Call for paper zur Sektionssitzung der Sektion Medizin

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Call for paper zur Sektionssitzung der Sektion Medizin- und Gesundheitssoziologie
Transnationalisierung und Normbildung im Bereich der medizinischen und gesundheitlichen
Versorgung
Das Hauptthema des Jubiläumskongresses aufnehmend will sich diese Sektionssession mit der
Frage auseinandersetzen, inwieweit sich auch für den Bereich der medizinischen und gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung Chancen und Hindernisse durch die allgemeinen Transnationalisierungstendenzen abzeichnen. Ausgehend von empirischen Bestandsaufnahmen für
die Teilsysteme Medizin und Pflege/Gesundheitsförderung sollen Thesen formuliert werden,
inwieweit das Gesundheitssystem im Vergleich zu anderen transnationalen Ordnungen
wie der globalisierten Wirtschaft, Technik und Wissenschaft schon transnationale Tendenzen aufweist oder wo es noch konstitutiv national, regional bzw. territorial organisiert
ist,
welche Gründe dafür jeweils vorliegen und
welche Folgen sich daraus für die gesellschaftliche Konstruktion von Gesundheit ergeben
(werden).
Transnationale Vernetzungen oder partikularistische Identitätsbildungen - eine Bestandsaufnahme
Gesundheitsvorstellungen waren bisher immer kulturell geprägt und damit regional oft sehr
verschieden. Dementsprechend gab und gibt es weltweit viele unterschiedliche Vorstellungen
darüber, was als krank gilt und wie es geheilt werden kann. Gleichzeitig weist die Medizin als
Profession und als Wissenschaftsdisziplin seit ihrer Entstehung von Anfang an eine transnationale Tendenz auf, da der Wissensaustausch und damit die Ausbildung immer grenzüberschreitend organisiert waren. Was zunächst nur für die Seite der Ärzte bzw. Mediziner und für das
medizinische Fachwissen galt, kann sich heute noch mehr als früher auf der Seite der Patienten
vollziehen: Sie können selbst grenzübergreifend medizinisches Wissen aus den verschiedensten Medien und Kulturen rezipieren oder sich wahlweise im Ausland medizinisch versorgen
lassen.
Während diese Entwicklungen eher als Indizien für eine zunehmende Vernetzung gelten können, zeigen unterschiedliche Entscheidungen zum Gebot oder Verbot neuer Medizintechniken
in verschiedenen Ländern, dass es aber gleichzeitig auch noch dezidiert sich unterscheidende
Positionen zwischen den Nationen bzw. Kulturen gibt und weiterhin geben wird. Während
beispielsweise in der Fortpflanzungsmedizin in Israel verschiedene selektive Techniken erlaubt
sind und umfangreich genutzt werden, hat sich das deutsche Parlament gegen jedwede Formen der pränatalen Selektion und Bewertung von Embryonen ausgesprochen und entsprechende Medizintechniken für das deutsche Territorium und für deutsche Ärzte verboten. Mit
diesen unterschiedlichen Entscheidungskulturen, denen unterschiedliche Rechtsnormen, ethische Einstellungen und andere Einflussgrößen zugrunde liegen, bilden sich zu Beginn des 21.
Jh. neuartige partikulare Identitäten erst heraus.
Für diesen Teil der Session werden zeitdiagnostische Beiträge aus empirischen Forschungsprojekten erbeten, deren Erkenntnisinteresse – Globalisierung oder Partikularisierung der medizinischen Versorgung – mit repräsentativen und generalisierbaren Ergebnissen beantwortet
werden kann.
Entstehungsgründe und Wirkungszusammenhänge für transnationale oder partikulare Tendenzen in der medizinischen Versorgung
Anschließend an die zeitdiagnostischen Beiträge sollen Detailstudien präsentiert werden, die
Ergebnisse zur Entstehung oder Verhinderung von globalisierten oder partikularen Strukturen
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darstellen und dabei jeweils wesentliche Einflussgrößen in ihren Wirkungszusammenhängen
identifiziert haben. Für den Bereich der medizinischen Versorgung sind folgende Einflussgrößen als wesentliche denkbar:
Gesetzgebung und Rechtsprechung
Das ärztliche Handeln wird in den meisten Industriestaaten maßgeblich durch das nationale
Recht reguliert, wobei sich die Rechtsquellen für das Arztrecht oft sehr unterscheiden. Auch
die Gesetzgebung der einzelnen Länder zu Ge- und Verboten ärztlicher Interventionen variieren oft stark. Gleichzeitig besteht v.a. für die EU ein starker Druck zur Vereinheitlichung der
Rechtsvorschriften durch das transnational mobile Verhalten der EU-Bürger, die bisherige Unterschiede im Versorgungsniveau der einzelnen Länder für sich nutzen.
Bioethik und politische Interessen
Gerade im Bereich der neuen Medizintechniken haben sich die westlichen Staaten oft für unterschiedliche Regulierungen entschieden, die auf verschiedene bioethische Positionen und
politische Interessen zurückzuführen sind. Beispielsweise sind in einigen westlichen Ländern
die Eizellspende und die anonyme Samenspende erlaubt, in anderen sind sie verboten. Für die
Frühgeborenenmedizin existieren beispielsweise unterschiedliche Grenzwerte in den einzelnen
Ländern, ab wann intensivmedizinische Maßnahmen und Reanimation eingeleitet und ab
wann sie unterlassen werden sollen. Zum Teil lassen sich schon Wanderungsbewegungen beobachten, in denen Patienten eine jeweils andere Regelung eines Landes nutzen und sich damit nicht im Konsens mit den politischen Entscheidungen und Regulierungen ihres Landes befinden.
Versorgungssystem und Gesundheitswirtschaft
Finanzierung der medizinischen Versorgung und Versorgungsstrukturen variieren ebenfalls
stark zwischen den einzelnen Ländern. Dabei sind die Eigenbeteiligung der Patienten, die Versorgungsdichte und das Versorgungsniveau die Unterschiede, die auch für die Patienten unmittelbar wahrnehmbar und vergleichbar sind.
Machteinfluss der Mediziner und der Anbieter von Gesundheitsleistungen
Ärzte werden nicht nur mit einem hohen Sozialprestige bedacht, sondern sind auch in den
politischen Entscheidungskulturen der einzelnen Staaten durch Interessenvertreter und Lobbisten gut vertreten. Nicht nur, dass professionsbedingt der Berufsstand die Eigenkontrolle
über seine Mitglieder und deren Tätigkeiten hat, er kann auch in politischen Prozessen die
Angewiesenheit der Gesellschaft auf seine Expertise und seine Nichtersetzbarkeit gut nutzen
und selbst Verhandlungsbedingungen stellen. Der Machteinfluss der Mediziner und anderer
Anbieter von Gesundheitsleistungen ist vor dem Hintergrund der berufspolitischen Regulierungen in den einzelnen Ländern in seinen Auswirkungen gut vergleichbar.
Folgenabschätzung der gewählten Regulierungen
Anhand der dargestellten Unterschiede in der Regulierung der medizinischen Versorgung in
einzelnen Bereichen oder einzelnen Ländern sollen abschließend Folgenabschätzungen präsentiert und diskutiert werden, welche Effekte sich zeitigen lassen, welche Chancen und Risiken
die gewählten Regulierungen in sich bergen.
- Führen die verschiedene Leistungsfähigkeit und unterschiedliche finanzielle Ressourcen der einzelnen nationalen Versorgungssysteme zu neuen sozialen Ungleichheiten
zwischen den Staaten?
- Sollen die unterschiedlichen bioethischen Positionen, die sich hinter den Ver- oder Geboten verbergen, länderübergreifend mit dem Ziel der Angleichung diskutiert werden
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oder sind verschiedene partikulare Werthaltungen beispielsweise in Europa und deren
„Wettbewerb“ eventuell wünschenswerter?
Welche Chancen und Gefahren haben Regulierungen, die sofort mit dem Aufkommen
neuer Diagnose- und Therapietechniken supranational organisiert werden (Bsp. Biound Organbanken), gegenüber national organisierten Ordnungen? Warum wurde in
einigen Bereichen auf supranationale Regulierungen verzichtet, während in anderen
Bereichen supranationale Regulierungen unbedingt nationalen Regulierungen vorzuziehen sind?
Wie verhält es sich mit den Interessen des einzelnen Staatsbürgers, Leistungsumfang
und Finanzierung der medizinischen Versorgung selbst zu bestimmen, gegenüber überindividuell festgelegten, politisch getroffenen Leistungsbegrenzungen? Wie sind die
Chancen einer durch marktwirtschaftliche Interessen organisierten medizinischen Versorgung gegenüber einer nicht-wirtschaftlich orientierten Versorgung einzuschätzen?
Beitragsvorschläge, die sich jeweils einem der drei skizzierten Themenkreisen zuordnen lassen,
können
bis zum 5. Mai 2010
mit einem Abstract (3000 Zeichen incl. Leerzeichen) eingereicht werden.
Die Beiträge sind als Word-Dokument per Mail an [email protected] und [email protected] zu schicken.
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