Linguistische Untersuchungen und Deutschunterricht 1994(Deutsch als Fremdsprache Heft2 München/Berlin) Linguistische Untersuchungen und Deutschunterricht 1. Linguistische Untersuchungen werden nicht für den Fremdsprachenunterricht durchgeführt. Was aber den Studenten im Fremdsprachenunterricht beigebracht wird, beruht auf den Ergebnissen der linguistischen Untersuchungen. Die engen Beziehungen zwischen den beiden wird wohl niemand verneinen. Ich bemühe mich derzeit, die Ergebnisse unserer Erforschung der deutschen Sprache für den Deutschunterricht in Japan anzuwenden. Als Hintergründe dieses Versuches sollen folgende zwei Punkte genannt werden: (i)In Japan wird Deutsch hauptsächlich an den Universitäten bzw. Hoch schulen unterrichtet. (ii)Jedes Jahr fangen über 200.000 Studenten an, Deutsch zu lernen. Die einfache Schulung der Sprechfähigkeit ist also als Ziel des Deutsch-unterrichts in Japan nicht genügend. Im folgenden möchte ich zuerst einige Ergebnisse unserer Forschungen anführen und danach erläutern, in welcher Weise ich sie für den Deutschunterricht in Japan anwenden will. 2. Wir erforschen jetzt unter folgenden Fragestellungen die deutsche Sprache: (iii)Welche "semantischen Satzstrukturen"(SSS)können im Deutschen festgestellt werden ? (iv)Nach welchem "syntakto-semantischen Mechanismus", der mit "semantischen Satzstrukturen" konstruiert wird, werden die deutschen Sätze gebildet ? Unter "semantischer Satzstruktur" verstehe ich die semantische Struktur, die den konkreten Sätzen zugrundeliegt, wie z.B. FORTBEWEGUNG, ZUSTANDS VERÄNDERUNG usw. Die Beispiele von ( 1 ) haben alle die SSS von FORT-BEWEGUNG, und die von 204 ( 2 ) alle die SSS von ZUSTANDSVERÄNDERUNG. (1) a. Er geht zum Bahnhof. b. Er schwimmt zum Ufer. c. Er fliegt nach Japan. SICH-FORTBEWEGEN(X, RICHTUNG) (2) a. Er stirbt. b. Er wird reich. c. Er wird Lehrer. WERDEN(X, ZUSTAND) Wie man in der formalen Seite des Satzes die syntaktische Struktur feststellen kann, kann man in der semantischen Seite des Satzes die "semantische Struktur" feststellen. Die folgenden Punkte sind die konkreten Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchungen, die aufgrund dieser Annahme durchgeführt worden sind. 2.1. Der erste Punkt ist, daß die SSS aufgrund der syntaktischen Struktur regel-haft gebildet wird. Nach Seino(1991)ein Beispiel dazu. Die Sätze von(3)drücken jeweils die Tätigkeit des Subjekts aus, die auf den Körperteil eines anderen gerichtet ist. Wenn nur diese Tätigkeit, also nichts daraus Resultierendes ausgedrückt wird, dann erscheint, wie die a-Sätze zeigen, der Körperteil in der Form einer Präpositionalphrase, und wenn das Resultat dieser Tätigkeit, also die Zustandsveränderung erscheint, wie die des b-Sätze Körperteils zeigen, der auch ausge-drückt wird, dann Körperteil in der Form eines Akkusativobjekts. (3) a. Er schlägt ihr auf den Kopf. Er sieht ihr in die Augen. b. Er wäscht ihr die Hände. Er rasiert ihr den Kopf. Zwischen der syntaktischen Struktur und der SSS besteht eine regelhaftige Entsprechung. 205 2.2. Der zweite Punkt ist, daß es je nach Sprache anders ist, welche SSS als konkreter Ausdruck realisiert wird. Nach Narita(1981)ein Beispiel dazu. Die deutschen a-Sätze von(4)und(5)haben eine SSS, die beinhaltet, daß man ein Objekt mit irgendeinem Gegenstand versieht und dadurch seinen Zustand verändert. Im Japanischen sind die Verben, die die betreffende SSS konstruieren, nicht vorhanden. Wie die japanischen b-Sätze zeigen, sind die entsprechenden japanischen Verben mit der SSS der Fortbewegung konstruiert. (4) a. Er lädt die Gewehre. b. KARE-HA JU-NI Er-Thema Gewehre-Richtung (5) TAMA-WO TUMERU Kugel-Akkusativ tun a. Man zeichnet die ausgestellten Waren aus. b. TENJISARETA ausgestellt SHOHIN-NI SIRUSI-WO TUKERU Waren-Richtung Zeichen-Akkusativ anbringen Noch ein Beispiel. Das sind die Ausdrücke, die sich auf das Erscheinen bzw. Verschwinden eines Gegenstandes beziehen. Wenn im Deutschen eine Präposition verwendet wird, die bei der Richtungsangabe den Akkusativ und bei der Ortsangabe den Dativ regiert, steht dahinter der Dativ, wie die a -Sätze von (6) und (7) zeigen; das zeigt, daß im Deutschen die betreffende Er scheinung mit der SSS der Zustandsveränderung ausgedrückt wird. Im Japanischen wird dagegen, wie die b-Sätze von (6) und (7) zeigen, die Partikel NI verwendet, die die Richtung der Fortbewegung bezeichnet; das zeigt, daß das Erscheinen bzw. Verschwinden eines Gegenstandes im Japanischen mit der SSS der Fortbe-wegung ausgedrückt wird. (6) a. Der Regisseur erscheint auf der<*die> Bühne. b. ENSHUTUKA-HA BUTAI-NI<*-DE> ARAWARERU (7) a. Die Sonne verschwindet hinter den<*die> Wolken. b. TAIYO-HA KUMO-NO USIRO-NI<*-DE> KIERU Welche SSS als konkreter Ausdruck realisiert wird, ist je nach der Sprache anders. 2.3. 206 Der dritte Punkt ist, daß der Bildung der Sätze ein auf der SSS beruhender syntakto-semantischer Mechanismus zugrunde liegt. Nach Fujinawa(1986)ein Beispiel dazu. Indem man, wie die Sätze von(8)und(9)zeigen, das Objekt zum Subjekt transformiert, kann man im Deutschen mit einem transitiven Ver b den reflexivischen Ausdruck bilden, der die SSS der Zustandsveränderung hat. Diese Transformation ist aber nur bei den resultatorientierten Verben möglich, die z.B. die Zustandsveränderung des Objektes ausdrücken. Bei den tätigkeitsorientierten Verben ist sie nicht möglich, wie die Sätze von(10)und (11)zeigen. (8) Er klärt Wasser. → Wasser klärt sich. (9) Er löst Zucker in Wasser auf. → Zucker löst sich in Wasser. (10) Er singt das Lied. → *Das Lied singt sich. (11) Er spricht das Wort aus. → *Das Wort spricht sich aus. Der Bildung der Sätze liegt ein auf der SSS beruhender syntakto -semanti-scher Mechanismus zugrunde. Auch die tätigkeitsorientierten Verben bilden natürlich einen reflexivischen Ausdruck, wenn sie, wie die Sätze von(12) zeigen, mit den Adjektiven des Schwierigkeitsurteils eine handlungsbezogene Eigenschaft ausdrücken. (12) a. Das Lied singt sich leicht. b. Das Wort spricht sich leicht aus. 2.4. Der vierte Punkt ist, daß die Akzeptabilität der Sätze, die nach dem syntakto-semantischen Mechanismus gebildet werden, von der Beschaffenheit der realen Welt abhängig ist. Ein Beispiel dazu. Die Sätze von(13)und(14) mit einem Reflexivpronomen drücken aus, daß das Subjekt durch die betreffende Tätigkeit zum Zustand übergeht, der vom jeweiligen Adjektiv bezeichnet wird. Daß die a-Sätze akzeptabel sind, aber die b-Sätze nicht, hängt davon ab, ob die jeweiligen Sachverhalte als Ereignisse bzw. Zustände in der realen Welt identifiziert werden können oder nicht. (13) a. Er läuft sich müde. b. *Er läuft sich grün. (14) a. Er arbeitet sich müde. 207 b. *Er arbeitet sich süß. Noch ein Beispiel dazu. Der a-Satz von (15) ist akzeptabel, aber der b-Satz davon ist nicht akzeptabel. Die Akzeptabilität der Sätze hängt am Ende v on der Beschaffenheit der realen Welt ab. (15) a. Die Haut auf dem Rücken schält sich. b. *Die Schalen der Bananen schälen sich. Die Akzeptabilität der Sätze von (16) ist eher eine Erscheinung, die mit der Beschaffenheit des sozialen Lebens des Menschen zusammenhängt, nämlich mit der Tatsache, daß in der menschlichen Gesellschaft das gesunde Leben normal ist. (16) a. Bei Müllers ist jemand krank. b. *Bei Müllers ist jemand gesund. 3. Bis jetzt habe ich einige Ergebnisse unserer Erforschu ng der deutschen Sprache genannt. Nun möchte ich erläutern, in welcher Weise ich sie für den Deutschunterricht in Japan anwenden will. 3.1. Als ersten Punkt habe ich genannt, daß die SSS aufgrund der syntaktischen Struktur regelhaft gebildet wird. Ich nehme an, daß den verschiedenen deutschen Sätzen eine bestimmte Anzahl von SSS zugrunde liegt. Wir fassen aufgrund dieser SSS die Ereignisse in der realen Welt auf und drücken sie sprachlich aus. Wenn wir also den Studenten die Fähigkeit beibringen wollen, die deutschen Ausdrücke richtig zu verstehen und zu produzieren, ist es notwendig, ihnen das System der SSS zu erläutern und sie von ihnen erlernen zu lassen. Diese SSS können semantische Satzpattern genannt werden. 3.2. Als zweiten Punkt habe ich angeführt, daß es je nach Sprache anders ist, welche SSS als konkreter Ausdruck realisiert wird. Bei der SSS handelt es sich um die "sprachliche Auffassungsweise" der realen Welt. Wenn wir also den japanischen 208 Studenten die im Japanischen nicht geläufigen SSS der deutschen Sprache beibringen, führt es dazu, daß sie auch der japanischen "sprachlichen Auffassungsweisen" bewußt werden und sie relativisierend betrachten. Unsere Denkweise wird bewußt oder unbewußt vom Sprachsystem unserer Muttersprache beeinflußt. Um unsere Denkweisen selbständiger und freier zu machen, ist es notwendig, auch die anderen "spachlichen Auffas -sungsweisen", nämlich die anderen SSS kennenzulernen. 3.3. Als dritten Punkt habe ich angeführt, daß der Bildung der Sätze ein auf der SSS beruhender syntakto-semantischer Mechanismus zugrunde liegt. Wenn wir eine Fremdsprache erlernen wollen, müssen wir selbstverständlich eine Menge konkreter Sätze auswendig lernen. Da aber das Endziel der Spracherlernung darin liegt, sich die Fähigkeit anzueignen, die eigenen Gedanken und Gefühle auszudrücken, ist es also nicht die "schon von jemand anders gebildeten Sätze", sondern das generative Regelsystem der betreffenden Sprache, das den Studenten im Fremdsprachenunterricht beigebracht werden muß. Ich wiederhole: was wir auch im Fremdsprachenunterricht erlernen müssen, ist der "generative syntakto-semantische Mechanismus" als solcher, der uns die freie Sprechhandlung ermöglicht. 3.4. Als vierten Punkt habe ich angeführt, daß die Akzeptabilität der Sätze, die nach dem generativen syntakto-semantischen Mechanismus gebildet werden, von der Beschaffenheit der realen Welt abhängig ist. Die Sprache ist ein Kommunikationsmittel, um auszudrücken, was man denkt, was man in der Welt betrachtet usw. Die Spache hat also notwendigerweise enge Beziehungen zur menschlichen Erkenntnis bzw. durch sie zur realen Welt. Daß wir die Akzeptabilität der Sätze erwähnen, bedeutet schon, daß wir es mit der menschlichen Erkenntnis bzw. mit der realen Welt zu tun haben. Der Versuch, auch im Fremdsprachenunterricht die Zusammenhänge zwischen der Sprache und der menschlichen Erkenntnis bzw. der realen Welt zu erwähnen, scheint mir sehr nützlich zu sein, um das Interesse der Studenten für die Sprache als solche zu erwecken. 209 3.5. Oben habe ich dargestellt, in welcher Weise ich die Ergebnisse unserer For-schungen für den Deutschunterricht in Japan anwenden will. Diese Richtung ist ein Versuch, den Studenten nicht nur praktische Sprachfertigkeiten bei-zubringen, sondern auch verschiedene Einsichten in die Sprache zu über-mitteln. Die theoretische Untersuchung muß auf ihre Richtigkeit hin geprüft werden. Unsere linguistischen Untersuchungen müssen auch empirisch geprüft werden. Wenn unsere Forschungen das Wesen der deutschen Sprache rich tig erfassen, müßten ihre Ergebnisse auch für den Deutschunterricht anwendbar sein. 【Literatur】 Fujinawa, M.(1986): mono・koto wo shugo to suru saikihyougen nituiteno imironteki itikousatu (Eine semantische Überlegung zum reflexivischen Ausdruck mit einer Sache als Subjekt), in: Fremdsprachenuniversität Tokyo Deutsche Abteilung(hrsg.)Der Keim Nr.10 Narita, T.(1981): Zu den Präpositionen, die den Dativ und Akkusativ regieren, in: Fremdsprachenuniversität Tokyo Deutsche Abteilung(hrsg.)Der Keim Nr.5 Seino, T.(1991): sintaihyougen niokeru 4 kakumokutekigo no kinou (Zu der Funktion des Akkusativs in bezug auf den körperteilbezogenen Ausdruck, in: Kumamoto Universität bungakukai bungakuburonshuu Nr.20 Zaima, S.(1987): "VERBBEDEUTUNG" UND SYNTAKTISCHE STRUKTUR in, Deutsche Sprache, Heft 1, Erich Schmidt Verlag ---- (1989): Aktivität und Resultativität transitiver Verben im Deutschen, in: Udo Fries/Martin Heusser(eds.): Meaning and Beyond, Gunter Narr Verlag Tübingen 210