carbene Elektronische Strukturen von Carbenen, Nitrenen, Oxen und F+; lineare Tripletts und gebogene Singuletts; p--Astand in Abhängigkeit von Substituenten (Bsp.: Dichlorcarben ist im GZ ein Singlett); Standardbildungsenthalpien für Carben und Nitren; Herstellung von Carbenen und Nitrenen aus Diazoalkanen, Nitrenen, Diazirinen, Ketenen; Bamford-Stevens-Reaktion, Darstellung von Dihalogencarbenen, Blitzlichtphotolyse und Triplettsensibilisatoren; Direkter Nachweis und Beobachtung von Carbenen; Reaktionen: vielfältige Wege; Dimerisierungen, Addition an Doppelbindungen (Skell-Regel), Insertion in C-X-Bindungen, Carbene in der Natur (Thiaminpyrophosphat); Arduengo-Carbene: kristallin in Flaschen, nucleophil, Gründe für ihre Stabilität. b) Literatur Carbene 1. Wentrup, C., Reactive Molecules: The Neutral Reaction Intermediates in Organic Chemistry, Wiley, New York, 1984. 2. Regitz, M., Stabile Carbene - Illusion oder Realität? Angew. Chem. 1991, 103, 191. 3. Arduengo, A.J. et al., Electron Distribution in a Stable Carbene, J. Am. Chem. Soc. 1994, 116, 6812. 4. Herrmann, W.A. et al., -Heterocyclic Carbenes: Generation under Mild Conditions and Formation of Group 8-10 Transition Metal Complexes Relevant Catalysis, Chem. Eur. J. 1996, 2, 772. 80 2. Herstellung und Eigenschaften von Carbenen und Nitrenen Die letzte der großen Klassen reaktiver Zwischenstufen sind die Carbene. Sie entstehen formal, wenn wir dem Radikal einen Substituenten mit einem Redikaleletron wegnehmen. Synthetisch ist es aber leichter, Carbenoide zu generieren, die in einer -Eliminierung NaCl u.ä. verlieren: Wie sehen die Strukturen von Carbenen aus? Wir behandeln gleichzeitig die idoelektronischen Nitrene mit. Diese Spezies sind außerdem isoelektronisch mit Oxen (6 Elektronen) und dem Fluorkation (F+, / 7 Elektronen). Schon hier sieht man das Elektronendefizit und den daraus resultierenden elektrophilen Charakter der meisten Carbene undd Nitrene. Natürlich modifizieren Substituenten diesen elektrophilen Charakter sehr stark – wie wir noch sehen werden. Lineare Strukturen müssen nach der Hund’schen Regel Tripletts sein, denn die beiden übrigen resultierenden p-Orbitale sind entartet und müssen erst je einfach besetzt werden. Bei der (tatsächlichen) gewinkelten Struktur des Carbens kann auch ein Singulett-Zustand eingenommen werden: das C-Atom ist sp2-hybridisiert, das freie Elektronenpaar im sp2-Hybrid, das p-Orbital ist leer. Tatsächlich ist Carben gewinkelt, und zwar mit 136° am H-C-H-Winkel im Triplett, und etwa 102° im Singulett. Nach viel Konfusion wurde durch die direkte Erzeugung des Singulett-Carbens aus Diazomethan mittels Photolyse und durch direkte Beobachtung des Singulett-Carbens mit ESR dessen Relaxation zum Triplett-Carben nachgewiesen, so daß heute klar ist: Triplett ist der Grundzustand und etwa 8 kcal/mol stabiler als das Singulett. Bei der Entscheidung, ob ein Carben im Grundzustand als Singulett oder Triplett vorliegt, spielt natürlich der energetische -p-Orbitalabstand eine entscheidende Rolle. Der Singulettzustand ist insofern ungünstiger, als daß beide Elektronen in ein Orbital gepreßt werden müssen (Elektronenkorrelationsenergie). So ergeben sich 4 Zustände für ein Carben: der T1-Grundzustand, der S0-angeregte Zustand, und dazu noch zwei höher angeregte S1 und S2-Zustände. Jeder Zustand entspricht einer diskreten Spezies: Übrigens: Bei CCl2 (Dichlorcarben) ist durch die +M-Substitution der T1-S0-Abstand viel geringer und das Singulett bildet den Grundzustand! Das einfachste Nitren NH ist linear und damit ein Triplett-Zustand. Die Umwandlungsenergie ist hier viel hher, ~35kcal/mol. Die 81 Standardbildungsenthalpie für CH2 liegt ungefähr bei 94 kcal/mol und die für NH bei ~90 kcal/mol. Wir haben es also mit hochreaktiven Teilchen zu tun! Wie kann man Carbene herstellen? Die bekanntesten Methoden sind die Zersetzung von Diazoalkanen und Aziden. Dabei werden labile Bindungen gespalten und stabile neutrale Moleküle eliminiert – dies ist der Trick zur gleichzeitigen Erzeugung hochreaktiver Spezies. Was gar nicht gut geht, ist die thermische Homolyse con Alkenen: Die Reaktionsenthalpie beträgt hier + 192 kcal/mol! Es gibt aber günstigere C-C-Spaltungen zur Carbenherstellung: Hexafluorcyclopropan disproportioniert z.B. zum stabilen Tetrafluorethen und dem relativ stabilen Difluorcarben. Hier liegt die Reaktionsenthalpie schon nur noch bei +28 kcal/mol. Noch besser ist dann die Thermolyse von Phenylazid: Mit einer Aktivierungsenergie von 35 kcal/mol und einer Reaktionsenthalpie von ~0 kcal/mol ist diese Carbensynthese schon recht vielversprechend. Weitere Beispiele von Carbendarstellungen: 1. Diazoalkane: verlieren Stickstoff. 2. Diazirine: verlieren Stickstoff. 3. Ketene: verlieren C=O. 4. Bamford-Stevens-Reaktion von Tosylhydrazonen mit NaH: Es wird Toluolsulfonsäure und Stickstoff frei. 5. Chloroform ist auch acide und bildet im Gleichgewicht mit OH- ein Carbenoid aus, welches zu Dichlorcarben zerfällt: 6. Das erste direkt beobachtete Singulettarylnitren wurde durch Nanosekunden-Blitzlichtphotolyse aus Azidopyren erzeugt: 82 Dabei übertrug der Sensibilisator Diacetyl seine Energie auf den Aromaten, generiert so zunächst das Singulett-Nitren mit einem max (UV) von 450 nm und einer Halbwertszeit von 22 Nanosekunden bei RT. Diese relaxierte zum Triplettcarben mit einem max (UV) von 415 nm und einem Folgeprodukt der Dimerisierung zum Azoalkan. Direkter Nachweis und Beobachtung: Die direkte physikalische Detektion solch hochreaktiver teilchen erfordert spezielle apparative Techniken: Die Lebensdauer wird oft künstlich verlängert durch Wegfangen von potentiellen Reaktionspartnern. Normalerweise werden deswegen physikalische Untersuchungen an Carbenen a) verdünnt mit viel Inertgas in der Gasphase durchgeführt und zwar bei niedriger Konzentration, oder b) in einer Matrix aus Edelgas bei 4-77 K. Durch Laserblitzlichtphotolyse werden die Carbene oder Nitrene binnen weniger Nano- oder sogar Picosekunden erzeugt, und können dann spektroskopisch sogar hinsichtlich der Kinetik ihrer Reaktionen verfolgt werden. Dies gelingt heute sogar in Lösung: Hier konnten also Triplett- und Singulett-Zustände von Benzylcarbenen durch UV-Spektroskopie beobachtet werden. Die Zahlen unter den Formeln beziehen sich auf die Absorptions- bzw. Emissionsmaxima der Carbene. Die entsprechenden Triplettzustände wurden darüberhinaus ESRspektroskopisch nachgewiesen – oft der entscheidende Beweis! Reaktionen: Es ist generell schwierig, die sehr reaktiven Intermediate in sehr schnellen Reaktionen genau zu identifizieren. Schnelle photolytische und spektroskopische Methoden sind schon erwähnt worden. Betrachten wir und das allgemeine Reaktionsschema der Generierung von Carbenen aus Diazoalkanen: Es ist nicht leicht herauszufinden, ob z.B. tatsächlich freie Carbene (Singulett oder Triplett?) mit dem Reaktionspartner umgesetzt worden, oder ob es konzertiert aus dem Edukt passiert. Manchmal kann man Zwischenstufen abfangen, wie z.B. ein Triplett-Diradikal mit einem Thiol als gutem Radikalfänger. 1. Dimerisierungen: Triplettcarbene dimerisieren als Diradikale extrem schnell (k = 1010 l/mols) in einer stark exothermen Reaktion (H°r = -176 kcal/mol): 83 Dabei ist die Rekombination zweier Triplettzustände zu einem Singulett spinerlaubt. 2. Addition an Doppelbindungen: Hier dominiert die Skell-Regel: Singulettcarbene könen in einer einstufigen konzertierten Reaktion an Olefine anlagern. Diese Reaktion müßte also stereospezifisch sein. Triplettcarbene müssen wegen ihres Diradikalcharakters eine Diradikal-Zwischenstufe durchlaufen, auf der eine Rotation um Einfachbindungen möglich ist, und sollten daher nicht stereospezifisch verlaufen: Das Triplettsystem muß auf der radikalischen Zwischenstufe ein Intersystem Crossing durchführen, damit wieder eine Rekombination zum Singulettprodukt möglich ist. Für diese Regelk gibt es mittlerweile viele Beispiele, aber auch Ausnahmen. Dabei darf z.B. der Übergangszustand der Singulett-Carbenanlagerung an die Doppelbindung nicht symmetrisch sein, wie im CyclopropanProdukt. Nach Woodward-Hoffmann müßte nämlich in diesem Fall ein antiaromatischer Übergangszustand gebildet werden. Lösung: Das Carben dockt wie ein Raumschiff von der Seite an, dann gibt es eine Phasenumkehr: 3. Insertion in C-X-Bindungen: Hier sollen nur die vielen, oft unspezifisch verlaufenden Insertionen in C-H- und ähnliche Bindungen erwähnt werden. Bei einem benachbarten Chiralitätszentrum findet man Retention der Konfiguration, wenn ein Singulettcarben reagiert. Auch die Umlagerungen von Carbenen können als intramolekulare Insertionen in benachbarte C-HBindungen augefaßt werden. Hierzu gehören präparativ wichtige Reaktionen wie z.B. die WolffUmlagerung in der Arndt-Eistert-Homolgisierung von Carbonsäuren. Die früher über Nitrene formulierten Curtius-, Lossen, Hofmann- und Schmidt-Abbaureaktionen verlaufen nicht über freie Nitrene, sondern lassen Eliminierung und Umlagerung konzertiert ablaufen: 84 Carbene in der Natur: Eine wichtige Reaktion im menschlichen Körper ist die Thiamin-pyrophosphat-katalysierte Decarboxylierung von -Ketocarbonsäuren. Sie verläuft im ersten Schritt über die Generierung eines relativ stabilen heterocyclischen Carbens. Durch Deprotonierung des Thiazoliumrings entsteht ein Zwitterion, welches auch als Carben aufgefaßt werden kann und nach Rechnungen auch ist. Diese Carben ist aber nucleophil und addiert nun an die Ketogruppe der Ketosäure. Decarboxylierung und Reprotonierung des Zwischenprodukts führt nach Abspaltung des Aldehyds wieder zum Ausgangs-Thiazoliumring: Arduengo-Carbene: Diese Struktur eines nucleophilen relativ stabilen Carbens hat Arduengo weiterentwickelt, um das erste Carben zu kristallisieren und „in Flaschen zu füllen“. Deprotonierung von geschickt substituierten Imidazoliumsalzen führt zu nucleophilen Carbenen, die sehr stabil sind (Sachmelzpunkte bis 240°C!). Der N-C-N-Winkel im Carben beträgt 102°, was im Gegensatz zu den 109° des Edukts sehr gut zu einem Singulettcarben paßt. Weitere Strukturbeweise liegert das 13 C-NMR-Spektrum, die Massenspektrometrie und ESR. Die Röntgenstruktur zeigt einen verlängerten C-N-Abstand, der einer partiellen Doppelbindung entspricht. Rechnungen zeigen allerdings eine hohe Elektronendichte in der -Bindung sowie am CarbenKohlenstoff. Dies widerspricht einer starken Aromatisierung des Systems über die zwitterionische Struktur und stimmt auch mit der vorhergesagten minimalen negativen Ladung am Carben-C überein. Man nimmt heute an, daß die Arduengo-Carbene, die in jüngerer Zeit in vielen eleganten Reaktionen als Carbenkomplexe (Herrmann et al.) eingesetzt werden, vor allem kinetisch stabil sind. Das heißt also, sie sind von ziemlich hohen Aktivierungsenergiewällen umgeben, die die üblichen Abreaktionen wie Dimerisierung, Insertion etc. verhindern. 85