Kirche(n) und Homosexualität, ein neuer Blick auf die Nächstenliebe? Dieser Vortrag soll nicht den Anspruch haben, diese Frage vollständig zu beantworten und soll auch kein Endpunkt in diesem Diskurs darstellen. Die Überlegungen, die ich hier anführe, sollen Überlegungen hervorrufen, nämlich Ihre eigenen. Hierbei sind keine Grenzen gesetzt. Die Thematik « Kirche(n) und Homosexualität » ist zu komplex, als dass es fertige Antworten geben könnte! Alles was wir, unter anderem durch unsere persönlichen Erfahrungen, in diesem Diskurs beitragen können, wird unsere Überlegung bereichern, erweitern und menschlicher machen. Wenige Monate bevor er im August 1996 umgebracht wurde, sagte der Bischof von Oran, Pierre Claverie, Folgendes: „Keiner kennt die Wahrheit, jeder sucht sie [...] und ich brauche die Wahrheit der anderen“1. In diesem Sinne möchte ich diese Überlegungen mit Ihnen teilen. Gemeinsam werden wir besser die ethischen Aspekte in den Fragen der Homosexualität in ein neues Licht rücken können und respektvoller mit der gelebten Realität und den Fragen, die sie durchziehen, umgehen können. Dieser Vortrag möchte viele Fragen aufwerfen. Sie werden gestellt, um unsere Überlegung zu vertiefen. Die Mentalität verändert sich und so könnte es sein, dass Homosexualität morgen kein Problem, kein intrigierendes Rätsel mehr darstellt. Meines Erachtens sollte dennoch das Erlernen der Fähigkeit, mit mehr Feingefühl und Fairness darüber zu sprechen, noch lange – solange es Menschen gibt? – auf der ethischen und spirituellen Tagesordnung unserer Gesellschaften und Kirchen stehen. In einem am 24. Mai verabschiedeten Entschluss des Europäischen Parlaments über die Bekämpfung von Homophobie sagen die Europa-Abgeordneten, dass die Gesetzgebung des „ Zusammenwohnens, der registrierten Partnerschaft und der Ehe“ zwischen Personen gleichen Geschlechts einen besseren Schutz ihrer Grundrechte bietet. Für manchen Beobachter ist hierdurch alles Mögliche für die Gleichberechtigung erbracht worden. Ist das wirklich so? Eine neue französische Studie hat junge Schwule und Lesben befragt: Obwohl sie sich mehr Offenheit und Integration im sozialen und familiären Bereich wünschen, ist die Wirklichkeit noch weit davon entfernt. Auch wenn die Offenbarung der Homosexualität wie eine innere Befreiung erlebt wird, besteht eine tiefe äußere Verwundbarkeit. Homophobe Gewalt, Vorurteile, Diskriminierungen, subtile oder deutliche Ausgrenzungen,... Auch wenn sich die sozialen Vorstellungen der Homosexualität sowohl im homosexuellen Milieu als auch in der Gesellschaft mit dem Auftreten von Aids geändert haben, zeigen zahlreiche Darstellungen von Homosexualität, die unter anderem in den Medien gezeigt werden, die noch immer starken diskriminierenden Verhaltensweisen unserer Gesellschaft. Es würde jetzt zu lange dauern, jene Mechanismen zu analysieren, die diverse Formen der Homophobie hervorrufen. Persönlich hat mich ein junger Mensch einmal gefragt: „Sieht man es? Sehe ich so aus?“ Das ist die Angst vor dem 'anders sein' die man in sich trägt, die verinnerlichte Homophobie. (Daniel Welzer-Lang). In der Gesellschaft ist die Debatte über Homosexualität bereits weitgehend mit Gefühlen, Leidenschaft und manchmal mit Gewalt verbunden. Die tatsächlich erlebte Realität und die Versuche darüber zu sprechen, werden hierdurch verdrängt. Das Thema ist leidenschaftlich und lässt keinen gleichgültig, weil es für niemanden fremd ist. Aber wie sieht die Kirche das heutzutage? 1 Mgr P. Claverie, « Humanité plurielle », Le Monde, 4. August 1996, S.10. Fakten: Am 30. November 2009 wurde ein ökumenischer Gebetsabend anlässlich des Weltaidstages in der Saint-Merri-Kirche in Paris gefeiert. Mitten in der Zeremonie unterbrach eine Gruppe junger Menschen die Vorlesung des Evangeliums. Die Beteiligten warfen Stinkbomben und Eier auf die versammelten Menschen und schrien: „Keine Schwulen in unseren Kirchen“. Dieser Vorfall ist keine Ausnahme. Zwei Monate später schrieb Pastor Stéphane Lavignote einen Brief an den Erzbischof von Paris, nachdem dieser noch nicht auf den Vorfall reagiert hatte. Lavignote stellte folgende Fragen und erwartete eine klare Antwort: „Wie kommt es, dass manche junge Katholiken sich ein solches Verhalten erlauben, welches es gestern nicht gegeben hätte? Liegt es an den Entscheidungen der katholischen Kirche, die den Zugang homosexueller Personen zur Priesterweihe und dem Gemeinschaftsleben erschwert? [...] an den Stellungnahmen der katholischen Kirchen, zum Beispiel in Frankreich, gegenüber der gleichgeschlechtlichen Ehe?“ Der Kardinal Vingt-Trois antwortet, „dass man nie ein moralisches Urteil über ein menschliches Verhalten in eine Stigmatisierung der Personen umwandeln kann. Jede homophobe Aussage, Geste, Beschimpfung gegenüber Personen ist skandalös, diese darf nicht stattfinden. Viele meiner Anhänger können homophob sein, erklärt der Erzbischof von Paris. Das ist nicht die Frage. Die Frage ist, ob ich ihre Initiativen unterstütze oder gutheiße. In diesem Fall heiße ich sie nicht gut. Kardinal Vingt-Trois verurteilt dennoch Homosexualität, wenn er hinzufügt: „Die Überzeugung zu haben, dass Homosexualität nicht konform ist mit dem was gut ist für den Menschen, ist eine demokratische Freiheit, und ganz und gar legitim“. Man kann schon alleine die Tatsache hinterfragen, ob „Überzeugungen“ in den Vordergrund zu stellen statt Dialog und Zuhören zu bevorzugen, wirklich dazu beiträgt, die soziale Bindung und das Wohlbefinden der bereits durch verbreitete Vorurteile geschwächten Personen zu fördern. Über die Ambivalenz der Aussagen von Kardinal Vingt-Trois hinaus muss man sich dennoch darüber im Klaren sein, dass die extremistischen Gruppen, von denen hier die Rede ist, viel weiter gehen, als er es versteht: Der Kardinal hat nichts verstanden, wenn er schlichtweg von „homophoben Aussagen, Gesten und Beschimpfungen“ spricht, denn es ging sehr wohl darum, die Gottlosen aus dem Tempel zu jagen! Die tägliche Wirklichkeit zeigt uns in einigen Fällen ein „Gefühl der Offenheit“ (vgl. Aussagen des Kardinals Woelki über anhaltende homosexuelle Beziehungen). Aber wie sieht es wirklich aus? Können wir die grundlegenden Fragen stellen? Manche Menschen suchen die sogenannten „inklusiven“ Orte auf, die allen Minderheiten offen stehen. Die episkopale Kirche hat sich dementsprechend organisiert (mit der Zersplitterung der Gemeinschaften zur Folge), wobei jede Untergruppierung ihren eigenen Schwerpunkt hat, sei es auf ethischer Ebene oder in Punkto sexueller Vorlieben. Ist dies eine nachhaltige Lösung? Als Ghetto definiert man einen Ort, an dem eine Minderheit vom Rest der Gesellschaft abgeschirmt wird. Anfangs ist das Ghetto Synonym für geographische Abgrenzung, die in den städtischen und sozialen Raum projiziert wurde, um aus einer gewissen christlichen Ideologie heraus Juden vom Rest der Bevölkerung auszugrenzen. Das Ghetto grenzte die Juden aus, gewährte ihnen jedoch auch ein gewisses Minimum an Autonomie. In diesem Fall kann man nicht von einem idealen Integrationsmodel sprechen! Dennoch ist es heute noch so, dass die Erkenntnis, dass sie homosexuell sind, für viele junge Homosexuelle der Ghettosituation ähnelt: Wie Judith Butler sagt, „draußen“ zu sein hängt in gewissem Sinne immer vom „drin“ sein ab... Mit anderen Worten positioniert sich die Gesellschaft erneut von außen gegenüber Homosexuellen, doch tiefgründig ändert sich nichts. Aus dieser Sicht läuft die gesetzliche Anerkennung einer homosexuellen Ehe darauf hinaus, eine Entwicklung der heterosexuellen Ehe anzunehmen, die die Dimension der biologischen Abstammung ausradiert hat zugunsten einer psychologischen Elternschaft. Somit erkennen die Kirchen homosexuelle Beziehungen an, ohne sie jedoch mit der sakramentalen Ehe gleichzustellen. Dies führt zu einer Anzahl interessanter Fragen bezüglich der Möglichkeit für Homosexuelle, zwischenmenschliche und affektive „diagonale“ Virtualitäten in der Gesellschaft zu entfalten (vgl. Michel Foucault). Wie kann man die Integration homosexueller Christen in unsere Diözese fördern, in unsere Kirchengemeinden…? Sprechen wir darüber? Ist es Teil unserer pastoralen Programme? Für jene, die bereit sind, darüber zu sprechen, sind Homosexualität und Kirche zwei sich ignorierende Welten, zwischen welche man Brücken bauen sollte. Jene, die darüber sprechen, haben das Gefühl, nicht als Christen wie die anderen leben zu können, sie fühlen sich gevierteilt. Ein Beispiel: Ein junger Mensch von 28 Jahren möchte in eine Bibelgruppe gehen, wie es viele seiner Freunde tun. “Aber wie kann ich voll und ganz daran teilnehmen, sagt er, wenn ich fühle, dass ich nicht über meine Spiritualität innerhalb der zwischenmenschlichen und affektiven Dimensionen meines Lebens sprechen kann?“. Weil sie nicht ausdrücken können, wer sie wirklich sind, befinden sie sich in einem Zwiespalt, der für die menschliche, persönliche und spirituelle Entfaltung schwer zu handhaben ist. Hat die Kirche nicht die Pflicht, sich eindringlich mit der „homosexuellen Kultur“ zu befassen, um deren Schlüssel und Anschauungen zu verstehen und schließlich fähig zu sein, ihre Frohbotschaft richtig zu übermitteln? In Frankreich gibt die dominikanische Theologin Véronique Margron regelmäßig Konferenzen, mit, so sagt sie, einem gewissen „Gefühl der Einsamkeit“. „Man könnte meinen, dass die Kirche denkt, sie hätte schon zu viel zu dem Thema gemacht. Es ist aber noch nicht alles gesagt worden. Wenn es zum Beispiel für uns aus theologischer Sicht wesentlich ist, dass ein Paar grundsätzlich offen für Fruchtbarkeit und Leben ist, hindert es uns nicht daran einzusehen, dass homosexuelle Paare ein sehr tiefgründiges ethisches Leben führen können. Aus diesem Grund müssen wir noch einen langen Weg gehen und muss die anthropologische Überlegung weitergeführt werden“. Gibt es nicht zu viele Missverständnisse, Geheimnisse? Welchen Platz räumen wir dem Wort, dem Dialog, dem Respekt ein? Wie kann man zu einem neuen Nachdenken ermutigen? Welcher Weg der Befreiung über alle Ideologien und beschränkten Vorstellungen hinaus kann sich den homosexuellen Christen eröffnen? Könnte es sein, dass Gott homophob ist? Ist er nicht eher der Gott der Befreiung, des Aufbruchs? Ein Gott, der immer auf Seiten der Außenstehenden ist. Derjenige, der immer seiner Verheißung ‚voraus‘ ist? Nicht dort, wo man ihn erwartet, und besonders dort, wo man ihn am wenigstens erwartet: In den Zwistigkeiten und Zwischenräumen der „Normalität“ und des guten pharisäischen Gewissens, das seit eh und je, unaufhörlich schwere und untragbare Lasten auf den Schultern „der anderen“ ansammelt (vgl. Mt 23,1-36). Sowohl auf sozialer Ebene als auf Ebene der persönlichen Verinnerlichung gibt es schuldinduzierende Mechanismen, und wir wissen in welchem Maße das Christentum hierbei eine Rolle gespielt hat. Ohne die Tatsache zu verleugnen, dass Homosexualität für manche, die in ihr ihre Lebensweise entdecken, schwer sein kann, wird es andere, die in ihr Glück, Gefallen und Freude finden, irritieren, in ihr ausschließlich Leiden zu sehen. Für den christlichen Homosexuellen ist es lebenswichtig, die Mechanismen abzuwerfen, die den Zugang zum befreienden und universalen Charakter des Evangeliums versperren. Doch müssen wir auch einsehen, dass die Homosexualität in der Vielzahl ihrer Ausdrucksformen, wie auch in ihrer unaufhörlichen Ambiguität, Stand hält gegen eine kurzsichtige Vereinfachung ihrer Realität, sowohl für jene, die sie von innen erleben, als für jene, die von außen mit ihr konfrontiert werden. Wir werden mit diesem Rätsel nie fertig werden, noch weniger mit der Sexualität im Allgemeinen. Wie andere große Paradoxe des Menschseins verlangt die homosexuelle Realität nicht weniger, als durch das evangelische Paradox erleuchtet zu werden. Die homosexuellen Gläubigen werden nie damit aufhören, ihr Leben im Licht des Neuen Evangeliums zu leben, und die Kirchen sind noch weit davon entfernt, mit ihnen das Befreiende im Wort Gottes anschaulich aufgeschlüsselt zu haben. Wenn kleine Diskriminierungen die schwerwiegendsten Folgen haben können, kann im Gegensatz dazu das Anerkennen des Anderen und seines Rechtes, „anders“ zu sein, den ersten Schritt darstellen, um Raum für soziale Anerkennung zu schaffen. Wie kann man den Blick auf den Anderen verändern und Werte wie Respekt, Großzügigkeit und Brüderlichkeit im Alltag umsetzen? Wie kann man die sozialen und psychologischen Mechanismen der Ausgrenzung und der Intoleranz abbauen? Dieser Vortrag möchte zu diesem pausenlosen Kampf beitragen. Wie kann man innerhalb dieser Realität einen menschlicheren Weg eröffnen, um sich mit sich selbst zu versöhnen? Die Homosexualität befragt die Kirchen nach ihrer Sicht zur Integration, aber auch nach ihrer Fähigkeit, das Zusammenleben täglich neu zu erfinden. Wie soll man dieser Realität begegnen und welcher Sinn steckt dahinter, hinter dem Menschen mit all seinen Facetten? Wie kann man Schlüssel zum Verständnis geben? Wie soll man die Lebensprojekte betroffener Personen annehmen, ohne über sie zu urteilen? Wie kann man konstruktiv über etwas Intimes sprechen? Wie kann man Empathie, Gehör und Verständnis entwickeln? Was soll man jungen Leuten sagen, die denken, sie seien nicht normal? So viele Fragen, die wir versuchen sollten zu beantworten. Beim Zuhören und Anhören der Fragen kann es auf Dauer nicht bleiben. Die Zeit ist reif, das Wort zu ergreifen. Das Gesagte wird gehört und sich auftun, so dass neue Ansichten und Verhaltensweisen sich entwickeln und wachsen können. Dominique Goblet